Der Fall der verschwundenen Braut - Carmen Radtke - E-Book

Der Fall der verschwundenen Braut E-Book

Carmen Radtke

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Beschreibung

Es soll die Reise in ein besseres Leben werden .... 1862. Zielhafen Eheglück: Eine Gruppe junger Frauen sticht in Australien in See, um in Kanada mit wohlhabenden Goldschürfern verheiratet zu werden. Als eine der Bräute nach einer stürmischen Nacht verschwunden ist, glauben alle an einen Unglücksfall. Alle, bis auf Alyssa Chalmers. Sie ist überzeugt, dass ein Verbrechen geschehen ist und setzt alles daran, die Wahrheit heraus zu finden. Aber steckt noch mehr hinter dieser gefahrvollen Reise steckt, als Alyssa ahnt?

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Seitenzahl: 325

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Für Marcus Cordts (1968 – 2003) Unvergessen

WEITERE WERKE

Weitere Werke der Autorin Kiwi & Co. – Neuseeland für Anfänger und Fortgeschrittene

In englischer Sprache: False Play at the Christmas Party (a Jack Sullivan mystery) A Matter of Love and Death (a Jack and Frances mystery) Glittering Death (the second Alyssa Chalmers mystery)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Ein und Zwanzig

Kapitel Zwei und Zwanzig

Kapitel Drei und Zwanzig

Kapitel Vier und Zwanzig

Kapitel Fünf und Zwanzig

Kapitel Sechs und Zwanzig

Kapitel Acht und Zwanzig

Kapitel Neun und Zwanzig

KAPITEL EINS

Der Fall der verschwundenen Braut

Alyssa Chalmers verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Wie lange konnte es in Anspruch nehmen, zweiundzwanzig Namen vorzulesen, sie mit einem Gesicht in Verbindung zu bringen und auf der Liste abzuhaken? Bei Oberin McKenzies langsamem Fortschritt würden sie noch bei Einbruch der Nacht hier stehen.

Schwarzer Satin raschelte, als die Oberin näher kam. „Louisa Jane Sinclair?“ Ein spatzenhaftes Mädchen knickste. Ihre Brauen verschwanden fast unter ihren hellen Stirnfransen, als ihre Augen immer runder wurden. Sie sollte nicht hier sein, dachte Alyssa. Sie ist bloß ein Kind.

„Wo ist dein Gepäck? Fehlt auch nichts von der Liste?“ Louisa Janes Augen wurden noch runder, bis ihre Pupillen nur mehr schwarze Kreise in ihrem blassen Gesicht waren. Sie bückte sich, um in ihrem Pappkoffer zu suchen, den sie statt der vorgeschriebenen hölzernen Kiste benutzte. „Ja, Madam”, murmelte sie. Die Oberin machte eine Notiz auf ihrer Liste, ehe sie den nächsten Namen aufrief. „Emma Sayce?“

Als ihr Füllfederhalter das letzte Mal über das Papier kratzte, lag der Bahnhof verlassen da, die Umrisse kaum noch sichtbar in der Gasbeleuchtung von Port Phillip.

Die Oberin klatschte, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. „Hört gut zu, Mädchen. Kein Trödeln oder Schnattern auf dem Weg. Wir werden uns so still wie Mäuse verhalten und möglichst schnell marschieren. Ich werde an der Spitze gehen, und unser guter Pater Pollock bildet das Ende, bis er uns sicher verabschieden kann.“

Die Mädchen gehorchten und trotteten stillschweigend los, auf dem Weg in ihr neues Leben.

Die Luft roch noch Salz, totem Tang und Traurigkeit, dachte Alyssa Chalmers, während die Möwen wie Klagegeister in der alles umfassenden Dunkelheit kreischten. Das Meer, das bei Tageslicht so viel Hoffnung auf einen Neuanfang und ein besseres Leben versprach, war in der Finsternis lediglich ein trauriger Friedhof.

Sie erschauerte. Sie musste auf dem besten Wege sein, krank zu werden. Eine andere Erklärung gab es nicht für eine derartige Niedergeschlagenheit, so vernünftig wie Alyssa war.

Die Mädchen marschierten weiter, bis die Oberin abrupt stehen blieb.

„Autsch”, rief ein Mädchen aus. „Pass doch auf, was du machst, du dusseliges Ding.“

Mrs McKenzie drehte sich auf dem Absatz um, um die Sprecherin zu konfrontieren. „Ruhe”, zischte sie. „Und achte auf deine Worte. Diese Ausdrucksweise werde ich nicht dulden, hast du das verstanden, Nellie?“

„Was ist hier los?“ fragte eine müde Stimme.

„Nichts, Pater”, sagte die Oberin. „Wir scheinen am Ziel zu sein. Dort drüben winkt ein Mann mit einer Lampe. Können Sie den Namen des Schiffes direkt neben der Barke erkennen?“

Pater Pollock blinzelte durch seine dicken Brillengläser. „Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es sind zwei Worte. Sie müssten es besser lesen können als ich. Sie sind viel näher dran.“

Alyssa unterdrückte ein Schmunzeln. Mrs McKenzies Sicht schien deutlich schwächer zu sein, als sie zugeben mochte. Der Name „Artemis‘ Delight“ stand groß genug an der massigen braunen Bordwand, um im Schein der modernen Gasbeleuchtung mühelos entziffert zu werden.

Die Masten knarrten mit jeder Bewegung unter dem Gewicht der Segel. Ein Schornstein zog Alyssas Aufmerksamkeit auf sich. Er wirkte fehl am Platz, als hätte ein Kind ihn in letzter Minute auf ein bereits fertiges Bild gezeichnet. Was für ein passendes Symbol, dass die „Artemis‘ Delight“ genau wie die Mädchen eine Mischung aus der Vergangenheit und Zukunft war, mit ihren traditionellen Segeln und dem neuartigen Dampfantrieb.

„Wartet hier, während ich mit dem Mann rede”, sagte die Oberin nach kurzem Zögern. „Falls Sie uns jetzt Ihren Segen erteilen wollen, Pater, werden wir Sie nicht länger aufhalten.“ Er kam der Aufforderung nach und schenkte ihnen allen noch ein zuneigungsvolles Lächeln, ehe er in der Dunkelheit verschwand.

Die Oberin hob ihren Rock an, obwohl er bereits etliche Zentimeter über dem Boden endete. Von ihrem Handgelenk baumelte ein bestickter schwarzer Beutel mit der Namensliste und anderen Papieren.

