Der ewige Gatte - Fjodor M. Dostojewski - E-Book

Der ewige Gatte E-Book

Fjodor M. Dostojewski

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Beschreibung

Vor vielen Jahren hatte der verarmte Adlige Alexej Weltschaninow eine Affäre mit der verstorbenen ersten Frau seines früheren Bekannten Pawel Pawlowitsch. Dieser hat nach dem Tod seiner Frau davon erfahren und so taucht er überraschend mit seiner Tochter Lisa bei Weltschaninow auf. Pawlowitschs merkwürdiges Verhalten deutet darauf hin, dass er sich rächen will und Weltschaninow bekommt es mit der Angst zu tun. Tatsächlich. Anfangs weiß Pawlowitsch nur noch nicht, "womit er das Ganze abschließen soll: mit einer Umarmung oder mit einem Mord. Natürlich kam er zu dem Schluss, dass es am besten sei, das eine und das andere zu tun, und zwar zusammen." Die geniale Erzählung Der ewige Gatte ist ein Klassiker der Spannungsliteratur.

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Seitenzahl: 326

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Fjodor Dostojewski

Der ewige Gatte

Erzählung

Reese Verlag

Inhaltsverzeichnis
Der ewige Gatte
Weltschaninow
Der Herr mit dem Trauerflor am Hute
Pawel Pawlowitsch Trussozki
Die Frau, der Ehemann und der Liebhaber
Lisa
Ein neuer Einfall eines Müßiggängers
Der Ehemann und der Liebhaber küssen sich
Lisa krank
Das Gespenst
Auf dem Kirchhofe
Pawel Pawlowitsch will heiraten
Bei Sachlebinins
Wessen Verlust ist größer?
Alexander und Nadeschda
Quitt
Versuch einer psychologischen Erklärung
Der lebenslängliche Ehemann
DIE WICHTIGSTEN HANDELNDEN PERSONEN
Über den Autor
Impressum
Hinweise und Rechtliches
E-Books im Reese Verlag (Auswahl):

Der ewige Gatte

Weltschaninow

Der Sommer war herangekommen, und Weltschaninow war gegen alle Erwartung in Petersburg geblieben. Aus seiner Reise nach Südrußland war nichts geworden, und von seinem Prozesse war noch immer kein Ende abzusehen. Dieser Prozeß, bei dem es sich um Vermögensangelegenheiten handelte, hatte eine sehr üble Wendung genommen. Noch vor drei Monaten hatte es so ausgesehen, als wenn die Sache höchst einfach läge und gar kein Streit darüber möglich wäre; aber plötzlich hatte alles eine andere Gestalt angenommen. »Es verändert sich jetzt überhaupt alles zum Schlechteren!« Diese Redensart hatte Weltschaninow angefangen mit einer Art von Schadenfreude häufig im stillen für sich zu wiederholen. Er hatte einen geschickten, teuren, renommierten Rechtsanwalt angenommen und ließ sich das Geld nicht leid sein; aber in seiner Ungeduld und in seinem Mißtrauen hatte er es sich angewöhnt, sich auch selbst mit seinem Prozesse zu beschäftigen: Er las Akten und verfaßte selbst Schriftsätze, die sein Rechtsanwalt sämtlich in den Papierkorb warf, lief bei den Gerichtsbehörden umher, stellte Nachforschungen an und störte dadurch wahrscheinlich nur den ganzen Gang der Sache; wenigstens beklagte sich der Rechtsanwalt über ihn und wollte ihn mit Gewalt in die Sommerfrische treiben. Aber nicht einmal in die Sommerfrische zu ziehen konnte er sich entschließen. Staub, drückende Schwüle und die den Nerven so schädlichen hellen Nächte, das waren in Petersburg die Genüsse, in denen er schwelgte. Er hatte irgendwo in der Nähe des Großen Theaters eine Wohnung inne, die er erst kürzlich gemietet hatte; aber auch damit hatte er Pech gehabt; es glückte ihm eben nichts, wie er sagte. Seine Hypochondrie wuchs von Tag zu Tage; zur Hypochondrie hatte er aber von jeher inkliniert.

Er war ein Mensch, der bisher sein Leben gründlich genossen hatte und nun nicht mehr der jugendlichste war: Er mochte achtunddreißig oder gar neununddreißig Jahre zählen, und dieses ganze »Greisenalter«, wie er selbst sich ausdrückte, war ihm »fast ganz unerwartet« über den Hals gekommen; aber er war sich selbst darüber klar, daß er nicht sowohl durch die Zahl als sozusagen durch die Qualität seiner Jahre gealtert war, und daß, wenn sich schon mancherlei Schwächen eingestellt hatten, dies mehr innerliche als äußerliche Schwächen waren. Wenn man ihn so ansah, machte er immer noch den Eindruck eines kräftigen Mannes. Er war hochgewachsen und breitschulterig, hatte hellblondes, dichtes Haar und noch keine Spur von Grau auf dem Kopfe und in dem langen, beinah bis auf die halbe Brust hinabreichenden blonden Barte; auf den ersten Blick schien er einem etwas plump und schlaff zu sein; sah man aber genauer zu, so erkannte man in ihm sogleich einen Herrn, der einmal eine vorzügliche Kinderstube und eine durchaus weltmännische Erziehung genossen hatte. Weltschaninows Manieren waren auch jetzt ungezwungen, sicher und sogar anmutig, trotz des mürrischen, schwerfälligen Wesens, das er angenommen hatte. Er war sogar immer noch von einem unerschütterlichen, weltmännisch dreisten Selbstvertrauen erfüllt, vielleicht ohne daß er sich der ganzen Größe desselben recht bewußt gewesen wäre, obwohl er nicht nur ein kluger, sondern manchmal sogar ein scharfblickender, beinah ein gebildeter und zweifellos ein wohlbegabter Mensch war. Ehemals hatte sich die Farbe seines offenen, frischen Gesichtes durch eine weibliche Zartheit ausgezeichnet und die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich gezogen, und auch jetzt noch sagte mancher, der ihn ansah: »Ist das mal ein kerngesunder Mensch; wie Milch und Blut!« Und doch wurde dieser »kerngesunde« Mensch in grausamer Weise von Hypochondrie geplagt. Seine großen, blauen Augen hatten vor zehn Jahren so etwas Sieghaftes gehabt; sie waren so glänzend, so heiler und so sorglos gewesen, daß sie unwillkürlich auf einen jeden, mit dem er in Berührung kam, eine starke Anziehungskraft ausübten. Jetzt, nahe an den Vierzigern, war die frühere Klarheit und Gutmütigkeit fast ganz aus diesen Augen verschwunden, die sich bereits mit kleinen Runzeln umgeben hatten, und es sprach aus ihnen vielmehr der Zynismus eines nicht ganz moralischen, müde gewordenen Menschen, ferner Schlauheit, besonders häufig Spottlust und noch ein neues Gefühl, das früher nicht vorhanden gewesen war: Traurigkeit und Schmerz, eine Art von zerstreuter, gleichsam gegenstandsloser, aber doch starker Traurigkeit. Diese Traurigkeit machte sich namentlich dann geltend, wenn er allein war. Und seltsam: Dieser Mensch, der noch vor zwei Jahren so munter, vergnügt und lustig gewesen war und so komische Geschichten in so prächtiger Weise erzählt hatte, der hatte jetzt nichts so gern, als wenn er vollständig allein sein konnte. Er hatte absichtlich eine Menge von Bekanntschaften aufgegeben, die er auch jetzt noch trotz seiner vollständig zerrütteten Finanzen hätte festhalten können. Allerdings wirkte hierbei auch sein Ehrgefühl mit: Bei seinem Mißtrauen und bei seinem Ehrgefühl war eine Fortsetzung der früheren Bekanntschaften unmöglich. Aber auch sein Ehrgefühl erlitt allmählich in der Vereinsamung eine Veränderung. Es wurde nicht geringer, ganz im Gegenteil; aber es entartete zu einer besonderen Sorte von Ehrgefühl, die er früher nicht besessen hatte: Es litt jetzt manchmal aus ganz anderen Ursachen als früher gewöhnlich, — aus überraschenden, früher ganz undenkbaren Ursachen, aus »höheren« Ursachen, als es die früheren gewesen waren, »wenn man sich überhaupt so ausdrücken kann und es tatsächlich höhere und niedrigere Ursachen gibt«. Dies pflegte er selbst hinzuzufügen.

