Der Epochenbruch - Julian Nida-Rümelin - E-Book

Der Epochenbruch E-Book

Julian Nida-Rümelin

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Beschreibung

Schon seit vielen Jahren zeichnet sich die Erosion der bisherigen liberalen, regelbasierten und werteorientierten internationalen Ordnung ab, und spätestens seit der erneuten Wahl von Donald Trump nimmt sie rasant Fahrt auf. Die Rede ist von einer Vorkriegszeit und Europa erscheint ratlos. Die hektischen Versuche, durch eine massive Aufrüstung in Deutschland wieder handlungsfähig zu werden, verdecken das Fehlen einer europäischen Strategie. Europa droht zwischen den großen Weltmächten zerrieben zu werden. Denn die internationale Politik ist seit jeher von Visionen, Werten und nationalen Identitäten gesprägt: Während in den USA ein öffentlich ausgetragener Titanenkampf zwischen Liberalen, Neo-Konservativen, Realisten und Libertären stattfindet, werden in Russland und China, den beiden anderen großen Akteuren der internationalen Politik, neue Konzeptionen der internationalen Politik entwickelt, die darauf gerichtet sind, die Dominanz des Westens zu brechen. Julian Nida-Rümelins Essay trägt zu gedanklicher Klarheit in Zeiten großer Konfusion bei, skizziert die Vision einer multipolaren, aber kooperativen Weltordnung und plädiert für eine Rückkehr zu einer ethisch fundierten Realpolitik der Friedenssicherung.

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Seitenzahl: 76

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der Epochenbruch

Fröhliche Wissenschaft 262

Julian Nida-Rümelin

Der Epochenbruch

Auf dem Weg in eine neue Weltordnung

Inhalt

Vorwort

Tektonische Verschiebungen

Narrative und Realitäten

Die überwundene bipolare Weltordnung

Die gescheiterte unipolare Weltordnung

Die Rolle der Menschenrechte

Der kleine und der große Frieden

Auf dem Weg in eine neue Weltordnung

Zum Schluss: Seid Menschen!

Anmerkungen

Vorwort

Ich schreibe diesen Text in einer Zeit des Umbruchs in der internationalen Politik. Dieser Umbruch hat eine lange Vorgeschichte, von der noch zu reden sein wird, und seine Folgen sind noch nicht abzusehen. Ja, während ich diese Zeilen schreibe, verändert sich die Lage beinahe täglich. Der neue US-Präsident wollte in einer offensichtlichen Fehleinschätzung der Interessenlage Russlands einen raschen Frieden dadurch erzwingen, dass die USA die militärische und logistische Unterstützung der Ukraine einstellen. Tatsächlich führten die Androhung und zeitweise Durchführung dieses Plans dazu, dass die Ukraine sich zu einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen bereit erklärte. Auf russischer Seite war man zwar ebenfalls zu Friedensgesprächen bereit, aber nicht zu einem Waffenstillstand. Es ging wohl darum, die noch nicht kontrollierten Gebiete der von der Duma völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Provinzen zu erobern und die aktuelle Schwäche der ukrainischen Streitmacht auszunutzen. Nun steht überraschend der völlige Rückzug der USA aus dem Konflikt im Raum.

Donald Trump hat sogar vorgeschlagen, dass der neue Papst Leo XIV., ein gebürtiger US-Amerikaner, die Friedensverhandlungen übernehmen könne. Zweifellos ist der Papst eine spirituelle Macht und Repräsentant der größten Glaubensgemeinschaft der Welt, aber nur mit geistlicher Autorität ausgestattet, ohne alle militärischen und ökonomischen Machtmittel, über die der amerikanische Präsident verfügt. Und Europa schwankt zwischen der Hoffnung, das transatlantische Bündnis stabilisieren zu können, und dem Streben nach Souveränität. Die Führung der EU wirkt konzeptions- und orientierungslos. Ihre Bemühungen um eine Fortsetzung der von neokonservativen Thinktanks geprägten außenpolitischen Agenda (open doors policy der NATO, regime change-Aktivitäten, Durchsetzung einer westlich geprägten internationalen Ordnung) erscheinen wie das Bemühen, ein totes Pferd zu reiten, von dem der vorherige Reiter längst abgestiegen ist.

