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Im Münsterland wurde jeder Stadtteil nach einer katholischen Kirche benannt. Die Anzahl der Kirchenbesucher hat in den letzten Jahren stetig abgenommen. Verliert eine Kirche dadurch ihre Daseinsberechtigung? Kann man sie einfach abreißen? Denn wird nun eine Kirche abgerissen, verliert dieses Viertel auch einen Teil seiner Identität. Plötzlich ist das Kirchengebäude mehr als ein Gotteshaus, es ist auch Heimat. In Greven wurde beschlossen, die St. Josefkirche - weil zu groß - abzureißen. Daraus erwächst Widerstand, Teile der Bevölkerung dieses Viertels wollen den Abriss nicht einfach hinnehmen.
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Seitenzahl: 151
Veröffentlichungsjahr: 2018
Zum Autor:
Der Autor Claude LeRouge, Jahrgang 1948, wohnt in Greven. Er studierte Geschichte und Französisch in Münster und Dijon und arbeitete anschließend über 35 Jahre als Lehrer am Gymnasium Dionysianum in Rheine. Nach seiner Pensionierung begann er seinen ehemaligen Beruf zum Hobby zu machen. Er schrieb zunächst einen historischen Roman, der im Heiligen Land in der Zeit nach dem ersten Kreuzzug spielt.
Danach folgten drei Kriminalromane, die alle einen Bezug zu Greven haben, aber auch in anderen Gegenden spielen: in Südfrankreich, im südlichen Brandenburg und in Dresden.
Der vorliegende fünfte Roman spielt wiederum in Greven. Die Leserinnen und Leser, die die übrigen Romane gelesen haben, werden einige der Handelnden wiedererkennen.
Weiteres unter www.claude-lerouge.de
Vorwort
Die katholische Kirche gewährt einen Teilablass jedem Gläubigen, der das „Ad te, beate Joseph“ betet. Darin heißt es u.a.: „Heiliger Josef, in unserer Not kommen wir zu dir und bitten voll Vertrauen um deinen Schutz. … Du Beschützer der Heiligen Familie, wache über das Haus Gottes.“
Ein Haus Gottes, die St. Josefkirche in Greven, soll abgerissen werden, zu groß, zu unwirtschaftlich, renovierungsbedürftig. Anstelle dieser Kirche soll dann eine viel kleinere Kirche entstehen, die den tatsächlichen Ansprüchen genügt.
Daraus entstand ein Streit, der hauptsächlich in Form von Leserbriefen in der örtlichen Presse ausgefochten wurde.
Alles, was in diesem Roman über diesen Streit erzählt wird, entstammt der Fantasie des Autors und hat nichts mit der Realität zu tun. Die handelnden Personen sind natürlich frei erfunden, sollte sich trotzdem jemand wiedererkennen, so ist das Zufall und nicht beabsichtigt.
St. Josef wird abgerissen werden – wahrscheinlich ab Februar 2019, das heißt, dass die Kirche bei Drucklegung dieses Romans noch stand. In Westfalen nennt man Leute, die in die Zukunft sehen können, Spökenkieker. Deshalb der Untertitel: Greiwske Spökenkiekerie.
Claude LeRouge
Der Fall St. Josef
Eine Greiwske Spökenkiekerie
© 2018 Claude LeRouge
Autor Claude LeRouge
Verlag: Tredition, Hamburg
ISBN (Paperback): 978-3-7482-0416-9
ISBN (Hardcover): 978-3-7482-0417-6
ISBN (e-Book): 978-3-7482-0418-3
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die Not lehrt beten, sagt das Sprichwort, aber sie lehrt auch denken, und wer immer satt ist, der betet nicht viel und denkt nicht viel.
Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Theodor Fontane, deutscher Apotheker, Journalist, Theaterkritiker, Dichter, *30.12.1819, † 20.09.1898
Folgt man Fontane, dann ist Greven satt. Die Kirchen sind groß, aber leer. 2017 wurde dann öffentlich, was jeder im Prinzip wusste: Die Kirchenstruktur in Greven ist völlig überdimensioniert. Überdimensioniert heißt, zu viel Raum für die wenigen Gottesdienstbesucher. Spätestens seit Anfang 2018 war dann klar: Es musste sich einiges ändern. Raum kostet Geld, auch die katholische Kirche ist ein Wirtschaftsunternehmen und muss wirtschaftlich denken. Deshalb – so die Überlegung – werden einige Kirchen geschlossen und abgerissen.
Im Westen der Stadt rumorte es, denn, so hieß es, dem Josefsviertel wird mit dem Abriss die Identität genommen – so die Kritiker. Worum geht es? Im Prinzip geht es um die Pläne, die St. Josefkirche abzureißen und an der Stelle eine kleine, neue Kirche – in der Größe einer Kapelle – zu bauen. Die Begründung scheint einzuleuchten: Die benachbarte Kita muss vergrößert werden, die Zahl der Kirchenbesucher ist gewaltig geschrumpft, man benötigt keine große Kirche mehr.
