Der Fall Arbogast - Thomas Hettche - E-Book

Der Fall Arbogast E-Book

Thomas Hettche

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Beschreibung

Thomas Hettches berührender Romanklassiker – jetzt bei KiWi Nur Hans Arbogast weiß, was damals wirklich geschah – am Abend jenes Spätsommertags 1953, als die junge Anhalterin Marie Gurth zu ihm in sein Borgward Coupé stieg. Das Gericht folgt dem Plädoyer des Oberstaatsanwalts: lebenslanges Zuchthaus für den »Lustmörder«. Die Geschichte einer leidenschaftlichen Begegnung und ein Stück deutscher Justiz- und Nachkriegsgeschichte aus den Jahren 1953 bis 1969, zwischen Schwarzwald und Tessin, Frankfurt und Ostberlin. Thomas Hettches Roman erzählt eine Liebesgeschichte, deren Kehrseite der Tod ist, von einem Vertreter für Billardtische, dem das Zuchthaus in vierzehn Jahren zur zweiten Haut wird, von Publizisten, Anwälten und einer Gerichtsmedizinerin aus der DDR – von Menschen, die sich alle in den Fall Arbogast verstricken, in die bleibende Frage nach Unschuld oder Schuld. »Ein Buch über eine Liebe, die die Welt nicht versteht. Man bleibt schlaflos, bis man zu Ende gelesen hat.« Buchjournal

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Seitenzahl: 482

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Thomas Hettche

Der Fall Arbogast

Kriminalroman

Kurzübersicht

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> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Thomas Hettche

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

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Inhaltsverzeichnis

Motto1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. KapitelDank
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Wie schon einmal du mich fandest

Komm doch wieder her und hole mich

Das Schwarzwaldmädel

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1

Sie lachte wie über etwas, das sie gerade entdeckt hatte, und sah sich nach ihm um. Er ging auf dieses Lachen zu und ließ dabei die beiden Flügel der Schwingtür langsam über die offenen Handflächen gleiten und dann sehr vorsichtig los. Es gab nahezu kein Geräusch, als die Tür zurückschwang, er in den Dämmer des Abends hinaustrat und in ihr Lachen hinein. Immer würde er sich später an diesen Moment der Stille erinnern und wie das kühle und glatte Holz der Türblätter über seine Hand wischte, als ermunterte man ihn. Das war der Moment, als es begann. Und wenn er sich später ihr lachendes Gesicht vergegenwärtigte, wußte er noch nicht einmal zu sagen, was darin ihn so in den Bann schlug.

»Wenn Engel reisen …« Sie beendete den Satz nicht, doch als er vor ihr stand, legte sie ihre rechte Hand auf seinen Unterarm und bedeutete ihm, sich nochmals umzusehen: »Schau mal dort!«

Beinahe schmerzhaft spürte er, wie ihre Berührung seiner Haut alle Spannung nahm. Er wußte, daß das Lokal ZUM ENGEL hieß, doch während er sich bereitwillig nach der gelben Neonreklame umdrehte, wußte er auch, daß sie miteinander schlafen würden. Den ganzen Tag war er sich nicht sicher gewesen, und nun betastete er die plötzliche Gewißheit mit der Zunge wie einen glatten Kiesel im Mund, spuckte ihn dann verschämt in die Hand und steckte ihn in die Hosentasche. Damals waren, zumal auf dem Land, solche Neonröhren noch selten, deren Schein sich gerade erst gegen das Ende des Sommertages durchzusetzen begann. Es fuhr kein Wagen auf der Landstraße, an der das Lokal lag, und bis auf das Sirren der Kondensatoren in den Leuchtröhren war nichts zu hören. Einen Moment lang standen sie im Glanz des gelben Lichts, und er spürte ihre Hand auf seinem Arm, ließ ihn sinken, faßte sie um die Taille und fühlte zum ersten Mal ihr widerständiges Perlonkleid. Sie glitt in seine Umarmung hinein wie in einen Mantel und war mit einem Mal gar nicht mehr so forsch wie den ganzen Tag, sondern fröstelnd und jemand, der jemanden braucht, sich zu wärmen.

»… lacht der Himmel«, beendete er ihren Satz leise und dicht an ihrem Ohr.

Sie gingen zu seinem Wagen, als würden sie sich schon lange kennen. Er bemerkte, daß sie ihm nun, obwohl sie den ganzen Nachmittag viel erzählt und geplaudert hatte, nicht antwortete, sondern auch noch schwieg, während er ihr den Schlag öffnete und behutsam wieder schloß, als sie Platz genommen hatte. Einen kurzen Augenblick zögerte er und schaute die Straße hinab, die sie am Nachmittag gekommen waren, nachdem er am Rand von Grangat am Bahnübergang in Richtung Gottsweiher gehalten und gefragt hatte, ob er sie mitnehmen dürfe. Gern, hatte sie gesagt und erst dann gefragt, wohin er denn fahre. Er hatte eigentlich geschäftlich nach Freiburg gemußt, aber geantwortet, er fahre nur so herum. Sie sei wohl nicht von hier? Nein, aus Berlin. Ach, eine von den Flüchtlingen. Ob sie in Ringsheim wohne, im Lager? Sie hatte genickt und er sie betrachtet.

Sie mochte Anfang Zwanzig sein, doch das ließ sich, wie er fand, bei solch zierlichen Frauen schwer schätzen. Sie war höchstens eins sechzig und hatte kurzgelockte rote Haare. Ihre Augen waren die ganze Zeit leicht zusammengekniffen, was am Sonnenlicht liegen mochte oder an einer Kurzsichtigkeit, von der er nichts wußte, und jedenfalls einen ebenso selbstbewußten Eindruck vermittelte wie ihr Berliner Zungenschlag, den er zum ersten Mal hörte. Sie trug keinen Petticoat. Ihr Kleid mit dem runden Ausschnitt und kurzen, angeschnittenen Ärmeln zeigte grüne Blättchen auf Eisblau. Sie trug tatsächlich weiße Pumps. Ob sie den Schwarzwald denn schon kenne? Sie hatte den Kopf geschüttelt. Dann waren sie losgefahren, und der Tag war sehr schön geworden. Nicht nur das Wetter, dachte er und erinnerte sich später genau daran, daß er sich in diesem Moment das Datum vergegenwärtigte: Es ist der erste September 1953. Erst dann ging er um den Wagen herum, schloß auf und stieg ein. Sie sagte nichts, doch er wußte, das war egal.

Er umfaßte nicht ihr Knie, was ihm zu fordernd erschienen wäre, sondern drückte, nachdem er losgefahren war und schaltfaul den Borgward im dritten Gang ließ, zunächst nur den Handrücken leicht gegen ihren Oberschenkel, als läge seine Hand gewohnheitsmäßig und wie selbstvergessen auf dem Beifahrersitz. Sie rückte daraufhin nicht ab, erwiderte aber auch den leichten Druck zunächst nicht, während es endgültig Nacht wurde und sie schweigend weiter in Richtung Grangat fuhren. Irgendwann aber spürte er ihre Hand im Nacken und ihre Finger, die unter den Kragen seines Hemdes schlüpften und sich bis zu seiner linken Armkugel vortasteten und wieder zurück, wobei er deutlich Fingernägel spürte, dann wieder sanfte Fingerkuppen, die seine Halsschlagader hinaufstrichen bis zum linken Ohr, um schließlich wie kraftlos in sein aufgeknöpftes Hemd zu rutschen.

»Ist es noch weit?«

»Vielleicht eine Stunde.«

»Wollen wir nicht lieber noch mal irgendwo anhalten?«

»Wollen wir?«

»Ja.« Ihre Stimme so dicht an seinem Gesicht, daß er die Feuchtigkeit ihres Atems auf der Haut spürte.

Und als er vor einer kleinen Brücke zwischen Gutach und Hausach abbremste und seine Hand von ihrem Sitz nahm, um herunterzuschalten, Zwischengas gab, rückte sie nah an ihn heran, umarmte und küßte ihn. Vor der Brücke führte linker Hand ein Feldweg ins Dunkel. Ohne zu blinken, bog er hinein und rollte einen kleinen Abhang hinunter. Rechter Hand ein Flüßchen und darüber die kleine Brücke. Buschwerk nahm links den Blick zur Straße, neben dem Weg war eine Wiese, er schaltete den Motor und das Scheinwerferlicht aus.

Marie zog ihre Zigaretten aus der weißen Lacklederhandtasche und bat ihn um Feuer. Sie rauchte KURMARK, was gar nicht zu ihr paßte. Mischungstreu, geschmackvoll und doch mild, dachte er, schlug das Feuerzeug mit der Linken an, und während er die Flamme nah an die Spitze der Zigarette brachte, legte er beschirmend die Hand um sie. Sie dankte mit einem Kopfnicken. So jung war sie nicht mehr. Die Falten neben ihren Mundwinkeln waren es, die ihrem Lachen erst jenes Zittern gaben, das ihn so sehr anzog, während sie von sich erzählte. Vom Krieg in Berlin, von den zwei Kindern, die sie bei ihrer Mutter gelassen hatte, und von der Holzbaracke des Flüchtlingsheims, in der sie lebte. Ihren Mann erwähnte sie kaum. Er glaubte nicht, daß sie besonders viel log. Ihre Hände waren nicht mädchenhaft. Sie trug keinen Ring und, was er seltsamerweise erst jetzt bemerkte, keine Strümpfe.

