Der EXIT-Komplex - Günter Schuler - E-Book

Der EXIT-Komplex E-Book

Günter Schuler

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Beschreibung

Deutschland, Ende der 2020er-Jahre: Das sogenannte EXIT-Programm verspricht Ordnung und Entlastung, allerdings zu einem hohen Preis. Menschen, die als gesellschaftlich nicht mehr tragbar gelten, sollen mithilfe eines Einfrierverfahrens aus dem aktiven Leben entfernt und zu einem späteren Zeitpunkt reaktiviert werden. Die Maßnahme ist politisch höchst umstritten, medial aufgeladen und ethisch fragwürdig. Doch ihre Umsetzung beginnt. Claudia Kopinski und Theo Schröder, beide aus unterschiedlichen Gründen im Visier des Systems, gelingt die Flucht. In Paris hoffen sie, untertauchen zu können. Während Claudia versucht, sich ein unauffälliges Leben als Buchhandlungs-Angestellte aufzubauen, gerät Theo zunehmend in das kleinkriminelle Milieu der Stadt. Doch auch jenseits der Grenze bleibt das EXIT-Programm präsent: sei es durch andere Geflüchtete, durch europäische Nachrichtendienste oder durch die zunehmende mediale Aufmerksamkeit, welche das Projekt auf sich zieht. Inmitten der französischen Hauptstadt kreuzen sich die Wege ganz unterschiedlicher Akteure: ehemalige Exilierte, Journalisten mit investigativen Absichten, dubiose Geschäftsleute, Geheimdienste mit eigenen Interessen. Während die öffentliche Erzählung rund um das EXIT-Programm erste Risse bekommt, spitzen sich die Ereignisse zu. Je weiter die Recherchen, Überwachungsmaßnahmen und persönlichen Verstrickungen voranschreiten, desto deutlicher wird: Das System ist längst mehr als ein technisches Verfahren. Es ist ein politischer Komplex geworden, in dem Wahrheit, Macht und individuelle Freiheit zur Verhandlungsmasse geworden sind. In dieser Gemengelage müssen sich Kopinski und Schröder nicht nur vor der Entdeckung schützen, sondern sich auch die Frage stellen, wie lange ein Leben in der Zwischenzone überhaupt möglich ist, und ob es einen Weg zurück in die Selbstbestimmung gibt. »Der EXIT-Komplex« ist als Teil einer möglichen Trilogie konzipiert. Der Roman verbindet die Elemente des dystopischen Thrillers mit politischer Gegenwartsdiagnose und erzählt von Überwachung, moralischer Grauzone und dem Mut, sich einem System zu widersetzen, das allumfassend erscheint. Dabei verknüpft er gesellschaftliche Großfragen mit der Intimität persönlicher Entscheidungen: atmosphärisch dicht, stilistisch präzise und mit klarem Blick auf die Risse in einer scheinbar kontrollierten Zukunft.

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Seitenzahl: 413

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Deutschland, Ende der 2020er-Jahre: Claudia Kopinski und Theo Schröder befinden sich auf der Flucht vor dem »EXIT-Programm«. Die politisch hochkontroverse Maßnahme dient dem Zweck, gesellschaftliche Problemfälle einem Einfrier-Verfahren zu unterziehen und in einer späteren Zeit wieder aufzutauen. Zurück geht sie auf einen französischen Wissenschaftler namens Jacques Bauer – eine Person, die eine eigene Nahtod- Erfahrung in klingende Münze umgesetzt hat und, so die Medien, kurz vor dem Start des Programms zum zweiten Mal verstorben ist. In Paris, wohin Kopinski und Schröder sich abgesetzt haben, laufen in der Folge mehr und mehr Fäden zusammen. Die Aktivitäten von krimineller Unterwelt, Nachrichtendiensten, welche das Milieu der Geflüchteten in der französischen Hauptstadt ausforschen, Politikern, Rechts extremen und schließlich einem Online-Magazin, welches den Sumpf rund um das »Programm« näher ausleuchten will, schaffen dabei zunehmend eine explosive Mischung. Und Kopinski und Schröder werden mehr in den Strudel der Ereignisse hineingezogen, als ihnen lieb ist.

Der EXIT-Komplex verbindet Elemente des klassischen Thrillers mit denen der Pulp-Geschichte, der Burleske sowie des französischen Exofictionalismus-Dramas. Mit seiner Science-Geschichte greift Autor Günter Schuler gesellschaftliche Entwicklungen auf und spitzt sie mit den Mitteln des Noir-Romans zu. Herausgekommen ist eine Erzählung über staatliche Strukturen, die sich verselbständigen – und was das mit Menschen sowie der umgebenden Gesellschaft macht.

Inhalt

1. Teil: Bonnie und Clyde

2. Teil: Ein Herbst in Paris

3. Teil: Bauer und Dame

4. Teil: Gewitter

Autor

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen, Parteien, Institutionen oder Firmen sind rein zufällig.

1. Teil

Bonnie und Clyde

1

Jacques Bauer(* 20. Juni 1949 in Vallan, Region Bourgogne-Franche-Comté; gestorben das erste Mal am 17. April 1992 in Châlons-sur Marne, heute: Châlons-en-Champagne in der Region Champagne-Ardenne. Aus dem Tod wiedererwacht am 30. Dezember 2002, danach normal weitergelebt; verstorben erneut am 6. Oktober 2025 in Paris) war ein französischer Biowissenschaftler und Soziologe. Seine Arbeitsschwerpunkte lagen in der Entwicklung sozialwissenschaftlich begleiteter Technologiekonzepte. Bauer gilt als Begründer innovativer Vergleichskonzepte bei der Entwicklung neuer Biotec-Verfahren. Zu seiner Volltod-Erfahrung, die lange Jahre lediglich in Insiderkreisen bekannt war, veröffentlichte er 2024 ein spektakuläres Buch mit dem Titel »Sterben und Wiederauferstehen«.

Theo Schröder kratzte sich am Kopf. Richtete den Blick erneut auf den Monitor seines MacBooks. Aber hier stand es – Wort für Wort so wiedergegeben in Wikipedia. Er schaute nach draußen, wo der spätherbstliche Himmel zwischen Orange, Blau und unterschiedlichen Grautönen oszillierte. Guter Überblick – hier im 9. Stockwerk einer Hochhaussiedlung, deren Wahl als neuer Lebensmittelpunkt ihm das Amt vor zwei Jahren dringlichst nahegelegt hatte. Das Wetter: konnte sich nicht entscheiden – ebenso wie er, rund eine Woche vor seinem angesetzten Einschläferungstermin. Mit einem nervösen Klick öffnete er die Liste mit der Versionsgeschichte des Eintrags. Vielleicht hatten sich ja irgendwelche Trolle an dem Artikel vergangen und Bauer die seltsame

Nahtod geschichte angedichtet. Aber es war nicht so. Theo – das »dor« dahinter hatten sich seine Erzeuger zeitig gespart – erkannte mit geübtem Blick: Da war kein Troll zugange gewesen. Fakt war: Bauer hatte gelebt, war eventuell gestorben, hatte danach weitergelebt und – neben vielem anderem, was er in seinem Leben vielleicht getan hatte – ein Buch verfasst, das offensichtlich Anklang gefunden hatte.

Das ziellose Herumstöbern im Netz währte bereits zwei Stunden. Auf diesen Bauer – oder besser: diesen Wikipedia-Eintrag über Bauer – war er über allerlei Zufalls-Umwege gestoßen. Mit anderen Worten: Theo Schröder, 47 Jahre, ehemals Print productioner bei einem Werbeblatt-Verlag und seit drei Jahren arbeitslos, tat etwas, was man Leuten wie ihm nur allzu gerne vorhielt: Er schob die Dinge vor sich her. Mit fahriger Geste steckte er sich eine Zigarette an. Sich einen imaginären Ruck gebend, nahm er den Brief zur Hand, der – kopfauf auf einem Stapel Unterlagen, die thematisch allesamt mit seinem derzeitigen Karma zu tun hatten – auf der linken Seite seines kleinen Schreibtisches lag.

Der Inhalt des Briefes klang nicht sehr ermutigend. Verfasst vom Innenministerium NRW, Düsseldorf, Abteilung EXIT, nahm er in langschweifig-umständlichem Bürokratiestil Bezug auf zurückliegende Korrespondenzen. Die reichlich mit aufgeführten Gesetzesparagrafen kehrten zusätzlich hervor, dass die Behörde lupenrein im Recht war – und darum verfügen konnte, was sie in den Folgeabschnitten eben zu verfügen gedachte. Die Verfügung wies ihn, Theo Schröder, an, sich am 13. Dezember um 8.00 Uhr im EXIT Center Düsseldorf Nord in der Wiedenberger Straße 74 einzufinden, um sich dort eben dem EXIT-Verfahren zu unterziehen. Zusätzlich imprägniert war der Anschreibetext mit Hinweisen, dass das Mitbringen von Gegenständen wie etwa SmartPhones, Büchern, Konsolen und Ähnlichem unnötig sei. Eine beigefügte und in den Anlagen des Schreibens mit enthaltene Liste würde ihn näher darüber in Kenntnis setzen, was er alles nicht mehr bräuchte – umgekehrt jedoch auch über die Dinge, gegen deren Mitbringen das Amt nichts einzuwenden habe.