Ja, so weit war es mit ihm gekommen; er quälte sich jetzt mit irgendwelchen »höheren« Motiven herum, an die er früher mit keinem Gedanken gedacht hatte. Höhere nannte er aufgrund seiner Einsicht und seines Gewissens all diejenigen »Motive«, über die er (zu seiner eigenen Verwunderung) schlechterdings nicht imstande war, im stillen für sich zu spotten (etwas, was ihm bis dahin noch nicht vorgekommen war), selbstverständlich im stillen für sich; denn in Gesellschaft, oh, da war es eine andere Sache! Er wußte recht wohl, daß er, wenn die richtigen Umstände zusammentrafen, auch jetzt noch trotz aller geheimen, frommen Mahnungen seines Gewissens mit aller Seelenruhe alle diese »höheren Motive« laut leugnen und selbst der erste sein würde, der sie lächerlich machte, selbstverständlich ohne seine neuere Anschauung zu gestehen. Und das war tatsächlich so, trotz einer gewissen sogar recht beträchtlichen Portion von Selbständigkeit des Denkens, die er sich in der letzten Zeit hinsichtlich der »niedrigeren Motive« erworben hatte, von denen er sich bis dahin hatte beherrschen lassen. Und wie oft hatte er selbst, wenn er sich am Morgen vom Bette erhob, sich der Gedanken und Gefühle geschämt, die ihn in der schlaflosen Nacht erfüllt hatten! (Er litt nämlich in der ganzen letzten Zeit häufig an Schlaflosigkeit.) Er hatte schon längst bemerkt, daß er in jeder Hinsicht, mochte es sich nun um Wichtiges oder um Kleinigkeiten handeln, außerordentlich mißtrauisch geworden war, und hatte sich daher vorgenommen, auch sich selbst möglichst wenig zu trauen. Indessen gab es doch Tatsachen, die man schlechterdings als existierend anerkennen mußte. In der letzten Zeit hatten seine Gedanken und Gefühle mitunter nachts sich im Vergleich mit den sonst immer vorhandenen fast vollständig geändert und ähnelten großenteils in keiner Weise denjenigen, die ihm in der ersten Hälfte des Tages kamen. Das befremdete ihn, und er befragte sogar einen berühmten Arzt, allerdings einen Bekannten von sich, und selbstverständlich redete er mit ihm in scherzendem Tone. Er erhielt zur Antwort, eine solche Veränderung und sogar Zweiteilung der Gedanken und Gefühle des Nachts bei Schlaflosigkeit, und überhaupt des Nachts, sei bei Menschen »mit starker Denk- und Gefühlstätigkeit« nichts Seltenes; die Anschauungen des ganzen bisherigen Lebens erfuhren mitunter ganz plötzlich durch die melancholische Einwirkung der Nacht und der Schlaflosigkeit eine Umgestaltung; es würden auf einmal ohne erkennbaren Grund die verhängnisvollsten Entschlüsse gefaßt; aber alles habe natürlich eine bestimmte Grenze, und wenn schließlich das betreffende Individuum diese Zweiteilung so stark empfinde, daß es wirklich darunter leide, so sei das unstreitig ein Symptom dafür, daß sich eine Krankheit herausbilde, und dann müsse man unverzüglich etwas dagegen unternehmen. Das beste sei eine radikale Veränderung der ganzen Lebensweise, eine Veränderung der Diät oder auch eine Reise. Auch ein Abführmittel sei natürlich nützlich. Weltschaninow mochte nichts weiter hören; aber die Krankheit erschien ihm als vollständig erwiesen.

»Also ist das alles nur Krankheit; all dieses ›Höhere‹ ist nur Krankheit und weiter nichts!« rief er manchmal giftig im stillen für sich aus. Es widerstrebte ihm doch, dem zuzustimmen.