Er öffnete den Aschenbecher, in der Hand noch immer das Feuerzeug mit der Flamme. Sie blies den Rauch aus und nickte dabei wieder. Er nahm ihr das Päckchen aus der Hand, zündete sich ebenfalls eine Zigarette an, steckte das Feuerzeug weg. Die Packung ließ er in ihren Schoß fallen, und sie, als wäre das eine Aufforderung, nahm die Handtasche weg und stellte sie auf den Boden, beugte sich dabei nach vorn, und er küßte sie. Folgte ihrem Kopf, als sie sich wieder zurücklehnte, nahm die Zigarette in die linke Hand und legte ihr die rechte um den Nacken, während die Glut für einen Moment in der Luft zwischen dem weißen, sehr dünnen Lenkrad der ISABELLA und dem ebenso weißen Bakelit-Knauf des Radios über dem Aschenbecher schwebte. Dort hinein ließ er sie, ohne hinzusehen, fallen. Sie drückte ihren Kopf mit aller Kraft zurück in die Polster und also in seinen Arm. Dennoch hob er sie zu sich heran, und während ihr Kopf ein wenig zurücksackte, fuhr seine Zunge über ihren Gaumen und buchstabierte sich ihre Zähne.

Ihre Unterlippe zitterte dabei, doch das überraschte ihn nicht, spürte er doch selbst die Erregung unter der Haut und wie sie vom Mund hinablief in seinen Körper hinein. Gerade als er das registrierte, löste sie sich aus Kuß und Umarmung, und für einen Moment dachte er, das alles könnte ein Irrtum gewesen sein und nichts als Mißverständnis und Zudringlichkeit. Doch da hatte sie schon ihre Zigarette eilig im Aschenbecher gelöscht, und nun war sie es, die ihn sanft in das Polster zurückdrückte und sich über ihn beugte. Während sie ihn küßte und ihre Hände ihm wieder ins Hemd krochen, hielt er ihre Taille mit einer Hand, erspürte dort an der Seite die Druckknöpfe ihres Kleides, ließ sie aufspringen, und seine Finger glitten über den schmeichelnd weichen Unterrock aus Charmeuse und auf ihre Haut.

»Soll ich mich ausziehen?«

Er nickte und schob ihr den Stoff von den Beinen zur Hüfte hoch, als sie das Kleid mit beiden Armen nahm und sich über den Kopf zog. Der weiße Unterrock grellte hell auf, weil gerade in diesem Moment ein Wagen vorüberfuhr, dessen Scheinwerfer wie verirrt über den Unterrock hinwegschwenkten, bevor sie im Plafond des Borgward vergilbten. Im letzten Glimmen sah er, daß sie ihn ansah.

»Wollen wir hinaus? Es ist doch noch ganz warm.«

Er nickte, und sie knöpfte ihm das Hemd auf, während er sich schon die Hose aufknöpfte und die Schuhe abstreifte.

»Komm jetzt«, flüsterte sie.

Dann stand sie in diesem unwirklich leuchtenden Unterrock auf der nachtschwarzen Wiese neben dem Feldweg. Wandte sich ab und ging ein paar Schritte. Ihre Pumps hatte sie im Wagen gelassen. Ihre Haut war sehr hell. Wie oft bei Rothaarigen. Jedenfalls hatte er das gelesen. Mit langsamen Schritten und gesenktem Kopf schlenderte sie durch das noch recht hohe, aber schon vertrocknete Gras. Blieb irgendwann stehen und zog mit dem Rücken zum Wagen auch das Unterkleid noch aus, BH und Schlüpfer.

Als er zu ihr kam, sie an der Schulter faßte, sich von hinten mit seinem ganzen Körper an sie preßte und sein Glied zwischen ihre Pobacken drückte, spürte er, wie naß sie war. Er flüsterte ihr ins Ohr, wie sehr er sie wolle, und wieder lachte sie. Nicht jenes laute oder helle Lachen, das er schon kannte, sondern ein nahezu tonloses, gurrendes Atmen lachte sie im Takt der Bewegungen ihrer Hüften, mit denen sie sich an ihm rieb. Er sah noch ihr Lächeln unter den geschlossenen Augen, als sie sich zu einem Kuß umwandte, dann ließen sie sich beide zugleich zwar nicht fallen, doch einander haltend auf den Boden hinab und ins Gras, wo schon ihre Unterwäsche lag.

Sie drehte sich aus seiner Umarmung hinaus und auf den Bauch. Erwartungsvoll auf beide Hände gestützt, sah sich nicht nach ihm um, er betrachtete ihren Hintern und streichelte ihn dort, wo er aufklaffte, griff sie dann an den Hüften und drehte sie sanft auf den Rücken. Zog ihre Schenkel heran und drang in sie ein. Für einen Moment meinte er, Widerwillen zu spüren, doch dann sah sie ihn an, drängte sich dicht an ihn und folgte seinen Bewegungen. Er küßte sie nicht, sah sie nur unverhohlen an und stieß zu, bis er kam. Überlegte sofort und war froh, daß sie ihm noch immer gefiel. Lag eine Weile still neben ihr im Gras, dann kniete er sich zwischen ihre Beine und im Mondlicht, an das sich seine Augen nun gewöhnt hatten, sah er sie an. Sah ihre Magerkeit zum ersten Mal und das schüttere helle Schamhaar, ihre knochigen Hüften und Schultern. Ihre Brüste waren spitz und klein. Auch ihre Fußnägel lackiert. Tiefe Schatten unter den Augen, die er den ganzen Tag nicht bemerkt hatte. Eben noch, dachte er, habe ich sie nicht gekannt. Er strich ihr mit der flachen Hand über den Bauch. Nichts war zu hören als nur immer das unheimliche Wispern des trockenen Grases. Eigentlich war es schon empfindlich kalt. Es wird Herbst, dachte er und erschrak ein wenig dabei.

»Komm, laß uns rauchen«, sagte sie und setzte sich auf.

Er stand auf und bot ihr seine Hand. Mit der anderen griff sie, während sie sich hochziehen ließ, ihre Wäsche. Hand in Hand schlenderten sie zurück zum Wagen und setzten sich hinein. Die Türen der ISABELLA ließen sie offen wie weit gespreizte Flügel. Er registrierte, daß sie sich ihren Schlüpfer zwischen die Beine klemmte, damit die Kunstlederbezüge nichts abbekamen. Sie warf sich den Unterrock über, und er gab ihr Feuer. Wieder sprachen sie nichts, während sie rauchten, nur strich sie, als wollte sie sich seiner vergewissern, ihm immer wieder mit der linken Hand über die Innenseite seines Oberschenkels. Küßte schließlich seinen Hals, seine Brust und warf die Zigarette aus der offenen Beifahrertür. Küßte wie atemlos, und als könnte sie sich nicht mehr von ihm lösen, saugte sich an seiner Brustwarze fest, bis es weh tat und er zurückwich. Doch es bedurfte nur eines Lächelns von ihr, da beugte er sich wieder zu ihr hinüber, und diesmal biß sie ihm in den Hals, die Hand noch immer an der Innenseite seines Schenkels mit jenem seltsam keuschen Streicheln, das doch seine Lust auch ohne ihre Bisse wieder geweckt hätte.

»Ich hab noch nicht genug«, murmelte sie an seinem Hals.

»Ich auch nicht.«

Er schob den Unterrock beiseite und biß ihre rechte Brustwarze, sie krümmte sich dabei wie an einer inneren Feder, die er derart spannte, kaum hielt es sie auf dem Sitz. Sie zog die Beine an und saugte sich nun ihrerseits immer fester in seinen Hals, als hielten sie sich so. Es war, als verschränkten sich Werkzeuge ineinander, er hatte noch nie jemanden so berührt, konnte nicht davon lassen, nicht von ihr, und nur mühsam hielt er sich zurück, sie nicht wirklich zu verletzen. Erst als er irgendwann dennoch den Geschmack von Blut im Mund hatte, ließ er erschrocken von ihr ab, und im selben Moment lösten auch ihr Mund sich und jene innere Feder, die sie verband, aus der Arretierung, und rückwärts glitt sie fast aus dem Wagen hinaus.

»Komm mit!«

Als er um den Wagen herum war, lag sie schon nahe bei dem kleinen Wasserlauf im Gras. Deutlich hörte man hier, wie das Wasser um das Fundament der Brücke rauschte, und es fächelte auch kälter als in der Nähe der Büsche herauf. Kaum war er ihr nah, drehte sie sich weg, rollte herum und lag nun wieder, wie zuvor, auf angewinkelten Ellbogen und Knien. Nie sollte er vergessen, wie warm es sich anfühlte, als er hinter ihr auf die Knie ging und mit der flachen Hand über ihr Geschlecht strich. Hielt sie mit beiden Händen, drang wieder in sie ein, und sofort entspannte sie sich, langsam sackte ihre Wirbelsäule ins Hohlkreuz, und ihr Steiß stieß gegen seinen Bauch, bis er ganz in ihr war. Sie wiegte sich gegen ihn.

