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Tim MacGabhann

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Beschreibung

Mexiko, heute. Die beiden Journalisten Andrew und Carlos sollen eigentlich nur ein Routinestück über die Ölindustrie in Poza Rica, Veracruz, machen, wo ein amerikanischer Konzern groß einsteigt. Zufällig finden sie die furchtbar verstümmelte Leiche eines jungen Umweltaktivisten, Julían Gallardo. Während Carlos noch fotografiert, trifft die Guardia Civil ein und scheucht beide aus der Stadt. Trotz massiver Drohungen stellen die beiden weitere Nachforschungen an, bevor sie nach Mexico City zurückkehren. Als Carlos dort umgebracht wird, flieht Andrew außer Landes. Aber der Tod von Carlos, der nicht nur sein Kollege und Freund war, sondern auch sein Lover, lässt ihn nicht los. Er kehrt nach Poza Rica zurück und recherchiert die Geschichte von Julían Gallardo und bringt damit nicht nur Polizei, Militär und Kartelle gegen sich auf ...

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Tim MacGabhann

Der erste Tote

Thriller

Aus dem Englischen von Conny Lösch

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Der erste Tote

1

Niemand hatte uns gebeten nachzusehen, und seitdem ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht wünschte, wir wären einfach weitergefahren.

»Nur eine Sekunde«, hatte Carlos hinter mir gesagt, sich neben den Toten gehockt, den wir entdeckt hatten. Der Auslöser seiner Kamera klickte so rasch hintereinander, dass man es in der feuchten Dunkelheit kurz vor der Morgendämmerung auch für zirpende Grillen hätte halten können.

»Komm schon, Mann, eine Sekunde sind bei dir zehn Minuten«, sagte ich gähnend und putzte meine Brille mit einem Zipfel meines Hemds. Nach vier Tagen im Jeep und in vollklimatisierten Hotelzimmern klang meine Stimme heiser, meine Kehle fühlte sich an wie eine mit Glasscherben gefüllte Socke.

Carlos lachte und sagte: »Kann sein.«

Bevor wir den Toten gefunden hatten, hätte ich niemals gedacht, mich später überhaupt noch mal an Poza Rica zu erinnern. Wir hatten gedacht, es würde um eine stinknormale Story gehen, einen ganz gewöhnlichen Artikel. »Warten auf den schwarzen Goldrausch« lautete die vorläufige Überschrift – ein Porträt von Poza Rica, der heruntergekommenen Erdölmetropole in Veracruz, im Osten Mexikos, »eine Stadt«, hatte ich geschrieben, »die wie scheintot verharrt und auf ausländische Investitionen wartet, um aus den fünfzehn Milliarden Barrel Rohöl der Region Kapital zu schlagen – und in ihrem früheren Glanz zu erstrahlen.«

Wir hatten gedacht, wir würden vier Tage lang Interviews führen, dann wären wir wieder zu Hause, würden Text und Fotos zu einer jener freudlosen, aber gutbezahlten Reportagen zusammenstellen, von denen alle Freiberufler träumen, bis sie tatsächlich einen solchen Auftrag bekommen.

Aber okay, nach den acht Jahren, die ich nun schon in Mexiko lebte, hätte ich wissen müssen, dass es so etwas wie einen stinknormalen Artikel hier gar nicht gibt.

Ob in Iguala oder Reynosa, Manzanillo oder Apatzingán, in allen armen Städten findet man dieselben verrammelten Ladengeschäfte und abgewrackten Kfz-Werkstätten, dieselben blauen Logos der Anonymen Alkoholiker und die mit Blut gesprayten Tags der Straßengangs.

Auch dieselben Altäre an Taxiständen, dem heiligen Judas und der Jungfrau von Guadalupe gewidmet, dieselben verblichenen Wandgemälde aus der Zeit der Revolution, dieselben Plazas, Musikpavillons und Büsten toter Berühmtheiten.

An jedem Laternenmast und in jedem Schaufenster hängen dieselben »Vermissten«-Plakate, dieselben kaputten Abflussrohre verbreiten denselben Blut-und-Schwefel-Gestank.

Aber nachdem wir den Toten entdeckt hatten, war nichts mehr so wie vorher.

Zehn Minuten zuvor hatten wir die Heimfahrt Richtung Mexico City angetreten, im Radio liefen Boleros. Hin und wieder machten wir Halt, um Bohrtürme für unseren Artikel zu fotografieren: Im Mittelkreis eines verdorrten Fußballplatzes, auf einem kostenpflichtigen Parkplatz, am Ende einer kleinen Seitenstraße zwischen dem Best Western Hotel und der Banco Azteca.

Kurz vor fünf Uhr morgens fuhren wir also gerade die Hauptstraße hinunter, niemand war auf dem Weg zur Arbeit, niemand ging von der Spätschicht nach Hause, in den dunklen Ecken unter der großen Überführung lag der Müll vom Markt des Vortags. Wir kamen an einer auf und ab schwenkenden Tiefpumpe am Ende eines Sträßchens zwischen einem hellerleuchteten Oxxo-Supermarkt und einer geschlossenen Bar vorbei, als Carlos sagte: »Ach, du Scheiße, halt an, vato.«

»Was?«, fragte ich, parkte oben an der Ecke, als Carlos bereits zu einer auf dem Boden liegenden Person rannte.

Erst wollte ich ihm nachrufen, es sei bestimmt nur ein Besoffener, aber dann stieg ich aus dem Jeep und sah den Mann, dessen Arme und Beine in einer Haltung ausgestreckt lagen, die kein betrunkener Schläfer je freiwillig einnehmen würde. Ich blieb stehen, außer Atem, oben an der Straße, mein Herzschlag bebte in meiner Kehle und meine Fingerknöchel traten weiß hervor, als ich die Tür des Jeeps viel zu fest umklammerte und ein leichter, feuchtkalter Regen auf mich niederfiel.

Ich hatte kein Problem mit Leichen. Sie erzählen alle nichts, ob sie nun verkohlt in einem ausgebrannten Wagen sitzen, gefesselt am Strand liegen oder grünlich verfärbt und seifig aus Massengräbern lugen. Aber der arme Kerl, der da neben der Tiefpumpe unter der Straßenlaterne lag, war anders als alle anderen Leichen, die ich je gesehen hatte. Seine gefälschten Levi’s und die weiße Unterhose waren heruntergezogen, so dass ein Büschel Schamhaare um ein blutiges Loch herum zum Vorschein kam, sein Schwanz und die Eier, geschält wie Trauben, lagen auf seinen mehrfach gebrochenen Händen. Seine billige Lederjacke war offen, darunter trug er ein Polohemd, das keinesfalls fabrikmäßig rot gewesen war und dessen Färbung einen zuckrigen Metzgersgeruch verströmte, der den 7-Eleven-Kaffee, den ich im Jeep getrunken hatte, beinahe wieder in meinen Mund zurückbefördert hätte.