Alyssa wünschte, sie könnte das Gesicht des Seemanns sehen, als sich ihm diese elegante Gestalt näherte.

Er winkte ihnen mit der Laterne zu, näher zu kommen. Eine nach der anderen trotteten die Mädchen den Laufsteg hoch. Hölzerne Sohlen klapperten auf den unebenen Brettern. Wie Hufe, dachte Alyssa, und genau das sind wir auch. Vieh, das für den höchsten Bieter bestimmt ist.

Sie zwang sich, weiterzugehen. Ihre Schultern waren angespannt, und sie wurde das Gefühl nicht los, auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden. Sie gab sich einen Ruck. Sie durfte ihre Fantasie nicht mit sich durchgehen lassen.

Der Mann grinste, als er das letzte Mädchen den Laufsteg hochgehen sah. In ihm stieg ein unerwartetes Gefühl der Zuneigung für sie alle auf, wie sie so bereitwillig ihrer Zukunft entgegen gingen und ihm selbst Reichtum verhießen. Darauf würde er anstoßen, versprach er sich im Stillen.

Ihr Weg endete im einen großen Raum. Vier Holzbänke standen um einen langen, mit Essen beladenen Tisch angeordnet. Die kleine Schar starrte die vollen Schüsseln mit einer Mischung aus Scheu und Gier an.

„Dürfen wir uns bitte hinsetzen, Oberin?“ fragte eine sanfte Stimme. Alyssa drehte sich halb herum, um die Sprecherin zu sehen. Emma, dachte sie mit einem Gefühl der Zufriedenheit. Sie hatte sich den Namen und das bezaubernde Antlitz von dem Anwesenheitsappell gemerkt.

„Oh, ja, bitte”, sagte ein anderes Mädchen.

„Nun gut”, sagte Mrs McKenzie. „ich werde am Kopfende der Tafel Platz nehmen.“ Sie schniefte, als würde etwas ihre Nase kitzeln, als sie zu ihrem Sitz ging. Als die ersten Mädchen ihr in respektvollem Abstand folgten, öffnete sie ihren Beutel und fummelte darin herum.

„Wo habe ich es bloß?“ Sie legte den Beutel hin und schaute sich mit einem resignierten Ausdruck um.

Ihr Blick fiel auf Alyssa, als eines der letzten noch nicht sitzenden Mädchen. Sie winkte sie herbei.

„Ja, Oberin? Was wünschen Sie?“ fragte Alyssa, während sie sich zwang, das verlockende Essen zu ignorieren.

„Du bist Alyssa, nicht wahr? Ich muss dich bitten, noch einmal zurück zu gehen. Ich scheine irgendwo mein Taschentuch verloren zu haben. Dabei weiß ich noch, dass ich es benutzt habe, nachdem wir den Laufsteg hochgekommen waren.“ Sie musterte Alyssa fest. „Ich verlasse mich darauf, dass du in kürzester Zeit wieder hier bist.“

„Selbstverständlich, Oberin.“ Alyssa eilte davon, um ihren Auftrag zu erfüllen. Über ihrem Kopf ließen schwere Schritte die Decksplanken knarren. Eine einzelne Lampe hing an der Wand und verbreitete ein schwaches Licht in dem engen Gang. Sie spähte angespannt auf den Boden, in der Hoffnung, das Taschentuch zu entdecken. Es war zu dunkel, um lange herumzustolpern, und die ungewohnten Geräusche von oben machten sie nervös.

Alyssa kletterte die Treppe zum Deck samt dem Laufsteg so leise wie möglich hoch, als eine männliche Stimme sie erstarren ließ.

„Wie lange fahren wir schon gemeinsam zur See, Mr Kendrick?“

„Seit Mai 1857, Sir. Fast fünf Jahre.“

„Ich sage Ihnen eins, diese Fracht wird uns nichts als Ärger machen. Kein Vergleich mit einer Ladung Rinder oder Schafe oder von mir aus Eisenerz.“ Ein tiefer Grunzer entrang sich dem unsichtbaren Mann. „Aber nein, stattdessen wird uns das hier aufgezwungen. Warum nur? Warum ich und die ‚Artemis‘ Delight‘ von allen Schiffen unter der Sonne?“

Alyssa drückte sich gegen die Wand und lauschte schamlos. Der andere Mann antwortete, „Tja, Kapitän Moore, Sie sind nun einmal der beste Seemann unter dem ich je gedient habe. Unsere Eigner wissen, dass niemand sein Schiff besser unter Kontrolle hat. Wenn irgendjemand mit dieser speziellen Fracht umgehen kann, dass Sie.“

„Das mag ja sein, aber ich prophezeie Ihnen, dass wir stürmischen Zeiten entgegen gehen. Ich fühle es in meinen Knochen. Mich zu zwingen, ins Brautgeschäft zu gehen!“

Ein dumpfes Geräusch, wie von einer Faust, die gegen die Holzwand geschlagen wurde, ließ Alyssa zusammenzucken. Sie drehte ihren Kopf nach links. Etwas Weißes lag auf dem Boden. Das gesuchte Taschentuch.

Sie hörte den Kapitän fortfahren. „Es wird Zeit für Sie, sich um die Fracht zu kümmern. Achten Sie darauf, dass niemand sie zu Gesicht bekommt, während ich Ihnen Doktor Bryson schicke, um sich die Ladung anzugucken. Ich will nicht, dass sie belästigt werden.“

„Jawohl, Sir.“ Absätze klapperten über die Planken.

Alyssa schnappte das Taschentuch vom Boden und eilte zurück zu ihren Begleiterinnen.

Sie machte einen leichten Knicks, als sie Mrs McKenzie das gute Stück überreichte, und guckte sich suchend nach einem freien Platz auf den Bänken um. Es war keine Lücke vorhanden. Notgedrungen zwängte sie sich neben ein mürrisch aussehendes Mädchen mit einem kantigen Gesicht, das die Nase über die noch immer leeren Teller vor ihnen rümpfte. Alyssa gab zu, dass Brot, Butter, Honig, kaltes Fleisch und frisches Obst verlockend waren.

„Ich habe das Warten endgültig satt”, sagte das Mädchen. Sie warf den Kopf zurück und griff sich einen Kanten Brot.

„Hör damit auf.“ Die sonst leicht geschwungenen Lippen der Oberin verengten sich zu einem bloßen Strich, als sie das aufmüpfige Mädchen ansah. „Du schon wieder, Nellie? Du solltest besser an deinen Manieren arbeiten.“

Nellie schob ihr Kinn trotzig vor. „Aber ich habe Hunger und hier liegt haufenweise Brot.“

„Wir haben seit dem Frühstück nichts gehabt”, stimmte ein anderes Mädchen zu.