»Fester!«

»Noch?«

»Viel!«

Er schloß die Augen.

»Dann halt still!«

Das tat sie nicht. Sie sah sich nach ihm um und lachte wieder ihr Lachen. Er öffnete die Augen wieder, griff nach ihrem Gesicht und faßte ihr ins kurze Haar, sie aber schnappte nach seiner Hand und saugte zwei Finger in ihren Mund, daß es ihm beinahe schon kam. An ihrem Nacken hielt er sie schließlich, für einen Moment wich sie aus, dann legte ihr Hals sich in seine große Hand. Sie umfaßte ihn zugleich mit ihrem Geschlecht, als arretierte sie so seine Lust, und es schien ihm, als könnte es niemals mehr aufhören, als würde er niemals kommen und als verstünde sie, die er kaum einen Tag kannte, seinen Körper besser als er selbst.

»Schau mich an!«

Später überlegte er oft, wieviel Zeit wohl vergangen sein mochte, bis er sie flüsternd nochmals und nochmals bat, ihn anzusehen.

»Schau mich doch an!«

Sie antwortete nicht. Erst als er das registrierte, bemerkte er auch, daß sie schon einen unendlich langen Moment seinen Bewegungen nichts mehr entgegnete. Er erstarrte und lauschte, und da war es völlig still bis auf das zischelnde Gras. Sie hielt ihn nicht mehr. Noch immer auf Knien und Armen kauernd, sackte sie nun in sich zusammen, er glitt aus ihr heraus und sie ihm weg. Abgewandt lag sie da, die ihm eben noch so nah gewesen war, und rührte sich nicht. Und er spürte, woran er später oft denken mußte, eine ganz fremde Art von Müdigkeit, die schwer an ihm zog. Eine Müdigkeit von solcher Nachtschwärze, daß es ihn, den sonst nicht furchtsamen Mann, plötzlich ängstigte wie ein Kind. Als ginge etwas vorüber und langte ihn an. Und schnell war es auch wirklich vorüber. Schüchtern beugte er sich über sie und bat sie noch einmal, ihn anzusehen.

»Schau mich an!«

Dann drehte er sie um.

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2

Der Friedhofsgärtner trug eine verblichene blaue Arbeitshose, eine ebensolche Drillichjacke und schwarze Gummistiefel. Er war längst jenseits der Pensionsgrenze und ging, als hätte er Gicht. Er sagte nichts, während er den Amtsarzt Dr. Dallmer zum Leichenschauhaus brachte, das sich auf dem Gelände des städtischen Friedhofs befand, jenseits der Bahnlinie und dicht am KLOSTER UNSERER LIEBEN FRAU. Dallmer wurde von Dr. Bärlach begleitet, einem wissenschaftlichen Assistenten am Pathologischen Institut der Universität Freiburg, den der Amtsarzt zur Autopsie hinzugezogen hatte. Es war schon später Nachmittag, denn das Leichenschauhaus wurde auch als Aufbahrungshalle und für Trauerfeiern genutzt, und so konnten sie erst jetzt zu der Leiche, die von der Polizei letzte Nacht gebracht worden war. In die Vorhalle des neogotischen Baus fiel durch bleiverglaste bunte Scheiben diffuses grünblaues Licht. Es roch nach Weihrauch und stark nach dem abgestandenen Wasser großer Blumenvasen, was sich noch verstärkte, als der Gärtner die Tür seitlich vom Altar aufsperrte. Denn der kleine Nebenraum stand, wie Bärlach verwundert sah, voller Zinkeimer mit unzähligen Sträußen, Lilien und Gladiolen zumeist, deren Geruch sofort an ihnen emporzusteigen begann.

Dr. Dallmer, ein älterer, beinahe kahlköpfiger und etwas gedrungener Mann, der einen großen grauen Schnauzbart trug und eine goldene Brille, schien nicht überrascht zu sein. Er öffnete sofort die schmalen Fenster, so daß frische Luft hereinkonnte und das weiche Nachmittagslicht, in dem die weißen Blütenkelche hell aufstrahlten. Bärlach sah sich ungläubig um. Auch in dem großen Waschbecken standen Blumen, auf dem kleinen Schreibtisch und dem steinernen Tisch. Dahinter auf zwei Holzböcken ein neuer Fichtensarg, dessen Deckel nur lose auflag. Schweigend verschafften die beiden Mediziner sich Platz. Dr. Dallmer wischte den Tisch trocken und öffnete die Reiseschreibmaschine, eine HERMES BABY, mit der er das Protokoll tippen würde. Bärlach, der die Autopsie vornehmen würde, hatte inzwischen einen weißen Kittel über seinen dünnen Sommeranzug gestreift, breitete das Sektionsbesteck auf einer schmalen Ablage am Waschbecken aus, knipste die schwache Deckenlampe an und säuberte gründlich den steinernen Sektionstisch von Blütenblättern und Erdresten. Er war noch sehr jung, keine Dreißig, schmalgesichtig und groß in dem weißen Kittel. Nachdem der Gärtner schließlich den Sarg geöffnet und ihnen geholfen hatte, die nackte Frauenleiche herauszuheben, nickten sie ihm zu, und er ging.

Beide vermieden es, die Tote ohne Notwendigkeit anzusehen. Nur daß sie sehr schmal auf dem kalten steinernen Tisch lag, mit geschlossenen Augen und die Hände über dem Geschlecht, registrierten beide zunächst. Der Amtsarzt spannte ein Formular in die Maschine, und der Pathologe legte einen Film ein, schraubte die Leica auf das Stativ und machte erste Aufnahmen. Einen Moment lang schienen beide abzuwarten, dann beugte sich der junge Pathologe über die Leiche und begann.

»Sektionsprotokoll: äußere Leichenschau. Es handelt sich um die Leiche einer jüngeren Frau. Das Alter wird mit Anfang Zwanzig geschätzt. Die Leiche ist kalt. Die Totenstarre in den großen und kleinen Gelenken ist gelöst.«

Bärlach machte eine Pause und sah sich nach dem Amtsarzt um, der überraschend geübt tippte. Dr. Dallmer nickte ihm zu, und der Pathologe sprach weiter.

»Man findet Totenflecken und Lagestriemen an der linken Außenseite des Körpers in schräger Verlaufsrichtung. Das Kopfhaar ist tizianrot gefärbt, ziemlich kurz. Am Haaransatz zeigt sich die ursprünglich blonde Farbe der Haare. Die Augen sind geschlossen.«

Dr. Bärlach fuhr der Toten wie zur Beruhigung sachte über den Kopf, entnahm der Brusttasche seines Kittels eine kleine Taschenlampe und beugte sich über ihr Gesicht, holte, ohne hinzusehen, auch noch eine Pinzette aus der Kitteltasche hervor und entfernte vorsichtig etwas aus dem einen Auge der Toten.

»Im linken Lidspalt befinden sich Mückeneier. Das linke Oberlid ist dunkelbläulich rot verfärbt. Die linke Wange erscheint etwas geschwollen. Man sieht linsengroße Durchblutungen der Haut in mäßiger Zahl. Kleinere Blutungen befinden sich auch auf der Stirn, unter dem rechten Auge und am rechten Nasenflügel. In beiden Ohren werden durchgestoßene kleine Glasknöpfe getragen, mit Silber gefaßt.«

»Silbergefaßt?« fragte der Amtsarzt nach.

»Ja.«

Dr. Bärlach nickte und öffnete der Toten währenddessen langsam den Mund.

»Die Mundöffnung ist leer. Das Gebiß ist schadhaft, es fehlt der zweite Vormahlzahn rechts unten.«

Er photographierte den Kopf der Toten, bevor er weitersprach.

»An der linken Halsseite, unter dem Kieferwinkel, findet sich eine nach oben zu aufgegabelte, blutunterlaufene Schnürmarke von acht Zentimetern Länge. Eine weitere, oberflächlich etwas abgeschürfte, blutunterlaufene Würgemarke zieht sich unter dem Kinn in Höhe des Halsansatzes fünf Zentimeter lang auf die rechte Gesichtsseite hinüber.«

»Meinen Sie, man hat sie erwürgt?« Der Amtsarzt war aufgestanden und besah sich den Hals der Toten. »Sehr deutlich ist die Schnürmarke nicht.«

»Nein, Sie haben recht. Das läßt sich so noch nicht definitiv sagen. Helfen Sie mir bitte, sie umzudrehen.«

Gemeinsam rollten die beiden Mediziner die Tote auf den Bauch, wobei Dr. Bärlach ihr vorsichtig das Kinn hielt. Dallmer setzte sich anschließend wieder an die Maschine.

»Man sieht auf der Rückenseite«, fuhr der Pathologe mit dem Diktat fort, »sowohl am Hals wie über beiden Schulterblättern oberflächliche Hautabschürfungen von unterschiedlichem Ausmaß. Einen größeren, horizontal verlaufenden blutigen Striemen von zehn Zentimetern Länge über dem rechten Schulterblatt, weitere horizontal verlaufende Kratz- und Schlagspuren mit bis zu sieben Zentimetern Länge an Hinter- und Außenseite der linken Gesäßbacke. Der Analring ist deutlich ausgeweitet, in der Öffnung des Enddarmes befindet sich flüssiges Blut. Man sieht Einrisse am Übergang vom äußeren Hautepithel in das innere Schleimhautepithel.«

»Analverkehr?«

Bärlach nickte. »Sieht so aus. Helfen Sie mir bitte noch mal?«

Der Amtsarzt kam herüber, um die Tote wieder auf den Rücken zu drehen. Nun beugte sich der Pathologe über ihren Brustkorb.