Bald begann sich übrigens auch vormittags dasselbe zu wiederholen, was sich bis dahin ausschließlich in den Stunden der Nacht zugetragen hatte, nur daß es dann mit mehr Erbitterung verbunden war und Bosheit an die Stelle der Reue, Spott an die Stelle der Rührung trat. Im wesentlichen waren es allerlei Vorgänge aus seinem vergangenen, längst vergangenen Leben, die ihm immer öfter »plötzlich und Gott weiß woher« ins Gedächtnis kamen, und zwar in einer ganz merkwürdigen Weise. Weltschaninow klagte nämlich schon lange über das Schwinden seines Erinnerungsvermögens: Er vergaß die Gesichter von Bekannten, die ihm das dann bei Begegnungen übelnahmen; ein Buch, das er vor einem halben Jahr gelesen hatte, vergaß er innerhalb dieses Zeitraumes manchmal vollständig. Und sollte man es glauben: Trotz dieser augenscheinlichen, täglichen Abnahme des Gedächtnisses (über die er sich stark beunruhigte) fiel ihm jetzt manchmal plötzlich allerlei ein, was einer längst vergangenen Zeit angehörte, allerlei, was er schon zehn, fünfzehn Jahre lang vollständig vergessen gehabt hatte; und zwar kam ihm das alles mit einer so erstaunlichen Genauigkeit der Eindrücke und der einzelnen Umstände ins Gedächtnis, daß er es gleichsam noch einmal zu erleben glaubte. Manche der ihm wieder einfallenden Tatsachen hatte er dermaßen vergessen gehabt, daß ihm schon allein der Umstand als ein Wunder erschien, daß sie ihm hatten wieder ins Gedächtnis kommen können. Aber das war noch nicht alles; wer, der ein flottes Leben geführt hat, hätte nicht seine eigenartigen Erinnerungen? Aber die Sache war die, daß ihm alle diese wiederkehrenden Erinnerungen sozusagen unter einem ganz neuen, überraschenden, vorher ganz undenkbaren Gesichtswinkel erschienen, gerade als wenn ihn jemand jetzt auf einen anderen Standpunkt versetzt hätte. Warum erschienen ihm manche Erinnerungen jetzt geradezu als Verbrechen? Und es handelte sich dabei nicht nur um Urteile, die sein Verstand fällte: Seinem umdüsterten, vereinsamten, kranken Verstände würde er nicht geglaubt haben; aber es kam bei ihm zu Selbstverwünschungen und beinah zu Tränen, wenn nicht zu äußerlichen, so doch zu innerlichen. Ja, noch vor zwei Jahren würde er es nicht geglaubt haben, wenn man ihm gesagt hätte, er würde einmal Tränen vergießen! Übrigens gehörten anfangs diese Erinnerungen vorwiegend nicht dem Gebiete der Empfindsamkeit, sondern des Ärgers an: Es kamen ihm einige Mißerfolge und Demütigungen im gesellschaftlichen Leben ins Gedächtnis; er erinnerte sich zum Beispiel daran, wie ihn »ein Intrigant verleumdet hatte«, weswegen man in einem vornehmen Hause aufgehört hatte ihn zu empfangen; ferner, wie er (und das war gar nicht einmal so lange her) in einer eklatanten Weise öffentlich beleidigt worden war und den Beleidiger nicht gefordert hatte; wie er einmal in einem Kreise sehr hübscher Frauen durch ein witziges Epigramm abgetrumpft worden war und keine Antwort darauf hatte finden können. Es fielen ihm sogar zwei oder drei unbezahlte Schuldposten ein; sie beliefen sich allerdings nur auf geringe Summen, aber es waren Ehrenschulden an Leute, mit denen er aufgehört hatte zu verkehren, und von denen er schon Übles sprach. Auch quälte ihn (jedoch nur in den schlimmsten Augenblicken) die Erinnerung an zwei auf die dümmste Art und Weise vergeudete Vermögen, von denen ein jedes recht bedeutend gewesen war. Aber bald kamen ihm auch Dinge aus der »höheren« Gattung ins Gedächtnis.

So erinnerte er sich zum Beispiel plötzlich »ganz aus heiler Haut« der von ihm vergessenen, im höchsten Grade vergessenen Gestalt eines gutherzigen alten Beamten, eines grauhaarigen, komischen Männchens, den er einmal vor langer, langer Zeit öffentlich ungestraft beleidigt hatte, und zwar einzig und allein aus törichter Prahlsucht: Nur um ein komisches, wohlgelungenes Witzwort nicht unausgesprochen zu lassen, das ihm Ruhm eintrug und viel kolportiert wurde. Er hatte die Geschichte so vergessen gehabt, daß er sich nicht einmal an den Familiennamen dieses alten Mannes erinnern konnte, wiewohl ihm jetzt alle Umstände des Vorganges mit unbegreiflicher Klarheit vor Augen standen. Er erinnerte sich deutlich, daß der alte Mann damals für die Ehre seiner Tochter eingetreten war, einer alten Jungfer, die mit ihm zusammen lebte, und über die in der Stadt gewisse Gerüchte im Umlauf waren. Der Alte hatte auf das Witzwort eine zornige Antwort geben wollen, hatte aber auf einmal vor der ganzen Gesellschaft zu weinen und zu schluchzen angefangen, was sogar einigen Eindruck gemacht hatte. Die Sache hatte damals damit geendet, daß man dem alten Manne zum Spaß gehörig Champagner zu trinken gegeben und sich dann doppelt über ihn lustig gemacht hatte. Und als Weltschaninow sich jetzt »ganz aus heiler Haut« daran erinnerte, wie das alte Männchen damals wie ein Kind geschluchzt und sein Gesicht mit den Händen bedeckt hatte, da kam es ihm auf einmal so vor, als hätte er es niemals vergessen gehabt. Und seltsam: Damals war ihm das alles sehr komisch vorgekommen; jetzt aber erregte es bei ihm die entgegengesetzte Empfindung, namentlich manche Einzelheiten wie das Bedecken des Gesichtes mit den Händen. Ferner erinnerte er sich, wie er lediglich zum Scherz die sehr schöne Frau eines Schullehrers verleumdet hatte und die Verleumdung dem Manne zu Ohren gekommen war. Weltschaninow hatte jenes Städtchen bald darauf verlassen und wußte nicht, welche Folgen seine Verleumdung damals gehabt hatte; aber jetzt malte er sich diese Folgen auf einmal aus, und Gott weiß, wohin seine Einbildungskraft dabei noch gelangt wäre, wenn ihm nicht auf einmal eine ihn noch weit näher angehende Erinnerung gekommen wäre, die Erinnerung an ein Mädchen aus dem einfachen Bürgerstande, das ihm nicht einmal gefallen, ja, dessen er sich, die Wahrheit zu sagen, sogar geschämt hatte, mit dem er aber doch, ohne selbst recht zu wissen warum, ein Kind gehabt hatte; dann aber hatte er bei seiner Abreise von Petersburg das Mädchen mitsamt dem Kinde im Stich gelassen, ohne auch nur Lebewohl zu sagen (er hatte allerdings auch keine Zeit gehabt). Nach diesem Mädchen suchte er nun ein ganzes Jahr lang, konnte es aber absolut nicht finden. Übrigens tauchten solche Erinnerungen beinahe zu Hunderten auf, und eine jede schien ein Dutzend andere hinter sich herzuziehen. Allmählich fing auch sein Ehrgefühl dabei an zu leiden.

