Der Fall Charles Dexter Ward - H. P. Lovecraft - E-Book

Der Fall Charles Dexter Ward E-Book

H. P. Lovecraft

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Beschreibung

Der zu seinen Lebzeiten unveröffentlichte Kurzroman Der Fall Charles Dexter Ward gilt als das vielleicht persönlichste erzählerische Werk H. P. Lovecrafts: Die Geschichte des jungen Mannes, der in den Bann seines unheimlichen Vorfahren Joseph Curwen gerät, ist zugleich ein ironisches Selbstportrait des Autors wie eine Hommage an seine Heimatstadt Providence. Vor allem aber ist Der Fall Charles Dexter Ward ein Werk, in dem Lovecraft virtuos Elemente aus der Tradition des Schauerromans mit der literarischen "Pulp"-Ästhetik seiner Gegenwart verschmilzt. Der Fall Charles Dexter Ward wird mit dieser Ausgabe in einer neuen deutschen Übersetzung vorgelegt. Sie enthält neben einem ausführlichen Vorwort und umfangreichen Anmerkungen des Herausgebers, des führenden Lovecraft-Spezialisten S. T. Joshi, einen Bildteil mit Fotos von Donovan K. Lucks, der sich im heutigen Providence auf die Spuren Charles Dexter Wards begeben hat. Damit wird jene Stadt, die von manchen Interpreten als die "eigentliche Hauptfigur" des Romans apostrophiert wurde, auch visuell lebendig.

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Seitenzahl: 371

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H. P. Lovecraft 1919 vor dem Haus in der Angell Street 598, ­Providence, Rhode Island, wo er zu diesem Zeitpunkt wohnte.

Impressum

The Case of Charles Dexter Ward

(Tampa: The University of Tampa Press, 2010)

Die Übersetzung des Lovecraft-Textes folgt der kritischen Ausgabe, die S. T. Joshi für den zweiten Band seiner Variorum Edition der Werke von H. P. Lovecraft (New York: Hippocampus Press, 2014 [Seite 214–364]) erarbeitet und freundlicherweise vorab zur Verfügung gestellt hat.

© 2010 by University of Tampa Press

Einleitung & Anmerkungen © 2010 by S. T. Joshi

Fotografie (Seite 2) von Rheinhart Kleiner

Fotografien (Seite 6 und Seiten 234–248)

© 2010 by Donovan K. Loucks

Übersetzung © 2016 by Andreas Fliedner

Mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor

© dieser Ausgabe 2016 by Golkonda Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Alexander Pechmann

Redaktion: Hannes Riffel

Korrektur: Heide Franck

Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.wordpress.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Golkonda Verlag

Charlottenstraße 36

12683 Berlin

[email protected]

www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-944720-59-3 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-944720-60-9 (E-Book)

Inhalt

EINLEITUNG

I.

II.

III.

Der Fall Charles Dexter Ward

I. Ein Resultat und ein Prolog

II. Ein Vorfahre und ein Gräuel

III. Eine Suche und eine Beschwörung

IV. Eine Verwandlung und ein Fall von Wahnsinn

V. Ein Albtraum und eine Katastrophe

LOVECRAFTS PROVIDENCE

Anhang

Abkürzungen in den Anmerkungen

Bibliographie

Weitere Bücher aus dem Golkonda Verlag

Phantastik im Golkonda Verlag

EINLEITUNG

I.

The Case of Charles Dexter Ward markiert ziemlich genau die Mitte von H. P. Lovecrafts relativ kurzer literarischer Laufbahn. Während der ersten Monate des Jahres 1927 in einem Zeitraum von vermutlich gerade einmal fünf Wochen entstanden, hat der 51.000 Worte umfassende Kurzroman etwas von einem Januskopf: Er blickt zurück auf die Geschichten, die Lovecraft im ersten Jahrzehnt seiner schriftstellerischen Tätigkeit schrieb, angefangen mit »The Tomb« im Sommer 1917, und gleichzeitig nach vorn, auf die kraftvollen Erzählungen und Novellen der Jahre 1927–36, zu denen auch die des sogenannten Cthulhu-Mythos zählen.

Charles Dexter Ward ist nicht nur Lovecrafts längstes erzählerisches Werk, sondern zugleich auch sein persönlichstes. Selbst ein Leser, der nicht mit den grundlegenden Fakten von Lovecrafts Biographie vertraut ist, wird ahnen, dass die ersten Seiten, die Wards Geburt und Kindheit in der alten Kolonialstadt Providence, Rhode Island, beschreiben, eine kaum verhüllte Anspielung auf Lovecrafts eigene Kindheit sind. Geboren am 20. August 1890, wäre Lovecraft beinahe als Bürger von Massachusetts aufgewachsen: Sein Vater Winfield Scott Lovecraft (1853–1898) hatte sich mit seiner Frau Sarah Susan Phillips Lovecraft (1857–1921) bald nach ihrer Heirat im Jahre 1889 in einem Vorort von Boston niedergelassen. Sarah hatte ihren Sohn Howard Phillips Lovecraft zwar in ihrem Elternhaus in der Angell Street 454 in Providence zur Welt gebracht, war danach jedoch wieder nach Massachusetts zurückgekehrt, wo in Auburndale, auf einem von ihr und ihrem Mann erworbenen Grundstück, ein Haus für die junge Familie entstehen sollte. Doch Winfield, von Beruf »Geschäftsreisender« (der Begriff bezeichnet einen Handelsvertreter, der seine Ware an Unternehmen oder Einzelhändler verkauft, also keinen »Hausierer«) für die renommierte Firma Gorham Silversmiths aus Providence, hatte 1893 in einem Hotel in Chicago einen Zusammenbruch erlitten und wurde daraufhin ins Butler Hospital in Providence eingewiesen, wo er bis zu seinem Tod blieb. Heute steht fest, dass Winfield an einer Neurosyphilis im Endstadium litt. Mit dem Ausbruch von Winfields Krankheit kehrte seine Frau Sarah – oder Susie, wie sie allgemein genannt wurde – in ihr Elternhaus zurück, sodass Lovecraft als stolzer Bürger von Rhode Island aufwuchs.

Die Stadt Providence wird in Charles Dexter Ward tatsächlich gleichsam eine eigenständige Figur des Romans. Es war Lovecraft nur allzu bewusst, dass die Hexenverfolgung einen Schatten auf die frühen Jahre der Geschichte von Massachusetts geworfen hatte, und es war ihm genauso bewusst, dass Rhode Island – von Roger Williams 1636 als Zuflucht für religiöse Abweichler und als Gegengewicht zur puritanischen Theokratie seines nördlichen Nachbarn gegründet – von der neurotischen Religiosität, die zu den Salemer Hexenprozessen von 1692 führte, verschont geblieben war. Erzählerisch bedient sich Lovecraft in seinem Roman jedoch gern aus der düsteren Geschichte von Massachusetts, und es wird sich herausstellen, dass die Salemer Hexenprozesse Konzeption und Niederschrift des Romans zumindest indirekt inspiriert haben.

