Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung - Kamel Daoud - E-Book

Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung E-Book

Kamel Daoud

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Beschreibung

Dieser Roman gibt dem namenlosen Toten aus »Der Fremde« von Camus ein Gesicht Ein Roman aus Algerien, der um die Welt geht: in Frankreich ein Riesenbestseller, in den USA und England als literarische Sensation gefeiert, jetzt in deutscher Übersetzung. Die Geschichte des namenlosen Arabers aus Camus' weltberühmtem Roman »Der Fremde« – erzählt von dessen Bruder. Der alte Mann, der Nacht für Nacht in einer Bar in Oran seine Geschichte erzählt, ist der Bruder jenes Arabers, der 1942 von einem gewissen Meursault am Strand von Algier erschossen wurde – in einem der berühmtesten Romane des 20. Jahrhunderts. 70 Jahre später, mit all dem Ärger, der Angst und Frustration eines Lebens im Schatten dieses Todes, gibt der alte Mann seinem Bruder seinen Namen zurück. Der Araber aus Camus' Roman »Der Fremde« bekommt so eine Identität und eine Geschichte. Eine Geschichte, die untrennbar mit der Algeriens verknüpft ist und doch gleichzeitig so berührend und persönlich, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen kann. Ein großer Roman darüber, wie die Vergangenheit unsere Gegenwart prägt, und über die ungebrochene Kraft der Literatur, eine tiefere Erkenntnis, eine verborgene Wahrheit ans Licht zu bringen. Das Buch gilt jetzt schon als Klassiker – gleichwertig zu Camus' Roman: »Ein großartiger Roman. In Zukunft wird man ›Der Fremde‹ und ›Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung‹ nebeneinander lesen.« Le monde des livres

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Seitenzahl: 204

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Kamel Daoud

Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung

Roman

Aus dem Französischen von Claus Josten

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Kamel Daoud

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Inhaltsverzeichnis

WidmungMottoI. KapitelII. KapitelIII. KapitelIV. KapitelV. KapitelVI. KapitelVII. KapitelVIII. KapitelIX. KapitelX. KapitelXI. KapitelXII. KapitelXIII. KapitelMeriemXIV. KapitelXV. Kapitel
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Für Aïda.

Für Ikbel.

Mit offenen Augen.

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»Die Stunde des Verbrechens schlägt nicht für alle Völker gleichzeitig. Daraus erklärt sich die Kontinuität von Geschichte.«

– E.M. Cioran, Syllogismen der Bitterkeit

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I

M’ma lebt – immer noch.

Sie sagt zwar nichts mehr, aber sie hätte einiges zu erzählen. Anders als ich. Ich kann mich an fast nichts mehr erinnern, so oft wie ich diese Geschichte schon erzählt habe.

Man muss dazu sagen, dass sich diese Geschichte vor mehr als einem halben Jahrhundert abgespielt hat. Sie hat sich wirklich ereignet, und es ist darüber viel geredet worden. Die Leute reden immer noch darüber, sprechen dann aber – ganz schamlos – nur von einem einzigen Toten, in Wirklichkeit aber waren es zwei Tote. Ja, zwei. Wie kam es zu dieser Unterschlagung? Ganz einfach: Der eine konnte so erzählen, dass seine Tat in Vergessenheit geraten ist, während der andere ein armer Analphabet war, den Gott offenbar nur geschaffen hatte, damit er eine Kugel abbekommt und wieder zu Staub wird – ein anonymer Mensch, dem es zu Lebzeiten nicht einmal vergönnt war, auch nur einen Namen zu bekommen.

Ich sag’s dir gleich: Der zweite Tote, der Ermordete, ist mein Bruder. Von ihm ist nichts mehr übrig. Es gibt niemanden mehr außer mir, der für ihn sprechen kann, während ich hier in dieser Bar sitze und auf das Beileid warte, das mir niemand jemals aussprechen wird. Du wirst lachen, meine bescheidene Rolle ist es, hier den Erzähler in einem sich leerenden Theater zu geben. Das ist übrigens der Grund dafür, dass ich gelernt habe, diese Sprache zu sprechen und zu schreiben; um anstelle eines Toten zu reden und seine Sätze weiterzugeben.