Wir haben bereits gesagt, daß sein Ehrgefühl nach einer besonderen Richtung hin entartet war. Dies war ganz zutreffend. Zuzeiten (diese Zeiten waren freilich nur selten) ging er in der Nichtachtung seiner eigenen Person so weit, daß er sich nicht einmal schämte, keine eigene Equipage zu besitzen, zu Fuß bei den Gerichtsbehörden umherzuwandern und sich etwas nachlässig zu kleiden; und wenn es vorgekommen wäre, daß ihn einer seiner alten Bekannten deswegen auf der Straße mit einem spöttischen Blicke gemessen hätte oder ihn einfach nicht hätte kennen wollen, so wäre er wirklich stolz genug gewesen, ein völlig gleichmütiges Gesicht zu bewahren. Und zwar hätte er das in allem Ernst getan, nicht etwa nur um des Aussehens willen. Selbstverständlich kam diese Stimmung nur selten vor; es waren nur vereinzelte Augenblicke der eigenen Nichtachtung; aber doch entfernte sich sein Ehrgefühl allmählich von den Gegenständen, auf die es früher gerichtet gewesen war und konzentrierte sich auf eine einzige Frage, die ihm nicht aus dem Sinn kam.

»Nun sieh mal an«, begann er manchmal sein stilles Selbstgespräch in satirischem Tone (wenn er über sich selbst nachdachte, geriet er fast immer in den satirischen Ton hinein), »nun sieh mal an, da gibt sich jemand Mühe, meine Moralität zu bessern, und sendet mir diese verdammten Erinnerungen und diese ›Tränen der Reue‹. Na, meinetwegen; helfen wird es nichts! Es sind ja doch alles nur blinde Schreckschüsse! Als ob ich nicht sicher wüßte, sicherer als sicher wüßte, daß ich trotz dieser Reuetränen und der Selbstverurteilung keine Spur von Festigkeit besitze, trotz meiner dummen vierzig Jahre! Es braucht nur gleich morgen eine ebensolche Versuchung an mich heranzutreten, es brauchen sich zum Beispiel die Umstände nur so zu fügen, daß es mir vorteilhaft ist, ein Gerücht in Umlauf zu setzen, als ob die Lehrerfrau von mir Geschenke genommen habe, und ich werde mit aller Sicherheit ein solches Gerücht ohne zu zucken verbreiten, und die Sache wird noch häßlicher sein als das erstemal, weil es eben schon das zweitemal und nicht das erste sein wird. Na, und sollte mich jetzt gleich wieder dieser junge Fürst, der einzige Sohn seiner Mutter, beleidigen, dem ich vor elf Jahren das Bein zerschossen habe, so werde ich ihn sofort fordern und ihm wieder zu einem Stelzfuße verhelfen. Na, sind das also nicht leere, bedeutungslose Schreckschüsse? Was haben also alle diese Erinnerungen für Zweck, wenn ich es doch nicht verstehe, mich auch nur einigermaßen in anständiger Weise von mir selbst loszumachen!«

Und obgleich sich die Geschichte mit der Lehrerfrau nicht wiederholte, und obgleich er niemanden wieder zu einem Stelzfuß verhalf, so quälte ihn doch schon der bloße Gedanke, daß sich alles mit Sicherheit ebenso abspielen würde, wenn die Umstände sich so fügten; wenigstens quälte er ihn bisweilen. Immer braucht man sich ja allerdings nicht mit Erinnerungen selbst zu peinigen; man darf sich doch auch erholen und amüsieren, sozusagen in den Zwischenakten.

So handelte Weltschaninow denn auch: Er gönnte sich in den Zwischenakten ein Amüsement; aber doch wurde ihm der Aufenthalt in Petersburg, je länger er dauerte, um so unangenehmer. Schon war der Juli herangekommen. Manchmal ging ihm der Gedanke durch den Kopf, alles stehen und liegen zu lassen, auch den Prozeß, und ohne weiteres ganz plötzlich irgendwohin zu fahren, beispielsweise etwa nach der Krim. Aber eine Stunde darauf verwarf er diesen Gedanken gewöhnlich schon wieder und lachte über ihn: »Diese dummen Gedanken wird mir, da sie sich nun einmal eingestellt haben, auch ein Aufenthalt im Süden nicht austreiben, wenn ich ein wenigstens halbwegs anständiger Mensch bin; folglich ist es zwecklos, vor ihnen zu flüchten, und es ist ja auch kein Grund dazu vorhanden.«

»Und wozu sollte ich auch davongehen?« fuhr er trübselig zu philosophieren fort; »hier ist es so staubig und schwül, in diesem Hause und in diesen Gerichtsbureaus, in denen ich mich herumtreibe, ist alles so schmutzig, alle diese Geschäftsleute zeigen eine so mäusehafte Betriebsamkeit, eine so kleinliche Sorglichkeit, all diesen Leuten, die in der Stadt geblieben sind und vom Morgen bis zum Abend an einem vorüberhuschen, steht ihre ganze Selbstsucht, ihre ganze harmlose Frechheit, die ganze Feigheit ihrer Seelen, die ganze Hühnerhaftigkeit ihrer Herzen mit so naiver Offenheit auf dem Gesichte geschrieben, daß hier wirklich ein wahres Paradies für einen Hypochonder ist, ganz im Ernste gesagt! Alles ist unverhüllt und offen; kein Mensch hält es für nötig, sich zu maskieren, wie das unsere Damen in der Sommerfrische und in den ausländischen Badeorten tun, — und folglich verdient alles schon allein für diese Offenheit und Ehrlichkeit die vollste Hochachtung! ... Ich reise nicht weg! Und wenn ich hier krepieren sollte, ich reise nicht weg!«