Das Schreiben endete mit dem Hinweis auf unmittelbare Zwangsmaßnahmen, falls er zu dem angesetzten Termin nicht erschiene – wobei vorsorglich auch hier der entsprechende Paragraf mit angegeben war. Ergänzt war der Brief schließlich mit dem Hinweis auf die Rechtshilfebelehrung in der Anlage sowie dem Vermerk, dass er auch ohne handeingefügte Unterschrift Rechtsgültigkeit besitze.

Theos Gedanken schweiften ab – zurück zu seinem Leben noch vor wenigen Jahren. Sicher, der reine Glamour war es nicht gewesen. Er dachte zurück an den Stress im Verlag – ebenso aber auch an die lustigen Momente, die sie manchmal gehabt hatten. Die Verlagsfete, die sie zwei Jahre vor der Firmenpleite geschmissen hatten, war eines der Highlights. Theo hatte seinen Chef Rolf, mit dem er gut konnte, dazu überredet, für das Ganze eine Gartenwirtschaft draußen in der Heide zu buchen. Er, Theo, hatte den DJ gegeben. Am Ende sah die Szenerie aus wie aus dem Bilderbuch für Trucker-Romantik. Das bunte Licht der Lichterketten tauchte die sommerliche Nacht und die Tanzfläche in warme, satte Farben. Dann plötzlich sie.

»Kannst du mal einen bestimmten Song auflegen?«

Sie lächelte, eine Mischung aus Keckheit und Verlegenheit.

»Müsste gehen. An welchen hast du denn so gedacht?«

Sie beugte sich zu ihm vor und flüsterte ihm den Titel ins Ohr: Der letzte Cowboy kommt aus Gütersloh – ein Oldie aus unbeschwerteren Tagen, und in der Situation klar der Wink mit dem Zaunpfahl, musikalisch langsam auf die Romantik-Schiene überzuleiten. So hatten sie sich kennengelernt – Rosa und er. Am Ende hatten sie zwei, drei Stehblues-Nummern zusammen getanzt und sich danach zu einer mehr oder weniger heftigen Knutscherei hinter einen der Wohnwagen zurückgezogen.

Dann war der Aufprall gekommen. Der Verlag mußte schließen, dem Internet Platz machen. Der Rest für ihn war dann bald Amt gewesen. Mit dem war er ziemlich bald auf Konfliktkurs geraten. Und auch die Geschichte mit Rosa erwies sich am Ende als zeitlich limitiert. Ein paar Monate nach dem Firmenende hatte sie ihn wegen eines Immobilientypen verlassen und war mit dem Schwachkopf alsdann in einen namenlosen Vorort gezogen. Seither hatte er sie nicht mehr gesehen. Das gute Verhältnis mit seinen Kollegen in der Produktions-Crew hielt den harten Anforderungen des Lebens »danach« ebenfalls nicht stand – nach und nach zerlief es sich. Einen hatte er vor einem Jahr auf dem Amt wiedergetroffen. Es war eine jener deprimierenden Zusammentreffen, an die er lieber nicht zurückdachte.

Mitten in diese Zeit war dieses Programm geplatzt – EXIT, ein Begriff, der in seiner spartanischen Simplizität einen nachhaltigen Ausweg aus allerlei Krisen signalisieren sollte. Der Volksmund – eher auf Ergebnisse als auf Ambitionen blickend – hatte die vier Buchstaben bald auf einen einzigen heruntergekürzt: »E« – wahlweise stehend für die beiden Eckpunkte von EXIT: Einschläferung und Erweckung. Theo zog fahrig an seiner Zigarette, fummelte aus seinem Unterlagenstapel die Papierseite heraus mit einem ausgedruckten Artikel von der Webseite der Frankfurter Zeitung. Erschienen war er vor gut einer Woche. Im Großen und Ganzen bot er einen guten Überblick über die Lage, in der er – Theo Schröder – im Moment steckte:

Verschärft Regierung EXIT-Maßnahmen wieder?

27. NOVEMBER [DPA / EIGENER BERICHT]. Die Diskussion über das im Vorjahr auf den Weg gebrachte EXIT-Programm reißt nicht ab. Nachdem sich Innenminister Dreyel im Frühjahr in die Nesseln setzte mit großangelegten Polizeiaktionen sowie der Räumung mehrerer Sozialsiedlungen, geht es seine Nachfolgerin Louise Beckmann nunmehr pragmatischer an. »Nachdem die Freiwilligkeit an diesem Projekt nicht die erforderlichen Resultate brachte, mussten wir leider Zwangsmaßnahmen mit einbeziehen. Da Zwangsmittel jedoch nicht zur Regel werden sollen, sind wir in der Regierung übereingekommen, die großflächig ausgesprochenen Verfügungen, die in der Bevölkerung für Kontroversen gesorgt haben, erst einmal einzuschränken und dabei auf zielgenauere, selektive Auswahlen zu setzen.«

Beckmann betonte, dass die Maßnahmen ihres Vorgängers normale Startschwierigkeiten gewesen seien, »Kinderkrankheiten« einer innovativen Technologie, mit deren Hilfe die sozialen Belastungen, die sich im Zug von Inflation, Klima- und Energiekrise aufgetürmt hätten, wieder handhabbarer würden. »Ich sage es nochmal: Niemand wird ›getötet‹ oder gar ›Massenmorden‹ zugeführt, wie es manche ›Kritiker‹ mit ihren unsäglichen NS-Vergleichen suggerieren.« Die EXIT-Technologie sei eine sichere Technologie, betonte Beckmann. Die ausgesuchten Probanden und Probandinnen würden dabei lediglich eingefroren – bis in eine Zeit, in der sich sowohl die sozialen als auch die ökologischen Umstände wieder bessern würden.

Für heftigen Widerspruch hatte eine Äußerung Beckmanns im Sommer gesorgt, derzufolge die ausgewählten EXIT-Delinquenten eigentlich froh sein können, eine Zeit der Unsicherheit quasi zu »überspringen«, um in entspannteren Zeiten den Rest ihres Lebens genießen zu können. Auf die umstrittene Äußerung ging sie bei der Pressekonferenz zum Thema nicht ein. Allerdings bekannte sie auf Nachfrage, die Freiwilligkeit des Programms habe zu Anfang leider nicht die erforderlichen Resultate gebracht. Sie selbst sei mit den augenblicklichen Zwangsmaßnahmen auch nicht recht glücklich – allerdings sei das in der gegenwärtigen Gesamtlage schlicht alternativlos. Beckmann: »Sicher – wir werden sie einschläfern. Aber ich verspreche Ihnen: Wir werden sie auch wieder aufwecken.«

Offensichtlich wollte Beckmann die Wogen glätten wegen der zu Beginn erfolgten Zwangsmaßnahmen. Eine Absicht, die ihr nur bedingt gelungen sein dürfte. Verursacht auch durch wachsende Kritik, steuert das Programm derzeit auf einen Stand zu, der es am Ende durchaus selbst zur Disposition stellen könnte. Fazit: Die Auseinandersetzungen um die umstrittene Einfrier-Technologie werden uns auch die nächsten Monate begleiten.

Nun war also er an der Reihe. Natürlich hatte er Erkundigungen eingezogen, als im September der erste Brief eingetroffen war. Auch in seinem Bekanntenkreis hatten die angelaufenenen EXIT-Maßnahmen für große Unsicherheit gesorgt – flankiert von einem ebenso großen Fehlen konkreter Infos. Vor zwei Wochen hatten sie dann seine Verbindungen gekappt. Telefon – tot, ebenso sein Smartphone. Im Internet surfen konnte er zwar noch. Der Empfang sowie das Versenden von Mails waren jedoch plötzlich blockiert. Insgesamt sah seine Situation völlig anders aus als die rosarote PR-Darstellung, die er vor zwei Jahren in seinem Briefkasten gefunden hatte. Eine Hochglanzbroschüre – sie befand sich nunmehr ebenfalls bei den Unterlagen auf seinem Schreibtisch. In ihr war vollmundig von Wagnis die Rede gewesen, von Abenteuer, für das nur ein kleines bisschen Risikobereitschaft und Mut erforderlich sei. Und von allseitiger gesellschaftlicher Harmonie, die am Ende auch seines Weges stehen könne – dann, wenn er wieder aufwache.