Der Mörder ist berühmt geworden und seine Geschichte ist so oft beschrieben worden, dass es mir nie in den Sinn käme, ihn nachzuahmen. Es war seine Sprache. Deshalb werde ich es genauso halten, wie man es in diesem Land seit seiner Unabhängigkeit macht: Stein um Stein von den ehemaligen Häusern der Kolonialherren nehmen, um mein eigenes Haus daraus zu bauen, meine eigene Sprache zu formen. Die Worte des Mörders und seine Ausdrücke sind für mich wie herrenloses Gut. Das Land ist übrigens übersät mit Worten, die niemandem mehr gehören und die man in den Schaufenstern der alten Läden, in den vergilbten Büchern und auf den Gesichtern wahrnimmt, oder in Worten, die sich durch diese seltsame Mischung völlig verschiedener Sprachen ganz neu bilden. Das alles bringt die Dekolonisation mit sich.

Es ist also schon lange her, dass der Mörder tot ist, und viel zu lange, dass mein Bruder nicht mehr existiert – außer für mich. Ich weiß, dass du nicht abwarten kannst, die Art von Fragen zu stellen, die ich hasse, aber ich bitte dich, mir aufmerksam zuzuhören, und am Ende wirst du schon verstehen. Dies ist keine normale Geschichte. Es ist eine Geschichte, die man vom Ende ausgehend beschreibt, um dann an ihren Anfang zurückzugehen. So, wie man einen Schwarm Lachse darstellen würde, die an ihren Ursprung zurückkehren. Wie alle anderen wirst auch du diese Geschichte genauso gelesen haben, wie sie von dem Mann aufgeschrieben wurde, der sie erzählt hat. Er schreibt so gut, dass seine Worte so genau passen wie von Hand behauene Steine. Er war so detailbesessen, dein Held, dass er die Worte förmlich dazu zwang, zu Mathematik zu werden. Endlose Berechnungen auf der Basis von Steinen und Mineralien. Hast du bemerkt, wie er schreibt? Er benutzt die Kunst des Dichtens, um den Schuss aus einer Waffe zu beschreiben! Seine Welt ist sauber, wie erfüllt von der Klarheit des Morgens, präzise, eindeutig, durchdrungen von Aromen und durchzogen von neuen Horizonten.

Nur die »Araber« werfen Schatten, er macht sie zu undeutlichen und nicht in die Landschaft passenden Wesen, die aus einem »Damals« stammen. Damit werden sie in allen Sprachen der Welt zu Gespenstern, selbst wenn sie nur einen Flötenton von sich geben. Ich sage mir, der Mann muss die Nase davon voll gehabt haben, sich in einem Land im Kreis zu drehen, das ihn nicht tot und nicht lebendig haben wollte. Der von ihm begangene Mord kommt mir vor wie die Tat eines enttäuschten Liebhabers, der von dem Land verschmäht wird, das er nicht besitzen kann. Was muss er gelitten haben, der Arme! Kind eines Landes zu sein, in dem man ihm kein Leben geschenkt hat.

Ich habe auch seine Schilderung des Tatbestandes gelesen. So wie du und Millionen andere. Sofort ist klar: Er trug den Namen eines Menschen, mein Bruder den Namen eines Unfalls. Er hätte ihn »Vierzehn Uhr« nennen können, so wie jemand anders seinen Neger »Freitag« genannt hat. Eine Tageszeit statt eines Wochentages. Vierzehn Uhr klingt gut. Auf Arabisch Zoudj, die Zwei, das Duo, er und ich, gewissermaßen harmlose Zwillinge für jemanden, der die Geschichte dieser Geschichte kennt. Kurz, ein ziemlich vergänglicher Araber, der zwei Stunden lang gelebt hat und 66 Jahre lang ohne Unterbrechung immer nur gestorben ist, sogar nach seiner Beerdigung. Mein Bruder Zoudj existiert wie unter Glas: Obwohl mausetot und ermordet, bezeichnet man ihn nach wie vor nur mit einem Vornamen wie ein Windzug und zwei Zeigern einer Uhr. Somit durchlebt er wieder und wieder seinen eigenen Tod, durch zwei Kugeln, abgefeuert von einem Franzosen, der nicht weiß, was er anfangen soll mit seinem Tag und überhaupt auf der Welt, die er glaubt auf seinen Schultern zu tragen.