Ich bin überzeugt, dass wir derzeit einen Epochenbruch erleben, der in seiner Bedeutung mit den Jahren 1648, 1789, 1914, 1945 und 1990 vergleichbar ist. Und wie bei den vorausgegangenen Epochenbrüchen führt auch dieser zu Ratlosigkeit, nur mühsam übertüncht durch martialisches Gerede, aber auch dystopische Visionen. Die Menschheit schwankt zwischen euphorischer Selbstsuggestion und verzagter Weltuntergangsstimmung. In dieser Lage ist es sinnvoll, einen Moment innezuhalten und den Versuch zu unternehmen, die Gedanken zu ordnen. Denn ohne gedankliche Klarheit gibt es keine kohärente Praxis.

Neapel, im Juni 2025

Julian Nida-Rümelin

Tektonische Verschiebungen

Als sich der bedeutende Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker entschied, in seinem Garten einen Bunker zu bauen, der seine Familie auch im Falle eines Atomkriegs für einige Zeit schützen würde, kam es zu starkem Protest. Wie kann sich ein Friedensforscher, der sich wegen der Proliferationsproblematik gegen den Ausbau der Nutzung der Kernkraft einsetzt und die Potenziale der Wissenschaft zur Friedenssicherung nutzen möchte, auf einen großen europäischen Krieg vorbereiten, den es doch zu verhindern gilt? Viele meinten, damit sei die Glaubwürdigkeit Carl Friedrich von Weizsäckers schwer erschüttert worden.

In den 1970er- und 80er-Jahren standen Friedensfähigkeit und Friedensbereitschaft im Mittelpunkt der Bemühungen. Es wurden Abrüstungsverträge geschlossen und die Sorge des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, Europa könnte sich angesichts einer sowjetischen Bedrohung mit nuklearen Mittelstreckenwaffen von den USA abkoppeln, beziehungsweise der nukleare Schutzschirm der USA dadurch unglaubwürdig werden, ließ eine kraftvolle Friedensbewegung entstehen, die sich gegen die vermeintlich notwendige Nachrüstung wandte. Dabei konnte sie sich auf große Teile der Kirchen und der Gewerkschaften stützen und trug am Ende – unbeabsichtigt – zum Sturz der sozialliberalen Koalition bei, da die SPD mehrheitlich dem außen- und sicherheitspolitischen Kurs ihres Bundeskanzlers nicht mehr folgen wollte. Kriegsvorbereitungen galten als Kriegsgefahr. Si vis pacem para bellum (»Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor«), dieser gern zitierte lateinische Spruch war als kaschierte Vorbereitung eines Angriffskriegs diskreditiert.

Nach dem Untergang der Sowjetunion schien ein globaler Frieden durch Welthandel und wirtschaftliche Prosperität, durch den Sieg der liberalen Weltordnung, der Demokratie und der Menschenrechte greifbar nahe. Dass sich hinter dem Glanz des westlichen Sieges Strategen ans Werk machten, um die Gunst der Stunde geopolitisch zu nutzen, blieb der Weltöffentlichkeit lange weitgehend verborgen. Eine vom wirtschaftlichen Erfolg gestärkte zweite Macht wuchs heran, mit dem Ziel, die führende Supermacht der Zukunft zu werden. Neokonservative Intellektuelle bereiteten die große Auseinandersetzung mit China vor und wollten auf diesem Wege den zweiten potenziellen Konkurrenten Russland schwächen oder sogar ausschalten. Russland wiederum reagierte in Gestalt eines regionalen Imperialismus. Der Ukrainekrieg, der im Februar 2022 als völkerrechtswidriger Angriffskrieg Russlands begann, kostete nicht nur Hunderttausende von Soldaten auf beiden Seiten das Leben und brachte großes Leid und Tod für die Zivilbevölkerung in der Ukraine, sondern bewirkte auch einen Realitätsschock: Auf einmal wurde offenkundig, dass wir in einer anderen Welt leben als gedacht. Die lange Vorgeschichte der Eskalation des Konflikts zwischen dem Westen und Russland seit den 1990er-Jahren öffnete uns die Augen für das Wirken geopolitischer Strategien und die ungebrochene Dominanz eines militaristischen Denkens in den Machtzentren der Welt. The Global Village entpuppte sich als ein Potemkinsches Dorf, errichtet vom Westen, eine Zeit lang hoffnungsvoll begrüßt auch im Osten, bis hin zum von Russland gewünschten Beitritt zur EU und zur NATO. Die aufsteigende ökonomische Supermacht China nutzte dies pragmatisch aus.