Hochpreisig produziert, gedruckt auf wertigem, hochglänzendem Papier und versehen mit pastellfarbenen Bildern glücklicher Menschen, hatte die Infosendung das Programm als wahres El Dorado ausgemalt. Nun war die ganze Chose bittere Realität geworden. Ihm blieb noch eine Woche. Eine Woche, in der er sich absetzen konnte – oder aber dem Unausweichlichen ins Auge sehen musste. Die Kargheit seiner Optionen vor Augen, warf er einen Blick auf den Stuhl, der vor der Küchenanrichte stand. Darauf lag die Walther PPK, die er sich vor sechs Wochen besorgt hatte – ein Sinnbild nachgerade jener kalten Gesellschaft, in der er sich, wie ein Schlafender nach einem schlechten Traum, wiedergefunden hatte. Nunja – vollnaiv war er nicht. Im Rückblick erwies sich die Walther als eine der wenigen besseren Ideen, die er in die Tat umgesetzt hatte – obwohl die Wumme, die ihm ein Security-Typ aus einer Disko überließ, ein nicht unerhebliches Loch in sein Budget gefressen hatte. Wie auch immer: Mit der Knarre konnte er im Notfall immerhin selbst entscheiden, auf welche Weise er abtreten würde.

Die drei Typen bewegten sich mit routinierter Vorsicht durch den Empfangsbereich von Haus D im Möllenbergring 14, Düsseldorf-Nord. Zwei Polizeiwagen – die obligatorische Verstärkung, falls es Trouble geben würde – standen für den Notfall bereit und parkten unmittelbar hinter dem Gefangenentransporter. Am Steuer saß Mike, ebenfalls Angehöriger der örtlichen EXIT-Eingreiftruppe – womit sie insgesamt vier Mann waren. Auf der Abholliste standen drei Namen – allesamt wohnhaft in Düsseldorf-Nord. Praktisch bedeutete das, dass die Aktion – ein reibungsloser Ablauf vorausgesetzt – noch vor Mitternacht vorbei sein könnte.

»Ich versteh’ das nicht«, meinte der erste – eine Diskussion aufgreifend, die sie bereits während der Hinfahrt geführt hatten. »Abholen find’ ich okay. Aber den Leuten Briefe schicken, dass sie sich dann und dann einfinden sollen, und eine Woche vorher dann einen Transport ansetzen, finde ich schon ziemlich schräg.«

»Ja – aber was willst du machen? Das wird halt einer da oben so beschlossen haben. Denk’ immer daran: Wir sind nur die Ausputzer – nicht die Entscheider.«

Rollo, ein stämmiger Typ mit dunklen Haaren, wusste, wann er seiner Truppe Raum für Diskussion geben konnte, und wann es der Worte genug war. Mittlerweile befanden sie sich unmittelbar an der Schwelle zur Action. Rollo brauchte dies seinen Leuten nicht zu sagen. Mit kurzen Blicken signalisierte er, dass nunmehr äußerste Konzentration angesagt war. Einen Moment lang dachte er an seine Freundin. Lisa. Sie würde vermutlich schon schlafen, wenn er zurückkehrte. Oder sich eine ihrer abgedrehten Telenovelas ansehen. Harry, der vorangeschritten war, winkte den beiden anderen und zeigte auf die Aufzugtür. Rollo glich mit den beiden anderen die genauen Lagedaten ab.

»Wohnung 39, 9. Stock. Da ist er – den Energiedaten-Check hab’ ich bereits vollzogen. Mit Widerstand ist eher nicht zu rechnen. Trotzdem: Kevin bleibt auf dem Flur, als Deckung. Du, Harry, kommst mit mir. Alles klar?«

Die beiden anderen nickten. Ruckelnd ging es mit dem Fahrstuhl nach oben. Harry, ein Blonder mit kurzgeschorenem Haar, zog hart durch die Nase. »Stinkt nach Kotze«, meinte er lakonisch. Die beiden anderen sagten nichts. Dann rumpelte der Fahrstuhl und sie waren oben. Aufmerksam und gespannt orientierten sie sich.

»Ist der linke Flur. Hab’s mir vor dem Fahren nochmal angesehen.«

Die drei schwenkten nach links, passierten eine Glastür und danach eine Reihe von Wohnungstüren. Dunkelgrün gestrichen, mit Guckloch, und – manchmal – einem Namensschild. Es roch nach abgestandenem Essen, nach Trostlosigkeit und Nicht-Definierbarem. »Theo Schröder – ist er das?« Rollo nickte stumm.

Dann klingelten sie. Stoßweise, erst kurz, dann dreimal lang, dann wieder kurz und dreimal lang. Theo war überrascht – um nicht zu sagen entsetzt. Das hatte er nun von seiner Vor-sich-Herschieberei, läuteten die Glocken in seinem Kopf. Natürlich warteten die nicht, bis er sich selbsttätig zur Schlachtbank aufmachte. Nach dem Motto: Guten Tag, nehmen wir heute den Bus? Oder gönnen wir uns zur Feier des Tages ein Taxi? Für Flucht war es nunmehr zu spät; das hätte er sich besser frühzeitiger überlegt. In einer Reflexbewegung nahm Theo die Walther vom Stuhl und steckte sie sich hinten in den Hosenbund. Wie auch immer: Sofern er nicht die Option vorzog, die Flucht über das Fenster im neunten Stockwerk anzutreten, war Nicht-Öffnen keine Alternative – geortet hatten sie ihn eh bereits. So schluckte er trocken, rief dann laut »Moment!« und schritt zur Tür. Drei Cops – oder besser: Semi-Cops. Diese Typen vom EXIT – halb Sicherheitsdienst, halb Polizei.

»Sind sie Theo Schröder?« Der eher dunkle Typ ganz vorn schaute ihn unter dem Schirm seiner EXIT-Baseballkappe aufmerksam an. Theo versuchte, sich keine Unsicherheit anmerken zu lassen.

»Ich hab’ meinen Termin erst in einer Woche«, entgegnete Theo geistesgegenwärtig. »Von Abholung war in dem Schreiben, das mir vorliegt, keine Rede.«

»Kein Grund zur Beunruhigung», meinte Rollo in sachlichem Ton. »Wir sollen nur sicherstellen, dass Sie in einer Woche auch vor Ort sind.«

Die beiden EXITler betraten wie selbstverständlich die Wohnung und unterzogen sie routiniert wie unauffällig einem visuellen Kurzcheck.

»Haben Sie Ihr Gepäck parat? Unterlagen? Oder müssen Sie noch zusammenpacken?« Der zweite, ebenfalls in neutral gehaltener Tonlage. Theo gab keine Antwort, sondern lediglich einen bedeutsamen Augenwink auf die Tasche, die neben der Tür stand.

»Wir checken das jetzt nicht durch, das machen die Kollegen.« Rollo wieder. »Und keine Sorge: Ihr Terminplan wird vollumfänglich eingehalten. Ihre Unterkunft bis zur ›Maßnahme‹ ist auch gar nicht mal so übel.«

Die Überrumpelung der ganzen Prozedur machte diese kleine Beschwichtigung natürlich nicht ungeschehen. Theo Schröder sagte dieses Detail allerdings, dass diese Burschen möglicherweise nicht ausreichend vorbereitet waren auf den Job, den sie gerade durchführten. Mit langsamer, normal wirkender Geste zog er sich eine Allzweckjacke über. An die in seinem Hosenbund verstaute Knarre denkend, meinte er dann:

»Gehen wir?«

Die beiden Burschen zögerten einen kurzen Moment. Der Wortführer meinte noch kurz:

»Dürften wir Sie dann noch um Ihre Wohnungsschlüssel bitten?«

Auch hier sachlich, rundum informativ. Kein süffisantes Die brauchen Sie ja jetzt nicht mehr.

Theo überreichte dem Dunklen die Schlüssel, dann schritten sie aus der Wohnung in den Flur. Dort wartete Rollkommando-Mitglied Nummer drei. Wie es hochgegangen war, ging es auch wieder hinunter. Rollo gab über sein Funkgerät kurz Meldung:

»Alles in Ordnung. Sind gleich da.« Krächz…, dann, bestätigend: »Drei Minuten – circa.«

Der Weg bis zum Gefangenentransporter war in weniger als zweien absolviert. Es war kalt. Aufgrund der Überrumpelungssituation noch immer unter Schock stehend, registrierte Theo eine Frage des zweiten.

»Handschellen brauchen wir wohl nicht?«, gefolgt von einem lapidaren »Nee«.