Und mehr noch! Ich werde wütend, wenn ich mir diese Geschichte vorstelle, das heißt jedes Mal, wenn ich überhaupt die Kraft dazu habe. Es ist der Franzose, der da den Toten spielt und sich lang und breit darüber auslässt, wie er seine Mutter verloren hat, wie er dann seinen Körper unter der heißen Sonne verloren hat, dann den Körper einer Geliebten verloren hat, dann in die Kirche gegangen ist, um festzustellen, dass der Mensch sowieso von seinem Gott verlassen wurde, dann vor dem Leichnam seiner Mutter gewacht und sich mühsam wach gehalten hat usw. Guter Gott, wie kann man jemanden nur umbringen und dann auch noch seines Todes berauben? Mein Bruder hat die Kugeln abbekommen, nicht er! Es ist Moussa, nicht Meursault, oder? Das macht mich fertig. Sogar nach der Unabhängigkeit hat niemand auch nur versucht, den Namen des Opfers herauszubekommen, seine Adresse, seine Vorfahren, mögliche Kinder. Niemand. Diese perfekte Sprache, die selbst der Luft etwas Diamantenes verleiht, ließ allen den Mund offen stehen, und sie haben ihr Mitgefühl für die Einsamkeit des Mörders ausgesprochen und ihm die gelehrtesten Beileidsbekundungen ausgedrückt. Und wer kann mir heute den wahren Namen von Moussa nennen? Wer weiß, welcher Fluss ihn bis zu dem Meer getragen hat, das er zu Fuß überqueren sollte, ganz allein, ohne Volk und Zauberstab? Und wer weiß, ob Moussa einen Revolver, eine Philosophie oder einen Sonnenstich hatte?

Wer ist Moussa? Er ist mein Bruder. Worauf will ich hinaus? Ich will dir erzählen, was Moussa nie jemandem erzählen konnte. Mit dem Betreten dieser Bar hast du ein Grab aufgemacht, mein junger Freund. Hast du das Buch in deiner Schultasche? O. K., dann sei ein guter Schüler und lies mir diese ersten Absätze vor …

Hast du was verstanden? Nein? Dann erkläre ich es dir. Sobald seine Mutter tot war, hatte dieser Mann, der Mörder, keine Heimat mehr und verfiel in den Müßiggang und das Absurde. Er ist wie Robinson, der glaubt, das Schicksal wenden zu können, indem er seinen Freitag tötet, aber feststellen muss, dass er auf einer Insel in der Falle sitzt, und der sich anschickt, sich mit großen, genialen Reden wie ein Papagei selbst zu gefallen. »Poor Meursault, where are you?« Wiederhole ein paarmal diesen Schrei und er wird dir nicht mehr so lächerlich vorkommen, das schwöre ich dir. Ich fordere dich in deinem eigenen Interesse auf, es zu tun. Ich kenne das Buch in- und auswendig, ich kann es dir wie den Koran vollständig rezitieren. Diese Geschichte wurde von einem Leichnam geschrieben, nicht etwa von einem Schriftsteller. Wir wissen, wie er auf seine ganz eigene Art unter der Sonne und dem Verbleichen der Farben leidet und von nichts anderem redet als von Sonne, Meer und alten Steinen. Von Anfang an spürt man, wie er meinen Bruder regelrecht sucht. Ja, das stimmt, er sucht ihn, und zwar nicht, um ihm zu begegnen, sondern um ihm nie begegnen zu müssen. Wenn ich daran denke, tut es mir jedes Mal weh, dass er ihn förmlich damit tötet, indem er über ihn hinwegsteigt, nicht etwa indem er auf ihn schießt. Sein Verbrechen ist von einer majestätischen Nonchalance, weißt du. Das hat seitdem jeden Versuch unmöglich gemacht, meinen Bruder wie einen Chahid, einen Märtyrer, darzustellen. Seine Anerkennung als Märtyrer kam erst viel zu lange nach dem Mord. Während mein Bruder immer mehr verweste, feierte das Buch den Erfolg, den man kennt. Anschließend haben sie sich alle abgestrampelt zu beweisen, dass es kein Mord, sondern nur sein Sonnenstich war.

Haha! Was willst du trinken? Hier serviert man den besten Alkohol nur nach dem Tod, nicht vorher. So will es die Religion, mein Bruder, beeil dich, in einigen Jahren, nach dem Untergang der Welt, wird nur noch im Paradies eine Bar geöffnet haben.