Der Herr mit dem Trauerflor am Hute

Es war der dritte Juli. Die Schwüle und die Hitze waren unerträglich. Dieser Tag war für Weltschaninow vollständig mit Geschäften ausgefüllt: Den ganzen Vormittag über hatte er in der Stadt herumlaufen und herumfahren müssen, und für den Abend stand ihm noch als unumgänglich notwendig in Aussicht, einen Besuch bei einem für ihn sehr wichtigen Herrn zu machen, bei einem Staatsrate, einem tüchtigen Juristen; dieser wohnte zur Zeit in der Sommerfrische irgendwo am Schwarzen Bache, und Weltschaninow beabsichtigte, ihn unerwartet zu Hause zu überfallen. Zwischen fünf und sechs Uhr trat Weltschaninow endlich in ein Restaurant (es war zwar von etwas zweifelhaftem Charakter, aber französisch) am Newski-Prospekte bei der Polizejski-Brücke, setzte sich in seine gewöhnliche Ecke an sein Tischchen und bestellte sich sein gewöhnliches Mittagessen.

Er speiste täglich für einen Rubel zu Mittag (Wein extra), was er als ein Opfer betrachtete, das er verständigerweise seinen derangierten Verhältnissen brachte. Obwohl er sich jedesmal darüber wunderte, wie man so schlechte Kost überhaupt nur genießen könne, vertilgte er doch immer alles bis auf den letzten Bissen, und jedesmal mit einem solchen Appetit, als ob er vorher drei Tage lang nichts gegessen hätte. »Das ist etwas Krankhaftes«, murmelte er vor sich hin, wenn er manchmal seines Appetites inne wurde. Aber diesmal ließ er sich an seinem Tischchen in sehr übler Laune nieder, schleuderte seinen Hut ärgerlich irgendwohin beiseite, stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und versank in Gedanken. Hätte jetzt ein anderer in seiner Nähe speisender Mittagsgast sich irgendwie bemerklich gemacht oder hätte der ihn bedienende Kellner einen Auftrag nicht gleich beim erstenmal richtig verstanden, so hätte er, der es doch so gut verstand, höflich zu sein und nötigenfalls eine hochmütige, unbewegliche Miene zu machen, sicherlich einen Lärm gemacht wie ein Fähnrich und womöglich einen Skandal herbeigeführt.

Es wurde ihm die Suppe gebracht, und er nahm den Löffel in die Hand; aber bevor er ihn gefüllt hatte, warf er ihn plötzlich wieder auf den Tisch und sprang beinah vom Stuhle auf. Ein überraschender Gedanke war auf einmal in seinem Kopfe aufgeblitzt: In diesem Augenblicke war ihm (Gott weiß durch welche Ideenassoziation) plötzlich die Ursache seiner Verstimmung vollkommen klar geworden, dieser besonderen eigentümlichen Verstimmung, die ihn schon mehrere Tage hintereinander, die ganze letzte Zeit über gequält hatte, ihn Gott weiß wie angeflogen war und Gott weiß warum nicht wieder hatte von ihm weichen wollen; jetzt aber durchschaute er auf einmal alles und begriff die Sache vollständig.

»Das ist einzig und allein dieser Hut!« murmelte er, als wenn ihn eine Inspiration überkommen hätte. »Nur er, nur dieser verdammte Zylinderhut mit dem abscheulichen Trauerflor, ist an allem schuld!«

Er fing an nachzudenken, und je länger er nachdachte, um so ingrimmiger wurde er, und um so wunderbarer erschien ihm »diese ganze Begebenheit«.

»Aber ... aber was liegt denn hier überhaupt für eine Begebenheit vor?« wollte er opponieren, da er sich selbst mißtraute. »Hat denn hier etwas stattgefunden, was auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Begebenheit hätte?« Die ganze Sache verhielt sich folgendermaßen. Es mochte schon fast vierzehn Tage her sein (genau erinnerte er sich eigentlich nicht; aber so lange, meinte er, war es her), da war er zum erstenmal auf der Straße, an der Ecke der Podjatscheskaja- und der Meschtschanskaja-Straße, einem Herrn mit einem Trauerflor am Hute begegnet. Der Herr sah so aus wie alle Leute, hatte nichts Besonderes an sich, ging schnell vorbei, sah aber Weltschaninow sehr scharf an und zog dadurch sofort dessen Aufmerksamkeit in hohem Grade auf sich. Wenigstens war ihm das Gesicht des Herrn bekannt vorgekommen. Er mußte ihm offenbar schon irgendwann und irgendwo begegnet sein. »Aber wieviel tausend Gesichter habe ich in meinem Leben zu sehen bekommen; die kann ich unmöglich alle behalten!« sagte er sich. Als er zwanzig Schritte weitergegangen war, hatte er die Begegnung anscheinend bereits vergessen, trotz des starken Eindrucks, den sie zuerst auf ihn gemacht hatte. Aber doch hielt sich der Eindruck den ganzen Tag über, und zwar war es ein recht eigenartiger Eindruck, in Gestalt eines besonderen, grundlosen Ärgers. Er erinnerte sich jetzt, vierzehn Tage nachher, deutlich an alles dies; er erinnerte sich auch, daß er damals durchaus nicht begriffen hatte, woher dieser sein Ärger stammte, es so wenig begriffen hatte, daß er die Verstimmung, in der er sich jenen ganzen Abend über befand, keinen Augenblick mit der Begegnung am Vormittag in Zusammenhang gebracht hatte. Aber der Herr beeilte sich selbst, sich wieder in Erinnerung zu bringen: Er traf am andern Tage wieder mit Weltschaninow auf dem Newski-Prospekte zusammen und sah in wieder in einer sonderbaren Weise an. Weltschaninow spuckte aus; aber nachdem er das getan hatte, wunderte er sich sofort selbst über sein Verhalten. Es gibt allerdings Gesichter, die gleich von vornherein einen starken Widerwillen erregen, ohne daß man einen Grund dafür anzugeben vermöchte. »Ja, ich bin ihm tatsächlich schon irgendwo begegnet«, murmelte er nachdenklich, als seit der Begegnung bereits eine halbe Stunde vergangen war. Dann verbrachte er wieder den ganzen Abend in der verdrießlichen Stimmung; er hatte in der Nacht sogar einen häßlichen Traum, und dennoch kam ihm der Gedanke nicht in den Kopf, daß die ganze Ursache dieser seine neuen, eigenartigen Hypochondrie nur der soeben wiedergesehene Herr mit dem Trauerflor war, obgleich er sich an diesem Abende mehrmals an ihn erinnert hatte. Er ärgerte sich sogar flüchtig darüber, daß »so ein Quark« sich unterstand, so lange in seinem Gedächtnisse zu haften; aber seine ganze Aufregung auf ihn zurückzuführen, das hätte er sicherlich geradezu für unwürdig gehalten, wenn ihm ein solcher Gedanke überhaupt in den Sinn gekommen wäre. Zwei Tage darauf begegneten sie einander wieder, im Gedränge beim Aussteigen aus einem Newadampfer. Bei diesem dritten Male hätte Weltschaninow darauf schwören mögen, daß der Herr mit dem Trauerflor ihn erkannt hatte und zu ihm hinstrebte, aber durch die Menge davongetragen und fortgedrängt wurde; anscheinend »erdreistete« er sich sogar ihm die Hand entgegenzustrecken; vielleicht schrie er sogar auf und rief ihn beim Namen. Letzteres hörte Weltschaninow übrigens nicht deutlich; aber »wer ist denn eigentlich diese Kanaille, und warum kommt er nicht zu mir heran, wenn er mich wirklich erkennt und ihm soviel daran liegt, mit mir in Beziehung zu treten?« dachte er ärgerlich, als er sich in eine Droschke setzte und nach dem Smolny-Kloster fuhr. Eine halbe Stunde darauf war er bereits in lautem Streit mit seinem Rechtsanwalt begriffen; aber am Abend und in der Nacht quälte er sich wieder mit ganz abscheulichen und phantastischen hypochondrischen Gedanken herum. »Ob am Ende ein starker Gallenerguß stattfindet?« fragte er sich argwöhnisch, indem er in den Spiegel blickte.