Wenn man von seinen amüsanten Jugendschriften der Jahre 1897–1902 und solchen literarischen Gehversuchen wie »The Beast in the Cave« (1905) und »The Alchemist« (1908) absieht, begann Lovecrafts Laufbahn als Erzähler 1917, als er in rascher Folge »The Tomb« und »Dagon« verfasste. Auch in diesen beiden Erzählungen spiegeln sich Vergangenheit und Zukunft von Lovecrafts schriftstellerischer Arbeit wider: »The Tomb« ist mehr oder weniger eine Nachahmung Poes (den Lovecraft schon früh als seinen »literarischen Gott« bezeichnete[1]), während »Dagon« mit seinem starken Bezug auf die Naturwissenschaften und der Loslösung von einer konventionellen übernatürlichen Motivik bereits auf spätere naturwissenschaftlich grundierte Erzählungen wie »The Call of Cthulhu« (1926) und »The Shadow over Innsmouth« (1931) vorausweist, die beide auf ihre Art als Weiterentwicklungen von »Dagon« gelesen werden können.[2] 1917 dachte Lovecraft jedoch wohl kaum daran, ein professioneller Schriftsteller zu werden – weder als Autor von Erzählungen noch in irgendeiner anderen Form. Nachdem er 1908 unvermittelt und ohne Abschluss die Highschool verlassen hatte, verbrachte er ein halbes Jahrzehnt in völliger Zurückgezogenheit, bevor ihn die Amateurjournalismus-Bewegung aus seinem unproduktiven Schattendasein erlöste. 1914 schloss er sich der United Amateur Press Association (UAPA), einer der beiden großen Amateurjournalisten-Organisationen, an und trat einige Jahre später auch der konkurrierenden National Amateur Press Association (NAPA) bei, obwohl seine Loyalität bis zu deren Auflösung im Jahre 1926 in erster Linie der UAPA galt. Die Amateurjournalisten-Bewegung war ein relativ beschränktes Netzwerk von über die USA und die ganze Welt verstreuten Personen, die ihre eigenen Zeitschriften herausgaben und Beiträge aller Art zu den Veröffentlichungen ihrer Amateurkollegen beisteuerten. Im Zuge seiner amateurjournalistischen Tätigkeit kam Lovecraft, der sich anfangs vor allem dem Verfassen von Gedichten, Essays und journalistischen Kommentaren gewidmet hatte, nach und nach auf die Idee, erzählende Prosa zum ästhetischen Medium seiner Wahl zu machen. W. Paul Cook, der sowohl in der UAPA wie in der NAPA eine führende Rolle spielte, war von Lovecrafts frühen Geschichten begeistert und veröffentlichte sie in seiner Amateurzeitschrift VAGRANT. Lovecraft war sich darüber im Klaren, dass viele Amateurjournalisten – wie auch das literarische Publikum im Allgemeinen – mit unheimlich-phantastischer oder übernatürlicher Literatur wenig anfangen konnten, und da er stets empfänglich für Kritik war, war er dankbar für das Lob, das seine Erzählungen bei Cook und anderen befreundeten Amateurjournalisten wie Rheinhart Kleiner, Maurice W. Moe und Alfred Galpin fanden.

Schon »The Tomb« ist, zumindest dem Namen nach, in Neuengland angesiedelt, im Grunde spielt die Erzählung aber noch in einem unspezifischen Niemandsland. Im Zuge seiner erzählerischen Experimente der nächsten zehn Jahre begriff Lovecraft jedoch, dass sein ausgeprägter Ortssinn und insbesondere seine glühende Liebe zu seiner neuenglischen Heimat ihm ermöglichten, seinen unheimlich-phantastischen Erzählungen eine solide realistische Grundierung zu geben, durch die das Eindringen des Übernatürlichen noch kraftvoller und effektiver in Szene gesetzt werden konnte. Später machte Lovecraft dieses Prinzip zu einem zentralen Element seiner Theorie phantastischen Erzählens. In »Notes on Writing Fiction« (1933) schrieb er:

Unbegreifliche Ereignisse und Zustände müssen einen spezifischen Widerstand überwinden, und dies kann nur gelingen, wenn in allen Phasen der Geschichte ein sorgfältiger Realismus aufrechterhalten wird, außerdort, wo es um das phantastische Ereignis an sich geht. Dieses phantastische Ereignis muss sehr eindrucksvoll und überlegt geschildert werden – mit einem sorgfältigen emotionalen »Spannungsaufbau« – sonst bleibt es flach und ohne Überzeugungskraft. Da es das wichtigste Element der Erzählung ist, sollte seine bloße Existenz ihren Schatten auf die Figuren und Ereignisse werfen. Doch die Figuren und Ereignisse müssen in sich schlüssig und realistisch sein, außer dort, wo sie mit dem phantastischen Ereignis in Berührung kommen.[3]

Lovecraft brauchte einige Zeit, um sich der Bedeutung dieses Prinzips bewusst zu werden. Seine Begeisterung für die Werke des irischen Phantasten Lord Dunsany, die dazu führte, dass Lovecraft in den Jahren 1919–21 ein gutes Dutzend Dunsany-Imitationen verfasste, kann in gewissem Sinne als eine Abweichung vom Weg hin zu jenem topographischen und wissenschaftlichen Realismus betrachtet werden, der Lovecrafts späteres Werk bestimmen sollte. Andererseits lernte Lovecraft aus seiner Dunsany-Lektüre, wie wichtig eine musikalische Prosa bei der Erzeugung einer unheimlich-phantastischen Atmosphäre ist. Lovecraft, der einmal naiv postulierte: »Dunsany, das bin ich selbst«[4], sollte später allerdings zu anderen Schlussfolgerungen gelangen:

Was ich in Zukunft wohl weniger verwenden werde, ist die pseudo-poetische Manier Dunsanys. Nicht, dass ich sie nicht bewundern würde, ich glaube nur, dass sie nicht meiner natürlichen Ausdrucksweise entspricht. Die Tatsache, dass ich sie vor meiner Dunsany-Lektüre nur sparsam benutzte, aber sofort damit übertrieb, sobald ich angefangen hatte, Dunsany zu lesen, lässt mich vermuten, dass sie bei mir etwas Gekünsteltes hat. Für dergleichen braucht es einen besseren Dichter als mich.[5]

Auf ganz unterschiedliche Weise zeigt sich in vielen von Lovecrafts frühen Erzählungen wie »The Terrible Old Man« (1920), »From Beyond« (1920), »The Picture in the House« (1920), »The Festival« (1923) und »The Shunned House« (1924) sein wachsendes Verständnis für den geschichtlichen Reichtum seiner neuenglischen Heimat. In »From Beyond«, seiner ersten Erzählung, die in Providence spielt, bleibt die Beschwörung seiner Heimatstadt noch relativ oberflächlich. Wenn der Erzähler bemerkt: »Ich zog den Revolver aus meiner Hosentasche, den ich nach Anbruch der Dunkelheit immer bei mir trage, seitdem ich eines Nachts in East Providence überfallen worden war«[6], dann sorgt das beim Leser eher für Amüsement, als dass es der Geschichte zusätzliche Tiefe verleiht. Aber die drei zuletzt genannten Erzählungen sind bereits von einem anderen Kaliber. In »The Picture in the House« führt uns Lovecraft nicht nur zum ersten Mal in die berühmteste Stadt seines imaginären Neuengland – Arkham, das später Sitz der Miscatonic University wird –, sondern verwendet auch erstmals jenen archaischen Neuengland-Dialekt, den er so wirkungsvoll in späteren Erzählungen wie »The Dunwich Horror« (1928) und »The Shadow over Innsmouth« einsetzt. Später wies Lovecraft zu Recht auf die zentrale Rolle hin, die »The Picture in the House« für die Entwicklung seiner Konzeption jener puritanischen Mentalität einnimmt, die den mentalen und sozialen Kontext der Salemer Hexenpanik bildet – auch wenn er diese Mentalität aus der Perspektive eines bekennenden Atheisten betrachtet, der auf die religiösen Schrullen einer leichtgläubigen Bevölkerung, die das biblische Gebot »Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen« allzu wörtlich nahm, mit einer gewissen Verachtung herabblickt:

… es sind die nachtschwarzen Legenden von Massachusetts, in denen der echte makabre Nervenkitzel am stärksten ist. Hier findet sich das Material für eine wirklich tiefgründige Studie kollektiver Neurosen, denn gewiss kann niemand bestreiten, dass es in der puritanischen Phantasie eine zutiefst krankhafte Unterströmung gibt. Was Sie über das dunkle sächsisch-skandinavische Erbe als mögliche Quelle der atavistischen Impulse schreiben, die durch unterdrückte Emotionen, Isolation, klimatische Härten und die Nähe der weiten unbekannten Wälder mit ihren bronzehäutigen Wilden zum Ausbruch gebracht wurden, ist für mich überaus interessant, insofern ich oft genau dasselbe gesagt und geschrieben habe! Kennen Sie meine alte Geschichte »The Picture in the House«? Wenn nicht, muss ich Ihnen ein Exemplar schicken. Der einleitende Abschnitt ist buchstäblich eine Zusammenfassung des Gedankens, den Sie formulieren.[7]

Die Erzählung »The Festival« ist Lovecrafts Hommage an die Küstenstadt Marblehead in Massachusetts, die er durch Zufall am 17. Dezember 1922 entdeckte und deren fast perfekt erhaltenes Stadtbild aus der Kolonialzeit ihn tief beeindruckte. In dieser Erzählung manifestiert sich vielleicht zum ersten Mal das ganze Gewicht, das die Geschichte Neuenglands für Lovecraft hat. In einem Brief aus dem Jahr 1930 beschreibt Lovecraft eindrucksvoll, wie ihn der erste Anblick der Stadt buchstäblich überwältigte:

Blitzartig brach die gesamte Vergangenheit Neuenglands – die gesamte Vergangenheit des alten Englands – die gesamte Vergangenheit des Angelsachsentums und der westlichen Welt – über mich herein, und ich fühlte mich auf eine Weise eins mit der überwältigenden Gesamtheit aller Dinge, wie ich es nie zuvor erlebt habe und niemals wieder erleben werde. Das war der Scheitelpunkt meines Lebens. Damals war ich zweiunddreißig – und was danach kam, war bloß noch Abstieg in eine zahme Senilität, bloß noch der Versuch, das wunderbare Empfinden von Offenbarung und Ahnung und Einssein mit dem Kosmos wiederzuerlangen, das jener Anblick mir beschert hat.[8]

Was »The Shunned House« betrifft – jene Erzählung Lovecrafts vor Charles Dexter Ward, in der Providence die größte Rolle spielt –, so bedarf es einer gründlicheren Betrachtung von Lovecrafts Lebensumständen in dieser Umbruchphase, um ihre Entstehung nachvollziehen zu können.

Am 3. März 1924 hatte Lovecraft, zum Erstaunen fast aller seiner Freunde und seiner Familie, Sonia Haft Greene geheiratet, eine russisch-jüdische Emigrantin, die in Brooklyn wohnte und ein erfolgreiches Hutgeschäft in Manhattan leitete. Wie kam es dazu, dass zwei auf den ersten Blick so gegensätzliche Persönlichkeiten – Lovecraft, der schüchterne, in sich gekehrte Intellektuelle, der stolz auf seine neuenglische Herkunft war und den zahllosen »Fremden«, die in den letzten Jahrzehnten ins Land geströmt waren, ablehnend gegenüberstand, und Sonia, die lebensfrohe, dynamische, vielleicht etwas exaltierte moderne Geschäftsfrau – sich entschieden, eine Ehe einzugehen? Am Anfang der Geschichte steht vielleicht der unerwartete Tod von Lovecrafts Mutter am 24. Mai 1921. Susie Lovecraft war im Jahr 1919 ins Butler Hospital eingewiesen worden, nachdem sie einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten hatte, der zumindest teilweise auf materielle Sorgen zurückzuführen war – Sorgen, die nicht zuletzt mit ihrem »nutzlosen« Sohn zu tun hatten, der intellektuell so brillant und zugleich so unfähig schien, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Ihr Tod war allerdings die Folge einer misslungenen Operation an der Gallenblase und stand in keinem direkten Zusammenhang mit ihrer psychischen Verfassung. Lovecraft war zunächst durch den Verlust dieses emotionalen Fixpunktes wie gelähmt und dachte eine Zeit lang offen über Selbstmord nach. Lillian D. Clark und Annie E. P. Gamwell, die beiden Tanten, die zu ihrem Neffen in das Haus in der Angell Street 598 gezogen waren, um seinen Haushalt zu führen, spielten zu diesem Zeitpunkt für Lovecraft offensichtlich noch keine große Rolle. Später sollte er diesen beiden einzigen verbliebenen Mitgliedern der einst so stolzen Phillips-Familie jedoch große Zuneigung entgegenbringen. Am 4. Juli 1921 traf Lovecraft bei einer Versammlung der NAPA in Boston zum ersten Mal persönlich auf Sonia Greene. Es wäre eine banale und plumpe psychoanalytische Erklärung, dass Lovecraft in Sonia eine Art Mutterersatz suchte. Zwar war sie sieben Jahre älter als Lovecraft und verwitwet, doch zugleich der diametrale Gegensatz zu Lovecrafts reservierter und emotional gestörter Mutter. Lovecraft selbst betonte zunächst, dass am Beginn ihres gegenseitigen Interesses ein Gefühl der Geistesverwandtschaft stand. Sonia ihrerseits machte jedoch keinen Hehl daraus, dass sie von Lovecraft mehr erwartete als einen rein literarischen oder philosophischen Austausch. Sie reiste mehrfach nach Providence, um ihn zu besuchen, und lud ihn, ohne auf die damaligen Anstandsregeln zu achten, im April 1922 in ihr New Yorker Appartement ein, womit sie ihm Gelegenheit gab, erstmals die unzähligen Wunder New Yorks zu erleben und die vielen Freunde und Briefpartner zu treffen, die er in der Metropole hatte.

Lovecrafts Entscheidung, zu heiraten und nach New York zu ziehen, schien zu diesem Zeitpunkt sowohl in persönlicher wie in finanzieller Hinsicht durchaus vernünftig. Sonia hatte ein beachtliches Einkommen, das Lovecraft der unmittelbaren Sorge enthob, einen Broterwerb zu finden. Zugleich schien es nicht ausgeschlossen, dass es ihm trotz seiner mangelnden Berufserfahrung gelingen könnte, im New Yorker Verlags- und Publikationswesen entweder eine Anstellung zu finden oder als freier Mitarbeiter Fuß zu fassen. Doch beinahe von Anfang an entwickelten sich die Dinge schlecht für das glücklose Paar. Sonia gab ihre Anstellung auf und versuchte, sich als Hutmacherin selbstständig zu machen. Ihr eigenes Geschäft ging jedoch rasch bankrott. Währenddessen erntete Lovecraft bei seinen ungeschickten Versuchen, Arbeit zu finden, ausschließlich Absagen. Er hatte – was möglicherweise eine kluge Entscheidung war – das Angebot abgelehnt, die Herausgeberschaft von WEIRD TALES zu übernehmen (des 1923 gegründeten Pulp-Magazins, in dem er später die meisten seiner Erzählungen veröffentlichen sollte), da dies einen Umzug nach Chicago notwendig gemacht hätte. Zugleich bedeutete für ihn das Leben im Gewimmel einer Weltstadt, in der die »Fremden« gegenüber den gebürtigen Amerikanern, an deren Anblick Lovecraft aus Boston und Providence gewöhnt war, in der Überzahl schienen, ein emotionales Trauma, das ihn in Abgründe wütender Verzweiflung stürzte. Wie konnte es sein, dass diese dreisten Neuankömmlinge finanziell derart erfolgreich waren, während er, der begabte Intellektuelle mit der stolzen Ahnenreihe, am Rande der Armut stand? Anfang 1925, nachdem sie gerade zehn Monate zusammengewohnt hatten, sah sich Sonia gezwungen, in den Mittleren Westen zu ziehen, um dort in verschiedenen Kaufhäusern zu arbeiten, während Lovecraft zurückblieb und seinen Haushalt selbst führen musste. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, wurde ihm im Mai 1925, nachdem er in eine kleine Einzimmerwohnung in der damals verrufenen Gegend Brooklyn Heights gezogen war, bei einem Einbruch beinahe seine gesamte Garderobe gestohlen. Daraufhin sah er sich zu äußerster Sparsamkeit gezwungen, um sich wieder mit der notwendigen Kleidung ausstatten zu können. Auch den vielen Freunden, die er in New York hatte – den Mitgliedern des sogenannten Kalem Club, dessen Name darauf anspielt, dass die Nachnamen der Mitglieder entweder mit K, L oder M begannen (Rheinhart Kleiner, James F. Morton, Arthur Leeds, Samuel Loveman und vor allem Frank Belknap Long) –, gelang es nicht zu verhindern, dass Lovecraft immer neurotischer wurde und sich immer stärker als Opfer der Umstände fühlte.