Ich werde die Geschichte kurz zusammenfassen, bevor ich sie dir erzähle: Ein Mann, der schreiben kann, tötet einen Araber, der an diesem Tag nicht einmal einen Namen hat – als wenn er ihn an einen Nagel gehängt und dort vergessen hätte, während er selbst die große Bühne betritt. Und dann fängt er an zu erklären, dass irgendein nicht existierender Gott daran schuld sei und es wegen irgendwelcher gerade unter der Sonne gewonnener Einsichten passiert sei und weil das Salz des Meeres ihn gezwungen hätte, die Augen zu verschließen. Mit einem Mal ist dieser Mord ein völlig straffreier Akt und schon gar kein Verbrechen mehr, weil die Zeit zwischen 12 Uhr mittags und 14 Uhr ein gesetzesfreier Raum ist, zwischen ihm und Zoudj, zwischen Meursault und Moussa. Und dann hat sich 70 Jahre lang die ganze Welt aus der Sache rausgehalten, um eiligst den Körper des Opfers verschwinden zu lassen und den Tatort in ein immaterielles Museum zu verwandeln. Was heißt überhaupt Meursault? »Meurt seul« – stirbt allein? »Meurt sot« – stirbt dumm? »Ne meurs jamais« – stirb nie? Mein Bruder hatte seinerseits nicht das Recht, auch nur ein einziges Wort in dieser Geschichte zu sagen. Und da bist du auf dem Holzweg, wie alle vor dir Geborenen. Das Absurde tragen mein Bruder und ich auf unseren Schultern oder im Bauch unserer Heimat, und nicht dieser Typ. Versteh mich richtig, ich bin weder traurig noch wütend. Ich gaukle auch keine Trauer vor, nur … tja, was nur? Ich weiß es auch nicht. Ich glaube, ich hätte einfach gern, dass Recht geschieht. Das mag in meinem Alter lächerlich erscheinen … Aber ich schwöre dir, es stimmt. Darunter verstehe ich nicht etwa die Gerechtigkeit der Gerichte, sondern die des Ausgleichs. Und dann habe ich noch einen anderen Grund: Ich will aus dem Leben gehen, ohne von einem Gespenst verfolgt zu werden. Ich glaube, ich weiß, warum die wahren Bücher geschrieben werden. Nicht um berühmt, sondern eher um unsichtbar zu werden und dennoch für sich zu beanspruchen, an den wahren Kern der Dinge heranzukommen.

Trink noch etwas und schau aus dem Fenster, so sieht das Land aus wie ein Aquarium. Also gut, das ist auch deine Schuld, mein Freund, deine Neugier provoziert mich. Ich warte nun schon seit Jahren auf dich und wenn ich mein Buch schon nicht schreiben kann, dann kann ich es dir doch wenigstens erzählen, oder? Ein Trinker wartet immer auf einen Zuhörer. Das ist der Spruch des Tages, den du dir merken solltest.

Es ist ganz einfach: Diese Geschichte müsste neu geschrieben werden, in der gleichen Sprache, aber diesmal, wie das Arabische, von rechts nach links. Das heißt, beginnend mit dem noch lebenden Körper, mit den Straßen, die ihn bis an sein Ende geleitet haben, dem Vornamen des Arabers, bis zu seinem Zusammentreffen mit der Kugel. Ich habe Französisch auch deshalb gelernt, um diese Geschichte anstelle meines Bruders erzählen zu können, der ein Freund der Sonne war. Erscheint dir das unwahrscheinlich? Das siehst du falsch. Ich musste die Antwort, die mir nie jemand hatte geben wollen, in dem Moment finden, als es nötig war. Eine Sprache trinkst und sprichst du und eines Tages nimmt sie von dir Besitz; dann nimmt sie sich heraus, die Dinge an deiner Stelle in die Hand zu nehmen, sie bemächtigt sich deines Mundes wie bei einem Liebespaar im hemmungslosen Kuss. Ich kenne jemanden, der gelernt hat, auf Französisch zu schreiben, weil sein Vater, ein Analphabet, eines Tages ein Telegramm bekam, das niemand entziffern konnte – das war zu der Zeit deines Helden und dieser ganzen Kolonialherren. Das Telegramm blieb eine Woche in seiner Tasche und es fing schon an zu faulen, bis es ihm jemand vorlas. Darin wurde ihm in drei Zeilen der Tod seiner Mutter mitgeteilt – irgendwo tief im Inneren dieses Landes, wo es keine Bäume gibt. »Ich habe für meinen Vater schreiben gelernt, damit so etwas nie mehr passiert. Ich habe nie seine Wut über sich selbst vergessen und diesen flehentlichen Blick«, sagte mir dieser Mann. Im Grunde geht es mir genauso. Also los, mach dich wieder daran, dieses Buch zu lesen, selbst wenn in meinem Kopf schon alles steht. Jeden Abend taucht mein Bruder Moussa, alias Zoudj, aus dem Reich der Toten auf, zieht mich am Bart und ruft: »Oh mein Bruder Haroun, warum hast du das nur zugelassen? Ich bin doch kein Schlachtvieh, zum Teufel, ich bin dein Bruder!« Also los, mach schon, lies!