„Du meine Güte, das geht aber nicht.“ Ein sympathisch aussehender Mann Anfang Dreißig betrat den Raum. „Wir können Sie doch nicht verhungern lassen, bevor wir überhaupt den Anker gelichtet haben.“

Alyssas leerer Magen krampfte sich zusammen, als sie die Stimme erkannte. Sie schenkte ihm unter ihren gesenkten Wimpern einen raschen Blick. Ihre Begleiterinnen waren weniger zurückhaltend. Die Hälfte von ihnen beäugte den Besucher mit offener Neugierde.

Mrs McKenzie glättete ihr Kleid, als sie die elegante Figur in einer makellosen Uniform, die regelmäßigen Gesichtszüge und das dichte schwarze Haar sah. „Wenn Sie sich sicher sind, Sir?“

„Absolut.“ Er schenkte den Mädchen ein warmes Lächeln, das seine Augenwinkel kräuselte. „Sie müssen Oberin McKenzie sein. Mein Name ist Kendrick, und Kapitän Moore schickt mich, um Sie an Board willkommen zu heißen. Ich bin der Erste Offizier, und wir warten noch auf unseren Schiffsarzt, Doktor Bryson.“

In Mrs McKenzies Wangen bildete sich Grübchen. „Wir freuen uns, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

„Können wir jetzt futtern?“ Nellie schnappte sich ein weiteres Stück Brot.

„Selbstverständlich”, sagte Kendrick. „Alles auf diesem Tisch ist nur für Sie, meine Damen. Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen.“

Ohne zu zögern, häuften die Oberin und die Mädchen soviel Brot und Fleisch auf ihre Teller, wie sie nur erreichen konnten, während Alyssa noch überlegte, wie sie selbst sich an den rasch schwindenden Vorräten bedienen konnte. Aber zumindest stand einer der Wasserkrüge in ihrer Reichweite.

Sie füllte einen Blechbecher und leerte ihn in einem Zug. Sie konnte sich kaum daran erinnern, je zuvor so hungrig und durstig gewesen zu sein. Sie fragte Nellie: „Könntest du mir bitte etwas Brot reichen?“

Das Mädchen ignorierte sie, während es einen großen Brocken Fleisch verschlang.

Alyssa räusperte sich. „Könnte mir bitte irgendjemand das Brot reichen?“

„Nimm es dir doch selbst. Du hast doch zwei Hände, oder? Oder bist du zu vornehm dafür?“

„Jetzt reicht es endgültig, Nellie.“ Die Oberin legte ihre Brotscheibe beiseite und zeigte mit dem Buttermesser auf das Mädchen. „Ich werde von dir keine weiteren Unverschämtheiten dulden. Wie du je in den Besitz einer guten Charakterreferenz gekommen bist, ist mit ein Rätsel.“

Alyssa fühlte Wellen der Abneigung auf sich zurollen, als Nellie ihr einen finsteren Blick schenkte. Sie schluckte ihren Stolz herunter. „Nellie hat recht, Oberin. Ich wollte nicht, dass mich jemand bedient, es ging mir nur darum, niemanden zu stören, indem ich über den Tisch greife.“ Sie setzte ein Lächeln auf, das hoffentlich entwaffnend war.

Die Oberin schenkte ihr ein gnädiges Nicken. „Wir lassen es für heute gut sein, Mädchen. Wir sind alle erschöpft und aufgeregt.“

Alyssas Blick bat Nellie, es dabei zu belassen. „Es tut mir leid”, flüsterte sie. Das Mädchen zuckte mit den Schultern und stopfte sich ein Stück Fleisch in den Mund.

Alyssas Magen knurrte. Auf der anderen Seite des Tisches lag noch ein ganzer Brotlaib. Sie schwang ihre Beine herum, um aufzustehen und sich bedienen zu können, ohne noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

„Nehmen Sie das hier.“ Ein Teller mit einem Butterbrot, Fleisch und einem geviertelten Apfel wurde in Alyssas Hand gedrückt. Ein glattrasierter, blonder Mann Anfang Dreißig stand vor ihr. Ohne den leichten Ausdruck von Hochnäsigkeit und Langeweile hätte er attraktiv sein können.

„Vielen Dank, Sir, aber dafür bestand kein Anlass”, sagte sie. „Ich kann sehr gut selbst auf mich aufpassen.“

Der Mann hob seine Brauen in leicht blasierter Manier und schlenderte zur Oberin. Alyssa gab sich alle Mühe, sich auf ihre Mahlzeit zu konzentrieren.

„Das muss der Doktor sein“, sagte ein Mädchen. Sie war kaum aus dem Kindesalter heraus, mit Schulterblättern, die durch ihr dünnes Kleid hervortraten. „Er sieht so nett aus, findet ihr nicht?“

„Hört bloß nicht auf Nancy”, sagte ein anderes Mädchen. „Sie denkt, jeder Mann, der noch ein paar Zähne übrig hat, sieht so nett aus.“

Nancy schoss das Blut ins Gesicht, als die anderen Mädchen kicherten. Alyssa riskierte einen Seitenblick auf den Doktor. Wie peinlich, wenn er sie gehört hätte. Aber er schien völlig in seine Unterhaltung mit der Oberin vertieft.

„Bist du bereits auf der Suche nach einem Mann, Nancy?“ Das scharf gesichtige Mädchen, das die Hänselei angefangen hatte, flatterte mit den Wimpern und machte einen Kussmund. „Oooh, Mister, Sie sind aber stark und so gut aussehend.“

Nancys Lippen zitterten.

„Das genügt”, sagte Alyssa zu der Spötterin. „Du hattest deinen Spaß.“ Sie musste lauter gesprochen haben als geplant, weil der Doktor seine Konversation mit der Oberin unterbrach.