»Kotz hier bloß nicht rum, vato«, sagte Carlos und lachte, als er mich spucken hörte. »Du ruinierst mir noch mein Bild.«

»Genau, weil’s nämlich so ein schöner Anblick ist«, sagte ich und zündete mir eine Zigarette an, um den Gestank zu überdecken, während die Pumpe im Hintergrund schepperte.

Wer behauptet, der Tod habe einen eigenen Geruch, irrt sich: Er hat Dutzende, und ich kenne nur ein paar davon. Bei den Morden am Strand von Acapulco, über die Carlos und ich einige Jahre zuvor berichtet hatten, waren die Täter auf Jet-Skis herangerast, man hatte den Blutgeruch nicht von dem des trockenen Blasentangs unterscheiden können. Bei dem großen Lagerhausmassaker in Tlatlaya, über das wir Mitte 2014 berichtet hatten, rochen die von Kugeln zersiebten Eingeweide vor allem nach Weizen. Die in Tacxo entdeckten Massengräber stanken dagegen durchdringend und pilzartig nach Buttersäure, so dass ich danach nie wieder Appetit auf Roquefort hatte.

Selbst aus der Entfernung konnte ich erkennen, was dem Jungen angetan worden war. Das Blut auf seinem Hemd stammte nicht von der Einschusswunde: Am Hals bildeten Blutergüsse eine Art Kragen, der ihm die Luft abgeschnürt hatte, aber weder auf der Brust noch im Gesicht befanden sich sichtbare Verletzungen. Tatsächlich hatte er gar kein Gesicht mehr. Und daher kam auch das viele Blut: Sein Gesicht war abgeschnitten, seine Augen ausgequetscht, übrig war nur eine feuchte, rote, mit Dreck und Schottersteinchen gesprenkelte Maske, die Zähne waren schwarz. Ein Stanley-Messer vermutete ich: Gezackte Ränder säumten die Wunde rechts vom Kinn. Anhand der zerfetzten Haut auf der linken Seite konnte ich feststellen, dass die Täter nicht weitergeschnitten, sondern den Rest seines Gesichts mit den Händen abgerissen hatten.

Eine Ameise krabbelte über den Steg aus Knochen und Knorpel, wo einst die Nase war. In meinem Magen brodelte es wie in einem Vulkan. Carlos beugte sich vor, blies die Ameise weg, dann nahm er wieder den Deckel vom Kameraobjektiv.

»Halt auf der Straße Ausschau«, sagte Carlos sanft und kehrte mir den Rücken zu.

Eigentlich wollte ich sagen: Wenn du dich nicht beeilst, kotze ich hier alles voll.

Tatsächlich aber sagte ich: »Okay« und schluckte den sauren Geschmack im Mund herunter.

»Alles gut, vato«, sagte Carlos zu dem Toten, als er sich mit der Hand neben den verklebten blutigen Haaren des jungen Mannes abstützte, hinkniete und wie im Gebet dabei leise murmelte: »Es ist vorbei.«

Carlos hatte immer behauptet, wenn jemand ermordet wurde, würde sein Geist noch eine Weile am Tatort verweilen. Die Jesuiten auf der Highschool in Juárez hatten ihm das angeblich beigebracht. Und dass die Seele, weil sie gewaltsam aus dem Körper vertrieben wurde, zu verängstigt sei, zu erschrocken, um ins Nirgendwo davonzuschweben.

»Hab keine Angst«, sagte er zu dem gesichtslosen Jungen, nahm einen langen Zug von seiner Zigarette und blies den Qualm wie Weihrauch auf einer Beerdigung über den Toten. »Lass dich nicht von uns aufhalten.« Er hob die Kamera, um weiter Fotos zu machen. Der Blitz war weiß wie Kerzenlicht.

»Dauert keine Minute mehr.«

»Vor einer Minute hieß es noch ›eine Sekunde‹«, sagte ich.

»Entspann dich«, sagte Carlos. Ich konnte nicht feststellen, ob er mit mir oder dem jungen Mann redete.

»Wir waren schon auf der Heimfahrt«, sagte ich. »Ich kann nicht fassen, was du da machst.«

»Entspann dich«, sagte Carlos noch einmal. »Wir kommen doch auf unsere Kosten, oder nicht?«

Die Straße weiter oben war tot wie der Mond. Nicht einmal mehr die schmalgesichtigen Teenager mit ihren brandneuen Basecaps und den ihrem Aussehen nach raumfahrttauglichen Sneakern standen noch bewaffnet mit Smartphones und Pistolen in den Taschen ihrer Kapuzenjacken an den Straßenecken. In den ganzen vier Tagen, die wir in Poza Rica verbracht hatten, waren sie überall gewesen: hatten in den Seitenstraßen herumgelungert, an Marktständen aufgepasst oder sogar den Cops draußen vor den Wohnhäusern in den ärmeren Vierteln Tipps gegeben.

Aber jetzt? Niemand. Nur die glanzlosen und heruntergekommenen Gebäude an der Hauptstraße, nur die von Benzinabgasen grauen Straßenlaternen.

»Komm schon, Mann«, sagte ich und sah einem verletzten Hund hinterher, der auf seinen drei gesunden Beinen vorbeihinkte. »Wie viele Bilder brauchst du?«

»Halt einfach mal kurz die Augen offen, ja?« Seine Stiefel knirschten, als er seine Position veränderte, um den richtigen Winkel zu erwischen.

Man kann sein Leben damit verbringen, auf andere aufzupassen. Die gesamte Oberschule hindurch, damals noch in Irland, war ich immer derjenige gewesen, der bei Schlägereien auf dem Schulhof nach den Lehrern Ausschau halten, das Gras und die Ecstasy-Vorräte der anderen bei sich zu Hause aufbewahren oder den Alkohol verstecken musste, den die anderen aus den Barschränken der Eltern geklaut hatten. Und jetzt stand ich Schmiere, während mein Freund Fotos machte, die er eigentlich lieber nicht machen sollte.