„Vorgeschobene Gründe!“, riefen die Kritiker. „Man kann auch die Kita vergrößern, ohne die Kirche abzureißen. Dem Bischof wird das Haus seines Herrn zu teuer, er verfrachtet Jesus wieder dahin, wo er nach der Überlieferung geboren wurde: in einen Stall.“
Das war allerdings starker Tobak. Leserbriefe von Kritikern und Befürwortern eines Neubaus wechselten sich täglich in der Zeitung ab. Als dann aber die Ergebnisse eines Architekturwettbewerbs in der Zeitung standen, sahen die Kritiker ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt: In jeder oberbayerischen Bergkapelle ist mehr Platz als im Grevener Kirchenneubau.
Damit waren die Fronten verhärtet, zumal der Abriss für den Herbst 2018 terminiert wurde. Was aber ist das Josefsviertel ohne die Josefkirche? Wenn das namensgebende Gebäude aus den Jahren 1952/53 mit dem markanten Turm nicht mehr existiert, dann ist dieses Viertel wieder „Greven links der Ems“, wie vor der Stadtwerdung. Und das geht ja nun überhaupt nicht! Überall im Münsterland sind Ortsteile und Stadtviertel nach den katholischen Kirchen benannt. Und jetzt wieder ein Schritt zurück? In der Tat, das geht nicht!
Auch die im Stadtrat vertretenen, nicht gerade als kirchenfreundlich bekannten Parteien, erkannten diese Gefahr, oder soll man sagen: die Gunst der Stunde. Plötzlich tauchten neue Pläne auf. Man könne die Kita auch erweitern, ohne die Kirche abzureißen. Außerdem kam jetzt auch Widerstand von einer Seite, von der es die Kirche gar nicht erwartet hatte. Einige Landwirte äußerten ihre Bedenken. Ihr Einspruch: „Unsere Eltern und Großeltern haben damals Land zur Verfügung gestellt – für den Kirchenbau. Am Wochenende kamen sie damals mit Pferd und Wagen – Traktoren gab es noch nicht so viele – um Transportarbeiten durchzuführen. Und das wird nun einfach vernichtet? Ohne uns zu fragen?“
Auch das noch! Das Kirchenvolk nickte nicht mehr brav ab, was als gottgegeben verkündet wurde, es leistete Widerstand, schlimmer noch, es fing an mitzudenken. Das hatte es ja noch nie gegeben. Die Gläubigen glaubten nicht, sie dachten. Eigentlich müsste es doch für jeden einsichtig sein, dass für 30 - 40 Gottesdienstbesucher eine Kirche mit 400 Sitzplätzen zu groß ist und die geplanten 120 Sitzplätze völlig ausreichen würden.
♥
Die Kita der St. Josefgemeinde machte vor dem Beginn der großen Ferien einen Tagesausflug in die Wentruper Berge. Man hatte an alles gedacht und alles Nötige mitgenommen, vom Bollerwagen bis zum Dixi Klo. Die einzelnen Gruppen der Kita hatten sich in Sichtweite, aber an verschiedenen Stellen niedergelassen. Es wurde gespielt, gesungen, gegessen und alles das gemacht, was zu einem ungewöhnlichen Kita-Tag gehört.
Dann war Mittagspause. Plötzlich ein Schrei: „Kevin ist weg!“ Frau Lehmkuhl, die wie immer alles im Griff hatte, beruhigte ihre Kollegin: „Erstens ist Kevin nicht allein, sondern hier bei uns. Und zweitens ist Kevin nicht zu Haus, sondern im Wald. Kevin allein zu Haus kann zur Gefahr werden, aber hier in der Kita ist er ein lieber, netter Junge.“ Frau Lehmkuhl erhob sich, blickte einmal in die Runde und sagte dann beruhigend: „Da vorne kommt Kevin.“ Plötzlich war aber Frau Lehmkuhl gar nicht mehr so ruhig, denn Kevin trug etwas in den Händen, was überhaupt nicht kitatauglich war: einen Totenschädel.
„Guck mal, Frau Lehmkuhl, was ich gefunden habe.“
Und Frau Lehmkuhl guckte mit weit geöffneten Augen.
„Wo hast du das gefunden?“ Sie wagte nicht, das Wort „Totenschädel“ auszusprechen. Das tat dann Lisa, fünf Jahre alt, an ihrer Stelle: „Kommt mal alle her, der Kevin hat einen Totenschädel gefunden!“
Blitzschnell waren alle 26 Gruppenkinder um den Totenschädel versammelt.