Während dieser schwierigen Zeit konnte Lovecraft nur wehmütig an das heimatliche Providence zurückdenken, das verlassen zu haben er nun bereute. Die Erzählung »The Shunned House«, die Lovecraft zu einer Zeit verfasste, als die finanzielle Situation des Paars aufs Äußerste angespannt war und Sonia mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, ist eine Art mentale Flucht – der Versuch, die lange Geschichte von Lovecrafts Heimatstadt in den aufeinander folgenden Bewohnern eines unheimlichen Hauses in der Benefit Street 135, im Herzen der Altstadt von Providence abzubilden. Lovecraft hatte über dieses Haus bereits ein Gedicht verfasst (»The House«, 1920) und kannte das Gebäude möglicherweise aus erster Hand: Bei der Volkszählung von 1920 wurde seine Tante Lillian D. Clark als Haushälterin in diesem Haus geführt. Die Erzählung wurde jedoch vom Herausgeber von WEIRD TALES, Farnsworth Wright, mit der Begründung abgelehnt, dass die lokalhistorischen Ausführungen die Geschichte langatmig machten. Diese Kritik ist nicht völlig aus der Luft gegriffen, und vielleicht hat Lovecraft sie sich zu Herzen genommen, als er seinen nächsten Text verfasste, der tief in die Geschichte von Providence eintaucht: The Case of Charles Dexter Ward.

II.

Die Entstehungsgeschichte von Charles Dexter Ward liegt teilweise im Dunkeln, auch wenn es sehr wahrscheinlich scheint, dass der Ursprung des Textes in Lovecrafts anhaltender Sehnsucht nach seiner Heimatstadt zu suchen ist. Aus einem Brief an seine Tante Lillian geht hervor, dass er Ende Juli 1925 darüber nachdachte, »einen Roman oder Kurzroman über die Gräuel von Salem zu schreiben, den ich vielleicht ›detektivisch‹ genug gestalten kann, um ihn an Edwin Baird für DETECTIVE TALES zu verkaufen«[9]. Baird war 1923–24 der erste Herausgeber von WEIRD TALES gewesen. Während seiner kurzen Tätigkeit für das Magazin hatte er alle von Lovecraft eingesandten Erzählungen angenommen. Als Herausgeber von DETECTIVE TALES hatte Baird allerdings gerade »The Shunned House« abgelehnt. Möglicherweise hatte er Lovecraft jedoch gleichzeitig mit der Ablehnung vorgeschlagen, eine Geschichte mit einem Detektiv einzureichen. Was Lovecraft nun zu Papier brachte, war auch kein Roman über Salem, sondern die in New York spielende Erzählung »The Horror at Red Hook« (1./2. August 1925), in der auch tatsächlich ein Detektiv vorkommt: Thomas Malone vom N.Y.P.D. Es ist unklar, ob Lovecraft »The Horror at Red Hook« tatsächlich an Baird schickte, jedenfalls wurde die Geschichte (eine der schwächsten von Lovecrafts längeren Erzählungen mit einer stereotypen Handlung, die auf abgedroschenen magischen Beschwörungen basiert und mit unangenehmen rassistischen Ausfällen versetzt ist) rasch von WEIRD TALES angenommen. Der Sommer 1925 war praktisch die einzige Periode seines New Yorker Aufenthalts, in der Lovecraft einen kreativen Funken verspürte: Am 11. August verfasste er »He« und am 18. September »In the Vault«. Sicherlich hat keine dieser Erzählungen den Rang eines Meisterwerks, doch »He« spiegelt Lovecrafts Empfindungen gegenüber New York – oder genauer gesagt, die Auswirkungen der Stadt auf seine Psyche – so eindrucksvoll wider wie nur irgendein Text in seinem Werk.

Aber was wurde aus der Idee zu einem Roman über Salem? Es ist nicht klar, wie konkret das Projekt zu diesem Zeitpunkt bereits war, doch im September 1925 las Lovecraft in der New York Public Library Gertrude Selwyn Kimballs Providence in Colonial Times (1912), und dieses ziemlich trockene historische Werk beflügelte offensichtlich seine Phantasie: Die Briefe an seine Tante Lillian aus dieser Zeit sind gespickt mit lokalgeschichtlichen Leckerbissen, die er in dem Buch entdeckte. Sein wachsendes Unvermögen, in der Metropole kreativ zu arbeiten, ließ Lovecraft jedoch alle Pläne für einen Roman, ja selbst für eine Kurzgeschichte auf unbestimmte Zeit vertagen.

Durch die gemeinsame Initiative von Frank Belknap Long und Lovecrafts Tanten erhielt Lovecraft im April 1926 dann endlich die Einladung, auf die er zweifellos schon seit mehr als einem Jahr gehofft hatte: Lillian bat ihn, wieder nach Providence zu kommen. Warum Lovecraft nicht einfach von sich aus den Entschluss fasste, in seine Heimatstadt zurückzukehren, ist nicht ganz klar. Vielleicht empfand er es als illoyal gegenüber Sonia, die zu einer Zeit, in der er es so gut wie aufgegeben hatte, sich nach einem Broterwerb umzusehen, im Grunde für seinen Lebensunterhalt aufgekommen war. Wie dem auch sei, Lovecraft ergriff die Gelegenheit und kehrte am 17. April nach Hause zurück. Seiner grenzenlosen Euphorie verlieh er in einem unsterblichen Brief an Frank Belknap Long Ausdruck:

Nun – der Zug raste weiter, und ich wurde von stillen Glückskrämpfen erschüttert, während ich nach und nach in ein waches und dreidimensionales Leben zurückkehrte. New Haven – New London – und dann das malerische Mystic mit seinen am Hang gelegenen Häusern aus der Kolonialzeit und der landumschlossenen Bucht. Dann endlich erfüllte eine noch subtilere Magie die Luft – edlere Dächer und Kirchtürme, die der Zug auf seinem Viadukt in luftigen Höhen passierte – Westerly – und ich war wieder in der königlichen Provinz RHODE-ISLAND & PROVIDENCE PLANTATIONS! GOTT SCHÜTZE DEN KÖNIG! Was folgte, war ein Rausch – Kingston – East Geenwich mit seinen steilen georgianischen Gassen, die von der Bahnlinie aus den Hang hinaufklettern – Apponaug und seine alten Dächer – Auburn, kurz vor der Stadtgrenze – ich hantiere in einem verzweifelten Versuch, ruhig zu erscheinen, mit Koffern und Taschen – DANN – eine aus einer Fieberphantasie entsprungene Marmorkuppel vor dem Zugfenster – die Luftdruckbremsen zischen – der Zug wird langsamer – ekstatisches Schaudern, und die Wolken, die meine Augen und meinen Geist umfangen hatten, lichten sich – ZU HAUSE – UNION STATION – PROVIDENCE!!![10]