»Passt du auf?«, fragte Carlos hinter mir. »Ich bin fast fertig.«

Angefangen in den roten Bergen von Michoacán bis zu den zwielichtigen Nachtclubs der Zetas in Coatzacoalcos, von den Massengräbern in den grasbewachsenen Hügeln von Cocula bis zu den Lagerhäusern von Huejutla, wo Ratten und Feuchtigkeit an den noch ungewaschenen Geldbündeln des Golfkartells nagten, vom strahlend blauen Himmel und den unbefestigten Straßen in den Tarahumara-Bergen bis hierher, bis heute, bis zu dieser Seitenstraße voller Scherben und getrocknetem Blut in Poza Rica, Veracruz – an jedem dieser Orte hatte ich auf Carlos aufgepasst, während er seine Fotos machte, und ich hatte es nie vermasselt, nicht ein einziges Mal.

»Alter«, sagte ich und schaute über meine Schulter nach Carlos, der sich zu dem Gesicht runterbeugte, das keines mehr war.

Carlos schob seine Hand in die Jacke des Toten, suchte nach der Innentasche.

»Du hinterlässt noch überall Fingerabdrücke«, sagte ich.

»Na klar, weil die Spurensicherung hier auch so super akribisch arbeitet«, sagte Carlos, der bereits die Brieftasche des jungen Mannes aufgeklappt in Händen hielt.

»Ich glaub’s nicht«, sagte ich, obwohl das natürlich gelogen war.

Carlos zog einen Studentenausweis der Universidad Veracruzana hinter Rabattkarten von Cinépolis und KFC hervor, dann machte er ein Foto davon. Name: Julián Gallardo. Geburtsdatum: Oktober 1996.

»Mire, güey«, sagte Carlos, schob den Ausweis wieder in die Brieftasche und diese zurück in Juliáns Innentasche. »Nichts für ungut.«

Irgendwo weiter hinten, wo ich den Hund außer Sichtweite hatte humpeln sehen, kreischten jetzt Reifen auf.

»Du hast nicht aufgepasst.« Carlos legte seine Kamera auf den Boden.

Kies knirschte. Eine Sirene spaltete meinen Schädel. Dann wurden wir auch schon vom Licht der Polizeischeinwerfer überflutet, rotes, blaues und weißes Halogenlicht, Türen schlugen laut zu, als zwei Weiße aus einem Pickup der Guardia Civil stiegen, während ein dritter ein festmontiertes AR-15-Sturmgewehr auf uns richtete.

»Runter«, sagte ein Polizist in ängstlichem Flüsterton.

»Ich kann nicht fassen, dass du das verkackt hast«, sagte Carlos.

»Klar, Mann, wie du meinst«, sagte ich zu Carlos und ging auf die Knie, legte die Hände hinter den Kopf, hielt meinen laminierten Presseausweis an einem Band fest ums Handgelenk gewickelt hoch.

Der erste Cop trat vor, der zweite gab ihm von hinten Deckung, Licht glänzte auf den Spiralen des Telefonkabels, mit dem seine Waffe gesichert war.

Wir knieten im grellweißen Licht, die Hände hinter den Köpfen verschränkt, Scherben schnitten durch unsere Jeans in die Knie, und die Umrisse der Polizisten wurden bedrohlich größer, ihre Schritte kamen näher.

2

Die beiden Cops traten aus dem Licht und direkt vor uns. Der erste, der uns erreichte, riss mir den Ausweis aus der Hand, während der auf der Ladefläche des Pickups sein Gewehr die Straße rauf und runter schwenkte. Man konnte immer noch die Ölpumpe rattern hören und auch die traurigen Melodien, die aus dem Radio meines Jeeps in die Dunkelheit sickerten.

»Das ist ein Tatort«, sagte der erste Cop.

Meine Haut war keine schützende Hülle mehr, nur noch ein heißes, zittriges Kribbeln.

»Wir dachten, er lebt noch«, behauptete ich.

Der Cop sah Julián an, dann wieder mich.

Scheiße drückte heiß von innen an mein Arschloch.

»Bis wir näher rangekommen waren«, ergänzte ich.

Der Cop sagte nichts, machte nur eine Bewegung mit dem Kinn Richtung Carlos.

»Hast du Fotos gemacht?«, fragte er.

»Wollte ich gerade«, sagte Carlos. »Tut mir leid.«

Der erste Cop schlug Carlos mit dem Griff seiner Pistole ans Kinn und sagte: »Du dämliches Arschloch. Wegen dir werden wir noch alle ermordet.«

Das Wort Hilfe stieß an meinen Gaumen und verklang ungehört. Carlos schrie nicht mal auf, fiel einfach nur um, gefügig wie eine geschlachtete Kuh. Der zweite Cop hielt den Lauf seiner Waffe auf ihn gerichtet.

»Hol dir seinen Ausweis«, sagte der erste Cop zum zweiten.

In Momenten wie diesem ist dir alles egal. Dein Kopf ist so rückstandslos leer wie ein ausgekipptes Goldfischglas. Nichts, von dem du dachtest, dass es von Bedeutung sei, spielt mehr eine Rolle, nicht deine Kaffee-Fahne, nicht dein Kopfschmerz, auch nicht, ob du dir in die Hose scheißt, nicht einmal die Erinnerung an die Menschen, die du nie wiedersehen wirst. Du bestehst nur noch aus dem Asphaltgeruch in deiner Nase und dem Schotter und den Scherben unter deinen Händen.

Der Cop stand über mich gebeugt und sagte: »Wollt ihr enden wie der Junge da?«

»Nein«, sagte ich und blies mit meinem Atem Schottersteinchen weg.

»Ich auch nicht«, sagte Carlos.

Der Cop hockte sich neben mich. »Wisst ihr, wem diese Stadt gehört?«

»Wir machen eine Reportage über Öl«, sagte ich. »Nur Zahlen. Nichts über Kriminalität. Auf der Heimfahrt haben wir den Mann da liegen sehen und angehalten, wollten nachschauen, was los ist.« Ich sog Luft ein, die nach Straße schmeckte. »Mehr nicht.«

Der erste Cop presste seine Finger an die Stirn. »Hört zu, ich sag’s noch mal. Wisst ihr, wem diese Stadt gehört?«

»Ich glaube, das wissen die nicht«, sagte der zweite Cop. Seine Stimme war hoch, nasal, die Stimme eines Anfängers. »Sonst wären sie nicht hier.«

Der erste Cop sah mich an, dann Carlos, dann den Anfänger.

»Lass uns von hier verschwinden, ganz im Ernst«, sagte der Anfänger, jetzt mit flehender Stimme.

Der erste Cop senkte den Blick zu Boden, nickte, dann steckte er seine Waffe ins Holster.

»Heute habt ihr Glück«, sagte er, die Hände auf die Hüften gestemmt, und schüttelte den Kopf.