Dann fuhren sie los: Theo mit dem Blonden und Nummer drei hinten auf Seitenbänken, der Dunkeltypige mit Fahrer vorne. Dahinter: die Polizeieskorte. Vorne beiläufige Konversation – abgedämpft durch die mit einer Glas-Trennscheibe versehene Durchsicht in den Hinterraum:

»Wo gehts als nächstes hin?« Antwort. Dann: »Die Kollegen von der Polizei melden sich. Ob sie weiter mit uns im Konvoi fahren sollen.« Funk, Krächzen, Unverständliches. Dann Rollos Stimme.

»Nee. Die nächste Adresse ist im Kiesewetterweg. Die sollen lieber zur Möllengartensiedlung vorfahren und dort auf uns warten.«

Der Fahrer bemerkte etwas von Scheiß-Planung. Rollo pflichtete ihm mit einem Grunzen bei. Nach zehn Minuten Fahrt durch unbekannte, dunkle und nur durch schmale Gitterfenster an den Seiten sichtbare Stadtarchitektur waren sie am nächsten Ziel.

Theo Schröder war immer noch damit zugange, die Situation, in die er auf so unvorhergesehene Weise geraten war, mental zu verarbeiten. Nun katapultierte ihn die Realität unmittelbar ins Leben zurück. Das für ihn eine weitere Überraschung parat hatte – als Rollo und Harry den nächsten Delinquenten in den Gefangenentransporter verfrachteten. Genauer: Delinquentin. Deren Stimme sorgte bereits in dem Disput, der sich zwischen Haus und Transportwagen entspann, auf unüberhörbare Weise für Aufmerksamkeit.

»Das hätten Sie sich mal lieber vorher überlegen sollen.« Rollos Stimme.

»Was bitte hätte ich mir vorher überlegen sollen? Dass mich abends ein Rollkommando abholt, während ich gerade Wäsche zusammenlege? Ergibt das einen Funken Vernunft?«

»Sie hatten Ihre Chance gehabt, Lady.« Harrys Stimme. »Sie waren Referendarin, immerhin im Schuldienst. Wie ich es so sehe, haben Sie Ihr Leben selber verkackt.«

Theo hörte ein ungläubiges Lachen, gefolgt von einem vernehmbaren Räuspern. Das offensichtlich von Rollo kam und seinen Kollegen zur Ordnung rufen sollte. Die Stimmen kamen näher.

»Hier entlang«, meinte Harry in bemüht neutralem Tonfall.

Die Tür wurde geöffnet. Flankiert von Harry sowie Rollo, der von außen die Tür schloss, setzte sich eine mittelgroße, gleichermaßen unfreiwillige Mitfahrerin auf die Bank neben Theo. Er kannte sie, und sie kannte ihn. Nicht besonders gut, eher weitläufig. Claudia war ihr Name. Vor Jahren hatte er etwas näher mit ihr zu tun gehabt – im Zuge von ein paar Treffen, als er noch politisch aktiver war. Gefallen hatte sie ihm durchaus; aus diesen und jenen Gründen hatte er allerdings nicht weiter versucht, sie anzubaggern.

»He – dich kenn’ ich«, meinte sie ebenso überrascht wie kurz angebunden. Den Rest verkniff sie sich. Klar, der Rest der Anwesenden war mitzubedenken – und sie beide in der wohl beschissensten Lage, die man sich vorstellen kann. Theo zwinkerte kurz – das Einverständnis, dass hier nicht der Ort war, um einen auf Plaudertüte zu machen. Harry war unterdes wieder runtergekommen und kehrte tonal etwas den Conferencier heraus, der eine allseits vergnügliche Kaffeefahrt begleitet.

»Dann werden wir gleich noch Nummer drei abholen.«

Harry und Kevin saßen ihnen gegenüber. Machte Sinn: So hatten sie ihre Gefangenen im Blick. Claudia und Theo beäugten sich verhalten von der Seite. Sie hatte nachgelassen, dachte er unwillkürlich. Blonde, strähnige Haare, harte Falten um den Mund, graue, nicht allzu abgewaschene Trainingshose mit ebenso grauem Sweat Shirt. Assi-Look eben, und, nunja: irgendwas Ausgezehrtes, und auch Abgebrühtes in ihrer Art. Claudias Taxierungsergebnisse waren vermutlich ähnlich schmeichelhaft.

»Haste mal ’ne Zigarette?« Claudia glotzte Harry herausfordernd an. Der lachte.

»Du glaubst wohl, wir fahren hier zum Vergnügen durch die Gegend?«

Theo gab Claudia einen unauffälligen Stubs mit dem Fuß. Dann noch einen – in der Hoffnung, dass sie das richtig, also als Signal zur Ermutigung, verstand. Weiß der Teufel – die vergangene Stunde hatte die Architektur von fast allem verändert. Warum es nicht versuchen? Beim zweiten Anstoßer schien Claudia verstanden zu haben. Sie fixierte die beiden Typen auf der Bank gegenüber mit verachtendem Blick und sagte in provokativ-bedauerndem Ton:

»Ihr seid ja sowas von arm.«

Harry antwortete nicht. Claudia grinste ihn höhnisch an und fuhr in demselben Ton fort:

»Arme Typen. Ja – arme Typen. Das seid ihr.«

»Vorsicht, Mylady«, brachte Harry noch heraus. Zeitlich hatte das Ablenkungsmanöver ausgereicht. Theo hatte seine Kanone aus dem Hosenbund herausgefummelt und hielt sie Harry plötzlich direkt vors Gesicht. Der Verzicht, den Gefangenen Handschellen anzulegen, erwies sich für die Transportbegleitung unversehens als Kardinalfehler. Abwechselnd Harry und seinen Partner mit dem Lauf anvisierend, meinte Theo:

»Die Fahrt ist hier zu Ende. Hier und sofort. Sag’ den zwei Arschlöchern vorne, dass sie anhalten sollen –«

»Sonst?«

Harry war aus dem Konzept gebracht, grinste nun dümmlich, die Situation taxierend. Dann geschah alles sehr schnell. Claudia warf sich gegen ihn, während der zweite Anstalten machte, seine Waffe aus dem Halfter heraus zu nesteln. Claudia hatte Harry einen Moment abgelenkt, krachte allerdings, von einem unerwarteten Beintritt erwischt, mit Karacho in die Hinterecke des Wagens. Von vorn waren Rufe zu vernehmen, von der Sorte »Alles klar hinten?« Der Wagen ging auf Schlenkerkurs. Unvermittelt trat Kevin Theo die Pistole aus der Hand und beförderte ihn mit einem kräftigen Schlag auf den Boden.

»Ach so – ihr wollt hier einen auf Gefangenenbefreiung machen?«

Mit hochrotem Kopf baute er sich über Theo auf. Harry putzte sich unterdess den Mund ab und war ebenfalls im Begriff, noch ein paar auszuteilen. Plötzlich krachte ein Schuss. Ein kurzer ratloser Moment, dann fing Harry an rumzuschreien:

»DIE SCHLAMPE HAT MIR EINE KUGEL VERPASST!!«

Kevin war mit der Anforderung, quasi im Sekundenturnus die Situation neu zu taxieren, sichtlich überfordert. Und auch Theo war überrascht, als er Claudia plötzlich mit einer Pistole herumhantieren sah. Mit der sie nunmehr Kevin in Schach hielt.

»Komm’ bloß nicht auf die Idee, das Ding da aus deinem Halfter zu ziehen.«

Unversehens klinkte sich der angeschossene Harry wieder ins Geschehen ein. Er trat mit dem Fuß nach Claudia und beförderte sie so erneut in die hintere Wagenecke. Theo hatte unterdessen seine Walther im Blick, die ihm während des Gemenges aus der Hand geglitten war und nun auf dem Boden lag. Wie in Trance stürzte er sich auf sie, richtete sie auf Kevin und drückte zwei-, dreimal ab. Ein weiterer Schuss fiel – Claudia hatte offensichtlich Harry ins finale Knockout geschickt.

Claudia und Theo hatten nunmehr zwar ihre beiden Bewacher im hinteren Bereich des Transporters außer Gefecht gesetzt. Da sich in der Fahrerkabine jedoch zwei weitere befanden, war der Ausgang weiterhin unsicher. Der Wagen hatte sein Tempo zwischenzeitlich verlangsamt und kam allmählich zum Stehen – ein kritischer Moment, weil die beiden im Fahrerraum sie demnächst von zwei Seiten ins Visier nehmen konnten.

»Passt auf – wir haben Geiseln! Wir haben eure Kumpels«, rief Theo durch die Scheibe. Was nicht ganz, aber zumindest im Groben stimmte. Von Harry weiter hinten in der Kabine war ein leises Wimmern zu vernehmen. Über ihm Claudia, die an seinem Gürtelbund herumnestelte.