»Man findet«, diktierte er, »unter der rechten Brust in der Achsellinie eine längs verlaufende Druckstelle von etwa eineinviertel Zentimetern. Fingerkratzspuren von Zeige-, Mittel- und Ringfinger sowie vom Kleinfinger finden sich an der Außenseite beziehungsweise der Oberseite der rechten Brust, wobei der Zeigefinger offenbar abgerutscht ist. Um die linke Brustwarze finden sich drei voneinander unabhängige Bißspuren eines in Ober- und Unterkiefer lückenlosen Gebisses. Eine weitere Bißspur findet sich an der linken Bauchseite in Höhe des Nabels, wobei offenbar der Unterkiefer am Nabel nur einmal, der Oberkiefer drei Querfinger über dem Dammbeinkamm zweimal abgezeichnet ist.«

»Mein Gott, er hat sie ja überall gebissen.«

»Sieht so aus.« Dr. Bärlach nickte und trat an den kleinen Tisch des Amtsarztes.

»Ein Perverser!«

Einen Moment schien es, als wollte der Pathologe etwas erwidern, doch dann sah er Dr. Dallmer nur über die Schulter an und diktierte weiter.

»Achsel- und Schambehaarung ist von weiblichem Typ. Die Hände sind sehr gepflegt, die Fingernägel lang. Abwehrspuren sind an den Fingernägeln nicht zu erkennen.«

Er machte eine Pause.

»Das war das.«

Er sah sich nach der Toten um. Und ebenso unbedingt, wie seine berufliche Neugier ihren Körper eben noch in einen Corpus von Indizien verwandelt hatte, war es nun, als sähe er zum ersten Mal die junge Frau inmitten all der Blumen, deren weißer Glanz mit ihrer wächsernen Haut zu wetteifern schien. Die Hände waren nicht mehr über ihrem Geschlecht gekreuzt, sondern lagen beiderseits ihrer Hüften auf dem Stein, ihr Kopf war wie träumend zur Seite gesunken, und ihre Lippen standen noch immer ein wenig offen. Verloren wirkte sie und sehr jung. Der Pathologe bemerkte, daß Dr. Dallmer ihn von der Seite beobachtete.

»Wie sie wohl hieß?«

Bärlach zuckte mit den Schultern.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte er. »Das Licht.«

»Ich weiß.«

Der Pathologe ging wortlos zum Waschbecken hinüber und nahm das Skalpell von dem Mulltuch, auf dem er seine Instrumente bereitgelegt hatte.

»Innere Leichenschau«, diktierte er.

Und als begänne er routiniert eine Partie Schach mit einer oft erprobten Eröffnung, setzte der junge Arzt ohne Zögern den großen Schnitt, mit dem jede Autopsie beginnt und der vom Schambein bis zum Ende des Sternums verläuft und sich dann an den Schultern teilt.

»Nach dem Anlegen des Hautschnittes zeigt sich das Unterhautgewebe über Brust und Bauch in einer Stärke von einem bis zwei Zentimetern. Man sieht beim Abpräparieren der Muskulatur auf dem Brustkorb in Höhe beider Brustdrüsen kleine flächenhafte Blutungen und bei der Hochpräparation der Halsmuskulatur auch im Kopfnickerbereich. Besondere Blutungen sind in der Muskulatur unter den Würgemalen am Hals zu erkennen. In der Bauchhöhle findet sich etwas gelbliche Flüssigkeit, die Darmschlingen des Dickdarms sind deutlich gebläht, gashaltig. Das Zwerchfell steht beiderseits an der fünften Rippe. Die Leber steht am Rippenbogen. Die Milz ist nicht sichtbar.«

Sorgsam legte Dr. Bärlach das Skalpell in eine Nierenschale, wusch sich das Blut von den Händen und nahm die Knorpelschere aus seinem Arztkoffer. Schweigend entfernte er das Brustbein und die Rippen.

»Nach Entnahme des Brustbeins sinken beide Lungen gut zurück. Das Herz hat etwa die Größe der Leichenfaust. Im Herzbeutel findet sich etwas gelbliche Flüssigkeit. Die Muskulatur der Herzkammern ist gehörig entwickelt. Die Kranzschlagadern des Herzens zeigen eine glatte Innenwand. In den Ästen der Luftröhre findet sich gelblicher zäher Schleim, in den Ästen der Lungenschlagader flüssiges Blut. Am Schnitt sieht man im Bereich des Lungenunterlappens eine wesentliche Verdichtung des Gewebes, keine besonderen Herdbildungen.«

Der Pathologe legte Herz und Lunge in zwei Stahlboxen und wandte sich dem Kopf der Toten zu.

»Die Zunge zeigt keine Besonderheiten. Die Schleimhaut der Speiseröhre ist zart. In der Rachenhinterwand finden sich keine Blutungen. Man sieht am rechten Horn des Zungenbeines eine größere Blutung. In der Luftröhre findet sich eine rötliche flüssige Schleimmasse. Größere Blutungen werden in der Nachbarschaft der Luftröhre selbst nicht gefunden.«

»Das heißt, sie wurde erwürgt?«

»Könnte sein. Vielleicht aber auch nicht«, murmelte Bärlach, während er sich den Bauchraum der Leiche vornahm.

»An der Schleimhaut des Magens werden Defekte nicht gefunden. Im Magen finden sich große Mengen von Speisebrei, bestehend aus feinen Fleischstücken, Kartoffeln und einem hellen, stark zerkleinerten Gemüse.«

»Sonntagsessen«, kommentierte der Amtsarzt.

»Ja«, antwortete Bärlach knapp. »Die Milz zeigt eine glatte Kapsel, am Schnitt ist das Gewebe rötlichblau gefärbt.«

Ebenso wie alle anderen inneren Organe hob der Pathologe nun die Milz sorgsam mit beiden Händen aus der Körperhöhle heraus und legte sie in eine Stahlbox, während er diktierte.

»Beide Nebennieren sind gehörig groß, am Schnitt sieht man das normale Bild. Auch die Leber ist gehörig groß. Die Kapsel ist glänzend glatt. In der Gallenblase findet sich wenig grünliche fadenziehende Galle. Die Schleimhaut ist zart. Die linke Niere zeigt eine gehörige Fettkapsel, die Faserkapsel ist leicht abzuziehen, am Schnitt sind Rinde und Mark gut zu trennen, die rechte Niere zeigt denselben Befund. Die Harnblase ist leer. Der Enddarm ist stark ausgeweitet, in den unteren Abschnitten blutig, in den oberen Abschnitten mit breiigem grünlichem Kot belegt.«

Ein stechender Geruch füllte jetzt den Raum und überlagerte schnell den süßlichen Blütenduft, doch der Pathologe ließ sich davon nicht stören. Er deponierte die Gefäße auf einem Regal, das ansonsten für Gartengerät genutzt wurde, und sezierte weiter.

»In der Scheide findet sich etwas gelblicher Schleim. Der Muttermund ist geöffnet. Beide Eileiter sind weich und zart. Die Gebärmutter ist über kindsfaustgroß und von teigiger Beschaffenheit. Man sieht an der Innenwand der Gebärmutter eine Eihöhle und einen etwa fünfmarkstückgroßen Mutterkuchen.«

»O Gott! War sie etwa schwanger?« Dr. Dallmer hörte auf zu tippen und kam herüber zum Tisch.

»Nicht mehr«, antwortete der Pathologe. »Sehen Sie: kein Ei.«

»Eine Abtreibung?«

Dr. Bärlach richtete sich auf und nickte dem Amtsarzt zu. Streckte sich einen Moment, um die verspannte und schmerzende Lendenwirbelsäule ein wenig zu entlasten, dann wusch er sich wieder die Hände und machte noch einige Aufnahmen der Organe, die er auf einer der Fensterbänke im schütteren Nachmittagslicht arrangierte. Schließlich bat er Dallmer, ihm bei der Öffnung des Schädels zu assistieren.

»Die Kopfschwarte wird abgenommen«, begann er sein Diktat später, als der Amtsarzt wieder am Schreibtisch saß. »Dabei werden verschiedene Blutungen unter der Kopfschwarte festgestellt. Die harte Hirnhaut wölbt sich nach Abnahme der Schädeldecke weit vor. Der Hirnanhang ist gehörig groß, beide Mittelohren sind trocken. Das Gehirn ist von normaler Form und Größe. Man sieht eine normale Abgrenzung von grauer und weißer Substanz im Rinden- und Kerngebiet. Krankhafte Veränderungen werden weder an den Schnitten noch an der Oberfläche festgestellt.«

Der Pathologe ließ ein weiteres Skalpell klappernd in die Nierenschale fallen. »So, das war’s!«

»Und das Gutachten?«

»Sofort! Erst räumen wir auf.«

Dr. Bärlach plazierte die Organe, nachdem er die Proben für die feingewebliche Untersuchung entnommen hatte, wieder in der Bauchhöhle, das Gehirn im Schädel und nähte die Tote sorgfältig wieder zu. Erst dann begann er, während er seine Instrumente mit Alkohol reinigte, mit dem Diktat des Gutachtens.