Carlos, der ein Stück von mir entfernt auf der Straße lag, zwinkerte mir zu. Sein Kiefer war rot, verfärbte sich allmählich dunkel und zimtfarben, und an seiner Lippe hing ein dunkler Faden Blut. Unter meiner Zunge stieg Salzgeschmack auf; unter seiner vielleicht auch. Der zweite Cop sagte: »Tut mir leid wegen deinem Kinn.«

Der erste Cop machte eine Kopfbewegung in Richtung unseres Jeeps und sagte: »Worauf wartet ihr? Los, los.«

Carlos klopfte sich den Dreck von der Jeans und mir auf die Schulter.

»Komm schon.«

Der zweite Cop hustete, und augenblicklich lag Kotzegestank in der Luft.

»Wo holen die bloß diese jungen Typen her?«, fragte Carlos, den Arm um mich gelegt.

»Zehn Jahre dauert dieser scheiß Drogenkrieg jetzt schon.« Ich hielt meinen Presseausweis so hoch, dass ihn auch der dritte Cop hinten auf dem Pickup sehen konnte. »Von den richtig harten Jungs sind nicht mehr viele übrig.«

»Daran muss es wohl liegen«, sagte Carlos und schaute noch mal über seine Schulter zu dem Toten in der hellerleuchteten Seitenstraße zurück. »Trotzdem, armer Kerl. Ich frage mich, wo die ihn hinbringen.«

Der Cop, der Carlos geschlagen hatte, zerrte Julián Gallardo an den Schultern zum Pickup. Der mit mir geredet hatte, nuschelte jetzt in ein Funkgerät. Mit einer Hand hielt er einen von Juliáns Füßen fest, der andere schleifte über den Boden.

»Da, wo sie alle landen«, sagte ich und drehte den Schlüssel im Zündschloss.

Die Cops warfen Julián auf die Ladefläche des Pickups, er knallte auf den harten Stahl, Arme und Beine über Kreuz, der Cop mit dem Funkgerät verwischte die Spuren im Schotter und Dreck.

»Ja«, sagte Carlos. »Im Nirgendwo.«

3

Auf der Fahrt raus aus der Stadt rauchte Carlos eine ganze Zigarette in nur jeweils vier, fünf Sekunden langen Zügen, und das, ohne auch nur ein einziges Mal zu husten, während ich unrhythmisch mit den Fingern aufs Lenkrad trommelte. Obwohl der tintenschwarze Himmel kobaltblau aufhellte, wirkten die Schatten der Gebäude, Straßenlaternen, Einkaufsstraßen mit Cinépolis und KFC immer dunkler.

An einer Tankstelle in einer nebelverhangenen Kurve auf dem Highway über dem Tal fuhren wir ab, das gleichmäßige Dröhnen der Reifen auf dem Tankstellenbeton ließ meinen adrenalinbedingten Kopfschmerz abflauen. Wir holten uns Frühstück: Doughnuts und überzuckerten Kaffee für mich, Zigaretten und Tequila-Soda in der Dose für Carlos. Er blieb noch eine Weile im Laden, unterhielt sich mit ein paar stämmigen Bikern, die offenbar zur El-Tajín-Pyramide wollten.

»Wieso hast du keine Angst?«, fragte ich ihn, als er wiederkam.

Carlos sah mich an, hielt sich zwei Finger an den Hals. »Fühl mal.«

»Scheiße. Wie eine Maus im Trickfilm.«

»Schon langsamer geworden, vato«, sagte Carlos. »Vorhin hab ich gedacht, mein Herz platzt aus meiner Brust.« Er drehte seinen Fidel-Castro-Schlüsselanhänger, der gleichzeitig ein USB-Stick war, um seinen Finger. »John-Hurt-Style.« Anhänger und Schlüssel wirbelten im Kreis herum. »Bin echt froh, dass die meine Kamera nicht einkassiert haben«, sagte er.

»Aber sie haben dein Gesicht«, sagte ich. »Und deinen Namen.«

Carlos winkte ab. »Ach egal, dann muss ich mich halt rasieren, bevor ich da noch mal hinfahre. Eine Brille aufsetzen.«

»Du trägst doch schon eine.«

»Oh. Ach so.«

»Ist sie verkratzt?« Ich beugte mich vor, um seine Gläser auf Schrammen zu untersuchen, aber sie waren zu dreckig, um das überhaupt feststellen zu können.

Er hob die Hände, schob mich schultertätschelnd weg. »Nein, vato, bleib cool, ja?« Dann streckte er sich auf der von Stechmücken gesprenkelten Motorhaube aus, die Hände hinter dem Kopf, und stieß ein langes Staccato-Stöhnen aus, das sich in ein gackerndes Lachen verkehrte. »Das war unglaublich. Wir müssen auf jeden Fall noch mal da hin.«

Das Tal war ein träge wogender Ozean aus Nebel. Hinter dem Highway sah man nichts außer einer Decke aus reinem Weiß, die feuchte Luft perlte an meinen Stiefeln ab und verfärbte eine herunterhängende Strähne meines Haars.

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Sogar die Cops sahen aus, als hätten sie Angst.«

»Cops sind auch nur Menschen.« Carlos zuckte mit einer Schulter.

»Irgendwie.«

»Im besten Fall.« Ich kratzte mich unter dem Kinn, schaute auf die Straße zu den Laternen, die im diesigen Licht wie düstere Siebener aussahen, dann zu den Fahrbahnmarkierungen auf dem glitschigen Asphalt, die an zerrissene Gedankenstriche erinnerten. »Aber warum schaffen die eine Leiche weg, die jemand anders dort hingeworfen hat? Und wieso macht ihnen das Angst?«

Carlos legte mir einen Arm auf die Schulter und wackelte mit einem Zeigefinger vor meiner Nase, dann sagte er: »Deshalb drehen wir noch mal um.« Er ließ mich los und setzte sich auf, tippte auf seine Dose mit dem Tequila-Drink. »Du hast doch nichts dagegen?«, fragte er, zog den Ring hoch.

»Frag mich nicht solche Sachen.«

Die Dose knackte auf. »Ganz schön stressig, vato.«

»Ist es doch immer.«

Als Carlos die Dose geöffnet hatte und in einem Zug austrank, musste ich ihm den Rücken zukehren und mir noch eine anzünden.

Carlos zog sein Handy aus der Tasche, schrieb Nachrichten.

»Sagst du’s deiner Mutter?«, fragte ich.

»Nein, ist nur Gelaber«, sagte Carlos. »Alles okay?« Er schaute nicht von seinem Handy auf.

»Mir geht’s gut. Dich haben sie geschlagen.« Ich hob sein Kinn an, der Bluterguss hatte inzwischen die dunkle Färbung einer Aubergine.