Mrs McKenzie klatschte zweimal in die Hände. „Seid still”, sagte sie. „Ihr werdet euch drei Kajüten teilen, was mehr als genug Platz für euch alle ist. Wir werden jetzt in unsere Unterkünfte begleitet, und morgen erhaltet ihr nach dem Frühstück eine ärztliche Untersuchung. Diese ist keinerlei Grund zur Besorgnis. Im Anschluss werde ich drei Mädchen als meine Helferinnen auswählen, die für ihre Zimmergefährtinnen verantwortlich sind.“

Sie hob ihre Hand, um jegliche Fragen im Keim zu ersticken. „Ich werde selbstverständlich bei jeder Untersuchung anwesend sein, und Doktor Bryson wird sich mit allergrößter Zurückhaltung und Anstand benehmen. Das gleiche erwarte ich von euch. Doktor?“

Er ließ ein kurzes Lächeln aufblitzen, das sich in seinen Augen nicht wiederspiegelte. „Eine Sache möchte ich noch erwähnen”, sagte er. „Sollte sich eine der Damen unwohl fühlen und meine medizinischen Dienste in Anspruch nehmen, müssen Sie zuallererst Oberin McKenzie aufsuchen. Wir müssen zu jeder Zeit den Regeln des Anstands folgen.“

Wie Alyssa das Wort Anstand hasste. Ohne die idiotischen Regeln der Gesellschaft könnte sie sich frei bewegen und tun und lassen, was ihr gefiel. Der Doktor hatte es einfach. Er war nicht dazu gezwungen, sich Mrs McKenzies Autorität als ihrer Hüterin zu unterwerfen, und zu lügen, um sich Passage auf dem Schiff zu verschaffen. Sie runzelte die Stirn, um sie rasch wieder zu glätteln. Lächeln, sagte sie sich, immer schön lächeln, und bald würde sie frei sein.

„Das ist bestens verlaufen”, sagte Mr Kendrick, als Mark Bryson sich ihm in dem jüngst aus dünnen Wänden geschaffenen Gang anschloss, der zu dem zu Messe und Mädchenunterkünften umgebauten Frachtraum führte.

„Meinen Sie? Ich kann gut verstehen, warum Ihr Kapitän Bauchschmerzen bei der Angelegenheit bekommt. Ein paar der Mädchen haben mich geradezu raubgierig betrachtet. Ich muss mir etwas einfallen lassen, um das von Anfang an zu unterbinden.“

„Auf mich machten sie alle einen angenehmen Eindruck.“

„Dann würden Sie die Damen also ohne Zögern auf Ihren Kapitän loslassen?“

Mr Kendrick verstummte.

„Das dachte ich mir”, sagte Mark. „Aber jetzt sollten wir leise sein. Sie kommen.“

KAPITEL ZWEI

Die Kajüten im Zwischendeck waren alphabetisch verteilt. Alyssa fand sich in einem quadratischen Raum, der kaum genug Platz für die vier zweistöckigen Betten bot, die an den Wänden aufgestellt waren. Ein schwacher Geruch nach Tieren haftete den Bodenbrettern an. Er erinnerte sie an die ursprünglichen Bewohner des für die Mädchen umgebauten Raumes. Ein Teppich aus zusammengenähten Säcken bedeckte geschrubbte Bretter.

„Hey, das ist gar nicht so übel.“ Nancy ließ sich auf eines der unteren Betten fallen. Sie wackelte testweise hin und her. „Da ist sogar ein Kopfkissen. Das nenne ich in Luxus reisen.“ Sie steckte den Kopf heraus. „Du hast doch nichts dagegen, wenn ich das untere Bett nehme? Du bist viel größer als ich, und ich kann nicht gut klettern.“

„Natürlich.“ Alyssa bestieg die Stufenleiter, die zu ihrem Bett führte. Die Matratze war mit Stroh gefüllt, so pieksig wie sie sich anfühlte, und dazu gab es eine Wolldecke. Sie fragte sich, wie Nancys bisheriges Leben ausgesehen hatte, wenn eine so kärgliche Ausstattung sie in Entzücken versetzte. Aber zumindest waren Vorhänge vor den Betten angebracht, um ihnen etwas Privatsphäre zu gönnen.

„Es riecht hier wie zu Hause.“ Ein weiterer Kopf guckte aus einem Bett heraus. „Ich bin Hannah, Hannah Beale. Wir haben alle keinen Grund, förmlich zu sein, oder?“

Alyssa schmunzelte. „Da hast du recht. Mein Name ist Alyssa Chalmers, und ich fürchte, ich weiß Nancys Nachnamen nicht.“

„Alcock. Aber erwarte bitte nicht, dass ich je so fein klingen kann wie unsere Alyssa hier.“

Alyssa fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. „Es ist nicht meine Absicht, vornehm zu klingen.“

„Mir gefällt es”, sagte Hannah. „Vielleicht kannst du uns allen beibringen, wie echte Damen zu reden. Das würde uns die Zeit vertreiben.“ Ihre braunen Augen glitzerten. „Und dann können wir es Rosie zeigen, wenn sie wieder gemein zu der armen Nancy wird. Ich sage es euch, ihre Zunge ist genauso stachlig, wie ihr Name es verspricht. Ihre Mutter wusste schon, warum sie sie Rosie genannt hat.“

„Du kennst sie?“ fragte Alyssa.

„Klar. Wir stammen alle aus Tin Pan Alley oder waren zumindest zusammen im Waisenhaus.“ Sie musste Alyssas fragende Miene richtig interpretiert haben. „Du kennst die Blechhütten in Emerald Hill vermutlich nicht.“

„Zumindest seid ihr alle unter Freunden.“ Alyssa verspürte einen kleinen Stich, als ihr bewusst wurde, wie einsam sie war.

Hannah kletterte aus ihrem Bett, stieg auf Alyssas Leiter und berührte ihre Schulter. „Keine Angst, wir passen auf dich auf. Piekfein oder nicht, du gehörst jetzt zu uns.“

Die Wärme von Hannahs Hand drang durch Alyssas Kleiderstoff. Es fühlte sich gut an, als entstände eine Verbindung zwischen ihr und diesem dunkelhaarigen Mädchen mit dem schelmischen Ausdruck. „Danke”, sagte sie. „Ich weiß das zu schätzen.“

„Hört endlich auf. Einige von uns wollen schlafen”, knurrte ein vierschrötiges Mädchen.

Alyssa furchte die Stirn. „Aber was ist mit unserem Gepäck? Es steht immer noch in unserem Speisezimmer.“

„Du meine Güte, sind wir vornehm. Speisezimmer, häh? Du kannst dich gern um deine kostbare Kiste kümmern, aber hier haben wir dafür keinen Platz.“

Das Mädchen drehte sein Gesicht zur Wand. Alyssa bemerkte, dass sie immer noch mit Rock und Bluse bekleidet war. Sie machte sich steif. Es wurde doch nicht wirklich von ihnen erwartet, in ihrer Tageskleidung zu schlafen?