Der gedruckte Text vermittelt nur einen unvollkommenen Eindruck: Im handschriftlichen Brief ist das letzte Wort in zweieinhalb Zentimeter hohen Lettern geschrieben und vierfach unterstrichen. Maurice Lévy bemerkt zu Recht:

»… diese ekstatische Rückkehr in das Land der Geburt war letztlich eine Rückkehr an die Mutterbrust. Der Bericht von dieser mythischen Heimkehr hat etwas Bewegendes, etwas, das eine wesentliche, ursprüngliche Erfahrung zum Ausdruck bringt.«[11] Und natürlich wird jedem Leser des Romans auffallen, dass diese Briefstelle eine beinahe exakte Entsprechung zu der Schilderung von Charles Dexter Wards Heimkehr nach seiner dreijährigen Europareise bildet. Im gesamten Werk Lovecrafts findet man kaum eine Parallele zu der stillen Einfachheit, mit der diese Passage schließt: »Die Abenddämmerung brach herein, und Charles Dexter Ward war wieder zu Hause.«

Allerdings warf Lovecrafts Rückkehr nach Providence – er zog mit seiner Tante Lillian in ein Mietshaus in der Barnes Street 10, unmittelbar nördlich der Brown University – die Frage auf, welche Rolle Sonia künftig in seinem Leben spielen sollte. Es ist offensichtlich, dass er die Ehe als gescheitert betrachtete – oder dass er sich zumindest für unfähig hielt, irgendwo anders als in seiner Heimatstadt zu leben –, und man kann Lovecraft dafür kritisieren, dass er seinen Tanten nicht die Stirn bot, als diese, zu einem unbestimmten späteren Zeitpunkt, ablehnend auf Sonias Vorschlag reagierten, in Providence ein Hutgeschäft zu eröffnen. Die Tanten, die noch immer stolz darauf waren, zur gesellschaftlichen Aristokratie von Providence zu gehören, empfanden die Vorstellung als schmachvoll, dass die Frau ihres Neffen in ihrer Stadt ihren Lebensunterhalt als Geschäftsfrau verdienen könnte. Sonia, die begriff, was die Stunde geschlagen hatte, reichte schließlich die Scheidung ein.

Lovecrafts Rückkehr nach Hause löste einen Schub literarischer Kreativität aus, wie er ihn nie zuvor erlebt hatte und auch in Zukunft nicht nochmals erleben sollte: In einem Zeitraum von sechs bis neun Monaten brachte er 150.000 Worte literarisch-poetischer Prosa zu Papier, darunter so beeindruckende Werke wie »The Call of Cthulhu«, »Pickman’s Model«, »The Silver Key« (1926), The Dream-Quest of Unknown Kadath (1926–27) und »The Colour out of Space« (1927). Charles Dexter Ward war das vorletzte Glied dieser Kette. Zunächst sollten wir unsere Aufmerksamkeit jedoch The Dream-Quest zuwenden, einem Text, der trotz seiner oberflächlichen Anleihen bei Lord Dunsany in vielerlei Hinsicht eine Art thematisches Spiegelbild von Charles Dexter Ward ist. Denn was ist das Fazit dieses scheinbar ausschweifenden und diffusen Textes, in dem die Hauptfigur Randolph Carter auf der Suche nach der »Stadt des Sonnenuntergangs« ein Traumland durchquert? Der unheilvolle Gott Nyarlathotep bringt es am Ende des Romans auf den Punkt:

Denn wisse, deine goldene und marmorne Stadt der Wunder ist nur die Summe dessen, was du in deiner Jugend geschaut und geliebt hast. Es ist die Pracht von Bostons Hügeln, deren Dächer und Westfenster vom Sonnenuntergang in Flammen gesetzt werden; des blütenduftenden Parks und der großen Kuppel auf dem Hügel und des Dickichts der Giebel und Kamine in dem violetten Tal, wo der vielbrückige Charles träge dahinfließt. Diese Dinge sahst du, Randolph Carter, als dich dein Kindermädchen im Frühling zum ersten Mal ausfuhr, und sie werden das Letzte sein, was du je mit den Augen der Erinnerung und der Liebe erschauen wirst. Und dort ist das alte Salem mit seinen brütenden Jahren, und das gespenstische Marblehead, das seine felsigen Klippen in vergangene Jahrhunderte stürzt, und die Pracht von Salems Türmen und Giebeln, wie man sie von Marbleheads Wiesen aus erblickt, wenn man über den Hafen hinweg gegen die sinkende Sonne in die Ferne schaut. (MM 400/401)

Auch wenn der folgende Satz auf den ersten Blick einen stärkeren Bezug zu unserer Fragestellung zu haben scheint – »Dort liegt Providence, malerisch und stattlich auf seinen sieben Hügeln über dem blauen Hafen, mit grünen Terrassen, die hinaufführen zu Kirchtürmen und Zitadellen, in denen die Vergangenheit lebendig ist« –, sollte man sich natürlich vergegenwärtigen, dass Lovecraft Randolph Carter aus Boston stammen lässt, sodass es seine Erinnerungen an diese Metropole sind, aus denen seine »Stadt des Sonnenuntergangs« zusammengesetzt ist. Was aber will Lovecraft letztlich in The Dream-Quest wie auch in Charles Dexter Ward beschreiben? Geht es ihm nicht darum, einen literarischen Ausdruck für etwas zu finden, was er in seinem Leben verkörpert hat – dafür, dass es möglich ist, nach Hause zurückzukehren?

Lovecraft vollendete The Dream-Quest am 22. Januar 1927 und stürzte sich beinahe sofort in einen anderen »frischen Roman«[12]: The Case of Charles Dexter Ward. Genau genommen plante er Charles Dexter Ward zunächst nur als Novelle. Am 29. Januar schrieb er: »Ich arbeite schon wieder an einer neuen kürzeren Geschichte.«[13] Am 9. Februar war er bei Seite 56 und schätzte, dass noch 25 Seiten vor ihm lagen.[14] Am 20. Februar schließlich wurde ihm klar, auf was er sich eingelassen hatte: Er war auf Seite 96, »und es [gibt] noch viel zu sagen«[15]. Auf der letzten Seite des handschriftlichen Manuskripts ist vermerkt, dass Lovecraft die Arbeit am 1. März beendete.

Nach The Dream-Quest war Lovecraft wieder auf die Idee einer in Salem angesiedelten Erzählung zurückgekommen: »… manchmal würde ich gern einen Roman mit einer naturalistischeren Szenerie schreiben, in dem sich gewisse scheußliche Stränge von Hexerei vor dem düsteren & von Erinnerungen heimgesuchten Hintergrund des alten Salem durch die Jahrhunderte ziehen.«[16] Wahrscheinlich war es die Lektüre von Gertrude Kimballs Providence in Colonial Times im Zusammenhang mit seiner tatsächlichen Rückkehr nach Providence, die Lovecraft dazu anregten, die Salem-Idee mit einer Geschichte über seine Heimatstadt zu verbinden. Lovecraft schlägt den Bogen zwischen beiden Städten in der Gestalt von Joseph Curwen, der »bei Ausbruch der großen Hexenpanik von Salem nach Providence geflohen [war]«.