Er drehte den Kopf weg. »Ist okay, ehrlich.«

»Na schön.« Der Doughnut, in den ich jetzt biss, war so trocken, dass er in meinem Mund zu Staub zerfiel. »Aber schon komisch«, sagte ich. »Einen Toten so da liegen zu lassen.«

»Allerdings«, sagte Carlos. Ich hielt die Klappe, tunkte die andere Hälfte meines Doughnuts in den Kaffee, bis er nicht mehr wie Spanholz schmeckte.

In Cocula hatten wir Gräber besucht, in denen kaum etwas begraben lag, weil die Einheimischen manchmal nicht mehr gefunden hatten als Knochensplitter und Spuren von gelblichem Glibber, wenn die Leichen in Fässern mit Natriumhydroxid aufgelöst worden waren. In ausgehobenen Gruben in Taxo hatten wir Tätowierungen von Heiligen, Kindernamen und Bandenzugehörigkeiten in der Erde verrotten sehen.

»Wenn es so einfach ist, eine Leiche verschwinden zu lassen«, sagte ich laut, »warum lässt man dann eine in der Öffentlichkeit liegen?« Ich trat in den Schmutz.

Carlos stieß einen langen Atemzug aus, hielt die Augen geschlossen. »Weißt du, du kannst ewig weiter drüber nachdenken«, er machte eine weitere Dose auf, »oder zurückfahren und fragen. So wie richtige Reporter das machen.«

Ich ignorierte ihn. »Hast du irgendwen da auf der Straße gesehen?«

Carlos zuckte mit den Schultern.

»Eben«, sagte ich. »Also, wer auch immer die Leiche da hingelegt hat, er wollte, dass sie gefunden wird.« Den zweiten Bissen Doughnut bekam ich so geschmeidig herunter wie einen Brocken Straßenbelag. »Aber wieso?«

Carlos schnalzte mit der Zunge. »Ni puta idea, güey.« Er zeigte auf den Jeep. »Dieses Zaubergefährt, wir sollten uns reinsetzen und die Leute fragen, wer der Junge war.«

»Auf der Website mit den Vermisstmeldungen gibt es keinen Julián Gallardo.« Ich ging die Tabs auf meinem iPad durch. »Nichts in den Lokalnachrichten. Nichts auf Twitter.«

»Schau bei Facebook nach.«

Ich scrollte runter. »Ein paar Bilder von ihm bei einer Demo. Ein paar Hashtags wegen Umweltverschmutzung.«

Carlos tippte auf einen der Hashtags, er lautete »AJENJO ASESINO« – »AJENJO sind Mörder«, und sagte: »Das ist doch ein Hinweis.«

»Nicht wenn hier jedes Ölunternehmen als ›Mörder‹ bezeichnet wird«, sagte ich und meldete mich aus dem Internet ab.

Carlos hatte die Hände tief in den Taschen vergraben. Eine weitere Nebelwelle hob sich und brach auf. Er biss sich auf die Lippe, scharrte mit den Absätzen über den Beton und sagte: »Wäre bisschen vergeudet, wenn wir eine Leiche finden und dann nichts unternehmen.«

»Dafür ist unser Tagessatz gar nicht hoch genug«, entgegnete ich.

»Mag sein«, sagte Carlos. Sein Blick wanderte vom Display seiner Kamera, das noch immer die Aufnahme von Julián Gallardos Ausweis zeigte, zu den Bikern, die gerade ihr Frühstück auspackten.

»Mal sehen, ob sein Name in den nächsten Tagen in den Zeitungen auftaucht«, sagte ich. »Wenn sich ein Zusammenhang zu dem ergibt, woran wir arbeiten, frage ich Dominic, ob wir das Thema vertiefen dürfen.«

Carlos sagte nichts.

»Ist ein Kompromiss«, sagte ich und schlug ihm auf die Schulter. »Mir tut er auch leid. Aber was soll’s?« Jetzt war es an mir, mit der Schulter zu zucken. »Du weißt doch, wie das hier ist.«

»Ich weiß das«, sagte er und betrachtete Julián Gallardos schmales, ernstes Gesicht und schaute dann durch die braunen Haarsträhnen, die ihm selbst vor den Augen hingen, zu mir auf. »Aber du?« Er wackelte mit der Hand hin und her.

»Ich bin müde«, sagte ich, öffnete die Tür des Jeeps. »Komm schon.«

Aus den Lautsprechern drang ein weiterer alter Bolero, wehmütige Tenorgesänge und mandelfarbene Gitarrenklänge.

Carlos schaute wieder zu den Bikern. »Weißt du was, fahr allein weiter.« Seine Finger trommelten aufs Dach. »Ich will zurück.«

Wohlklingender Tenorgesang, der von dem Wahnsinn kündete, in den Lauf des Schicksals eines Geliebten eingreifen zu wollen. Fast sah ich das traurige Lächeln der Sänger, sah den Text in die Luft gedruckt, spürte jedes einzelne Wort, das mir schwer im Magen lag.

Carlos klopfte eine Zigarette aus der Packung. »Es sei denn, du willst mitkommen. Mir Gesellschaft leisten.« Er zwinkerte mir zu. »Du und ich, wir machen es uns gemütlich, im Feuerring der Auslandskorrespondenten.«

»Weißt du, was es kostet, einen Toten von Mexiko nach Irland zu verschiffen?«, fragte ich.

Carlos stieß einen langen spiralförmigen Rauchfaden aus und ballte seine tätowierten Fäuste: betende Hände, ein wachsames Auge, ein Anker mit der Aufschrift NEC SPE NEC METU – weder Hoffnung noch Furcht. »Komm schon, Mann, du hast was wieder gut zu machen. Wärst du nicht sooo müde gewesen und hättest du nicht unbedingt nach Hause gewollt, hätten uns die Cops vielleicht gar nicht erwischt.«

»So hartherzig«, sangen die Stimmen im Radio.

»Nein?« Carlos ertränkte seine Zigarette in einem der zahlreichen Kaffeebecher, mit denen seine Seite des Jeeps vermüllt war.

Die Radiostimmen sangen davon, wie es ist, auf dem Boden eines Motelzimmers zu liegen und zu seiner Geliebten aufzuschauen, die auf einem Halbmond sitzt.

»Hör auf«, sagte ich.

»Aber das kannst du nicht abstreiten.« Carlos’ Lächeln verdichtete sich jetzt zum anzüglich grinsenden Angelhaken.