Sie suchte nach einer Lösung für das Problem. „Ich werde in der Angelegenheit besser Mrs McKenzie zu Rate ziehen”, sagte sie in Ermangelung einer besseren Idee.

„Mach, was du willst”, sagte das vierschrötige Mädchen.

„Das ist Milly”, flüsterte Hanna. „Sie ist sonst nicht so schlecht gelaunt. Nimm es ihr nicht übel. Es sind bestimmt nur ihre Nerven.“

Alyssa nickte, dankbar dafür, jemanden zu haben, der ihr half, mit dieser Gruppe umzugehen, mit der sie nichts gemeinsam hatte. Sie fühlte sich gleich weniger hilflos und verlassen.

Sie nahm eine mit Paraffin gefüllte Lampe von einem Haken an der Wand. Das verankerte Schiff rollte sanft hin und her. Sie würde sich hoffentlich rasch an die Bewegung gewöhnen, dachte sie, als sie sich mit einer Hand an der Wand abstützte, um nicht umzufallen. Alyssa schlich zurück zu der großen Messe, in der sie zuerst gelandet waren. Mit etwas Glück würde sie unterwegs Anhaltspunkte finden, wo Mrs McKenzies Kajüte war.

Eine Wandlampe warf ein schwaches Licht in den Gang. Die Fußbodenbretter ächzten unter ihren Schritten und echoten laut in ihren Ohren. Alyssa erhob sich auf ihre Zehenspitzen, aber für den Bruchteil einer Sekunde hörte sie dennoch die Schritte so laut wie zuvor, und sie meinte, ein schwaches Atmen zu hören. Ihr Magen krampfte sich zusammen.

Alyssa blieb stehen und lauschte angestrengt. Es war nichts zu hören. Sie hatte sich getäuscht.

Sie schlich weiter, bis sie zur Messe kam. Sie öffnete die Tür und leuchtete in den Raum. Die Oberin war nicht mehr da.

„Was um Himmels Willen machen Sie hier?“ fragte eine vertraut klingende Stimme hinter ihrem Rücken.

Vor Schreck ließ Alyssa fast die Lampe fallen. Sie hatte also doch jemanden gehört. „Ich suche Mrs McKenzie, Doktor.“

„Bereits so schnell?“ Er hob seine Lampe an und bedeutete Alyssa, ihm zu folgen. „Sie sehen nicht gerade kränklich aus, aber wenn es unbedingt sein muss, werden wir die Oberin holen und Sie untersuchen.“

Alyssa zog ihr Umhangtuch fester um ihren Hals. „Es geht mir ausgezeichnet, vielen Dank. Ich habe lediglich vor, die Oberin zu fragen, wann wir unser Gepäck holen können, und uns eine Waschschüssel zu besorgen.“

„Löblich, obwohl Ihnen das früher hätte einfallen können,“ sagte Doktor Bryson. In seiner Stimme schwang ein Hauch von Amüsement. „Ich werde Ihnen besser den Weg zu Ihrer Anstandsdame zeigen, so dass wir die Regeln nicht einen Moment länger als notwendig brechen.“

Weil ihr keine passende Antwort einfiel, hüllte sie sich in würdevolles Schweigen.

Der Doktor führte sie den Gang entlang, vorbei an Alyssas improvisierter Kajüte, und bog am Ende der Passage nach links ab. „Hinter dieser Tür sollten Sie Ihre Oberin vorfinden“, sagte er, ohne Alyssa einen Blick zu gönnen. Er klopfte an die Eichentür.

„Ja?“ Mrs McKenzie klang überrascht.

„Ich bringe Ihnen einen Ihrer Schützlinge, Oberin.“

„Oh, Sie sind es, Doktor. Eine Minute bitte, bis ich empfangsbereit bin.“

Die Wartezeit dehnte sich ins Unendliche hin, bis Mrs McKenzie endlich die Tür öffnete. „Sie müssen meinen Morgenrock entschuldigen. Ich hatte mich bereits für die Nacht fertig gemacht“, sagte sie, während sie die Bänder eines gerüschten rosa Nachthäubchens unter ihrem Kinn verknüpfte.

„Wir werden uns bemühen, es so kurz wie möglich zu machen, damit wir alle zu unserer wohlverdienten Ruhe kommen.“ Der Doktor ließ seine strahlend weißen Zähne blitzen.

Alyssa trat vor. „Wir benötigen ein paar Kleidungsstücke, Madam.“ Sie knickste in dem Moment, als das Schiff sich zur Seite lehnte und prallte mit der Schulter gegen die Tür. Sie unterdrückte einen leisen Schmerzensschrei. „Außerdem brauchen wir eine Waschgelegenheit für den Morgen.“

Die Oberin erschien erstaunt. „Deswegen bist du hier? Kann das nicht warten, meine Liebe? Ich bin bereits im Morgenrock.“ Sie guckte den Doktor hilflos an. „Velleicht wären Sie so gut, den Schiffsjungen zu bitten, den Mädchen das Gepäck zu bringen? Er muss die Kisten selbstverständlich vor den Kajüten stehen lassen.“

„Selbstverständlich“, sagte er. „Allerdings bleibt immer noch das Problem dieser jungen Dame. Wir können Sie nicht unbegleitet herum laufen lassen.“

Mrs McKenzie starrte Alyssa an, als wollte sie sie mit reiner Willenskraft dorthin zurück befördern, wo sie hingehörte. „Was machen wir bloß mit dir?“

Alyssa fühlte ihre Wangen glühen. „Ich hatte nicht vor, Ihnen Ungelegenheiten zu bereiten, Madam.“

Der Doktor sagte: „Diese Dinge hätten vorher geklärt werden sollen. Es war unser Versäumnis, diese Situation nicht vorherzusehen.“ Er strahlte die Oberin charmant an. „Es scheint, unsere Besatzung ist nicht daran gewöhnt, Damen an Bord zu haben. Mit Ihrer Erlaubnis, und um unsere Saumseligkeit wieder gut zu machen, werde ich die junge Dame zu ihrer Kajüte bringen. Sie können uns im Geiste begleiten.“

„Wenn Sie tatsächlich meinen, dass wir es dieses eine Mal so belassen können? Die Mädchen unterliegen schließlich meiner Verantwortung.“ Mrs McKenzie seufzte und schüttelte ihren Kopf so sehr, dass sich die Rüschen ihres Nachthäubchens leise in Bewegung setzten. Es sah aus wie rosa Meeresschaum, dachte Alyssa. „Vielleicht sollte ich mich doch wieder ankleiden.“

„Aber liebste Madam“, sagte Alyssa, die von dem Schauspiel fasziniert war, „sicherlich würde das deutlich länger dauern, als ich für den Weg zurück in mein Quartier brauchen würde.“

Die Rüschen kamen zum Stillstand, als ihre Besitzerin Alyssa erneut musterte. „Du siehst vertrauenswürdig aus“, sagte Mrs McKenzie, obwohl es ihrer Stimme an Überzeugung fehlte. „Und wenn unser lieber Doktor meint, dass diese Lösung akzeptabel ist, mache ich eine Ausnahme. Aber nur dieses eine Mal.“

„Sie besitzen ein bemerkenswertes Talent zum Unruhe stiften“, sagte der Doktor, als er Alyssa zurück führte. Die Freundlichkeit, die er der Oberin gegenüber an den Tag gelegt hatte, war blitzartig verschwunden.