»Zur Seite«, meinte Claudia, die unvermittelt neben Theo stand und mit zwei Schüssen die Transparenzscheibe parzellierte. Mit der Pfefferspray-Dose herumhantierend, die sie Harry abgenommen hatte, hielt sie deren Sprühknopf durch das zerschossene Glas in die Fahrerkabine und befüllte diese mit dem Reizgas.

»Hey – hör’ auf! Bist du verrückt? Wir gehen hier noch mit drauf.«

Claudia schaute Theo mit entschlossenem Blick an, ging dann zur Hintertür.

»Eure Chance zu überleben«, rief Theo nach vorn. »Wir hauen jetzt ab. Überlegt euch sehr gut, ob ihr uns folgt.«

Theo hustete, Claudia hustete; in der Fahrerkabine waren Husten und hektisches Herumhantieren zu vernehmen. Was immer jetzt passierte – es mußte schnell gehen. Mit zwei gezielten Schüssen zerstörte Claudia die Verriegelung der Hintertür. Sie stiegen ins Freie. Kalte Nachtluft – in einer undefinierbaren Reihenhaussiedlung. Theo warf einen kurzen Blick auf die Fahrerseite vorne links. Mike, der Fahrer, hatte die Tür geöffnet und hielt sich, durch die Pfefferspray-Ladung ziemlich mitgenommen, am Wagen fest. Dem vierten, Rollo, würde es vermutlich ähnlich gehen.

»Mach los«, rief Claudia. »Nichts wie weg von hier – schnell!«

Beide schickten orientierende Blicke in die Gegend, schauten sich dann fragend-entschlossen an. Wortlos gaben sie Fersengeld in Richtung eines Einfamilienhausgartens, über den man vermutlich weitersprinten konnte. Die beiden liefen sprichwörtlich um ihr Leben – über Hecken, durch Beete, über eine Rasenfläche, hin zu einer Baumreihe, hinter der sich ein Zaun und eine weitere Gartenanlage befand. Möglich, dass es hier weitergehen würde, so sicher waren sie sich noch nicht.

Eines jedenfalls stand bereits jetzt fest: Programm oder nicht – nach der Nummer würden sie auf der Fahndungsliste sämtlicher Polizeiapparate stehen, die es im Land gab.

2

Am frühen Morgen legten Claudia und Theo eine erste Verschnaufpause ein. Es war bitterkalt. Der Wind fegte aus dem Bergischen Land runter in die Kölner Bucht. Außerdem machte sich der Hunger bemerkbar. Der Abtransport mit anschließender Flucht hatte derart viel Kalorien verbrannt, dass sie vor Anstrengung und Kälte ohne Unterlass zitterten und sich die Hände rieben. Und, nunja – auch ihr Look war alles andere als dem Monat Dezember angemessen. So saßen sie nun in einer Gartenlaube, gefühlt etwa mehrere Kilometer von dem Ort entfernt, an dem ihre Flucht begonnen hatte.

»Meinst du, die sind tot?« Theo.

»Kann gut sein«, gab Claudia zurück. Claudia, die Abgebrühte. »Aber wir wissen es nicht. Möglich, dass die mittlerweile im Krankenhaus liegen, und eine Schwester zimmert sie wieder zusammen.«

Beide schwiegen eine Weile. Immer wieder hatte es in den letzten Stunden gegolten, rasche Entscheidungen zu treffen. Mehrmals hatten sie die Polizeisirenen gehört; die Cops durchforsteten vermutlich großflächig die weitere Gegend. Claudia, offenbar Meisterin im Hakenschlagen, hatte während dieser Etappe die Führung übernommen. Wobei sie die – für eine eventuelle Ortung wichtige – Smartphone-Frage bereits in den ersten zehn Minuten zu Sprache gebracht hatte.

»Hast du dein Mobil noch dabei? Falls ja – schmeiß’ es auf der Stelle weg.«

Theo hatte nicht. Genauer gesagt war sein Handy in der Tasche, und die war im Wagen. Umgekehrt bedeutete die Mobillosigkeit natürlich, dass sie über keinerlei Equipment verfügten, um weitere Infos einzuholen. Nachdem sie eine Autobahn passiert hatten, befanden sie den Sicherheitsabstand zwischen sich und ihren Verfolgern erst einmal als ausreichend.

»Was nun? Ich hab’ keinerlei Ahnung.« Theos Tonfall klang genauso ratlos, wie er sich fühlte.

Claudia lachte resignierend. »Glaubst du, ich etwa? Unsere Optionen haben sich mittlerweile ja berauschend vermehrt. Vielleicht sperren sie uns in den Knast. Und canceln dafür die Einfrier-Party. Wie auch immer – ich hab’ auf beides keine Lust.«

So und so ähnlich beredeten sie eine Zeitlang weiter ihre Lage. Nachdem der erste Stress abgebaut war, rückte die unmittelbare Zukunft näher ins Blickfeld – die nächsten Stunden, vielleicht auch Tage.

»Es hilft alles nichts«, meinte Theo. »Erst mal müssen wir aus der Gefahrenzone heraus. Ein Tagesmarsch schätzungsweise. Dann wären wir irgendwo im Rheinischen. Oder jedenfalls nicht mehr in diesem verfickten Düsseldorf.«

Claudia überlegte. Dann huschte ein spitzbübisches Grinsen über ihr Gesicht. »So? Du findest Düsseldorf ›verfickt‹? Ist ja auch mal ganz interessant zu wissen.«

Theo plante unbeirrt weiter vor sich hin. »Wir halten uns an die südlichen Ausfallstraßen. Die sind dünn besiedelt; da gibt‘s viel Industrie und auch Grünflächen. Wenn wir Glück haben, haben wir Fickdorf bereits heute abend hinter uns gelassen.«

Nach Lage der Dinge war das Wesentliche damit gesagt. Nachdem Claudia Theos Marschplan mit einem minimalistischen »Gut« zugestimmt hatte, verließen sie die Gartenlaube, um sich mit Vorsicht und gebotenen Haken vom südlichen Rand des Düsseldorfer Stadtkerns wegzuarbeiten. Das war leichter gesagt als getan. Fahndungstechnisch gesehen bewegten sie sich weiterhin auf dem Präsentierteller. Zu ihrer etwas derangierten und darum auffälligen Erscheinung kam der Umstand, dass sie weder über weitere Barschaften noch basales Kommunikations-Equipment verfügten.

Hinzu kamen Erschöpfung und Hunger. Um letzterem abzuhelfen, besorgte Claudia in einer Bäckerei ein paar Sandwiches sowie Wasser zur ersten Verproviantierung. Der Vorteil ihrer improvisierten Absetztaktik: Am frühen Nachmittag hatten sie die Innenstadt weiträumig hinter sich gelassen und die Vorstadtzone mit ihrer Mischung aus Sozialwohnungs-Arrealen, Industrieansiedlungen und bürgerlichen Im-Grünen-Wohnviertel erreicht.

»Wie geht es dir? Ich kenn’ mich hier nicht aus.« Claudia klang ratlos.

Theo lehnte an der Mauer eines größeren Villa- oder Gutshof-Anwesens und taxierte mißtrauisch das obere und untere Ende der Straße. Mit dem bisher Erreichten war er durchaus zufrieden. Zu Beginn hatte sich Vater Rhein als größtes Fluchtwegshindernis erwiesen. Nachdem ihnen klargeworden war, dass eine Absetzbewegung ins Linksrheinische – rüber in Richtung Heerdt oder Neuss – zu riskant war, hatten sie sich auf die rechtsrheinische Variante konzentriert. In den Außenbezirken in Richtung Bergisches gab es massig stadtnahes und gleichzeitig abgelegenes Terrain. Ungefähr hier – im äußeren Stadtgürtel – befanden sie sich mittler weile.

»Wir müssen unbedingt einen Stopp machen«, meinte Theo. »Ich kann bald nicht mehr. Außerdem müssen wir dringend vom Radar runter.«

Claudia schaute ihn an mit einer Mischung aus Skepsis und Zustimmung.