Ich presste die Finger an die Stirn. »Was willst du?«

»Ich will, dass du deinen Job machst«, sagte er. »Ich will die Story.«

»Die braunen Kacheln an meiner Wange«, sang es aus dem Radio, »kälter als das Herz in deiner Brust.«

»Die Geschichte von diesem Mann hier.« Carlos hob das iPad, zeigte mir noch einmal Julián Gallardos stummen, augenlosen Schrei. Er beugte sich in den Wagen, sein heißer Atem erreichte mich über den Schalthebel hinweg. »Sei ein echter Journalist, vato«, sagte er. »Ausnahmsweise mal.«

»Trunkener Wahn«, sang es aus dem Radio, »zu glauben, ich hätte dir etwas zu bieten.«

Ein Laster dröhnte aus dem Nebel, spritzte Regenwasser über die Windschutzscheibe und ließ den Jeep beben.

»Okay.« Ich drehte den Schlüssel im Schlüsselloch so fest, dass ich dachte, er würde abbrechen. »Wir sind fertig hier.«

»Trunkener Wahn«, sang es im Radio, lauter als der Motor brummte, »zu glauben, du könntest je die meine sein.«

»Schlappschwanz.« Carlos zog seine Kameratasche aus dem Fußraum, sie krachte gegen die Tür. »Ich hau ab. Ich schreib dir.«

»Was? Willst du trampen?«, schnaubte ich.

»Äh, ja?« Carlos gestikulierte mit dem Kinn in Richtung der Biker vor der Tankstelle, dann knallte er die Tür zu und ging über den Vorplatz zurück. Das Gesicht wegen des feinen Regens gesenkt, winkte er den Bikern bereits zu.

Im Rückspiegel sah ich, wie Carlos jedem Einzelnen die Hand schüttelte, er lieh sich einen Helm und schwang ein dünnes Bein über den Sattel einer BMW.

»Immer charmant«, sagte ich zu niemandem, zündete mir noch eine Zigarette an. Als die Motorräder ansprangen, hob Carlos eine Hand über die Schulter, zeigte mir rückwärts seinen Stinkefinger. Die betenden Hände auf seinem Handrücken schienen mich anzuflehen, nicht sauer auf ihn zu sein.

»Na, dann viel Glück, verdammte Scheiße.« Ich löste die Handbremse, legte den ersten Gang ein. Als ich gleichzeitig das Radio ausschaltete, knirschte der Kies unter den Reifen, wie eine aus der Rille gesprungene Plattenspielernadel. Bevor ich auf den Freeway fuhr, sah ich Carlos noch nach, bis er verschwunden war.

Mir den Stinkefinger zu zeigen, war vielleicht seine Art, mir zu sagen, dass es nur ein ganz gewöhnlicher Streit war, dass er sich nicht in Poza Rica ermorden lassen würde, dass er bald wiederkäme.

Wie sich inzwischen herausgestellt hat, hätte ich damit fast recht behalten.

4

Mein Telefon brummte nur einziges Mal auf der Fahrt nach Mexico City, und zwar, als Carlos mir das Foto von Julián Gallardos totem Gesicht schickte. Als ich ihn anrief, sprang sofort die Mailbox an.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Auf der gesamten Fahrt unter strahlend hellem Himmel über den Freeway versuchte ich immer wieder, ihn zu erreichen, aber Carlos drückte mich jedes Mal weg. Als ich an den Pyramiden von Teotihuacán vorbeikam, noch zirka eine Stunde von zu Hause entfernt, fand ich, ich sei hartnäckig genug gewesen, um seine Aufmerksamkeit verdient zu haben, aber er ging nicht dran. Also sprach ich eine Nachricht auf.

»Carlos, wenn du das abhörst: Du bist ein Idiot.«

Als ich mich in den Verkehr auf der Avenida de los Insurgentes fädelte, hinterließ ich ihm erneut eine Nachricht.

»Carlos, wenn du das abhörst: Du bist eine Drama Queen.«

Vor der roten Ampel an der Ecke Xola und Dr. Vértiz beschimpfte ich ihn als Poser, als Wichser und ruhmgeiles Arschgesicht.

Auf den Straßen meines Viertels war bereits einiges los: Hippe, tätowierte Grafikdesigner, Kellner und Bedienungen, Friseure, Straßenfeger in orangefarbenen Overalls und gestresste Büroangestellte in billigen Anzügen eilten fast im Laufschritt über die Bürgersteige, taten eigenartigerweise so, als wollten sie unbedingt pünktlich sein in einer Stadt, in der so etwas wie Pünktlichkeit gar nicht existierte.

Der Tianguis-Markt war bereits in vollem Gang, als ich vor meinem Haus hielt, Imbisswagenverkäufer fegten schmutzige Putzbrühe über den Gehweg. Pickups aus Estado de México, Morelos und Tulancingo parkten am Bordstein, waren schwer beladen mit Chorizo, riesigen weißen Käserädern, aufgestapelten Eierkartons und ganzen Wäldern aus Koriander. Ein ganz gewöhnlicher Tag, fand ich, und dass die ganze Normalität um mich herum Carlos’ Chancen verbesserte, weil er an einem Tag wie diesem unmöglich verschwinden konnte.

Als ich die Tür zu meiner Wohnung öffnete, zerschnitt die Jalousie das Licht in grapefruit-orangefarbene Streifen. Die Stimmen von Nachrichtensprechern plapperten aus den Lautsprechern eines Laptops. Ich hatte meine Freundin Maya, die als Journalistin fest bei einer großen einheimischen Zeitung angestellt war, gebeten, auf meine Wohnung und meine Katze aufzupassen, solange ich in Poza Rica war, weil sie ihre eigene, neue Wohnung nicht mochte. Sie saß am Tisch auf einem mit rotem Leder bezogenen Gio-Ponti-Imitat, das ich im Mercado Lagunilla ergattert hatte, und wurde von meiner Katze Motita, die den Schwanz lässig hin- und herschwenkte, vom Sessel aus beäugt.

»Wie habt ihr beiden euch vertragen?« Ich hängte meine Jacke an den Garderobenständer neben einer guatemaltekischen Gottheit, die mein Freund Luis mit Hello-Kitty-Aufklebern zugepflastert hatte. Die Gottheit hatte einen recht verzweifelt wirkenden Gips-Jesus im Rachen stecken.

»Die Katze da und ich, oder wie?«, fragte Maya. »Die hat was gegen Frauen.« Sie schaute nicht von ihrem Laptop auf. »Drei Tage, drei Nächte. Sie jault, ich füttere sie. Sie jault, ich mache sauber. Und trotzdem …«, sie schlug mit dem Handrücken Richtung Motita ins Leere, machte kurz vor deren Kopf Halt, »… immer noch dieser verächtliche Blick.«

Motita wusste, dass ich wieder da war, aber sie schaute nicht auf. Sie schielte, war fettleibig, fast schon neun Jahre alt und konnte nicht mehr miauen: Stattdessen gab sie ein eigenartiges jaulendes Husten von sich.