Einige Details vorweg: Wir waren nur zwei Brüder und wir hatten nicht etwa noch eine liederliche Schwester, wie es dein Held in seinem Buch vermutet hatte. Moussa war der Erstgeborene und er stieß mit seinem Kopf an die Wolken. Er war groß gewachsen, ja, er war hager und knorrig durch den Hunger und von all der Kraft, die aus der Wut entsteht. Er hatte ein kantiges Gesicht, große Hände, mit denen er mich verteidigte, und die verlorenen Ländereien der Vorfahren hatten seine Augen hart werden lassen. Aber wenn ich so daran denke, glaube ich, dass er uns damals schon so liebte, wie die Toten es tun, mit diesem Blick aus dem Jenseits und ohne große Worte. Ich habe wenige Erinnerungen an ihn, aber ich will sie dir unbedingt sorgfältig beschreiben. Wie an dem Tag, als er früh vom Markt in unserem Viertel zurückkam oder vom Hafen; er arbeitete als Lastenträger und Mädchen für alles: schwer schleppen, dann kurz verschnaufen und sich wieder schwer beladen – schweißtreibend. An diesem Tag sah er mich, wie ich mit einem alten Reifen spielte, und nahm mich auf seine Schultern. Dann forderte er mich auf, seine Ohren anzufassen, als ob sein Kopf ein Lenkrad wäre. Ich erinnere mich, wie ich vor Freude fast den Himmel berührte, während er den Reifen vor sich her rollte und ein Motorengeräusch nachmachte. Und sein Geruch ist mir bis heute geblieben. Ein durchdringender Geruch von verdorbenem Gemüse und Schweiß, eine Mischung aus Muskeln und Atem. Oder die andere Erinnerung an einen unserer großen Feiertage. Am Tag davor hatte er mir für irgendeine Dummheit eine runtergehauen. Jetzt waren wir deshalb beide verlegen. Er hätte mich, an einem solchen Tag »des Verzeihens«, wie es bei uns Muslimen heißt, der Tradition nach eigentlich küssen sollen, aber ich wollte nicht, dass er so seinen Stolz verliert oder sich zu mir herunterbücken muss, um sich zu entschuldigen, nicht einmal im Namen Gottes. Ich erinnere mich auch an seine Gabe, stundenlang völlig unbeweglich in der Tür unseres Hauses stehen zu können, gegenüber der Mauer des Nachbarhauses, mit der Zigarette im Mund und einer Tasse schwarzem Kaffee, die ihm meine Mutter gebracht hatte.