»Dumm, dass wir keine Karte haben.« Sie lachte. »Oder – Internetzugang wäre auch ganz nett.«

»Lass’ uns erst einmal weitergehen. Da links hinauf. Das hier sieht nach einem schmucken Vorstadt-Wohnviertel aus.« Theo machte eine Pause, sah Claudia an. »Würde sich gut für eine Zwischenstation eignen. Wo wir uns für ein paar Stunden absetzen können. Unsichtbar machen, von der Bildfläche verschwinden.«

»Du willst einbrechen? Gehts noch?«

»Fällt dir was Besseres ein?« Theo klang genervt. »Schau uns an. Wir brauchen Proviant. Eine Gelegenheit, ins Netz reinzuschauen, etwas Bargeld und ein paar passende Klamotten würden uns ebenfalls weiterhelfen. Hier draußen frieren wir uns nur die Hintern ab.«

»Trotzdem: Mitten am Tag – total riskant.«

Allerdings war Claudias Unmut eher flüchtig. Der Tag nämlich – jedenfalls sein heller Teil – neigte sich gerade dem Ende zu. Das Viertel schließlich, dass sie nunmehr ansteuerten, erwies sich in Sachen Unterschlüpf-Möglichkeiten als recht ergiebig. Ein- und Zweifamilienhäuser, Mieter und Eigenheim-Eigner Tür und Tür, viel Grün, Gärten sowie sonstiges Terrain hinter den Häusern. Nach sorgfältigem Ausbaldowern näherten sie sich – nachdem sie ein geeignetes Einfamilienhaus in einer Neubausiedlung ins Visier genommen hatten – selbigem über den Garten auf der Hinterseite.

»Was, wenn jemand da ist?« Claudia gab weiterhin die Bedenkenträgerin im Team.

Theo blickte angespannt in Richtung der dämmergrauen Baumgruppe, welche das Grundstück abgrenzte.

»Ich sag’s nicht gerne«, presste er in unwilligem Ton hervor. »Aber wirklich die Wahl haben wir nicht.« Er machte einen bedeutsamen Augenschwenker zu seinem Hosenbund, in dem die Walther PPK steckte.

Als Fluchtunterschlupf erwies sich das Haus fast wie aus dem Krimi-Bilderbuch entschlüpft. Die runtergelassenen Rollos sowie fehlender Lichtschein hatten es aus dem Stand als ideales Objekt erscheinen lassen. Die rückwärtig zum Garten hin gelegene Terrasse war mit einer Glastür versehen und ließ sich – nach einem kurzen Check, ob da irgendwelche Alarmanlagen eingebaut waren, leicht öffnen. Das Innere machte einen gediegenen Eindruck – Lehrerehepaar oder sowas in der Richtung. Während Theo Raum für Raum die Wohnung durchforstete und auf Bewohner hin überprüfte, checkte Claudia die Küche. Plötzlich ein dumpfer Laut, dann Claudias Stimme, irgendwo zwischen Aufschrei und Zischen:

»AAUUU! FUCK! VERDAMMTE SCHEISSE!«

Kurzes Stuhlrücken im nunmehr dunklen Raum – unbestimmt. Theo, der sofort herbeigekommen war, suchte nach dem Lichtschalter, fand ihn; dann flutete die Küchenbeleuchtung den Raum in seiner profanen Funktionalität. Zusammengekauert und den Kopf zwischen den Händen, saß Claudia am Tisch.

»Verdammt. Hab’ mich gestoßen.«

Sie zeigte mit einem kurzen Wink auf die halbgeöffnete Tür. Es folgte eine Pause, die in ein langsames, unterdrücktes Wimmern überging. Theo zog sich einen Stuhl herbei, setzte sich, war ratlos. Verstohlen betrachtete er das corpus delicti – eine solide Holztür: Angenehm war es sicher nicht, mit dem Kopf dagegenzustoßen. »Wie –«

»Ich war rein. Dachte mir nichts. Sah mich kurz um. Wollte zurück in den Flur. Dann – AUA.«

Claudia rang um Contenance, verfiel dann plötzlich in lautloses Heulen. Das unerwartete Zusammentreffen von Stirn und Türkante war lediglich der Auslöser gewesen. Theo schaute sich etwas ratlos um. Er entdeckte eine Küchenrolle auf der Ablage, stand auf, riss ein Stück ab und reichte es Claudia.

»Nimm erst mal das«, meinte er, und, etwas hilflos hinzufügend: »Schöne Scheiße.«

»Das kannst du laut sagen.“ Claudia lachte kurz und bekräftigte ihre Tirade mit einem weiteren »Fuck!«.

»Sorry – ist wohl eher die Gesamtsituation als die blöde Tür«, meinte sie, nachdem sie sich die Nase abgeputzt hatte. »Ich glaube, ich habe noch nicht richtig verinnerlicht, in welchem Schlamassel ich gerade stecke. Vor nicht mal 24 Stunden überlegte ich noch, was ich tun könnte, um mich irgendwie aus diesem Programm herauszuwinden. War auf der Suche nach so einer Art Last-Minute-Idee. Ganz schön bescheuert, nicht wahr? Und nun sitzen wir hier. Wie Bonnie und Clyde. Gesucht, in der Fahndung. Und wahrscheinlich einer Mordanklage im Hintergrund.«

Theo schwieg. Seine eigene Umgangsweise mit dem näherrückenden EXIT-Date war da keinen Deut besser gewesen. Verlegen-nachdenklich steckte er sich eine Zigarette an, schob die Packung zu Claudia rüber. Die sah sich mit fahrigunbestimmtem Blick um, grinste plötzlich wie wider Willen und bemerkte:

»So ein Mist. Aschenbecher jedenfalls hab’ ich in der Wohnung keine gesehen.«

Theo grinste, ebenfalls leicht wider Willen. »Nee.« Dann, nach einer kurzen Pause: »Meinst du, du kriegst das irgendwie hin?«

Die Frage enthielt eine konkrete wie eine allgemeine Komponente. Claudia sah ihn kurz an, drückte mit einer anerkennenden Geste seinen Unterarm.

»Muss. Bevor wir anfangen, uns hier häuslich einzurichten, sollten wir lieber das Nötige in Angriff nehmen: Zeug zusammenpacken, checken. Zwei, drei Stunden Rast und Aufwärmen wären ebenfalls nicht schlecht. Was meinst du?«

Die Frage, wie es mit ihnen als Team weitergehen sollte, war durch den Vorfall auf wundersame Weise geklärt.

»Wieso kennst du dich in Düsseldorf eigentlich so gut aus?« Theo mampfte einen Toast und schaute seine neue Compañera neugierig an. Die hatte es sich an der gegenüberliegenden Seite des Esstischs bequem gemacht und putzte sich den Mund ab.

»Keine Ahnung. Irgendwie bin ich hier wohl hängengeblieben.« Sie sinnierte einen Augenblick. »Und du?«

»Ungefähr dasselbe.«

Der Versuch, in zwanglose Konversation hinüberzugleiten, wollte nicht recht in Gang kommen. Ein, zwei Minuten sagte keiner von beiden was. Theo steckte sich eine Zigarette an, Claudia schob gedankenabwägend das Messer auf ihrem Teller hin und her.

»Wir müssen –«

»Was?«

Natürlich hatte die Sprachlosigkeit ihren situa tiven Grund. Bislang hatten sie als Team funktioniert. Unausgesprochen hatte die bisherige Kommunikation aus einer Abfolge situationsadäquater Prüfungen bestanden. Mit dem Inhalt: Kann ich dir über den Weg trauen? Und, falls ja: Wie weit wird das reichen? Nun standen konkrete Pläne an – Entscheidungen.

»Was hast du vor? Ich meine: Nun, ganz konkret?« Theo ging als erstes aus seiner Deckung.

»Weiß nicht.« Claudia lachte bitter auf. »Urlaubsplanung war eher nicht so drin. Werde wohl versuchen, mich nach Belgien abzusetzen. Brüssel, Antwerpen vielleicht. – Und du?«

Theo kratzte sich am Kopf. »Schwer zu sagen. Zunächst würde ich gern aus Düsseldorf verschwinden. Ganz. Südlich der Stadtgrenze fängt das flache Land an. Meines Wissens siehts da ähnlich aus wie hier: leichte Bebauung, unterbrochen von Wald und Feldern. Sobald es einigermaßen gefahrlos erscheint, will ich mit dem Zug weiter. Oder Bus. Kleine Etappen. Richtung Frankfurt vielleicht. Ansonsten, später vielleicht, Frankreich. Paris.«

Erneutes Schweigen. Zu klären war noch die Frage, ob sie zusammen bleiben oder sich direkt hier trennen sollten. Und, natürlich: der organisatorische Kram.