Die Entstehungsgeschichte des Werks reicht zumindest in einer Hinsicht sogar noch vor den August 1925 zurück. Das dem Text als Motto vorangestellte Zitat aus Borellus entnahm Lovecraft Cotton Mathers Magnalia Christi Americana (1702), einem Band, der sich in seinem Besitz befand. Das Laktanz-Zitat, das Lovecraft als Motto von »The Festival« verwendete, entstammt ebenfalls den Magnalia, sodass er möglicherweise zur selben Zeit auf die Borellus-Passage stieß und sie in seinem Commonplace-Book festhielt. David E. Schultz datiert den entsprechenden Eintrag 87 auf April 1923.

Ende August 1925 teilte Lovecrafts Tante Lillian ihm offensichtlich eine Anekdote aus Providence mit. Lovecraft antwortete: »Im Halsey-Haus spukt es also! Uh! Das ist das Haus, wo Tom Halsey, der alte Wüstling, lebende Diamantschildkröten im Keller hielt – vielleicht sind es ihre Geister. Sei’s drum, es ist ein prachtvolles altes Herrenhaus & einer großartigen alten Stadt würdig!«[17] Das Thomas-Lloyd-Halsey-Haus in der Prospect Street 140 diente als Vorbild für Charles Dexter Wards Elternhaus, dem Lovecraft die Adresse Prospect Street 100 gab – vielleicht, um neugierige Leser seines Romans davon abzuhalten, die jetzigen Bewohner des Halsey-Hauses zu belästigen. Obwohl es inzwischen in einzelne Wohnungen aufgeteilt wurde, verdient das prächtige Gebäude im spätgeorgianischen Stil (ca. 1800) Lovecrafts Lobeshymnen auch heute noch voll und ganz: »Sein Elternhaus war ein großes georgianisches Herrenhaus ganz oben auf dem ziemlich steilen Hügel, der sich unmittelbar östlich des Flusses erhob. Aus den rückwärtigen Fenstern seiner weitläufigen Flügel bot sich ihm ein schwindelerregender Blick über das Gewirr von Türmen, Kuppeln, Dächern und Hochhäusern der Unterstadt bis zu den purpurnen Hügeln, die sich jenseits der Stadtgrenze erstreckten.« Lovecraft hat das Halsey-Haus vermutlich nie betreten, doch wenn er aus dem rückwärtigen Fenster der Wohnung seiner Tante in der Barnes Street 10 nach Nordwesten sah, hatte er einen ausgezeichneten Blick auf das Gebäude.

Was die Legenden über Geistererscheinungen betrifft, die sich um das Haus rankten, so berichtet der AMERICAN GUIDE für Rhode Island 1937:

[Halsey] war ein berühmter Lebemann der Kolonialzeit, und die Legende berichtet, dass er lebende Diamantschildkröten in seinem Keller hielt. Während vieler Jahre, in denen das Gebäude leer stand, waren die Schwarzen in der Nachbarschaft davon überzeugt, dass ein klavierspielender Geist dort spukt. Sie waren unter keinen Umständen dazu bereit, das Haus zu betreten, und machten nachts stets einen weiten Bogen darum. Es wird ebenfalls erzählt, dass ein Blutfleck auf dem Fußboden viele Jahre lang allen Bemühungen, ihn zu entfernen, widerstanden hat.[18]

Zweifellos hatte Lillian 1925 ganz ähnliche Geschichten gehört.

Lovecraft begann, Providence in Colonial Times in den letzten Julitagen dieses Jahres zu lesen. Da Lovecraft das Buch aus der New York Public Library nicht nach Hause ausleihen konnte, konnte er es nur während der Öffnungszeiten der Bibliothek im genealogischen Lesesaal einsehen. Daher war seine Lektüre zunächst sporadisch und nahm erst ab Mitte September Fahrt auf. Zu diesem Zeitpunkt las er über John Merritt und den Reverend John Checkley, der »für seine geistreiche Konversation & als Mann von Welt bekannt war«.[19] Beide sollten in Charles Dexter Ward Joseph Curwen ihre Aufwartung machen. In den Briefen, die Lovecraft im weiteren Verlauf dieses Monats schrieb, nimmt er häufig auf Kimballs Buch Bezug, und es steht außer Frage, dass es ihm half, sein Wissen über das Providence der Kolonialzeit auf eine solide Grundlage zu stellen, sodass er es eineinhalb Jahre später in seinem Roman zu fiktionalem Leben erwecken konnte. Lovecraft tut in Charles Dexter Ward natürlich weit mehr, als nur historische Kuriosa wiederaufzubereiten: Er verwebt Geschichte und Fiktion miteinander und haucht den trockenen Fakten, die er im Laufe der Jahre über seine Heimatregion gesammelt hatte, bildhaftes Leben ein, indem er geschickt Imaginäres, Phantastisches und Unheimliches in die bekannte Historie einfließen lässt.

Natürlich finden sich auch andere, spezifisch literarische Einflüsse in Charles Dexter Ward. Nicht weniger entscheidend als die Lektüre von Kimballs Buch und Lovecrafts ekstatische Rückkehr nach Providence ist für die Entstehung des Romans vielleicht die Tatsache, dass Lovecraft kurz zuvor seine bahnbrechende Abhandlung über unheimlich-phantastische Literatur »Supernatural Horror in Literature« fertiggestellt hatte. Die Arbeit an diesem Großessay, den Lovecraft auf Anregung von W. Paul Cook im November 1925 begonnen hatte, war für ihn von einschneidender Bedeutung. Einerseits, weil sie ihm in den letzten Monaten seines New Yorker Aufenthalts ein Ziel gab, andererseits, weil die Auseinandersetzung mit den Klassikern der phantastischen Literatur vom Schauerroman bis zu den Werken zeitgenössischer Autoren Lovecrafts eigener Kreativität neue Impulse gab. Tatsächlich ist Charles Dexter Ward, mehr noch als »The Rats in the Wall« (1923), Lovecrafts eindeutigste Hommage an die Tradition des klassischen Schauerromans. Das Thema der Suche nach dem ewigen Leben, die Beschwörung mittelalterlicher Okkultisten und Alchemisten und das allgemeine Empfinden für ein Grauen, das aus den Tiefen der Geschichte aufsteigt, sind zentrale Motive in Schauerromanen wie William Godwins St. Leon (1799) und Charles Robert Maturins Melmoth the Wanderer (1820). Lovecraft aktualisiert diese altehrwürdigen Motive, indem er sie in die relative Modernität der Neuen Welt versetzt und ihr unheilvolles Eindringen in seine Gegenwart schildert. Einer der reizvollsten Momente in Charles Dexter Ward – wenn Joseph Curwen, der sich als Ward ausgibt, bemerkt, dass »das Knarren von Epenetus Olneys neuem Firmenschild (der protzigen Krone, die er aufhängen ließ, nachdem er auf die Idee verfallen war, seine Schänke in Kaffeehaus zur Krone umzubenennen) exakt so klang wie die ersten Takte des neuen Jazzstücks, das in Pawtuxet aus allen Radios scholl« – verschmilzt eine zwielichtige Altertümlichkeit mit kühner Modernität zu einem unheimlichen Amalgam.

Ein konkreter literarischer Einfluss auf Charles Dexter Ward lässt sich vielleicht in Walter de la Mares Roman The Return (1920) sehen. Lovecraft hatte de la Mare im Sommer 1926 zum ersten Mal gelesen und stellte fest, dass der britische Autor »außerordentlich überzeugend sein kann, wenn er will«[20]. Über The Return schreibt er in »Supernatural Horror in Literature«: »… wir [sehen] die Seele eines Toten aus ihrem zweihundert Jahre alten Grab fliehen, um sich an lebendiges Fleisch zu klammern, sodass sogar das Gesicht des Opfers die Züge des Mannes annimmt, der vor langer Zeit zu Staub zerfiel.« Allerdings schildert de la Mares Roman – anders als Charles Dexter Ward – eine tatsächliche psychische Besessenheit und richtet sein Hauptaugenmerk auf das persönliche Trauma des Betroffenen, insbesondere seine Beziehungen zu seiner Frau und seiner Tochter, und weniger auf das Unnatürliche seines Zustands. Dennoch hat Lovecraft in seinem Roman offensichtlich de la Mares Grundidee adaptiert.