Unser Vater war schon seit einer Ewigkeit verschwunden, zersetzt von den Gerüchten der Leute, die meinten, ihn in Frankreich gesehen zu haben. Nur Moussa hörte noch seine Stimme und erzählte uns, was er ihm in seinen Träumen auftrug. Mein Bruder hatte ihn nur ein einziges Mal wiedergesehen, aber aus so weiter Entfernung, dass er sich nicht sicher war. Als Kind konnte ich unterscheiden, wann es Tage mit und wann es Tage ohne diese Gerüchte gab. Wenn mein Bruder Moussa irgendwelches Gerede über unseren Vater gehört hatte, kam er heftig gestikulierend und mit funkelnden Augen nach Hause, dann gab es lange, flüsternde Gespräche mit »M’ma«, unserer Mutter, die immer in heftigem Streit endeten. Ich war davon ausgeschlossen, hatte aber trotzdem alles verstanden: Aus einem noch ungeklärten Grund nahm mein Bruder meiner Mutter irgendetwas übel und sie verteidigte sich auf eine noch unverständlichere Weise. Dies waren Tage und Nächte voller Angst und Wut, und ich erinnere mich an meine Panik bei der Vorstellung, dass uns Moussa auch noch verlassen würde. Aber er kam dann immer im Morgengrauen und betrunken wieder, schien irgendwie stolz auf seine Auflehnung und war wie neu geboren. Und dann war mein Bruder Moussa schlagartig wieder nüchtern, wie erloschen. Er fand sich damit ab, schlafen zu gehen, und meine Mutter nahm den ihr zustehenden Rang über ihm wieder ein. Ich habe die Bilder noch im Kopf und das ist alles, was ich dir sagen kann! Eine Tasse Kaffee, Zigarettenstummel, seine Sandalen, während M’ma weinte, aber sich schnell wieder zu fassen wusste und eine Nachbarin, die mal eben Tee oder Gewürze leihen kam, so anlächeln konnte, dass mich die Geschwindigkeit, mit der sie von ihrem Ärger in schönste Höflichkeit wechselte, schon fast an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln ließ. Alles dreht sich um Moussa und bei Moussa drehte sich alles um unseren Vater, den ich nie gekannt habe und der mir nicht mehr vermacht hat als meinen Familiennamen. Weißt du, wie wir zu jener Zeit hießen? Ouled El Assase, die Söhne des Wächters. Des Nachtwächters, um genau zu sein. Mein Vater arbeitete als Wächter in einer Fabrik für was weiß ich was. Und eines Nachts ist er verschwunden, das ist alles. So wird es erzählt. Das war direkt nach meiner Geburt, in den Dreißigerjahren. Deshalb stelle ich ihn mir immer so düster vor, in einem Mantel oder einem schwarzen Kapuzenumhang, der Djellaba, in einer dunklen Ecke, stumm und ohne mir zu antworten.

Moussa war also ein disziplinierter und nicht gerade gesprächiger Gott, riesenhaft wirkend durch seinen dichten Bart und mit Armen, die jedem Soldaten eines beliebigen antiken Pharaos den Garaus hätten bereiten können. Um ehrlich zu sein, an dem Tag, als wir von seinem Tod und dessen Begleitumständen erfahren haben, empfand ich weder Schmerz noch Wut, sondern vor allem eine große Enttäuschung, wie einen Affront, als hätte man mich beleidigt. Mein Bruder Moussa, Moses, war imstande, das Meer zu teilen, und dann starb er erbärmlich wie ein schlechter Schauspieler in völliger Bedeutungslosigkeit an einem heute verschwundenen Strand, nah bei den Fluten, die ihn eigentlich für immer hätten berühmt machen sollen!

Ich habe ihn niemals beweint, ich hab nur aufgehört, in den Himmel zu starren wie früher. Übrigens habe ich später noch nicht einmal den Befreiungskrieg mitgemacht. Die Unsrigen sollen also angeblich aus lauter Überdruss und wegen eines Sonnenstichs getötet worden sein – ich aber wusste, dass wir den Krieg schon im Voraus gewonnen hatten. Sobald ich lesen und schreiben gelernt hatte, war für mich alles klar: Ich hatte meine Mutter noch, aber Meursault hatte seine verloren. Er hat getötet, aber ich wusste, dass es sich um seinen eigenen Selbstmord handelte. Das stand allerdings schon fest, bevor die Weltbühne sich drehte und die Rollen gewechselt wurden. Und zwar lange bevor ich begriffen hatte, in welchem Maße wir beide, er und ich, Zellengenossen derselben geschlossenen Gesellschaft sind, in der die Körper nichts als Kostümierung sind.