»Pass auf«, meinte Claudia. »Die haben drüben einen Desktop-Computer stehen. Werde schauen, ob ich da reinkomme. Internet, Nachrichten; vielleicht können wir uns sogar ein paar Karten ausdrucken. Wir sollten uns hier kurz halten. Am besten siehst du dich schon mal nach Bargeld und ähnlichem Brauchbaren um.« Sie machte eine Pause. »Schon mal daran gedacht, was wir tun, wenn unsere, äh, Gastgeber unverhofft aufkreuzen?«

Die Verständigung erfolgte über Blicke. Waffen besaßen mittlerweile beide – Theo seine Walther PPK, Claudia die Glock, welche sie bei dem Geplänkel im Gefangenen-Transporter ergattert hatte. Die nächsten Schritte gingen komprimiert über die Bühne. Claudia startete Computer und Webbrowser, Theo begab sich auf die Suche nach Bargeld. Beiläufig registrierte er die Fotos im Haus – Tauchurlaub hier, Fotos aus der Toskana da. Das komplette Interieur deutete auf ein aktives, wenn auch nicht mehr ganz so junges Paar. Und – ebenso en passant – wunderte er sich darüber, wie leicht es doch war, von der Seite des halbwegs unbescholtenen (wenn auch prekär lebenden) Bürgers auf die des Verbrechens und der Illegalität zu wechseln.

Am Ende setzten die beiden ihre Flucht gemeinsam fort. Der Plan war eine Mischung aus Theos Südroute und Claudias Belgien-Ideen. Er sah vor, via Wandern sowie öffentliche Verkehrsmittel nach Köln zu gelangen und dort auf die linke Rheinseite zu wechseln. Die Hausbewohner – sorglose Menschen offenbar, die es sogar versäumten, ihren Homecomputer mit einem Passwort zu sichern – blieben auch in den folgenden Stunden fern. Stattdessen hatten die lokalen Webseiten Blaulichtjournalismus vom Feinsten aufgefahren – und in dessen Zug wahre Horrorstories über das flüchtige Gangsterpärchen online gestellt. Den Meldungen zufolge war einer der vier Transportbewacher noch am Tatort seinen Schussverletzungen erlegen. Die anderen drei befanden sich auf der Intensivstation – wobei einer immer noch in Lebensgefahr schwebte.

Viel mehr an Infos hatte das Internet nicht ausgespuckt. Mit knapp dreihundert Euro in der Tasche und wegen der News in etwas gedrückter Stimmung, begaben sich Claudia und Theo am frühen Morgen auf ihre Weiterfahrt Richtung Süden. Die weitere Route führte – via Köln, Bonn und Koblenz – schließlich doch noch in linksrheinische Gefilde. Genauer: die nördlich der Mosel gelegenen Eifel-Ausläufer – eine dünnbesiedelte Mittelgebirgslandschaft, die gute Aussichten bot, es die nächsten Tage etwas ruhiger angehen zu können.

Das Handicap bei allem war ein geplanter Coup – eine Geldbeschaffungsaktion, die ihnen, so die Idee, mindestens einen vierstelligen Betrag sichern sollte. Theo und Claudia waren in dem Punkt unterschiedlicher Meinung. Während Theo die Aktion bereits recht konkret anvisierte, blieb Clauda vage, unbestimmt und abwartend. Erschwerender Punkt war, dass sich das Thema Geldquelle nicht auf die lange Bank schieben ließ.

Hinzu kamen unerwartete Komplikationen. Am dritten Tag wurden sie in Adenau, einem kleinen Städchen in der südlichen Eifel, während einer kleinen Verproviantierung in einem Supermarkt erkannt. Ungeachtet der neuen Oberlehrer-Kluft, die sie sich aus den Beständen ihrer vorherigen Gastgeber ausgeborgt hatten, sah das Paar Schröder- Kopinski eher nicht so aus wie Touristen, die sich einen spätherbstlich-rustikalen Naherholungstrip gönnten. Die Ansage war recht plump:

»Hey – euch kenn’ ich doch.«

Der Typ, der sich in einer Seitenstraße unweit des Ortszentrums an die beiden Flüchtigen herangearbeitet hatte, sah mit seinem Bart und seinen langen Haaren aus wie ein aus Old-68er-Zeiten oder auch dem 19. Jahrhundert herübergejetteter Anarchist. Theo fixierte ihn, Claudia beobachtete die Umgebung. Im nächsten Moment hatte sie sich umgedreht und dem Kerl ihre Pistole direkt vors die Brust gehalten. Theo rückte dem Anarcho-Outcast (oder was immer er war) näher auf die Pelle und war ebenfalls dabei, nach seiner Waffe zu greifen.

»So – du kennst uns? Bist du dir da sicher?«

In bedächtig schepperndem Ton setzte Claudia hinzu: »Ich an seiner Stelle würde mir das nochmal überlegen.«

Der Anarcho-Outcast – wenn man ihn von nah betrachtete, eigentlich mehr so etwas wie ein etwas wild aussehender Trebegänger – wich einen Schritt zurück, fasste dann allerdings Mut und meinte, abwechselnd Claudia und Theo ansehend:

»Ja – ihr seid die beiden, nach denen gesucht wird.« Etwas hilflos fügte er hinzu: »Wollt ihr mich jetzt erschießen?«

Claudia senkte ihre Pistole, zögerte kurz und steckte sie dann zurück in den Hosenbund. Theo fixierte den Typ weiterhin.

»Nee, haben wir nicht vor«, meinte er betont leichthin. »Allerdings. Wenn du uns Schwierigkeiten machen willst: Wir haben Mittel und Wege.«

Der Anarcho fixierte ihn ernst, grinste dann etwas abschätzig. »So? Da wäre ich mir nicht so sicher. Aber keine Sorge: Wir werden ebenfalls gesucht. Die gleiche Chose. Haben auf unsere Stellungsbefehle nicht reagiert.« Unterlegt mit einem vertrauenerweckendem, verbindlichen Tonfall, wedelte er mit der Hand. »In der Gegend sind noch mehr von uns. Adenau ist gut. Aber das Beste kommt zum Schluss: Eventuell können wir euch helfen, von hier weiterzukommen.«

»Helfen?« Claudia musterte den Bärtigen mit demonstrativer Skepsis. »Wie soll das gehen?«

Claudia hatte ihre Antwort mit Bedacht diplomatisch formuliert. Auf ein Kopfgeld oder sowas in der Art schien der Typ nicht aus zu sein. Folgerichtigerweise war es das Beste, zu sehen, ob man irgendwie handelseinig werden konnte.

Der Anarcho blickte Claudia taxierend an.

»Die Lage sieht etwa so aus: Den Einheimischen ist unsere Anwesenheit egal – jedenfalls solange es keine Troubles gibt. Daher würde ich vorschlagen, wir setzen unsere Unterhaltung in unserer Unterkunft fort.«

»Wer ist ›wir‹?«

»Gemischt. Großteils Leute, die vor dem Programm ausgebüchst sind. Ein rundes Dutzend. Wir haben weiter oben in den Wäldern eine alte Jagdhütte in Beschlag genommen. Nicht komfortabel. Aber wenn man sich streckt, ein Ort, an dem man es eine Weile aushalten kann.«

»Okay. Und wie gehen wir vor?« Theo.

»Am besten folgt ihr mir unauffällig. Der Weg ist ausgeschildert. «

Der Bärtige nannte den Namen einer Wanderhütte. »Am Ortsausgang an der Hauptstraße wart’ ich auf euch.«

Die Truppe des Burschen, Pierre war sein Name, erwies sich als bunt gemischt. Zwei Frauen waren ebenfalls darunter – eine junge, Dunkelhaarige, und eine ältere. Insgesamt machten alle einen ziemlich heruntergekommenen, mitgenommenen Eindruck. Als eher unangenehmer Typ erwies sich der Stellvertreter von Pierre. Nicht viel älter als fünfundzwanzig und mit kurzen Haaren, Nickelbrille und Dreitagebart, kehrte er stetig den Eindruck hervor, er sei der große Durchblicker in diesem zusammengewürfelten Haufen.

»Macht’ euch nicht so viel aus Jürgen und seinen ständigen Belehrungen«, meinte Pierre, während er die Neuankömmlinge durch den Unterschlupf führte. »Der kocht auch nur mit Wasser. Aber ich brauch’ jemanden, der mir hilft, den Laden hier zusammenzuhalten.«

Theo nutzte die Gesprächsgelegenheit, weitere Informationen zu erhalten über die Location, die Beschaffenheit der Gruppe sowie ihre Art, sich hier über Wasser zu halten.

»Im Prinzip nicht so die Kunst«, meinte Pierre. »Hat ursprünglich als Tipp für eine gute Adresse begonnen. Hauptsächlich in der Obdachlosen-Szene in Köln und Umland. Als dann dieses Programm startete, wurde es natürlich schwieriger. Wir mußten uns arrangieren. Hat letztendlich geklappt – auch wenn es eine stetige Balance ist. Der informelle Deal mit den Einheimischen: Wir schauen, dass wir hier nicht zu viel werden. Und die lassen uns dafür in Ruhe.«

»Und wie schlagt ihr euch durch?«

Pierre grinste etwas in sich hinein – ein Unerfahrener offensichtlich, der kein Bild davon hatte, mit welchen Kniffen man on the road den Kopf über Wasser hielt.