»Mich ignoriert sie auch, falls dich das tröstet«, sagte ich, ließ meinen Rucksack fallen und durchquerte den Raum zum Aquarium. »Wie geht’s meinen Fischen?«

Mayas Finger klapperten auf den Laptop-Tasten. »Die haben Schnecken.«

Geschraubte bernsteinfarbene Schneckenhäuser sprenkelten die Scheibe, die Kieselsteine und die schmalen grünen Wasserpflanzen.

»Verdammte Scheiße.« Ich nahm ein Schmetterlingsnetz und einen Blecheimer aus dem Regal. »Und Algenblüte auch noch.« Ich fischte im Wasser herum.

Motita dachte offenbar, ich hätte es auf die Fische abgesehen, und rollte sich an meinen Füßen zusammen. Ich bespritzte sie mit Wasser, bis sie hustete und davonwatschelte, wobei sie auf dem Weg zu ihrer Futterschüssel an einen Schrank stieß.

»Scheiß Schnecken«, sagte ich.

Im Aquarium waberten Gruppen von Salmlern um einen männlichen und einen weiblichen Kampffisch herum, die mit den lila Flossen zuckten und zwischen den Farnen und Wasserähren hindurchglitten.

»Die Kannibalenschnecken haben es nicht gebracht.« Ich tippte an die Scheibe, über die sich langsam ein getigertes Schneckenhaus schob. »Die futtern ein paar wenige von den kleinen, dann fallen sie schon ins Fresskoma.«

»Keine verzweifelten Kurzschlusshandlungen«, sagte Maya. »Besonders nicht in Zoogeschäften.«

Weitere Schnecken klapperten in den Eimer.

»Die werden dich bescheißen, Mann«, sagte Maya. »Na ja, haben sie ja schon.«

»Der Köder, die Kürbisbröckchen, die ich da reingeschmissen habe, das hat auch nicht funktioniert?«

»Die haben die Fische gefressen.« Maya blätterte in einem Buch, das sie in meinem Regal gefunden hatte – eine Retrospektive über SEMEFO, ein Künstlerkollektiv aus den neunziger Jahren, das Black-Metal-Raves veranstaltet, Pferde gehäutet und Körperteile aus Leichenschauhäusern gestohlen hatte. Sie schlug eine Seite auf, die eine Zunge mit Diamantstecker auf einem Sockel zeigte, und streckte ihre eigene Zunge raus. »Soll ich mir auch so was stechen lassen?«

Julián Gallardos Gesicht blitzte auf in meinem Kopf.

»Was, ein Piercing?«, fragte ich.

»Ja«, sagte Maya. »Bei dem hier sieht’s doch ganz gut aus.«

»Da ist doch nur die Zunge zu sehen. Woher willst du wissen, ob’s gut aussieht?« Ich schüttelte den Eimer, musterte die klappernden nassen Klümpchen. »Schau dir das an. Eine Schweinerei ist das.«

»Ich hab auf die Wohnung aufgepasst«, sagte Maya. »Nicht deine Altlasten abgetragen.« Sie blätterte die nächste Seite so schwungvoll um, dass sie beinahe gerissen wäre. »Kippst du die alle auf einmal ins Klo?«

»Äh, ja?«

»Meinst du, das ist schlau?«, fragte Maya. »In der Kanalisation gibt’s so schon jede Menge mutierte Scheiße. Willst du nachts von Killerschnecken ermordet werden?«

»Dann wirf keine Abfälle in meine Spüle.«

Maya knallte das Buch zu. »Hab ich auch nicht.«

Die Toilette leerte sich, die Schnecken wurden weggespült.

»Algenblüte«, sagte ich erneut, schüttelte den Kopf, während ich den Eimer wieder unter dem Aquarium verstaute.

»Daran ist die Luftverschmutzung schuld«, sagte Maya gähnend. »Nicht ich.« Sie hatte nicht ganz unrecht damit. Jeden Tag veröffentlichte die Stadtverwaltung auf ihrer Website eine Karte zur Luftqualität: Grüne Punkte zeigten saubere Luft an, gelbe nicht ganz so saubere und so weiter bis hin zu grau, rot und zum Schluss schwarz. Auf der Fahrt nach Hause hatte ich auf die Karte geschaut und gesehen, dass die magenförmige Stadt grau, gelb und rot gesprenkelt war.

Die schlimmste Luftverschmutzung in Mexiko seit 1983, hieß es in den Zeitungen, wobei man Letztere aber nicht erst lesen musste, um das zu merken. Man bekam morgens schon Halsschmerzen von der schlechten Luft, die man die ganze Nacht geatmet hatte. Am Nachmittag wurden die Augen rot und brannten. Auf der kalten Keramik des Wasserbehälters über der Toilette sammelten sich nachts Moskitos und Fliegen wie das Negativ einer Galaxie.

Wenn man nur im eigenen Wohnhaus die Treppe hinaufstieg, schmeckte man das beißende Ozon in der Luft. Man erkannte es an der frischen Sepiatönung der Fensterscheiben, kaum eine Stunde nachdem man diese geputzt und von dem Dreck befreit hatte, der in der Luft herumflog.

In solchen Zeiten ließ die Hitze Rohrleitungen platzen. Die Jauche trocknete, Staub wirbelte auf. Manchmal war das so schlimm, dass man Artikel über Krankheiten des neunzehnten Jahrhunderts schreiben musste, weil sie sich in den ärmeren Stadtteilen erneut verbreiteten: Typhus, Ruhr, Cholera.

Während ich mir die Hände wusch, hörte ich Maya durch die geöffnete Badezimmertür fragen: »Und wie war deine Reise?«

Julián Gallardos feuchtes abgeschältes Gesicht in Nahaufnahme, die Ameise, die langsam über sein rohes Nasenbein krabbelte.

»Na ja«, sagte ich. »Gut.« Wieder im Raum, sah ich, dass mein Handy immer noch nicht gebrummt hatte. »Die Fahrt war lang.«

»Willst du Kaffee?«

»Cool, danke.«

»Du weißt ja, wo er steht.«

»Verfluchte Scheiße.« Ich ging in die Küche, um Frühstück zu machen. Drei Mangos lagen unten im Gemüsefach. »Danke für die Mangos.« Ich nahm eine Packung Café Garat aus dem Kühlschrank und löffelte eine dicke dunkle Schicht in die Stempelkanne, dann setzte ich Wasser auf.