Also, die Geschichte dieses Mordes beginnt nicht mit dem berühmten Satz »Heute ist Mama gestorben«, sondern mit dem, was noch nie jemand gehört hat, nämlich dem, was mein Bruder Moussa zu meiner Mutter gesagt hat, bevor er an diesem Tag wegging: »Ich werde früher als sonst nach Hause kommen.« Wenn ich mich recht erinnere, war es einer der Tage ohne. Erinnere dich, dass meine Welt einen zweigeteilten Kalender hatte: die Tage mit Gerüchten über meinen Vater und die Tage ohne, die dem Rauchen gewidmet waren, dem Streiten mit Mutter und wo man mich wie ein Möbelstück betrachtete, das ernährt werden muss. Jetzt wird mir klar, in Wirklichkeit machte ich es eigentlich genau wie Moussa: Er ersetzte meinen Vater und ich meinen Bruder. Aber da belüge ich dich noch etwas, so wie ich mich selbst lange belogen habe. Es ist vielmehr so, dass erst die Unabhängigkeit, die einen wie die anderen dazu gebracht hat, ihre Rollen zu wechseln. Vorher waren wir die Gespenster dieses Landes, während die Kolonialherren es ausraubten und zwischen Glockengeläut, Zypressen und Störchen darin herumstolzierten. Und heute? Na, jetzt ist es das Gegenteil! Manchmal kommen sie zusammen mit ihren Nachkommen wieder hierher, und dann halten sie ihre Nachfahren an den Händen, auf ihren Pauschalreisen für Pieds noir oder auch für die Kinder der Nostalgiker, und versuchen dann, hier eine Straße oder da ein Haus und dort einen Baumstamm mit eingravierten Initialen wiederzufinden. Neulich habe ich eine solche Gruppe von Franzosen vor einem Tabakladen am Flughafen beobachtet. Wie allzu diskrete und leisetretende Schreckgespenster sahen sie uns schweigend an, uns »Araber«, als wären wir nicht mehr und nicht weniger als tote Steine oder Bäume. Aber immerhin ist diese Geschichte jetzt zu Ende. Denn genau das steckt hinter ihrem Schweigen.

Ich finde es wichtig, dass man sich auf das Wesentliche beschränkt, wenn man in einer Mordsache ermittelt: Wer ist der Tote? Wer war er? Ich will, dass du den Namen meines Bruders aufschreibst, weil er der Erste war, der getötet wurde, und weil man ihn immer noch tötet. Ich bestehe darauf, ansonsten ist es besser, wenn wir uns hier trennen. Dann nimmst du dein Buch wieder mit und ich den Leichnam und jeder geht seines Weges. Was haben wir für eine armselige Herkunft, das muss man ja mal sagen! Ich bin der Sohn des Wächters, Ould-El Assase, und der Bruder des Arabers. Weißt du, hier in Oran sind sie geradezu besessen davon zu wissen, wo du herkommst. Ouled El-Bled, die wahren Söhne dieser Stadt, sie kommen aus dem »Bled«, aus ihrem Dorf. Jeder hier will der einzige Sohn dieser Stadt sein, der erste, der letzte, bis zum allerersten von allen. Da klingt die Angst heraus, ein Bastard zu sein, nicht wahr? Jeder versucht zu beweisen, dass er der Erste war, der hier gewohnt hat – er, sein Vater oder dessen Vorfahre –, und dass alle anderen nur dahergelaufene Fremde sind, Bauern ohne Ländereien, die es nur durch die Unabhängigkeit überhaupt zu etwas gebracht haben. Ich habe mich immer gefragt, warum diese Leute eine so unglaubliche Angst auf Friedhöfen haben. Ja, vielleicht die Angst oder diese Gier nach Besitztum. Angeblich die Ersten gewesen zu sein, die hier gewohnt haben? Ratten werden sie von den Skeptikern genannt, »die Ratten« oder allerletzte Emporkömmlinge. Diese Stadt sitzt mit gespreizten Beinen zum Meer hin. Guck dir mal den Hafen an, wenn du in Richtung der alten Viertel von »Sidi-El-Houari« hinuntergehst, etwa auf der »Calère des Espagnols«, da liegt das Geschwätz der alten Nutten noch in der Luft, mit ihrem sentimentalen Gerede von den alten Zeiten. Manchmal geh ich dann in den dicht bewachsenen Park an der »Promenade de Létang«, um allein etwas zu trinken und an den kleinen Ganoven vorbeizuflanieren. Ja, genau da, wo diese fremde und üppige Vegetation blüht, die Ficus-Bäume, Nadelbäume und Aloen, nicht zu vergessen die Palmen und die anderen tief verwurzelten Bäume, die sich genauso weit in den Himmel ausbreiten wie in die Erde. Darüber erstreckt sich ein weites Labyrinth von spanischen und türkischen Geschäften, die ich mir alle angesehen habe. Aber sie sind meistens geschlossen. Dort habe ich auch schon ein erstaunliches Schauspiel be