»Unterschiedlich«, meinte er. »Einige, die nicht oder noch nicht in die Fänge des Programms geraten sind, beziehen Unterstützung. Einige sind auf Trebe. Ein paar arbeiten für einheimische Betriebe. Etwas Saisonarbeit, Weinbau. Aushelfen, wenn mal Not am Mann ist.«

»Fluktuation?«

»Geht so.« Pierre war ersichtlich froh, seine Rolle als Organisator hier ins rechte Licht zu rücken. »Wir halten das Ganze recht gut unter dem Schirm. Bislang jedenfalls. Halbwegs über die Runden kommen wir ebenfalls. Auch wenn meine Bestrebungen, hier eine Art gemeinwirtschaftlich funktionierender Kommune einzuziehen, nicht ganz so funktionieren, wie ich es mir wünschen würde.«

Theo schwieg und ließ das Ganze erstmal sacken. Claudia hatte sich zwischenzeitlich zu der Gruppe gesellt und bei der Gelegenheit ein paar Gaben zum abendlichen Mahl beigesteuert. Die aus soliden Holzbalken gebaute Hütte war rudimentär, und wurde über einen offenen Kamin befeuert. In der Mitte stand ein großer Tisch, um die Wände herum waren Schlafplätze mit Matratzen, Schlafsäcken und Utensilien der Bewohner gruppiert. Nach hinten führte eine Tür zu zwei weiteren Räumen. Theo setzte sich zu Claudia, die ihr Gepäck in einer noch freien Ecke drapiert hatte.

»Und?«

»Nunja«, meinte Theo, etwas ausweichend. »Weiß noch nicht. Vielleicht können wir ja ein oder zwei Tage hier Zwischenstopp machen.«

Sie unterhielten sich weiter, besprachen in zwangloser

Abfolge Alltäglichkeiten und Impressionen. Plötzlich beugte sich eine der beiden Frauen zu ihnen hinab und grinste spitzbübisch.

»Hallo. Ich bin Bibi. Jedenfalls nennen mich alle so.«

Sie schaute Claudia an und danach Theo. »Ich würde gern mal deine Freundin kurz entführen. Wenn du gestattest?«

»Mach nur. Tu dir keinen Zwang an.«

Claudia stand auf, um sich dem anstehenden Gespräch unter Frauen zu widmen. Bibis Blick changierte zwischen Hintersinnigkeit und Sorry for that, dann verschwanden die beiden Frauen in Richtung Ausgangstür.

Der Abend mündete ein in eine Art etwas unverbindlich bleibender Hobo-Romantik. Die Grund-Organisation schien hier jedenfalls zu klappen. Nach einem gemeinsamen Mahl – ein Eintopf, der gar nicht mal so schlecht schmeckte – ging es zwanglos über zu Unterhaltungen in Kleingrüppchen sowie, schließlich, Musik. Pierre schien – neben allem, was er sonst noch bewerkstelligte – ein nicht gänzlich unbegabter Chanson- und Folkballaden-Vorträger zu sein. Von Unterbrechungen begleitet, gab er mit seiner Gitarre ein paar Songs von Brassens bis Dylan zum Besten.

»Was hat Bibi so gemeint?« fragte Theo beiläufig, nachdem er sich neben Claudia zur Ruhe gelegt hatte.

»Ooch – nichts. Oder: dies und das.« Claudia gähnte und starrte die Decke an. Jenseits von dieser hielt eine einsame Mondsichel Wacht über der nächtlichen Eifel.

Der Vormittag des Folgetages verstrich mit Alltäglichkeiten. Claudia ordnete ihr Gepäck, drehte im Anschluss eine Runde um die Hütte. Die Zahl der Anwesenden hatte sich etwas gelichtet. Kurz darauf kam Pierre zu Theo, der nachdenklich einen Kaffee trank, und lud ihn auf einen kleinen Rundgang ein. Die Gelegenheit, dachte Theo. Zwischen Aufstehen und Kaffee hatte er seinen Plan soweit zusammengezurrt.

»Ich will offen mit dir reden«, meinte er, als sie zusammen den Hügel hinunterstapften. »Ich weiß nicht, wie lange wir euch hier auf der Tasche liegen können. Wir sind klamm. Und hatten, um ehrlich zu sein, aus dem Grund in Erwägung gezogen, uns hier in der Gegend Bargeld zu beschaffen. Eine etwas größere Summe.«

»Hier in der Gegend?« Pierres Stimme bekam plötzlich eine geradezu hyperventilierende Note. »Wenn ihr hier was Illegales anstellt, sind wir gleich mit geliefert. Also: ganz schlechte Idee. Wenn ich es mir so recht betrachte: eine richtige Scheiß-Idee.«

Theo fuhr sich unter die Wollmütze, kratzte sich am Kopf.

»Wir müssen«, druckste er herum. »Haben keine andere Wahl. Es muß sogar schnell passieren. Die nächsten Tage. Bevor wir dann das Land verlassen.«

Schweigen. Pierre trat zur Wegseite, hob einen kleinen Ast vom Boden auf und wiegte diesen nachdenklich in seiner Hand.

»Wie klamm seid ihr?«

»Ziemlich.«

Wieder Schweigen. Angestrengt überlegend strich Pierre sich über seinen Bart. »Und wenn wir euch von hier wegschaffen würden? Aus der Schusslinie?«

Das war eine überraschende Wendung. Theo suchte nach Worten. »Das wäre ein Angebot, das uns tief in eurer Schuld stehen lassen würde«, meinte er schließlich in diplomatischem, sondierendem Ton. »Und ihr habt ein, nunja: einsatzfähiges Automobil?«

»Was heute als ›einsatzfähig‹ gilt, weiß ich ehrlich gestanden nicht. Ist halt ein alter Schrottkoffer; hat uns vorletztes Jahr ein Bauer überlassen. Etwas eingerostet und aus der Übung. Aber ein paar hundert Kilometer könnte er durchaus noch überstehen.«

Theo dachte nach. Ganz sein Plan war das nicht. Im Grunde genommen brauchte er für seinen Plan nicht nur einen Wagen. Sondern auch einen dritten Mann. Jemand, der den Wagen fuhr.

»Was habt ihr genau vor?« hakte Pierre nach.

Theo überlegte kurz. »Eine Bank.« Er zögerte. »Für uns zwei Fußsoldaten ist ein Bankraub kaum machbar. Aber mit Wagen – und natürlich nicht hier in der Region – würden die Erfolgschancen erheblich steigen.«

Pierre schaute Theo skeptisch an. Der ging nunmehr in die Offensive:

»Schau mal: Ihr pfeift hier ziemlich aus dem letzten Loch. Sicher – die Leute im Ort hängen euch nicht hin. Aber ein kleines Polster würde eure Überlebenschancen erheblich steigern. Zum Plan: Ist ein einfaches, altmodisches Rein–Raus. Zwei gehen rein, kassieren die Kohle ab, der Fahrer – oder die Fahrerin – wartet auf der Straße. Im Prinzip: wie im Film.«

Pierre fragte sich, ob sein Gegenüber sie noch alle hatte.

»Aber wie eine Fahndung nach sowas über die Bühne geht, darüber weißt du schon Bescheid?«

»Sicher«, meinte Theo. »Ich bin nicht blöd. Im Prinzip sieht der Plan vor, dass zwei Wagen zum Einsatz kommen: einen, der in der weiteren Umgebung abgestellt wird und in der Hinterhand bleibt – und einer, der unmittelbar beim Überfall zum Zug kommt.«

»Und du weißt, wie man einen Wagen zündet? Und ihn dazu erst einmal aufmacht?« Pierre unterdrückte ein zynisches Lachen. Seine beiden Gäste waren offensichtlich Amateure wie aus dem Bilderbuch.

»Und was meint dein Mädel so dazu?«

Theo druckste herum. Das Bild einer Einbahnstraße erschien vor seinem inneren Auge – eine Einbahnstraße mit einer riesigen Sackgasse.

»Wusst’ ich’s doch.« Pierres Stimme glitt in kalte, resignierte Abgeklärtheit über. Langsam kam die Hütte wieder in Sicht. Sie stapften weiter, nunmehr den Hügel hoch.

»Pass auf«, meinte er schließlich. »Ich kann eure Lage verstehen. Auch wenn du über deinen Plan vielleicht nochmal mit deiner Lady reden solltest. Ansonsten werde ich mich mit den anderen beratschlagen. Jedenfalls: irgendwie einigen. Auch wenn ich dir hier und jetzt nicht mehr versprechen kann, als dass wir euch hier wegfahren. Und vielleicht in einer größeren Stadt absetzen.«