»Hab auch eine für Carlos besorgt«, sagte Maya. »Hast du ihn gleich zu Hause abgesetzt, oder was?«

»Hm.« Ich schnitt den feuchten Kern der Mangos heraus. »Er ist, na ja, er ist noch unten geblieben.«

Maya hörte auf zu tippen. »Was?«

Wasser blubberte auf dem Herd. Als ich das Gas ausgeschaltet hatte und sich die Luftblasen legten, schenkte ich Wasser ein, sah wie das Pulver aufwirbelte.

»Ist der wahnsinnig?«, fragte Maya.

»Äh, ja«, sagte ich, brachte eine randvolle Kaffeekanne und die Mangos mit.

»Du weißt, was da unten los ist, oder?«

Ich schüttelte den Kopf, schob ihr den Teller mit den Mangos zu.

Maya drehte den Computer zu mir um. »Eine Demo, Mann. Eine große.«

Auf dem Bildschirm waren verwackelte Filmaufnahmen von Studenten und Arbeitern, Müttern und Kindern zu sehen, die Transparente mit dem Bild eines jungen Mannes hochhielten, darüber stand: »WO IST ER?«

Das Gesicht war das von Julián Gallardo.

Der gemahlene Kaffee in meinem Becher setzte sich langsam auf dem Boden ab, die Furchen an meinen Händen waren Salzwasserströme.

Carlos, wenn du das liest, dann sieh zu, dass du da wegkommst.

»Hast du das gewusst?«, fragte Maya, während die Aufnahmen von der Demo weiterliefen.

»Absolut nicht.« Ich kratzte mich am Hals. Eine Jesus-Malverde-Figur zwischen den Cocktailgläsern auf meinem Regal warf mir einen gequälten Blick zu.

Maya betrachtete mich durch ein wachsendes Netz aus Zigarettenrauch. »Da unten ist was passiert, oder?«

»México no se vende!«, schrie die Menschenmenge auf dem Bildschirm. Mexiko verkauft sich nicht!

»Sozusagen.« Ich biss mit den Zähnen auf ein loses Stückchen Haut an meiner Lippe, bis mir der Schmerz durch den Schädel schoss.

Maya war noch nie viel verborgen geblieben: Sie war die erste Schülerin gewesen, die ich damals in Englisch unterrichtet hatte. Weil sie als Teenager mit denselben Texten von Radiohead und Zitaten aus Daria aufgewachsen war wie ich und lediglich ein Zeugnis von der Schule brauchte, das ihr bestätigte, der englischen Sprache mächtig zu sein, um bei ihrer Zeitung befördert zu werden, hatten wir während des Unterrichts größtenteils Blödsinn geredet und Kaffee getrunken. Hin und wieder hatte ich ihre Artikel Korrektur gelesen.

»Und?«, fragte sie mich.

»Siehst du den jungen Mann da auf den Transparenten?« Ich zeigte auf den Laptop-Bildschirm. »Wir haben ihn gefunden.«

Sie riss die Augen auf. »Was? Und das habt ihr niemandem gesagt?«

»Nein.« Ich rieb mir die Augen. »Die Polizei hat ihn auch gefunden – die Guardia Civil. Und uns auch. Aber ehrlich gesagt, schienen die irgendwie Angst zu haben. Sie haben uns nur verwarnt. Und dann gehen lassen.«

Maya ließ sich unsanft auf den Stuhl sacken. »Und danach hast du Carlos da unten allein gelassen?«

Meine Backenzähne klangen, als würde jemand Möbel verrücken, so fest knirschte ich damit. Zwei Jahre, sechs Monate, zwanzig Tage waren vergangen, seitdem ich das letzte Mal etwas getrunken oder eine Line gezogen hatte, und ich konnte den guten Vorsatz nicht mehr in mir spüren – nur die Wärme des Kaffeebechers mit dem Porträt von William Howard Taft, den mir Maya geschenkt hatte, als ich mir einmal vergeblich einen Schnauzer hatte stehen lassen wollen.

Ich nahm einen Schluck Kaffee gegen das Halskratzen, das von der verschmutzten Luft herrührte, schüttelte den Kopf und sagte: »Mal ehrlich? Haben du und ich überhaupt schon mal verhindern können, dass Carlos tut, was er sich in den Kopf gesetzt hat?«

Maya sog Luft durch die Zähne. »Da ist was dran.«

Die Menge im Laptop schlängelte sich durch eine Lücke zwischen den Einsatzschilden der Polizei. Ihre Gesänge hallten durch die Luft.

»Große Menschenansammlung«, sagte ich.

»Die behaupten, der junge Mann war wichtig«, sagte Maya. »Eine Art Aktivistenanführer. Ziemlich bekannt.«

»Trotzdem, das sind ganz schön viele Menschen, die so schnell auf die Straße gegangen sind«, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Na ja, ich meine, weißt du, wie viele Leute da unten eine Wahnsinnswut auf die Polizei und die Ölunternehmen haben? Da braucht es nur ein paar Facebook-Posts, und schon stürzen sie sich drauf.«

»Hm. Dann trag ich wohl besser mit meinem Artikel auch noch was dazu bei«, sagte ich, trank meinen Becher leer. »Apropos – Zeit, loszulegen.« Maya und der Gedanke an Arbeit waren das Einzige, das mich davon abhielt, Koks zu kaufen und die Zeit zu beschleunigen, bis Carlos wieder bei mir war. »Willst du noch ein bisschen bleiben? Sehen, ob Carlos anruft oder so?«

»Klar, ja«, sagte Maya, schenkte sich noch einen Becher Kaffee ein und streckte die Hand nach meinem Becher aus.

Motita rammte erneut den Schrank, woraufhin dessen Tür aufschlug.

Maya zeigte auf die Katze. »Aber dieses Mal fütterst du sie. Die und ich, wir sind fertig miteinander.«

5

Maya ging mit ihrem Laptop in die Diele, während ich Motita fütterte und duschte, die Müdigkeit sickerte mir aus den Knochen wie das schlickschwere Abwasser, das in Poza Rica aus den Bohrlöchern gepumpt wurde. Vor dem Badezimmerspiegel rümpfte ich die Nase. Einunddreißig war ich damals, aber die tiefen Höhlen um die Augen, die ich meiner Schlaflosigkeit zu verdanken hatte, ließen mich keinen Tag jünger als vierzig wirken.

Ich sah schon schlecht aus, aber ich fühlte mich noch viel schlechter. Weil ich seit Tagesanbruch wach war, spürte ich die geronnene, saure Erschöpfung im Blut, und mein Magen verknotete sich aus Sorge um Carlos. Unter meinen Lidern starrten mir bei jedem Blinzeln Julián Gallardos leere rote Augenhöhlen entgegen.