Das war die dritte Begegnung. Darauf begegnete ihm fünf Tage hintereinander absolut »niemand«, und von der »Kanaille« war nichts zu sehen und zu hören. Aber trotzdem mußte er ab und zu an den Herrn mit dem Trauerflor denken. Mit einem gewissen Erstaunen ertappte sich Weltschaninow auf diesem Gedanken. »Was ist mir denn nur?« fragte er sich. »Sehne ich mich etwa nach ihm? Hm!... Er muß wohl auch viele Geschäfte in Petersburg haben,... und um wen trägt er nur den Flor? Offenbar hat er mich erkannt, während ich ihn nicht erkenne. Warum diese Menschen nur einen Trauerflor anlegen? Das steht ihnen gar nicht gut ... Ich glaube, wenn ich ihn näher ansähe, würde ich ihn erkennen ...«

Und da begann sich etwas in seinem Gedächtnisse zu regen, wie wenn man ein Wort, das man recht wohl kennt, auf einmal vergessen hat und sich nun aus aller Kraft bemüht, sich daran zu erinnern; man kennt es sehr gut und weiß, daß man es kennt; man weiß, was es bedeutet, und geht nun immer drum herum; aber das Wort will einem absolut nicht einfallen, und wenn man sich auch noch so sehr mit ihm abquält!

»Das war ... Das war vor langer Zeit ... und es war irgendwo ... da war es ... da war es ... na, hol es der Teufel, was das war und nicht war! ...« rief er auf einmal ärgerlich. »Lohnt es sich wohl, daß ich mich um diese Kanaille so abquäle und erniedrige? ...«

Er war furchtbar aufgebracht; als ihm aber am Abend auf einmal einfiel, daß er kurz vorher aufgebracht gewesen sei, »furchtbar« aufgebracht, da war ihm das doch höchst unangenehm; es war ihm, als hätte ihm jemand bei etwas ertappt. Er wurde verlegen und wunderte sich: »Es muß also doch ein Grund vorhanden sein, weshalb ich mich um nichts und wieder nichts so ärgere ... bei der bloßen Erinnerung ...« Er beendete den Satz in Gedanken nicht.

Aber am andern Tage ärgerte er sich noch mehr; diesmal jedoch glaubte er allen Grund dazu zu haben und vollkommen im Rechte zu sein; »es war eine unerhörte Dreistigkeit«: Die Sache war nämlich die, daß eine vierte Begegnung stattgefunden hatte. Der Herr mit dem Trauerflor war wieder erschienen, wie wenn er aus der Erde aufgestiegen wäre. Eben hatte Weltschaninow auf der Straße jenen für ihn so wichtigen Staatsrat erwischt, auf den er auch jetzt Jagd machte, indem er ihn wenigstens in der Sommerfrische unversehens zu überfallen gedachte (denn dieser Beamte, der mit Weltschaninow kaum bekannt war, aber auf den Gang des Prozesses großen Einfluß hatte, ließ sich auch damals, ebenso wie jetzt, nicht so leicht attrappieren und hielt sich offenbar, so gut er nur konnte, versteckt, da er seinerseits eine Begegnung mit Weltschaninow zu vermeiden wünschte); erfreut darüber, daß er endlich mit ihm zusammengetroffen war, ging Weltschaninow eilig neben ihm her, sah ihm in die Augen und machte die größten Anstrengungen, um den grauhaarigen Schlaukopf auf ein bestimmtes Gesprächsthema hinzuleiten, in der Hoffnung, dieser werde sich dabei vielleicht verplappern und ein Wörtchen fallen lassen, auf das er, Weltschaninow, schon lange sehnsüchtig wartete; aber der grauhaarige Schlaukopf war ebenfalls auf seiner Hut und zog sich durch Lachen und Schweigen aus der Schlinge, — und gerade in diesem Augenblick angestrengter Bemühung traf Weltschaninows Blick plötzlich auf dem gegenüberliegenden Trottoir den Herrn mit dem Trauerflor. Er stand da und schaute unverwandt von dort nach ihnen herüber; er beobachtete sie, das war offenbar; und es schien sogar, daß er spöttisch lachte.