»Vorläufiges Gutachten. Nach dem Befund der Leichenöffnung hat bei der Verstorbenen eine Schwangerschaft bestanden, deren Alter auf den ersten Schwangerschaftsmonat, höchstens Mitte des zweiten Monats, beziffert wird. Der geöffnete Muttermund und das Fehlen eines Fötus spricht für eine versuchte Abtreibung. Darüber hinaus fanden sich zahlreiche Spuren äußerer Gewaltanwendung, die den Schluß zulassen, daß in einer hochgradigen sexuellen Erregung, möglicherweise in einer Perversion, vorgegangen worden ist. In diesem Sinne spricht auch der klaffende After mit den frischen Schleimhautverletzungen. Man kann daraus auf Analverkehr schließen. Zusammenfassend ist zu sagen, daß der Tod offenbar durch Herzversagen eingetreten ist, erklärlich aus der durchgemachten multiplen Mißhandlung sowie dem entkräfteten Zustand nach unvollkommener Abtreibung. Nach Abschluß der feingeweblichen Untersuchung wird endgültiges Gutachten erstattet.«

Als sie ins Freie traten, kam der Gärtner, der nahebei ein altes Grab beharkte, heran und schloß die Leichenhalle hinter ihnen ab. Im dämmernden Abend gingen Dallmer und Bärlach dann gemeinsam über den Friedhof hinüber zum Parkplatz beim KLOSTER UNSERER LIEBEN FRAU. Der Geruch der unzähligen Lilien verlor sich dabei nur langsam. Wie immer nach einer Autopsie war man still und vermied es, einander in die Augen zu sehen. Dort, wo sie einander getroffen hatten, schüttelten sie sich zum Abschied die Hand. Eine Leiche ist ein Kassiber. Geschmuggelt über die Grenzen des Todes, erzählt der Körper die Geschichte des Menschen, der eben noch lebte.

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3

Hans Arbogast trat in die frische Morgenluft hinaus. An diesem kalten Morgen im Januar 1955 war es gegen sieben Uhr noch dunkel, und nur ein Scheinwerfer beleuchtete den Gefängnishof und den Bus. Am Vortag war der Prozeß gegen ihn zu Ende gegangen, und nun verließ er mit einem planmäßigen Transport das Untersuchungsgefängnis Grangat und wurde ins Zuchthaus Bruchsal überstellt. Es war Dienstag. Der Schubtag, an dem die Häftlinge zwischen den verschiedenen Untersuchungsgefängnissen, Haftanstalten und Zuchthäusern des Landes hin- und hergeschickt wurden, war immer Dienstag. Arbogast, der über eins achtzig maß und in den fast anderthalb Jahren seit seiner Verhaftung einige Kilo abgenommen hatte, wirkte in Mantel und Schal noch knöcherner als früher. Er war fast achtundzwanzig Jahre alt. Er sah zum Nachthimmel hinauf und die weiße Wolke seines Atems vor dem Mund. Seine Hände waren in Stahlfesseln geschlagen, doch noch hatte er seine eigene Kleidung. Ab jetzt würde er Sträflingskleidung tragen müssen. Er hatte Angst davor, aus Grangat weggebracht zu werden. Es ist für immer, sagte er sich wieder und wieder und vergaß darüber, was das bedeutete. Seit man ihn inhaftiert hatte, schien ihm die Zeit so sehr zu entgleiten, daß sie fast schon nicht mehr seine eigene war. Er stieg in den Bus und setzte sich zu den beiden anderen Gefangenen auf die Holzbank. Er starrte aus dem Fenster, obwohl es draußen noch völlig dunkel war. Als der Wagen auf die Autobahn fuhr, schloß er die Augen.

Lautes Papiergeraschel ließ ihn die Augen wieder öffnen. Der Vollzugsbeamte auf der Bank ihm gegenüber entfaltete eine Zeitung. Gierig musterte Arbogast die Titelseite. Ein Photo vom Neujahrsempfang der drei Hohen Kommissare beim Bundespräsidenten. Darunter eines von Adenauers Geburtstag. Auf der letzten Seite lautete die Schlagzeile DER FALL SHEPPARD. Unter einer Anzeige, die das Bild eines Wagens zeigte, stand: Der Lloyd 1955 in Ganzstahl. Als der Beamte umblätterte, las Arbogast auf der zweiten Seite, Krebs, DIE KRANKHEIT DER EPOCHE, entstehe nach Meinung des deutschen Nobelpreisträgers Otto Warburg durch eine chronische Schädigung der Zellatmung. Wieder wurde die Seite umgeschlagen. Der Schließer hielt sie sich hoch vor das Gesicht. Die Photographie einer Frau im Abendkleid. Arbogast gelang es, den dazugehörigen Text zu lesen. Gloria Vanderbildt, 30, seit zehn Jahren in zweiter Ehe dritte Gattin des Symphonieorchester-Dirigenten Leopold Stokowski, 72, besuchte am Abend des Tages, an dem die Trennung von ihrem Mann vollzogen wurde, in aparter Robe eine New Yorker Operettenpremiere. Vor den Fenstern wurde es hell. Arbogast registrierte, daß er keine Angst mehr hatte. Er las nicht weiter. Um neun Uhr dreißig kam der Wagen im Zuchthaus Bruchsal an.

Um kurz nach zehn wurde der noch immer mit Handschellen gefesselte Gefangene unter Begleitung zweier Wachtmeister ins Kellergeschoß zum Baden geführt. Im Vorraum der Gemeinschaftsdusche händigte man ihm ein Stück Kernseife aus, die sehr unangenehm roch, und ein Handtuch. Man hieß ihn sich ausziehen. Einer der beiden Wachtmeister wartete im Gang, der andere stand in Uniform an den Armaturen neben der Tür. Als Arbogast unter einer der Duschen in dem riesigen gekachelten Raum stand, stellte der Wachtmeister das Wasser an, und wenig später stellte er es wieder ab.

»Einseifen!«

Auch die Haare, rief der Beamte noch, was Arbogast wegen des Geruchs der Seife unangenehm war, und stellte das Wasser wieder an.

»Abspülen!«

Als er fertig war und sich abgetrocknet hatte, ließ man ihn seine Kleidung nehmen und brachte ihn in die Kammer. Die persönliche Habe, die sich in einem Pappkarton des Untersuchungsgefängnisses Grangat befand, wurde dort dem Hauptwachtmeister übergeben, der mitten in dem Keller an einem großen Tisch vor hohen Stahlregalen mit den Kleidern und Effekten saß. Kalfaktoren, Gefangene, die den Beamten zur Hand gingen, nahmen Arbogasts Privatkleider entgegen und verpackten sie zusammen mit den Gegenständen aus dem Karton in einen Papiersack. Der Hauptwachtmeister diktierte die Liste der Gegenstände, las sie nochmals vor, und Arbogast unterschrieb.

»An die Wand«, forderte er dann den neuen Gefangenen umstandslos auf, und der trat einige Schritte zurück.

Der Hauptwachtmeister kam hinter dem Tisch hervor und betrachtete Arbogast von allen Seiten, ließ ihn die Arme heben und den Kopf senken, den Mund öffnen und redete dabei von Ungeziefer und Filzläusen, forderte ihn schließlich auf, sich umzudrehen und vorzubeugen, und als Arbogast zögerte, wurde die Stimme des Hauptwachtmeisters lauter und bestimmender, er sprach von Schmuggel und sagte, während er ihn untersuchte, das sei alles schon vorgekommen. Dann hieß man Arbogast, sich wieder umzudrehen, einer reichte eine Pulverspritze, und er bekam ein weißes Insektenmittel unter die Achseln, auf Brusthaare und Scham. Anschließend erhielt er drei graue Unterhosen aus Sackleinen, drei Paar Wollsocken, drei Oberhemden, ein Paar Stiefel. Dann drei Garnituren des blauleinernen Gefangenenanzugs und zwei Handtücher. Jeder Gefangene hatte eine eigene Wäschenummer. Die entsprechenden Aufnäher wurden von einem Kalfaktor schnell angenäht, während Arbogast sich vor dem Tisch auf einer zu diesem Zweck weiß markierten Stelle anzog.

Anschließend wurde er von den beiden Wachtmeistern in seine Zelle im Flügel 2 gebracht. Auch wenn niemand mehr als die nötigsten Worte mit ihm sprach, spürte Arbogast doch die musternden Blicke auf sich. Alle, Wärter und Gefangene, sahen ihn an. Wie immer bemühte er sich, ruhig zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen, auch wenn er eigentlich am liebsten schreiend losgelaufen wäre, um die Blicke abzuschütteln. In der Untersuchungshaft sahen sie noch weg, wenn er beteuerte, er sei unschuldig, doch während des Prozesses waren sie, als dürften sie nun jede Rücksicht fallen lassen, immer unverschämter geworden und hatten begonnen, ihn wie geschäftige Fliegen abzutasten. Die Unterwäsche kratzte auf der Haut. Auch daran, dachte er, wirst du dich gewöhnen müssen.