Auf einen weiteren wichtigen literarischen Einfluss hat Richard Ward aufmerksam gemacht: M. R. James Erzählung »Count Magnus«, die in dessen erster Erzählungssammlung Ghost Stories of an Antiquary (1904) enthalten ist. Lovecraft stieß erstmals im Dezember 1925[21] auf James und scheint, geht man nach dem Platz, den er der Erzählung in »Supernatural Horror in Literature« einräumt, insbesondere von »Count Magnus« beeindruckt gewesen zu sein. Richard Ward weist auf die zahlreichen Ähnlichkeiten zwischen Count Magnus und Joseph Curwen hin: Beide besitzen umfangreiche Sammlungen (sowohl existierender wie imaginärer) okkulter Bücher; die Porträts beider Männer spielen in den jeweiligen Erzählungen eine signifikante Rolle, und, was vielleicht am bedeutsamsten ist, beide Männer üben einen unheilvollen Einfluss auf den unglückseligen Protagonisten aus, der mit ihnen in Kontakt kommt. Richard Ward resümiert:

Beide Figuren haben ein dunkles magisches Erbe hinterlassen, das die Vorstellungskraft derjenigen, die durch Zufall darauf stoßen, bis zur absoluten Besessenheit in seinen Bann zieht. Dank der Macht seines Schöpfers kann dieses Erbe sich körperlich in der Gegenwart manifestieren.[22]

Für einige weniger bedeutende Einzelheiten lassen sich ebenfalls Quellen identifizieren. Marinus Bicknell Willetts Name entstammt zweifellos einem Buch, das Lillian im November 1925 an Lovecraft schickte:[23]

Francis Read, Westminster Street, Providence, as It Was about 1824. From Drawings Made by Francis Read and Lately Presented by His Daughter, Mrs. Marinus Willett Bardner, to the Rhode Island Historical Society, Providence: Printed for the Society, 1917.

Bicknell ist in Providence ein alter Familienname. So war beispielsweise Thomas William Bicknell ein bekannter Historiker, der eine fünfbändige Geschichte des Bundesstaats Rhode Island (1920) verfasste, die Lovecraft ziemlich sicher gelesen hat. Nicht ganz klar ist hingegen, wie Lovecraft auf den Namen Charles Dexter Ward kam. Der Name Ward spielt in Providence bereits in der Kolonialzeit eine Rolle, und Lovecraft erwähnt in seinem Roman eine politische Auseinandersetzung zwischen den Unterstützern von Samuel Ward und den Anhängern von Stephen Hopkins um das Jahr 1760. Darüber hinaus besaß Lovecraft zwei Anthologien mit englischer Literatur, die von Charles Dexter Cleveland zusammengestellt worden waren, der der in Providence prominenten Familie der Dexters entstammte.

Wenn die Herkunft von Wards Namen auch nicht eindeutig geklärt werden kann, so gibt es keinen Zweifel daran, woher Lovecraft seine Inspiration für die eigentliche Figur bezog. Natürlich lässt Lovecraft in Charles Dexter Wards Charakter viele autobiographische Züge einfließen, eine Reihe von äußerlichen Details scheint er jedoch einer Person entliehen zu haben, die in den 1920er Jahren im Halsey-Haus wohnte: William Lippitt Mauran (1910–1984). Lovecraft kannte Mauran zwar möglicherweise nicht persönlich, hat ihn jedoch höchstwahrscheinlich auf der Straße beobachtet und von ihm reden gehört. Mauran war ein kränkliches Kind, das einen Großteil seiner Jugend als Invalide verbrachte und von einem Kindermädchen in einem Wagen durch die Straßen geschoben wurde. Die Beschreibung, wie Ward zu Anfang des Romans als kleiner Junge »aus dem eleganten klassischen Portikus der symmetrisch geschwungenen Backsteinfassade … in seinem Kinderwagen ausgefahren [wird]«, könnte also durchaus auf einer von Lovecraft beobachteten Szene mit Mauran beruhen. Nicht zuletzt besaß die Familie Mauran ein Gehöft in Pawtuxet, wie Joseph Curwen in Lovecrafts Roman. Auch andere Einzelheiten von Wards Gestalt passen eher zu Mauran als zu Lovecraft. Ein weiterer »Insiderscherz« ist die Erwähnung von Manuel Arruda als Kapitän des spanischen Schiffes Fortaleza, das 1770 mit einer unheimlichen, für Curwen bestimmten Fracht aufgebracht wird. Der wirkliche Manuel Arruda war ein ambulanter Gemüsehändler, der in den späten 1920er Jahren auf dem College Hill sein Geschäft betrieb.[24]

III.

Worin aber besteht, jenseits von obskuren Anspielungen und Insiderscherzen, die wesentliche Botschaft von The Case of Charles Dexter Ward? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst darüber klar werden, was genau Curwen und seine Gefolgschaft mit jenen »essenziellen Saltzen« bezwecken, von denen in dem Roman so oft die Rede ist. Lovecraft erklärte es – vielleicht etwas überdeutlich – in einer Passage gegen Ende des Romans:

Was diese grässlichen Kreaturen – und Charles Ward mit ihnen – taten oder zu tun versuchten, schien … ziemlich klar. Sie plünderten die Gräber aller Zeitalter, darunter die der weisesten und größten Männer der Weltgeschichte, weil sie hofften, aus dem Staub der Verstorbenen eine Spur des Geistes und des Wissens wiedergewinnen zu können, die diese Männer einst beseelt hatten.

Es wird allerdings nicht ganz klar, wie aus diesem Versuch, menschlichen Gehirnen ihr Wissen zu entreißen – selbst wenn es sich um diejenigen der »weisesten und größten Männer der Weltgeschichte« handelt –, ein Szenario resultieren sollte, das (wie der verzweifelte Ward an Dr. Willett schreibt) eine Gefahr für »die gesamte Zivilisation, die Naturgesetze, vielleicht sogar das Schicksal des Sonnensystems und des Universums« darstellt. In einigen seiner Notizen und Briefe spricht Curwen davon, Wesenheiten von »außerhalb der Sphären« zu beschwören – darunter möglicherweise Yog-Sothoth, der in dem Roman zum ersten Mal erwähnt wird –, aber diese Hinweise sind so nebulös, dass man keine weiteren Schlüsse aus ihnen ziehen kann. Es wird ebenfalls angedeutet, dass Curwen bei der Erstürmung seines Gehöfts durch die Bürger von Providence im Jahre 1771 nicht durch menschliche Hand getötet wurde, sondern von einer namenlosen Wesenheit, die er in seiner Verzweiflung heraufbeschworen hatte. Nichtsdestotrotz hat die Idee einer faustischen Suche nach Wissen, die dem Roman zugrunde liegt, Barton L. St. Armand, einen der scharfsinnigsten Kommentatoren des Werks, zu der Auffassung geführt, dass »die schlichte Moral von The Case of Charles Dexter Ward ist, dass es gefährlich ist, zu viel wissen zu wollen, insbesondere über seine eigenen Vorfahren«.[25]