»Hol ihn der Teufel!« erboste sich Weltschaninow, der, als er es endlich aufgegeben hatte, den Beamten länger zu begleiten, seinen ganzen Mißerfolg bei ihm auf das plötzliche Erscheinen dieses »Unverschämten« zurückführte. »Hol ihn der Teufel! Er spioniert mir ja nach! Er verfolgt mich offenbar! Er scheint von jemand dazu angestellt zu sein, und ... und ... und, weiß Gott, der Kerl hat spöttisch gelacht! So wahr ich lebe, ich werde ihn durchprügeln ... Nur schade, daß ich keinen Stock bei mir habe! Ich werde mir einen Stock kaufen! Das lasse ich mir nicht gefallen! Wer ist es denn? Ich will unbedingt wissen, wer er ist!«

Endlich, drei Tage nach dieser (vierten) Begegnung, finden wir Weltschaninow in seinem Restaurant, so wie wir ihn geschildert haben: bereits ganz ernstlich aufgeregt und sogar einigermaßen verstört. Das mußte er sich trotz all seines Stolzes selbst eingestehen. Und wenn er schließlich alle Umstände zusammenhielt, so sah er sich zu der Vermutung genötigt, daß an seiner ganzen Hypochondrie, an diesem seinem ganzen besonderen Kummer und an seiner ganzen nun schon zwei Wochen dauernden Aufregung kein andrer schuld war als eben dieser Herr mit dem Trauerflor, »trotz all seiner Wertlosigkeit«.

»Mag ich auch ein Hypochonder sein«, dachte Weltschaninow, »und infolgedessen dazu neigen, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, aber wird mir etwa deswegen leichter zumute, weil das alles vielleicht nur Einbildung von mir ist? Wenn jeder derartige Racker imstande ist, einen Menschen vollständig aus dem Gleichgewichte zu bringen, dann ist das ja ... dann ist das ja ...«

In der Tat hatte sich bei dieser heutigen (fünften) Begegnung, durch die Weltschaninow in eine solche Aufregung versetzt worden war, der Elefant fast ganz als eine Mücke herausgestellt; jener Herr war wie früher vorbeigehuscht, hatte aber diesmal Weltschaninow nicht einmal angesehen und nicht wie früher merken lassen, daß er ihn erkenne; er hatte vielmehr die Augen niedergeschlagen und anscheinend selbst lebhaft gewünscht, nicht bemerkt zu werden. Weltschaninow hatte sich umgedreht und ihm aus voller Kehle zugerufen:

»He! Sie mit dem Trauerflor! Warum verstecken Sie sich jetzt? Bleiben Sie mal stehen: Wer sind Sie?«

Die Frage (und der ganze Anruf) war recht sinnlos gewesen. Aber Weltschaninow war zu dieser Einsicht erst gekommen, als er bereits gerufen hatte. Auf diesen Ruf hatte sich der Herr umgedreht, war einen Augenblick stehen geblieben, verlegen geworden, hatte gelächelt, etwas sagen und tun wollen, war ein Weilchen offenbar in peinlicher Unentschlossenheit befangen gewesen, hatte aber dann auf einmal kehrtgemacht und war, ohne sich wieder umzudrehen, davongelaufen. Weltschaninow hatte ihm erstaunt nachgeblickt.

»Was stellt das vor?« hatte er gedacht. »Wie, wenn in Wirklichkeit nicht er hinter mir her ist, sondern ich hinter ihm und darin der ganze Spuk besteht?«

Nachdem er gespeist hatte, begab er sich so schnell wie möglich zu dem Beamten nach dem Landhause. Er traf ihn nicht an, und es wurde ihm mitgeteilt, der Herr sei, seit er am Vormittage weggegangen sei, nicht zurückgekehrt und werde heute kaum vor drei oder vier Uhr nachts zurückkehren, da er in der Stadt an der Feier eines Namenstages teilnehme. Das war für Weltschaninow so »beleidigend«, daß er in der ersten Wut beschloß, sich selbst zu dieser Feier zu begeben, und sogar tatsächlich eine Droschke nahm; aber während der Fahrt sagte er sich, daß das doch etwas zu weit gehe, lohnte den Kutscher auf dem halben Wege ab und schleppte sich zu Fuß nach seiner Wohnung beim Großen Theater. Er fühlte das Bedürfnis, sich Bewegung zu machen. Um seine aufgeregten Nerven zu beruhigen, mußte er, trotz seiner jetzigen Neigung zur Schlaflosigkeit, unter allen Umständen eine Nacht ordentlich durchschlafen; und um das zu können, mußte er sich wenigstens müde machen. Auf diese Weise gelangte er erst um halb elf zu sich nach Hause; denn der Weg war recht weit, — und er war tatsächlich müde geworden.