Zur selben Zeit stellte sich der Oberstaatsanwalt im Landgericht Grangat noch einmal den Fragen der Presse, denn das Urteil am Vortag war sehr widersprüchlich aufgenommen worden, und in einigen Prozeßberichten der überregionalen Zeitungen hatte es Andeutungen über Verfahrensfehler gegeben. Der hagere Ferdinand Oesterle, der erst vor drei Jahren aus Karlsruhe zur hiesigen Staatsanwaltschaft gekommen war, bat um Ruhe. Wie gewöhnlich trug er auch an diesem Morgen einen jener schwarzen Anzüge, über die er vor Gericht seinen Talar warf.

Zunächst wies Oesterle jeden Zweifel an der Gründlichkeit der Beweisaufnahme im Verfahren Arbogast zurück. Gerichtsmedizin und Naturwissenschaften zählten heute zu den wirksamsten Waffen im Kampf gegen das Verbrechen. Im Fall Arbogast habe der Einsatz dieser modernen Aufklärungsmittel entscheidend zur Überführung des Angeklagten beigetragen. Insbesondere das von Professor Maul, Ordinarius des Instituts für Gerichtliche Medizin der Universität Münster, vorgelegte medizinische Gutachten habe eine einwandfreie Rekonstruktion des Tathergangs ermöglicht. Ob die Staatsanwaltschaft denn nicht zunächst vom Obduktionsbefund des Opfers ausgegangen sei, der einen natürlichen Herztod angenommen habe, fragte einer der Journalisten. Das sei zwar richtig, entgegnete Oesterle, es hätten sich aber bald schon Zweifel an dieser These ergeben, woraufhin man Professor Maul als erfahrenen Gerichtsmediziner herangezogen habe. Aber es sei doch zumindest ungewöhnlich, wie Professor Mauls Gutachten schließlich zustande gekommen sei. Nein, er habe keinerlei Zweifel an dem Gutachten Professor Mauls. Dieser habe einwandfrei festgestellt, daß das Leichenöffnungsprotokoll die für einen gewaltsamen Erstickungstod charakteristischen inneren Befunde in einem Umfang enthalte, wie es in der Praxis nur selten angetroffen werde. Aber wie man denn dann die zunächst noch offene Frage, ob der Erstickungstod durch Erwürgen oder Erdrosseln eingetreten sei, so eindeutig habe klären können. Aufgrund der Photographien des Opfers. Professor Maul habe eindeutig festgestellt, daß Frau Gurth durch einen Kälberstrick oder einen ähnlichen Gegenstand erdrosselt worden sei.

»Und wo ist dieser ominöse Kälberstrick, den niemand je gesehen hat?«

Winfried Meyer, der Verteidiger Arbogasts, rief seine Frage laut in den Saal hinunter. Er saß als einziger auf der hölzernen Empore des Sitzungssaals, und die Köpfe der Journalisten fuhren zeitgleich herum, und man spähte hinauf. Oesterle, der die ganze Zeit vor der leeren Richterbank auf und ab ging, antwortete prompt.

»Daß die Mordwaffe nicht hat aufgefunden werden können, werter Kollege, ändert nichts, aber auch gar nichts an dem einwandfreien Gutachten von Professor Maul. Und außerdem wissen Sie ganz genau, daß wir vier Morde an Flüchtlingsfrauen hier im Bezirk haben. Diese Frauen sind doch Freiwild!«

Wie auch während des Prozesses überschlug sich Oesterles Stimme bereits, wenn er nur etwas lauter sprach. Er wußte das und bemühte sich immer sehr um Beherrschung, doch beim letzten Satz wurde er laut. Zwei der vier Toten der letzten Jahre hatte er gesehen. Bei keiner der Frauen hatte man einen Verdacht hinsichtlich des Täters gehabt. Manchmal träumte Ferdinand Oesterle, der Mörder trete lächelnd auf ihn zu, klopfe ihm zur Begrüßung auf den Rücken und flüstere ihm ganz leise seinen Namen ins Ohr, den Oesterle jedoch nie verstand, weil er stets vor dem unerträglichen Mundgeruch des Mannes zurückwich.

»Diese Frauen sind Freiwild!« sagte Oesterle, jetzt ruhiger, noch einmal.

Rechtsanwalt Meyer erwiderte nichts. Seit die Verhandlung hatte unterbrochen werden müssen, weil er beim Plädoyer des Staatsanwalts am Samstag einen Schwächeanfall gehabt hatte, den er auf eine nicht auskurierte Grippe schieben konnte, besserte sich sein Befinden nicht. Er fühlte sich seltsam rekonvaleszent, jedoch wie ohne wirkliche Aussicht auf Besserung. Der dreißigjährige Anwalt, der hier in Grangat schon den allerbesten Ruf genoß, musterte die Journalisten dort unten, denen sein Einwand zu neuen Fragen verholfen hatte und die wieder rege mitschrieben. Kleine karierte Stoffkoffer, Schirme und Reiseschreibmaschinen standen überall zwischen den Stuhlreihen, denn am frühen Nachmittag ging der Expreßzug nach Karlsruhe.

»Natürlich«, antwortete Oesterle auf die entsprechende Frage, »kann Hans Arbogast durchaus auch im Fall Krüger der Täter sein. Schließlich fand sich die Leiche der Marie Gurth an derselben Stelle wie ihre. Jedenfalls behält es sich die Staatsanwaltschaft auch in diesem Fall vor, weitere Ermittlungen einzuleiten und gegebenenfalls Anklage zu erheben. Möglicherweise haben wir es bei Arbogast ja mit dem Autobahnmörder zu tun, der unsere Straßen unsicher macht und all die Menschen in Angst und Schrecken versetzt, die über Land fahren müssen.«

Dabei schien der Prozeß zunächst auf ein mildes Urteil hinauszulaufen. Noch als ihn letzte Woche der junge Paul Mohr von der BADISCHEN ZEITUNG interviewt hatte, war er sich mit ihm einig gewesen, es werde im schlimmsten Fall eine Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge geben. Und so hatte er dann ja auch plädiert, obwohl da längst alles ganz anders gekommen war. Vielleicht begann es tatsächlich mit dem völlig aus der Luft gegriffenen Verdacht, den Oesterle vor Gericht und nun erneut geäußert hatte, bei Arbogast könne es sich möglicherweise um jenen Mörder handeln, der seit drei Jahren an den spärlich befahrenen Fernstraßen seine Opfer suchte. Nichts sprach dafür, und doch schien es mit einem Mal, als kippe die Stimmung im Saal. Die Mutter des Angeklagten, die ihre Aussage zur Sache ruhig gemacht hatte und dann dem Prozeß regungslos gefolgt war, brach in jenem Moment in so anhaltendes, lautes Weinen aus, daß man sie hinausführen mußte. Es gab Unruhe und Geflüster im Publikum, und er wußte noch genau, wie Arbogast begann, sein Gesicht hinter ihm, dem Anwalt, vor den Blicken zu verstecken.

Die alles entscheidende und völlig unerwartete Wendung aber bedeutete zweifellos das Gutachten Professor Mauls. Es begann bereits zu dämmern, aber noch hatte man die Lampen nicht eingeschaltet, als er es vortrug, und es schien Meyer, als spüre auch Maul selbst an jenem Nachmittag die veränderte Stimmung. Der Anwalt sah hinab in den Saal zu jener seitlichen Bank, wo der Gutachter mit seinen Unterlagen, Tafeln und Schaubildern Platz genommen hatte. Seine hellen, etwas dicklichen Finger bewegten sich, während er sprach, über den Photos der Toten wie die Antennen von Insekten. Zu Beginn war Meyer völlig gelassen gewesen, aber das schriftlich vorliegende Gutachten hatte nichts mit dem zu tun, was Professor Maul schließlich vortrug. Es war, als nähme er mit den sich langsam bewegenden Fingern Witterung auf und als sei es, dachte Meyer jetzt, die Zeit selbst, die er erspürt hatte. Gab es zunächst noch ungläubige Blicke über das, was Maul sagte, folgten schließlich alle den Argumenten des Pathologen. Sein Mandant spürte das, wurde immer nervöser und unterbrach den Gutachter zweimal, was ihm eine Rüge eintrug und seine Lage nicht verbesserte.

Meyer legte das Gesicht in die Hände. Immer wieder fragte sich der Anwalt, ob es ihn nervös gemacht hatte, daß der Fall weit über die Stadt hinaus Aufsehen erregte und der Andrang zu den Sitzungen um ein Vielfaches größer war als gewöhnlich, und ob vielleicht all dieser Rummel und die anwesende überregionale Presse seinen Fehler provoziert hatte, keinen zweiten Gutachter benannt zu haben. Seine Gedanken kamen ständig auf den entscheidenden Moment des Prozesses zurück, und er rief sich immer wieder ins Gedächtnis, wann er es versäumt hatte, den entsprechenden Antrag mit aller Vehemenz zu stellen und entsprechend zu begründen. Fehler, dachte er, das Gesicht in den Händen, immer wieder, und bemerkte darüber nicht, daß sich durchaus nicht alle Journalisten wieder dem Staatsanwalt zugewandt hatten. Paul Mohr sah unverwandt zu ihm herauf und registrierte verwundert, wie Meyer reglos auf der Empore des alten Landgerichtssaales ausharrte. Oesterle sprach noch immer.