Möglicherweise liegen die Dinge jedoch nicht ganz so einfach. Denn folgt man dieser Interpretation, dann wäre Ward selbst der negative Held der Geschichte. Aber offensichtlich ist Curwen der eigentliche Schurke, denn er ist es, der die Idee entwickelt, die Geister der Verstorbenen für seine eigenen (ziemlich unklaren) Zwecke zu plündern. Sicherlich ist Ward ein leidenschaftlicher Wissenssucher und gewiss ist er für Curwens körperliche Wiederauferstehung verantwortlich. Doch es ist unzutreffend oder zumindest ungenau zu behaupten, dass Curwen von Ward »Besitz ergreift«. Es scheint sich nicht um einen Fall von psychischer Besessenheit – zumindest nicht im offensichtlichen Sinne – zu handeln, wie Lovecraft sie in »The Tomb« und später in »The Thing on the Doorstep« (1933) schildert. Curwen wird körperlich wieder zum Leben erweckt, und als Ward sich weigert, ihm bei der Verwirklichung seiner Pläne zu helfen, ermordet Curwen ihn skrupellos und nimmt seine Identität an. Und vergessen wir nicht, mit welchen Argumenten Ward in seinem Brief an Dr. Willett sein Tun rechtfertigt. Aufschlussreich ist hier vor allem der letzte Satz: »Ich habe eine monströse Abnormität ans Licht gebracht, doch tat ich es um der Erkenntnis willen.« Diese wenigen Worte enthalten Wards (und Lovecrafts) Rechtfertigung: Im ersten Teil des Satzes gesteht Ward seine moralische Schuld ein. Der zweite Teil bringt jedoch eine Einschränkung: Denn Ward betrachtet (wie Lovecraft) das Streben nach Erkenntnis als etwas, das an sich gut ist. Manchmal allerdings hat dieses Streben unglückliche und unvorhergesehene Folgen. Vielleicht war es naiv von Ward anzunehmen, dass er keinen Schaden damit anrichten würde, Curwen von den Toten wiederauferstehen zu lassen. Aber auch Dr. Willett sagt am Schluss des Romans über Ward: »… er war weder böse noch wirklich wahnsinnig, sondern nur ein eifriger, fleißiger und wissbegieriger Junge, dem seine Liebe zum Geheimnis und zur Vergangenheit zum Verhängnis geworden ist.«

Nichtsdestotrotz spielt vielleicht eine subtilere Form von psychischer Besessenheit in der Geschichte eine Rolle. Als Curwen in den 1760er Jahren heiratet, tut er dies nicht nur, weil er seinen angeschlagenen Ruf verbessern will, sondern auch, weil er einen Nachkommen braucht. Er scheint zu wissen, dass er eines Tages sterben wird und nur vermittels seiner »essenziellen Saltze« wieder zum Leben erweckt werden kann, sodass er sorgfältige Vorbereitungen für deren Wiederauffindung trifft. Er bereitet ein Notizbuch für »Ihn, der nach mir kommen wird« vor und hinterlässt Hinweise, die es ermöglichen sollen, seine sterblichen Überreste aufzuspüren. Es scheint somit durchaus möglich, dass Curwen in einem gewissen Sinne von Ward psychisch Besitz ergreift und ihn so dazu bringt, zunächst seine Hinterlassenschaften und dann seinen Leichnam zu finden und ihn wieder zum Leben zu erwecken. Vielleicht wäre es jedoch präziser zu sagen, dass das gesamte Szenario von Charles Dexter Ward Lovecrafts Vorstellungen von Schicksal und Determinismus zum Ausdruck bringt: Wards Handeln scheint unausweichlich vorherbestimmt zu sein, und diese Unausweichlichkeit verleiht dem Grauen der Situation ein zusätzliches Maß an Bitterkeit.

The Case of Charles Dexter Ward ist eines der wenigen Werke Lovecrafts, in denen es ihm gelingt, seinen Protagonisten eine gewisse Tiefe zu verleihen. Sowohl Curwen als auch Ward treten lebendig hervor – Letzterer, weil Lovecraft bei der Darstellung seines Charakters ungekünstelt auf seine eigenen tiefsten Gefühle zurückgreift. Letztlich hat St. Armand jedoch recht, wenn er die Stadt Providence als die eigentliche »Hauptfigur« des Romans bezeichnet. Wie sich aus den Anmerkungen ersehen lässt, bedarf es eines umfangreichen Kommentars, um nicht nur alle geschichtlichen Fakten, die Lovecraft ausgegraben hat, sondern auch die zahllosen autobiographischen Details, die er in die Handlung verwoben hat, auszuleuchten. Die Schilderungen von Wards Kindheit am Anfang des Romans sind voller Reminiszenzen an Lovecrafts eigene Jugend, wobei es jedoch einige auffällige Änderungen gibt. So siedelt er beispielsweise die Kindheitserinnerung Wards an »das sich nach Westen erstreckende Meer von Dächern und Kuppeln und Kirchtürmen und fernen Hügeln im Dunst, das er eines Winternachmittags von der großen, geländerbewehrten Aussichtsplattform aus erblickte, violett und geheimnisvoll vor einem fiebrigen, apokalyptischen Sonnenuntergang, der den Horizont in Rot und Gold und Purpur und seltsame Grüntöne tauchte« auf der Prospect Terrace in Providence an, während Lovecraft in seinen Briefen schildert, wie er diese mystische Vision als Kind auf einer Eisenbahnbrücke in Auburndale, Massachusetts, hatte.

Bemerkenswert ist ebenfalls der starke Kontrast zwischen Dr. Willetts Erfolg bei der vollständigen Vernichtung Curwens und dem offensichtlichen Scheitern des Versuchs, das jahrhundertealte Grauen von Red Hook auszulöschen, mit dem die gleichnamige New Yorker Erzählung Lovecrafts endet: New York bleibt weiterhin die Brutstätte aller Schrecken, während Providence am Ende gereinigt von allen bösen Makeln wiederaufersteht. Diese Auflösung findet sich in allen in Providence angesiedelten Erzählungen Lovecrafts, darunter »The Shunned House« und »The Haunter in the Dark« (1935). In vieler Hinsicht ist The Case of Charles Dexter Ward in der Tat eine verbesserte Version von »The Horror in Red Hook«. Eine Reihe von Handlungselementen sind der früheren Erzählung entliehen: Curwens Alchemie entspricht Robert Suydams kabbalistischen Aktivitäten; Curwens Versuch, seinen Ruf durch eine vorteilhafte Heirat zu verbessern, spiegelt Suydams Heirat mit Cornelia Gerritsen wider; Dr. Willett als mutiger Widersacher von Curwen entspricht Detective Malone als Gegenspieler von Suydam. Lovecraft greift einmal mehr auf seinen relativ kleinen Vorrat an grundlegenden Handlungselementen zurück, und einmal mehr gelingt es ihm, aus den Elementen einer mittelmäßigen Erzählung ein Meisterwerk zu machen.

Die flüchtigen Erwähnungen von Yog-Sothoth weisen bereits auf die wichtige Rolle voraus, die diese kosmische Wesenheit in »The Dunwich Horror« spielen wird, einer Erzählung, die Lovecraft ein gutes Jahr nach Charles Dexter Ward verfasste. Lovecraft hatte das Gerüst dessen, was später (nicht von Lovecraft selbst, aber von einigen Mitgliedern seines Zirkels, insbesondere von August Derleth) als Cthulhu-Mythos bezeichnet wurde, in der im Sommer 1926 verfassten Erzählung »The Call of Cthulhu« skizziert. In The Dream-Quest hatte er den Gott Nyarlathotep (der erstmals in dem gleichnamigen Prosagedicht von 1920 auftaucht) zu einer Hauptfigur gemacht, und in Charles Dexter Ward