Sie blieb wie angewurzelt stehen. „Was hätte ich stattdessen machen sollen?“

„Bis zum Morgen warten.“

„Ausgeschlossen.“

„Der Rest Ihrer Gesellschaft scheint mit der Lage der Dinge zufrieden zu sein“, sagte er.

„Aber nur, weil meine Gefährtinnen davon ausgegangen sind, dass sich um sie gekümmert wird. Und was ist, wenn eine von uns nachts krank wird? Wie können wir die Oberin holen, wenn wir unsere Kajüten nicht verlassen dürfen?“

Er rieb sich das glatte Kinn. „Das ist eine Frage, die ich Ihnen heute Nacht nicht beantworten kann. Aber ich werde mich darum kümmern, Ihnen Ihr Gepäck zu beschaffen. Ich gehe davon aus, dass die Kisten deutlich beschriftet sind?“

„Natürlich“, sagte Alyssa. „Das heißt, ich gehe davon aus.“

„In dem Fall sollten wir uns lieber vergewissern, ehe ich jemanden auf einen unnützen Gang schicke.“

In der Messe bückte er sich, um eine abgenutzte Reisetasche aufzuheben. „Die Tasche ist beschildert, aber ich will verflixt sein, wenn ich das Gekritzel entziffern kann.“

„Lassen Sie mich gucken.“ Sie hielt ihre Lampe so nahe wie möglich an das Gepäckstück. „Susanna Terry oder Kerry, so weit ich es lesen kann.“

„Und in welcher Kajüte werden wir die holde Dame finden?“

T oder K. Das war alles andere als hilfreich. „Ich weiß es nicht.“

„Sie wissen es nicht.“ Doktor Bryson seufzte laut genug, dass Alyssa sich wie ein Dummkopf vorkam. „Vielleicht sollten Sie sich lieber nur Ihre eigenen Sachen greifen und es dabei belassen.“

Alyssa richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. „Das wäre äußerst unfair“, sagte sie in ihrem schneidendsten Tonfall. „Ich werde mir keinesfalls ein Privileg erlauben, das die anderen nicht teilen.“

„Mrs McKenzie schien keine derartigen Skrupel zu haben.“

„Mrs McKenzie ist unsere Oberin und als solche in einer völlig anderen Position.“

Er lehnte sich gegen die Wand, die Hände lässig in den Taschen versenkt. „Was immer Sie wünschen. Können wir jetzt gehen?“

Alyssa war dankbar, dass er ohne direkte Beleuchtung ihr Gesicht nicht sehen konnte, das inzwischen zornesrot sein musste. Sie drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte schweigend zu ihrer Kajüte.

Hannah war noch wach. „Was hat die Oberin gesagt?“ fragte sie.

„Wir erhalten morgen früh unsere Sachen.“

„Dann ist ja alles in Ordnung. Wir können in unseren Unterkleidern schlafen.“ Sie schloss ihren Vorhang. „Gute Nacht.“

Der Beobachter stahl sich aus seinem Versteck und schlich zu seinem Quartier. Er gratulierte sich zu seinem Glück. Eigentlich hatte er nur einen heimlichen Spaziergang machen wollen, aber jetzt wusste er genau, wo Ablenkung zu finden war, solange er sicherstellte, nicht erwischt zu werden.

KAPITEL DREI

Mark schnitt eine Grimasse, als sich die Tür hinter der jungen Frau schloss. Bis dato ließ sich sein neuer medizinischer Posten alles andere als gut an. Die einzigen sympathischen Leute, die er seit seiner Ankunft getroffen hatte, waren der Erste Offizier, Charles Kendrick, und der Schiffsjunge Davies, der sich um Marks Sachen gekümmert hatte. Die beiden sollten mittlerweile längst in seiner Unterkunft warten, um ihn über seine neue Umgebung aufzuklären. Er schaute auf seine Taschenuhr. Die junge Frau hatte ihn mit ihrem idiotischen Herumschleichen eine halbe Stunde gekostet.

Die Tür zu seiner Kajüte stand einen Spalt breit offen. Mr Kendrick entspannte sich gemütlich im Armsessel, während der Schiffsjunge stramm stand, sobald Mark eintrat.

„Da sind Sie endlich, Doktor. Ich wollte gerade einen Suchtrupp entsenden. Haben Sie sich auf dem Weg in Ihre Praxis verlaufen?“ Mr Kendrick ließ sich tiefer in den Sessel sinken.

„Ein Umweg wäre die bessere Bezeichnung“, sagte Mark. „Ich bin über eine der Jungfern gestolpert, die außerstande war, eine Nacht ohne ihre Besitztümer zu überstehen, und habe sie zurück zu ihrem Quartier begleitet.“

„Verdammt.“ Ein Schatten huschte über Mr Kendricks Gesicht. „Wir müssen sicherstellen, dass sich etwas Derartiges nicht wiederholt. Abgesehen von Ihnen wissen nur die Offiziere, unser Koch und Davies hier etwas von der Existenz der jungen Damen unter Deck. Sie müssen dort ausnahmslos versteckt bleiben.“

„Das dache ich mir bereits, nach den kurzen Bemerkungen des Kapitäns zu meiner Begrüßung“, sagte Mark mit einem leichten Nicken und einem bedeutungsvollen Seitenblick auf den Schiffsjungen.