Die Wohnung, die er im März gemietet hatte, und über die er mit einer Art von Schadenfreude räsonierte und schimpfte, wobei er sich vor sich selbst damit entschuldigte, daß sie nur ein zeitweiliger Notbehelf sei, da er unversehens durch diesen »verdammten Prozeß« in Petersburg festgehalten werde — diese Wohnung war überhaupt nicht so schlecht und unanständig, wie er selbst es von ihr sagte. Der Zugang vom Tore her war allerdings etwas dunkel und unsauber; aber die im zweiten Stock gelegene Wohnung selbst bestand aus zwei großen, hellen, hohen Zimmern, die voneinander durch ein dunkles Vorzimmer getrennt waren, und von denen in dieser Weise das eine nach der Straße und das andere nach dem Hofe zu lag. Neben demjenigen, dessen Fenster nach dem Hofe hinausgingen, befand sich ein kleines Kabinett, das eigentlich als Schlafzimmer bestimmt war; aber bei Weltschaninow lagen darin eine Menge Bücher und Papiere unordentlich aufgehäuft; deshalb schlief er in einem der großen Zimmer, und zwar in dem, dessen Fenster nach der Straße zu lagen. Das Bett wurde ihm auf dem Sofa zurechtgemacht. Seine Möbel waren anständig, wiewohl etwas abgenutzt, und es befanden sich sogar einige wertvolle Stücke darunter, Reste früheren Wohlstandes: kleine Porzellan- und Bronzegegenstände und große, echte Teppiche aus Buchara; sogar zwei gute Ölgemälde hatten sich erhalten; aber alles war in sichtlicher Unordnung und sogar verstaubt, seit sein Dienstmädchen Pelageja nach Nowgorod gefahren war, um ihre Angehörigen zu besuchen, und ihn allein gelassen hatte. Dieser sonderbare Zustand, daß ein unverheirateter Mann aus der besseren Gesellschaft, der immer noch Anspruch darauf erhob, ein Gentleman zu sein, sich nur eine einzige weibliche Person zur Bedienung hielt, dieser Umstand brachte Weltschaninow fast zum Erröten, obgleich er mit dieser Pelageja sehr zufrieden war. Sie war von einer mit ihm bekannten Familie, die ins Ausland gereist war, zu ihm in Dienst gekommen, als er diese Wohnung im Frühjahr gemietet hatte, und hatte bei ihm alles in guter Ordnung gehalten. Nach ihrer Abreise hatte er kein anderes Dienstmädchen mieten mögen; einen Diener aber anzunehmen lohnte nicht für die kurze Zeit, und er konnte auch Diener überhaupt nicht recht leiden. So hatte er denn die Einrichtung getroffen, daß die Schwester des Hausknechts, Mawra, jeden Morgen kam, um die Zimmer aufzuräumen, und ihr übergab er auch den Schlüssel, wenn er ausging; aber sie tat so gut wie nichts, nahm ihr Geld hin und bestahl ihn auch noch, wie es schien. Aber ihm war das alles gleichgültig geworden, und er war sogar ganz zufrieden damit, daß er jetzt in seiner Wohnung völlig allein war. Aber es hatte doch alles seine bestimmte Grenze, und seine Nerven weigerten sich manchmal, in Zeiten besonderer Mißstimmung, auf das entschiedenste, diese ganze »Schmutzerei« zu ertragen, und wenn er zu sich nach Hause zurückkehrte, betrat er seine Zimmer fast jedesmal mit einem Gefühle des Ekels.

Aber diesmal ließ er sich kaum Zeit, sich ganz auszuziehen, warf sich auf das Bett und nahm sich in gereizter Stimmung vor, an nichts zu denken und unter allen Umständen »sofort« einzuschlafen. Und sonderbar: Er schlief wirklich ein, sowie nur sein Kopf das Kissen berührt hatte; das war bei ihm fast seit einem Monat nicht vorgekommen.

Er schlief etwa vier Stunden lang, aber unruhig, und hatte dabei seltsame Träume, wie sie sonst bei Fieberkranken Vorkommen. Es handelte sich dabei um ein Verbrechen, das er angeblich begangen hatte und nun zu verbergen suchte; dieses Verbrechens beschuldigten ihn einstimmig viele Menschen, die ununterbrochen von irgendwoher zu ihm hereinkamen. Es hatte sich schon eine furchtbar große Menge gesammelt; aber immer noch mehr Menschen strömten herein, so daß die Tür nicht mehr zuging, sondern sperrangelweit offen stand. Aber das ganze Interesse konzentrierte sich schließlich auf einen sonderbaren Menschen, der früher einmal ein sehr guter Bekannter von ihm gewesen, aber bereits gestorben und jetzt aus irgendwelchem Grunde plötzlich ebenfalls zu ihm hereingekommen war. Am meisten quälte es Weltschaninow, daß er nicht wußte, was das für ein Mensch war, daß er seinen Namen vergessen hatte und sich schlechterdings nicht darauf besinnen konnte; er wußte nur, daß er ihn einstmals sehr gern gehabt hatte. Von diesem Menschen schienen alle übrigen Leute, die hereingekommen waren, das entscheidende Wort zu erwarten, das heißt Weltschaninows Verurteilung oder Freisprechung, und alle bekundeten eine starke Ungeduld. Aber er saß ohne sich zu rühren am Tische, schwieg und wollte nicht reden. Der Lärm verstummte nicht, die Erregung wuchs, und auf einmal versetzte Weltschaninow in seiner Wut diesem Menschen einen Schlag dafür, daß er nicht reden wollte, und empfand davon einen seltsamen Genuß. Das Herz erstarrte ihm vor Schrecken und Schmerz über seine Tat; aber gerade in diesem Erstarren lag ein Genuß. Geradezu rasend geworden schlug er ihn ein zweites und ein drittes Mal, und in einer Art von Wut- und Angstrausche, der an Wahnsinn streifte, aber zugleich einen unendlichen Genuß in sich schloß, zählte er seine Schläge nicht mehr, sondern schlug ohne Aufhören weiter. Er wollte alles, »alles dies« vernichten. Auf einmal geschah etwas: Alle schrien furchtbar auf und wandten sich erwartungsvoll nach der Tür hin, und in diesem Augenblicke erscholl die Türklingel dreimal mit hellem Tone; es wurde aber mit solcher Kraft daran gezogen, als ob sie jemand von der Tür abreißen wolle. Weltschaninow erwachte, kam in einem Augenblicke zur Besinnung, sprang Hals über Kopf vom Bette und stürzte zur Tür hin; er war fest davon überzeugt, daß das Klingeln kein Traum gewesen sei, und daß wirklich jemand in diesem Augenblicke bei ihm geschellt habe. »Es wäre doch zu unnatürlich«, dachte er, »wenn mir so helle, wirkliche, ordentlich greifbare Töne nur geträumt haben sollten.«

Aber zu seinem Erstaunen stellte sich auch der Schall der Türklingel nur als Traum heraus. Er öffnete die Tür und trat auf den Flur hinaus; er blickte sogar auf die Treppe — es war kein Mensch da. Die Glocke hing da, ohne sich zu rühren. Verwundert, aber erfreut kehrte er in das Zimmer zurück. Während er eine Kerze anzündete, fiel ihm ein, daß er die Tür nur zugeklinkt, aber nicht zugeschlossen und zugehakt hatte. Auch früher hatte er oft, wenn er nach Hause zurückkehrte, vergessen, die Tür zur Nacht zuzuschließen, da er der Sache keine besondere Bedeutung beimaß. Pelageja hatte ihm einige Male deswegen Vorhaltungen gemacht. Er kehrte in das Vorzimmer zurück, um die Tür zuzuschließen, öffnete sie noch einmal und blickte auf den Flur hinaus und legte von innen nur den Haken vor; aber den Schlüssel in der Tür umzudrehen, war er doch zu träge. Die Uhr schlug halb drei; er hatte vier Stunden geschlafen.