»Arbogast steht mit dem Töten in näherem Verhältnis. Arbogast ist ein Sadist. Im Hintergrund schlummert bei ihm die Bestie, die das Opfer verschlingt, wenn es willfährig geworden ist.«

Ferdinand Oesterle machte nach diesen Sätzen, die tatsächlich Wort für Wort die seines Plädoyers waren, eine Pause. Gedankenverloren schien er ihnen nachzulauschen, während ihn der Anwalt nicht aus den Augen ließ. Er erinnerte sich nur zu gut an die Photos der Toten, und für einen Moment mochte er dem Staatsanwalt fast glauben, was er sagte. Als Katrin Arbogast sich damals mit der Bitte an ihn wandte, ihren Mann zu vertreten, hatte er vor allem zugesagt, weil er ein Schüler ihres Vaters gewesen war, der Mathematik am Gymnasium von Grangat unterrichtete. Er hatte wenig Erfahrung mit Strafsachen und nie zuvor Bilder einer solchen Tat gesehen. Sein erster Gedanke war: Das ist pervers. Katrin hatte er die Photographien nicht gezeigt und auch sonst niemandem. Die Familie hatte es schwer genug.

»Alles spricht dafür, daß Arbogast Marie Gurth langsam zu Tode gebracht hat, wobei er sie bestialisch mißhandelte, mißbrauchte und sich an ihren Leiden sexuell erregte. Ein solches Vorgehen entspricht der Persönlichkeit des Arbogast, denn er ist ein roher und brutaler Mensch, der zu sadistischen Handlungen neigt.«

Winfried Meyer gab sich oben auf der Empore einen Ruck und stand auf. Oesterle folgte ihm mit den Blicken. Zum ersten Mal wurde sich der Staatsanwalt bewußt, daß der Prozeß vorüber war, und ein Gefühl der Betäubung breitete sich langsam und sehr kühl in ihm aus.

Möglichst leise stieg Meyer die Holzstufen hinab und ging hinaus zu seinem Wagen. Er mußte sich beeilen, denn er hatte Hans Arbogast versprochen, heute noch nach Bruchsal zu kommen, um zu besprechen, was jetzt weiter zu tun war. Bei diesem Gedanken zauderte er und spürte jene seltsame Müdigkeit plötzlich wieder deutlicher, warf kraftlos die Aktentasche auf die Rückbank, zog den Mantel aus und fuhr los. Grangat, die alte Reichsstadt, hatte seit dem Krieg nur wenig mehr als 20000 Einwohner, und war man einmal über die neue Murg-Brücke in Richtung Straßburg hinweg, lag die Stadtgrenze schnell hinter einem. Für ein paar Minuten durchquerte der Anwalt die Ebene, die sich zum Rhein hin öffnete, und fuhr dann auf die A5, die entlang der Weinhänge und Obstgärten der Schwarzwaldvorberge in Richtung Norden nach Karlsruhe führte und weiter nach Bruchsal. Der Hundskopf, schneebedeckter Hausberg Grangats, verlor sich im Rückspiegel.

Der Anwalt brauchte für die etwa hundert Kilometer an diesem frühen Nachmittag kaum länger als anderthalb Stunden, denn obwohl Schneeplacken von beiden Seiten weit auf das Band der Betonplatten züngelten und die wenigen Fahrzeuge lediglich eine schüttere Spur gelegt hatten, kam er gut voran. Einige hochbeinige LKWs kamen ihm entgegen und ein Mercedes, er überholte zwei Käfer und einen Vorkriegs-Opel, und nur wenig später als fernmündlich avisiert kam er am Zuchthaus Bruchsal an. Erschreckend übergroß stand ihm der Gefängniskomplex plötzlich vor Augen, als er an der ländlichen Schloßanlage vorüber war und die Stadt durch das barocke Damians-Tor gerade wieder verlassen hatte. Da ihn ganz überwiegend Zivilsachen beschäftigten, sah er zum ersten Mal die hohe Umfassungsmauer aus rohem Kalkstein mit ihren Wachtürmen und überkragenden Laufgängen. Er hielt an einem der beiden kleinen Aufseherwohnhäuser, die sich wie Torwachen ausnahmen und die kopfsteingepflasterte Rampe zum Torhaus flankierten.

Als Winfried Meyer an der Sprechanlage vor dem grau gestrichenen Stahltor seinen Namen nannte, summte prompt und antwortlos der Öffner. Er trat in ein hohes Gewölbe, und sofort schloß sich das Tor pneumatisch hinter ihm. Rechts und links führten einige Stufen zu Wachräumen hinauf, hinter deren vergitterten Fenstern Wachpersonal zu sehen war. Er wurde hinaufgewinkt, mußte sich ausweisen, seine Aktentasche öffnen und seinen Mantel abklopfen lassen. Dann wies ihn der Beamte auf ein Holztor, das dem stählernen gegenüberlag. Dort solle er schellen, man werde ihn in den Sprechraum bringen. Recht bald wurde ein Schieber betätigt, das Guckloch in dem hölzernen Tor geöffnet und ein Augenpaar musterte ihn. Er hörte einen Schlüssel, und eine kleine Pforte schwang auf. Der uniformierte Wärter verschloß sie hinter ihm wieder mit einem zweibärtigen Schlüssel an einem großen Bund, tippte schweigend mit dem Zeigefinger an das Schild seiner Uniformmütze und führte Meyer einen kurzen Gang entlang, von dem links und rechts massive Holztüren abgingen und der in etwa dreißig Metern Entfernung an einem Gittertor endete.

»Was ist da?« fragte der Anwalt und deutete geradeaus.

»Das Gefängnis«, murmelte der ältere, etwas gebückte Beamte, bemerkte aber gleich die Ungehörigkeit seiner Antwort und verbesserte sich: »Der Zentralturm der panoptischen Anlage.«

Meyer verstand nicht, was das bedeuten sollte, aber ihm fiel ein, daß man von der Rampe aus nicht hatte sehen können, welche Gestalt der eigentliche Gefängnisbau hinter den Umfassungsmauern hatte. Als er gerade darüber ein Gespräch mit dem Beamten beginnen wollte, schloß dieser eine der hölzernen Türen auf und wies ihn mit der ausgestreckten Hand in das Besprechungszimmer: »Arbogast wartet schon.«

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4

Paul Mohr trug einen grauen Tweed-Anzug mit Knickerbockern und passender Schirmmütze, die er sich vor dem Ausgang des Landgerichts gerade zurechtrückte. Mantel und Gepäck hatte er noch auf dem Zimmer, denn er würde erst am Nachmittag nach Freiburg zurückfahren, und so blieb genügend Zeit, einmal noch im SILBERNEN STERN vorbeizusehen, in dem er wie viele Journalisten während der zurückliegenden Prozeßwoche die meisten Sitzungspausen und eigentlich alle Abende verbracht hatte. Doch dann sah er Gesine Hofmann mit einer Mittelformatkamera und Stativ auf der anderen Straßenseite. Aus den Negativmappen von PHOTO KODAK in der Kreuzgasse, die neben Bildern Gesines vor allem die ihres vor einiger Zeit gestorbenen Vaters enthielt, könne man jede Stadtgeschichte Grangats seit dem Ersten Weltkrieg illustrieren, hatte man ihm gesagt. Mohr überdachte seinen Plan noch einmal, überquerte die Straße und sprach die junge Photographin an. Sie hatten während des Prozesses schon miteinander zu tun gehabt, als er Bilder gebraucht hatte, und waren, noch Teenager, wie man jetzt sagte, sich gleich sympathisch und an einem der Abende im SILBERNEN STERN auch schnell beim Du gewesen.

Er wartete, während Gesine sich immer wieder über die Kamera beugte, aufsah, wieder in den Sucher blickte und Bilder des aus dem Gericht strömenden Publikums machte. Sie müsse aber sofort entwickeln, sagte sie und nickte lächelnd, als Paul fragte, ob er mitkommen könne. Zusammen gingen sie die wenigen Meter bis zum Markt, den sie im schnellen Zickzack durch Buden und Verkaufsstände überquerten hin zur Kreuzgasse, die direkt vom Markt abging. Im Laden bediente die Mutter, wenn Gesine einen Termin außer Haus oder im Labor zu tun hatte, das vom Verkaufsraum nur durch einen, wenn auch doppelten, gummierten und lichtdichten Vorhang abgetrennt war. Paul Mohr nickte Frau Hofmann zu, einer weißhaarigen zierlichen Dame, die sich mit einem ebenso alten Herrn unterhielt und dabei Filmdosen auf dem gläsernen Verkaufstisch hin- und herschob. Das kleine Labor war bis zur Decke mit einer Metallkonstruktion versponnen, in die wie Fledermäuse in ihren Höhlen die unzähligen grauen Pappordner einer altertümlichen Hängeregistratur eingespannt waren. Gesine stellte die Kamera ab und zog ihren Mantel aus, streifte sich einen weißen Kittel über, löschte das Licht und knipste die kleine rote Lampe an, die draußen anzeigte, daß man nicht hereinkommen dürfe.