Kendrick neigte seinen Kopf ein paar Millimeter und sagte: „Du kannst Doktor Brysons medizinische Ausrüstung jetzt in seine Praxis bringen, Davies.“

„Am besten nimmst du zuerst den Koffer mit meinem chirurgischen Besteck und holst anschließend den Rest“, sagte Mark. „Achte darauf, nichts fallen zu lassen.“

„Sir.“ Der Schiffsjunge knallte die Hacken zusammen und salutierte so eifrig, dass seine Fingerspitzen sichtbar seine Schläfe berührten. „Jawohl, Sir.“

„Meine Güte, was für ein enthusiastischer Knabe“, sagte Mark als Davies davon eilte.

„Er ist ein netter Junge, wenn auch etwas übereifrig. Er scheint uns für die Royal Navy zu halten.“ Mr Kendrick erhob sich. „Ich hatte auf Zeit für ein längeres Gespräch gehofft, aber das wird warten müssen, bis Sie erneut beim Kapitän waren. Wir hatten Sie eher als erst eine Viertelstunde vor dem Eintreffen der Damen erwartet.“

„Daran war der Kutscher schuld. Er verirrte sich jedes Mal, sobald wir um eine Ecke bogen.“

„Das machen sie alle, egal, wo man sich auf der Welt befindet. Aber ich will Sie nicht länger aufhalten.“

„Alles erledigt, Sir.“ Schweiß glitzerte auf Davies‘ Stirn als er zu einem neuen Salutieren ansetzte. „Ist sonst noch etwas für mich zu erledigen, bevor wir gehen?“

Mark schaute sich zum ersten Mal gründlich in seiner neuen Unterkunft um. Außer seinem Bett bot ihm sein Quartier den Luxus eines Klapptisches sowie zwei Sessel, eine Seekiste, ein eingebautes Regal und zwei Bilder mit Seelandschaften, die zu beiden Seiten eines Bullauges hingen. „Äußerst luxuriös“, sagte er. „Aber ich würde mich gern frisch machen, ehe du mich zu unserem guten Kapitän bringst.“

Davies führte in zu einem an der Wand stehenden Davenport-Schreibpult. „Sie werden staunen“, sagte er. „Sie müssen nur den Deckel anheben, und dann finden Sie eine prima eingebaute Waschschüssel mit allem drum und dran. Alles nach Mr Kendricks Angaben, Sir, und Sie müssen sich keine Gedanken um den Wasserkrug machen, wenn das Schiff in schlechtem Wetter rollt.“

„Clever“, sagte Mark, als er den Porzellankrug mit Wasser aus der eigens zurechtgeschnittenen Schublade hob und die in einer anderen Ausbuchtung stehende Schüssel füllte. Handtücher und Seife waren in einem Regal darunter untergebracht. Diverse Fächer boten Platz für Briefe, Magazine, Federhalter und Tintenfass.

Er ließ den Deckel des kleineren seiner zwei Schrankkoffer aufschnappen und entnahm ihm Kamm und Bürste. Nach einem Blick in den Wandspiegel feuchtete er sein Haar an, ehe er rasch mit dem Kamm durchfuhr. Seinen Händen gönnte er mehr Aufmerksamkeit. Er schäumte sie gründlich ein, bevor er sie abspülte und abtrocknete.

Mark erwischte Davies dabei, wie er ihn unter halbgesenkten Lidern begutachtete. „Ich hoffe, ich habe mich schön genug gemacht, um dem Kapitän zu genügen,“ sagte er.

„Jawohl, Sir.“

Davies führte Mark vier Türen weiter auf dem Gang entlang. Eine Messingtafel kündigte die Kapitänskajüte an. Der Schiffsjunge klopte zweimal an, ehe er rief: „Doktor Bryson ist hier, Kapitän.“

„Bring ihn herein.“

Mark streckte die Hand aus. „Es freut mich, richtig Ihre Bekanntschaft zu machen, Kapitän.“

Kapitän Moore machte keinerlei Anstrengung, Marks Hand zu drücken. Der finstere Ausdruck auf seiner Miene verstärkte sich. Verdauungsstörungen, dachte Mark, oder ein Anflug von Arthritis, den schmerzhaften Grimassen nach zu schließen. Abgesehen davon schien der Kapitän in glänzender Verfassung für einen Mann in den Fünfzigern, der sein Leben damit verbrachte, mit den Elementen zu kämpfen.

Mark stand gelassen da, während er darauf wartete, dass der Kapitän etwas sagte.

Moore starrte ihn an. „Sie wissen, was Ihr Posten enthält?“

„Die gleichen Aufgaben wie jeder andere Posten als Schiffsarzt, vermute ich.“

„Hah. Ein bisschen von einem Frauenheld, was?“

Mark klappte vor Verblüffung fast die Kinnlade herunter. „Wie bitte?“

„Schauen Sie sich doch an.“ Der Kapitän richtete einen anklagenden Finger auf Mark. „Wenn Ihre eleganten Kleider je einen ehrlichen Regenguss gesehen haben, fresse ich meinen Hut. Und Ihre Hände, sauber und weich wie ein Baby.“

Mark schmunzelte. „Ich bin Arzt, Kapitän Moore. Sollten Sie je einen Chirurg brauchen, beten Sie darum, dass er saubere Finger hat, oder Sie können gleich Ihr Testament aufsetzen. Was meine neue Kleidung angeht, bin ich mir nicht sicher, ob Sie oder Ihr Erster Offizier mich in meinen alten Lumpen an Bord gelassen hätten.“ Er ließ seinen Blick über die Kabine mit ihren dicken Samtvorhängen und dem orientalischen Teppich, der jedes Geräusch dämpfte, schweifen. „Nach achtzehn Monaten in einer australischen Goldgräberstadt geht man kaum als Dandy durch.“

„Eine Goldgräberstadt? Goldsuche nach Feierabend?“

Marks Geduldsfaden wurde allmählich arg strapaziert. „Ich habe Leute zurecht geflickt. Haben Sie auch nur die geringste Ahnung, wie leicht es ist, in der Wildnis umzukommen?“

Kapitän Moore strich sich über den silbrigen Bart. „Warum haben Sie dann diese Stelle angenommen?“

Mark zögerte einen winzigen Moment, ehe er antwortete. „Der Posten sagte mir zu.“

Kapitän Moores Züge verfinsterten sich erneut.