Das Undenkbare bestimmt wieder die öffentlichen Diskurse. Ehedem linksradikale Intellektuelle, die sich als Osteuropaexperten ein neues Berufsfeld gesucht haben, plädieren dafür, die Öffentlichkeit darauf vorzubereiten, in einer Vorkriegszeit zu leben. Ein großes Aufrüstungsprogramm der militärisch weit überlegenen NATO soll einen Krieg gegen Russland wieder führbar machen. Neokonservative Intellektuelle schwadronieren von der Gewinnbarkeit eines Atomkriegs gegen China, wenn die amerikanischen Erstschlagkapazitäten gegen die wichtigsten Metropolen des Riesenlandes eingesetzt werden. Was in den 1970er-Jahren als Sakrileg galt – die Vorbereitung auf einen konventionellen oder auch nuklearen Krieg in Europa –, ist nun wieder möglich, zum Beispiel in Gestalt einer Initiative des Innenministeriums, die Kindern die Angst vor Kriegen nehmen soll, indem der Katastrophenfall spielerisch eingeübt wird. Pazifistisch gestimmte Fernsehbeiträge für Vorschulkinder, die die Vorteile von Ausgleich und Fairness vorführen und Konkurrenz- und Dominanzstreben kritisieren, weichen einer Erziehung zur Konkurrenz und Dominanz. Der spielerische Umgang mit virtuellen Waffensystemen dringt mit Macht in die Kinderzimmer ein. Es wird nicht mehr kritisiert, dass Bunker gebaut werden, sondern es wird kritisiert, dass die noch vorhandenen Bunker über Jahrzehnte verfallen sind. Innerhalb weniger Monate weht ein anderer, kalter Wind, der die Ähren in die entgegengesetzte Richtung biegt.1

Im Untergrund finden massive tektonische Verschiebungen statt, auf die Politik und Öffentlichkeit nicht vorbereitet waren. Neokonservative Ideologen und interessengeleitete Thinktanks konnten daher in den USA die Außen- und Sicherheitspolitik unter ihre Ägide nehmen. Die liberale Agenda westlicher Politik ist dadurch in eine Sackgasse geraten, aus der sie nun ausgerechnet ein erratischer, aber charismatischer Führer einer populistischen und in großen Teilen rechtsextremen MAGA-Bewegung2 in den USA herausführen soll. Es zeichnet sich erst in Konturen ab, in welche Richtung die Reise gehen könnte.

Narrative und Realitäten

Es ist ein tief verwurzelter Irrtum im Denken vieler Experten, dass außenpolitische Entwicklungen allein durch harte Fakten wie ökonomische Stärke, militärische Potenziale, die Verfügbarkeit von Rohstoffen und technologisches Know-how bestimmt sind. Diese Faktoren spielen zweifellos eine wichtige Rolle, aber mindestens ebenso wichtig ist, was die Menschen und die Akteure der internationalen Politik bewegt, in welchen Paradigmen sie denken, welche Hoffnungen und Ängste sie antreiben, welche Narrative dominieren.

Menschen erzählen sich von jeher Geschichten. Diese Geschichten stiften Sinn und folgen bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Große Geschichten können die Kultur eines Landes über Jahrhunderte prägen, wie etwa die Epen Ilias und Odyssee die griechische Antike. Die Geschichten vom Leben Jesu, die die Evangelisten erzählen, haben eine Religion gestiftet, die größte weltweit. Ähnliches gilt für Mohammed, Buddha oder Konfuzius. Wie viel Realität sich hinter diesen Geschichten verbirgt, ist nicht ausschlaggebend für ihre Wirksamkeit. Aus der historischen Distanz sind wir gnädig. Aber wenn die politischen Realitäten hinter unterschiedlichen, oft unvereinbaren, manchmal halbwegs stimmigen und manchmal völlig abwegigen Narrativen kaum noch erkennbar sind, dann ist die politische Handlungsfähigkeit bedroht: »Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit.« (Ferdinand Lassalle)

Stellen wir uns die alltägliche Situation eines Verkehrsunfalls vor, den eine Reihe von Beteiligten und Unbeteiligten bezeugen können. Die Polizei – und wenn es zu einer Strafanzeige kommt, auch die Staatsanwaltschaft – hört die Zeugen an und versucht daraus das Unfallgeschehen zu rekonstruieren. Die Zeugen waren unterschiedlich weit vom Unfallort entfernt. Sie haben das Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven verfolgt. Manche sind vielleicht erst zu einem späteren Zeitpunkt hinzugekommen, andere haben es nur teilweise gesehen, wieder andere waren abgelenkt, weil sie selbst mit einem Fahrzeug unterwegs waren. Einige haben in Ruhe vom ersten Stock ihrer Wohnung aus zugesehen, andere waren verschreckt, da sie Sorge hatten, in das Geschehen einbezogen zu werden. Entsprechend werden sich die Erzählungen unterscheiden. Niemand wird das Unfallgeschehen in allen Details umfassend schildern können. Jeder Bericht