Paul gewöhnte sich schnell an die den chemischen Prozessen förderliche Wärme im Raum, und er benötigte nur die kurze Zeit, bis Gesine den Vergrößerer anschaltete, dessen helles Licht ihn zunächst blendete, um sich darüber klarzuwerden, daß er dabei war, sich in Gesine zu verlieben. Schweigend stand er dicht hinter ihr und sah ihr zu. Wirkliches Dunkel wurde zu hellem Licht auf den Negativen und bestrahlte ihr Gesicht. Er sah dünnen Flaum auf ihrer Wange und daß eines ihrer grünen, sehr hellen Augen wie lackiert in seiner Feuchte glänzte.

Dann musterte er, über ihre Schulter hinweg, wieder die Bilder und betrachtete den Saal des Landgerichts mit der hölzernen Schranke und den Wirtshausstühlen, auf denen die Journalisten saßen, und dahinter die anderen Zuschauer. Die leicht geschwungene und erhöhte Richterbank mit den kannellierten Säulchen, die drei Richter in ihren schwarzen Roben, je drei Geschworene rechts und links. Ein Photo zeigte hinter dem Vorsitzenden an der Wand das kleine Piédestal, auf dem nichts stand, an beiden Seiten die gepolsterten Türen. Jochen Gurth, der Mann der Toten, rauchend im Gespräch mit Mizzi Neelsen, ihrer Freundin. Natürlich Hans Arbogast, wie er von einem Polizisten nach der Urteilsverkündung abgeführt wurde, die Hand vor Augen. An der Mauer das Emailleschild BADISCHES LANDGERICHT GRANGAT. Arbogast, wie er aus dem Saal kommt, im Spalier der Zuschauer, in zweireihigem Mantel und kariertem Schal. Hinter ihm wieder der ältere Polizeibeamte in seinem schweren Mantel mit den leuchtenden Knöpfen und der Uniformmütze mit Stern und Kordel. Eine junge dunkelhaarige Frau in Trachtenjacke und Zöpfen, die ihm ungläubig nachsieht, auf demselben Bild. Ein ganz Hagerer daneben mit Armeemütze und ein Dicker mit Brillantine im Haar und Zigarrenstummel im Mund. Arbogast und Anwalt Meyer inmitten der Akten am Tisch der Verteidigung. Katrin, die Frau des Angeklagten. Hinrichs von der Freiburger Mordkommission im Gespräch mit Dr. Bärlach, der die Autopsie vorgenommen hatte. Oberstaatsanwalt Ferdinand Oesterle und Landgerichtspräsident Gützkow, der Vorsitzende des Schwurgerichts, mit Vatermörder über dem Samtkragen seines schwarzen Talars. Professor Maul vor einer Schautafel, als er sein Gutachten erläuterte.

Paul Mohr erinnerte sich noch genau an den gespenstischen Moment, als das ganze Verfahren kippte. Im Vortrag des gedrungenen Gerichtsmediziners aus Münster, der einen hervorragenden Ruf als Gutachter hatte, fiel plötzlich das Wort Kälberstrick, und aus einem Unfall wurde Mord. Den Journalisten schauderte es, wenn er daran dachte. Dann kam ein Bild, das die Straße vor dem Gericht zeigte, wie Gesine Hofmann sie auch gerade eben photographiert hatte, nur zu Prozeßbeginn, und er mußte lachen, als er sich selbst in der Menge entdeckte. Gesine sah sich nach ihm um. Er spürte ihren Atem, so dicht stand sie vor ihm, und für einen Moment glaubte er, sie küssen zu können, und beugte sich noch weiter ihr entgegen. Sie lächelte und wich seinem Kopf aus. Beide sahen wieder auf das Photo.

»Du bist mir gleich aufgefallen«, sagte sie leise.

Paul Mohr nickte, ohne daß er wußte, was das Nicken bedeuten sollte. An den Häusern sah man noch deutlich die Spuren des Krieges. Viele Männer trugen Hüte oder Armeemützen und lange dunkle Mäntel. Er sah einen hellen und sehr weiten Trenchcoat. Die Frauen hatten zumeist kurze Haare. Jenes Bild von Marie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, das Maul gezeigt hatte. Mit einem Mal wurde ihm das Labor zu eng.

»Hast du die Negative von der Toten auch noch da?«

»Ja«, antwortete Gesine knapp.

Vielleicht, um Paul spüren zu lassen, daß sie die Bilder nicht gern herzeigte, klang ihre Stimme plötzlich distanziert. Schließlich hatte sie so etwas wie eine behördliche Aufgabe übernommen, als sie sich bereit erklärte, am Fundort die Leiche zu photographieren und für den Prozeß Abzüge und Vergrößerungen anzufertigen. Vielleicht aber auch, weil es ihr vorkam, als ob er ihr mit seiner Frage nach dem Bild auswich. Doch Paul schien die Kürze ihrer Antwort zu überhören.

»Zeigst du mir noch mal, wie man sie gefunden hat?«

Wortlos zog sie die Mappe aus einem Hängeregister neben dem Entwicklertisch. Sie wußte genau, welches Bild er meinte, schob das 6×6-Negativ vorsichtig in den Schlitten des Vergrößerers und stellte scharf. Die Dunkelheit im Labor rückte ihnen die Umrisse im sirrenden Licht ganz nah, und Gesine und Paul waren einen Moment lang beschämt davon, Marie Gurth so zu betrachten.

Sie liegt da, als schmiege sie sich ins Laub, dachte Paul Mohr, während er sich über das Negativ beugte, das auf dem Holz des Tisches wie ein farbloses Fresko auf der rauhen Wand einer Kirche erschien, bei dem sich unerklärlicherweise hell und dunkel vertauscht hatten. Das trockene Laub rechts und oben wurde in der Negativprojektion zum weißen Licht eines Lakens, auf das man sie gebettet hatte. Sie lag auf der linken Seite, die Augen geschlossen, den Kopf in ihr Bett geschmiegt und die im Negativ fast schwarzen Lippen wie in einem Traum erwartungsvoll geöffnet. Der rechte Arm lag über dem Oberkörper, die eine Hand auf der rechten Schulter, die andere Hand berührte ihren linken Ellbogen. Dazwischen eine ihrer Brüste, deren nachtdunkle Nacktheit die fast verschämte Haltung noch mehr betonte, mit der sie sich in das Brombeergesträuch wie in eine Decke zu verkriechen schien. Die spitzigweißen tiefgeaderten Blätter bedeckten Bauchnabel und Scham, und fast sah es so aus, als wolle sie gerade ihr leicht angezogenes rechtes Bein über diese Daunen strecken.

Und einen Moment lang meinte Paul tatsächlich jenes Band um ihren Hals zu erkennen, das Professor Maul entdeckt haben wollte. Klaglos ordnete das Schwarz-Weiß sich entsprechend um. Paul zeigte darauf.

»Siehst du das?«

»Was denn?«

Paul blinzelte, und mit einem Mal sah er an jener Stelle wieder nur mehr die Musterung des Holzes, auf die der Vergrößerer das Bild projizierte. Wie ein schwarzweißes Fresko, dachte er wieder, und: Ihr scheint nichts zu fehlen. Außer daß sie friert.

»Was meinst du: War er es?«

Während Maul sein Gutachten vortrug, hatte Mohr den Angeklagten genau beobachtet. Er hatte den Eindruck, daß Arbogast sich selbst für schlau hielt und sehr beherrscht, ohne es doch zu sein. Als der Gutachter ihn beschuldigte, schien er völlig gelähmt, und in diese lähmende Stille hinein wuchs Paul Mohrs Mißtrauen gegen Arbogast. Er konnte sich nicht wirklich vorstellen, daß dieses Mädchen es gewollt haben sollte, so gewaltsam geliebt zu werden. Beim Plädoyer des Staatsanwalts hatte Arbogast geweint.

Nochmals fragte er Gesine: »Ob er es war?«

Die Photographin, die dicht neben ihm stand und das Bild ebenfalls betrachtete, als sähe sie es zum ersten Mal, zuckte nur mit den Schultern. Dann sah sie ihn an und lächelte.

»Möchtest du das Photo haben?«

Paul war überrascht. Er hatte nicht zu fragen gewagt, doch sie mußte bemerkt haben, wie sehr ihn das Bild faszinierte. Daher war ihr Lächeln, das sie noch immer lächelte, nun auch ein wenig traurig. Sie wußte, der Moment seiner Faszination für sie war vorüber, und daran war die Tote schuld und dieses Bild, das sie an jenem nebligen Morgen gemacht hatte, frierend und sehr müde, nachdem der Polizist sie aus dem Bett geholt hatte. Sie verstand, daß die Stille und Atemlosigkeit des Bildes Paul Mohr nicht mehr losließ. Unaufhörlich mußte er das Mädchen ansehen, dessen dunkles Fleisch im Negativ flirrte. Er nickte.

»Dann warte einen Moment«, sagte Gesine Hofmann leise.

Sie schaltete den Belichter aus, nahm im roten Dunkel einen Bogen Photopapier aus einem Pappkarton und legte ihn unter den Vergrößerer. Kurz flammte das weiße Licht auf, und das Nachbild glimmte noch, während Gesine das Papier