Mark seufzte. „Ihr Schiff passte mir, oder genauer gesagt Ihr Ziel. Es bringt mich so dicht an mein Zuhause wie es nur möglich ist, solange die Vereinigten Staaten sich im Krieg miteinander befinden. Meine Patientinnen haben nichts mit der Entscheidung zu tun, falls das Ihre Sorge ist. Eine Romanze ist das allerletzte, wonach mir der Sinn steht. Ist das alles?“

„Jawohl.“

Mark drehte sich zur Tür um. Als er die Hand auf den Griff legte, stoppte er. „Ich hätte fast vergessen, Ihnen meine Zeugnisse zu präsentieren.“ Er zog eine Brieftasche aus seinem Jackett. „Meine ärztliche Zulassung, ausgestellt im Jahr 1853 in meiner Heimatstadt Boston.“

Kapitän Moore schenkte dem Papier nur einen flüchtigen Blick, ehe er es auf einen Abstelltisch legte und einen Briefbeschwerer darauf stellte. „Sehr gut.“

„Soll ich die Papiere in Ihr Büro bringen, oder dem Offizier übergeben, der für Ihre Dokumente zuständig ist? Ansonsten würde ich meine Zulassung lieber bei mir behalten.“

„Wie Sie möchten. Ansonsten können Sie Ihre Papiere Mr Kendrick überreichen.“

„Vielen Dank.“

Davies wartete vor der Tür auf Mark. „Soll ich Sie jetzt herumführen, Sir?“ Er salutierte.

„Nur, wenn du die Hand unten lässt“, sagte Mark. „Ich mag hier angeheuert haben, aber ich bin immer noch ein Zivilist und keiner deiner Vorgesetzten in Uniform.“

Davies‘ Hand schoss wieder nach oben, bis er nervös auf halbem Wege anhielt. „Sehr wohl, Sir.“

„Das ist besser. Und jetzt führe mich bitte zu meinem Arbeitsplatz.“

Die Arztpraxis war genauso hervorragend ausgestattet wie der Rest des Schiffes. Sie verfügte über Regale, zwei Schränke mit Glastüren und soliden Schlössern sowie über einen langen Tisch, wo Mark Pillen und Trünke zubereiten konnte.

Ein Schreibtisch, zwei rohrgeflochtene Stühle und ein gepolsterter Sessel, in dem er sich ausruhen konnte, standen dicht gruppiert beisammen. Hinter einer Trennwand aus Bambus versteckte sich ein Bett.

Regen peitschte gegen das Bullauge, das ihm ansonsten eine, wenn auch in der Dunkelheit spärliche, Aussicht auf Port Phillip geboten hätte. Mark setzte sich auf das Bett und befingerte die dünne Wolldecke. Sie roch frisch gewaschen. „Das ist alles ausgezeichnet“, sagte er. „Wenn du jetzt aus meiner Kajüte den Stapel medizinischer Journale aus dem Koffer holst, mache ich die Praxis einsatzbereit.“

Er verschaffte sich einen Überblick über die kärglich ausgestattete Apotheke. Ein halbes Dutzend braune Flaschen waren eng genug in den ersten Schrank gestopft, um sie auch bei rauer See nicht umfallen zu lassen. Mark begrüßte sie wie alte Bekannte. Laudanum, drei Flaschen mit doppelkohlensaurem Natron und zwei Flaschen mit Arnika. Er zog die Stopfen heraus und schnüffelte an den Inhalten, um sicherzugehen, dass die Schilder stimmten.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. „Komm herein und lege sie neben mich.“

„Das würde ich gern tun, wenn ich wüsste, was Sie meinen.“

Mark verschloss die Arnikaflasche. „Ich hatte Sie gar nicht erwartet, Mr Kendrick. Ich hatte Davies um meine Journale geschickt.“

Es klopfte wieder.

„Und hier ist er“, sagte der Erste Offizier, als Davies den Raum betrat. „Schon gut, Davies. Du kannst jetzt schlafen gehen.“

Er schlenderte zu Mark. „Alles zu Ihrer Zufriedenheit? Ansonsten brauchen Sie es nur zu sagen.“

„Alles ist bestens. Verglichen mit meiner letzten Praxis ist das hier gerade sündhaft.“

„Das kann ich mir vorstellen. Eine Goldgräberstadt mitten im Nirgendwo, erwähnte der Kapitän.“ Mr Kendrick ließ sich auf einem Stuhl nieder.“

„Was hat er noch gesagt? Wir sind nicht gerade als Busenfreunde voneinander geschieden. Ist Ihr Kapitän immer so reizbar oder habe ich irgend etwas getan, um seinen Unwillen zu erregen?“

„Er wird sich beruhigen, sobald er sich an die neue Lage der Dinge gewöhnt hat.“

Mark bezweifelte das nach allem, was er von dem mürrischen Kapitän gesehen hatte. Er betrachtete Mr Kendrick. Ein angenehmer Mensch, mit zwanglosem Benehmen und einem humorvollen Funkeln in den dunklen Augen. Er entschied sich für Offenheit. „Was ist ihm für eine Laus über die Leber gelaufen, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“

Mr Kendrick zuckte mit den Achseln. „Sie haben ein Anrecht darauf. Kapitän Moore, und ich teile diese Ansicht zu einem gewissen Maße, reagiert allergisch auf unsere neue Fracht und die Tatsache, dass wir alles aus Sicherheitsgründen verschleiern müssen.“

Mark sagte: „Ich kann das nicht ganz nachvollziehen. Welche Fracht?“

„Das ist es doch im Grunde, was die jungen Damen sind. Zweiundzwanzig Mädchen ohne nähere Familie, die aus der Armut in Australien gerettet und zwecks Heirat mit wohlhabenden Goldsuchern nach Kanada verschifft werden. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was es bedeuten würde, sie unter all diesen einsamen Männern frei herum laufen zu lassen. Sie können es dem Kapitän nicht verübeln, angesichts dieser Verantwortung gereizt zu reagieren.“ Kendrick hievte sich hoch. „Falls Sie vor dem Schlafengehen noch einen Spaziergang an Deck machen wollen, wäre dies die beste Gelegenheit. Der Regen hat nachgelassen.“

„Wann laufen wir aus?“

„Das kann ich leider nicht sagen. Vielleicht übermorgen, vielleicht auch später. Wir warten noch auf eine Inspektion, und wenn ich eines gelernt habe, dann ist es, dass sich Amtspersonen nicht drängen lassen.“ Er warf Mark einen Blick zu. „Macht das etwas aus? Sie werden genügend Vorwarnung bekommen, um sich von unserem schönen Melbourne verabschieden zu können.“

„Dafür wäre ich dankbar. Ich wäre Ihnen noch mehr verbunden, wenn Sie mir morgen einen Mann zur Verfügung stellen könnten. Vorzugsweise jemanden, der sich in der Stadt auskennt. Es könnte nicht schaden, ein paar Vorräte für die Apotheke anzulegen.“