„Wem der wohl gehört?“ Ein nachdenkliches Schweigen. Dann mutmaßte Paul: „Vielleicht unserem Nachbarn. Der ist nämlich tot. Und mein Papa hat gesagt, der Heinz, also unser Nachbar, hätte eins über die Rübe bekommen. Mit ‚Rübe‘ meint Papa den Kopf.“
„Also Paul, jetzt reicht es aber“, griff Frau Lehmkuhl ein. Sie hatte sich wieder gefangen. „Kevin, zeig uns doch bitte einmal, wo du dieses Ding gefunden hast.“
Zielsicher führte Kevin Frau Lehmkuhl, ihre Stellvertreterin und 25 weitere Kinder sowie zwei Praktikantinnen, die den Schluss bildeten, zu einem kleinen Hügel.
„Da ist ein Loch und ich konnte in den Hügel gucken“, erklärte er.
Frau Lehmkuhl machte wieder große Augen. Aber Kevin hatte alles richtig erzählt. Am Fuße des Hügels hatten Tiere oder das Regenwasser ein Loch entstehen lassen, durch das man in den Hügel sehen konnte.
„Ich bin reingekrochen“, erklärte Kevin, „da sind noch viele Knochen drin.“
„Oh ja, lass uns alle mal reinkriechen, Frau Lehmkuhl, dann können wir uns auch die Knochen ansehen“, schlug Lisa vor.
„Soweit kommt es noch“, antwortete Frau Lehmkuhl, jetzt wieder ganz ruhig und gefasst. „Es handelt sich hier um eine uralte Grabanlage. Es ist sozusagen ein Friedhof. Und da kann man nicht einfach rumspielen und hineinkriechen. Wir informieren jetzt Leute, die sich mit solchen Funden auskennen, damit sie sich das hier ansehen.“
„Archologen“, meinte Kevin.
„Archäologen verbesserte Frau Lehmkuhl.
„Was ist das, ein Archäologe?“, fragte Emma.
„Die buddeln in der Erde und kriegen dafür Geld“, erklärte Kevin.
„Können Mädchen auch Archäologe werden?“, fragte Emma zurück.
„Natürlich“, erklärte Frau Lehmkuhl, „du wärest dann eine Archäologin.“
„Ich werde Archäologin“, versicherte Emma. „Ich buddele nämlich auch gerne.“
„Ich auch!“
„Ich auch!“
Damit hatte die deutsche Altertumsforschung eine ganze Reihe von Nachwuchsarchäologen und Nachwuchsarchäologinnen gewonnen.
„Aber zunächst gehen wir zurück zu unserem Platz. Ich muss einmal mit der Stadt telefonieren, um zu erfahren, wo im Augenblick in Greven gebuddelt wird.“
Gebuddelt wurde in nur einem Kilometer Entfernung, nämlich in Pentrup. Dort hatte man schon massenhaft Scherben aus dem Boden geholt. Nach einer kurzen Beratung nahm eine der Praktikantinnen ihr Fahrrad und radelte los. Nach einer guten halben Stunde kam sie in Begleitung zurück, sie auf ihrem Fahrrad, zwei Archäologen in einem uralten Geländewagen. Vielleicht ist das ein Standeszeichen für Archäologen, siehe Indiana Jones.
Die Praktikantin stellte die beiden vor: „Herr Prof. Dr. Habenicht-Breitscheid und Frau Dr. Kampmann. Frau Lehmkuhl, die Leiterin der Kita und der kleine Junge dort, das ist Kevin, ein Junge mit Forscherdrang.“
Frau Dr. Kampmann, ziemlich jung und sehr hübsch, ging auf Kevin zu. „Dann zeig uns einmal, was du gefunden hast.“
Kevin nahm die Frau Doktor an die Hand und führte sie zur besagten Stelle. Der Herr Professor folgte mit der gesamten Kita-Schar.
„Sehen Sie dort, da habe ich den Schädel wieder hingelegt, damit er nicht verloren geht.“
Die Frau Doktor nahm den Schädel auf, begutachtete ihn und gab ihn mit einem Lächeln an ihren Chef weiter. Dann nahm sie eine große Taschenlampe, die sie mitgebracht hatte, und zwängte sich in die Öffnung. Es dauerte etwa zwei Minuten, dann erschien sie wieder – mit einem weiteren Schädel. Sie hielt ihn hoch und zeigte ihn Frau Lehmkuhl. „Sehen Sie den Unterschied?“
„Nun ja, die Farbe. Kevins Schädel ist fast weiß, der, den Sie gefunden haben, ist dunkler, bräunlich.“
„Genau darum geht es. Dieser Schädel hier ist 4 - 5 Tausend Jahre alt. Kevins keine 100 Jahre. Grob geschätzt 60 - 70 Jahre. Mein Schädel ist ein Fall für uns, ein wirklich gut erhaltenes Grab mit sechs oder sieben Skeletten. Kevins Schädel ist ein Fall für die Polizei.“
Der Herr Professor strahlte. „Diese Dame ist exzellent. Habe ich allerdings auch ausgebildet. Kevin, was willst du einmal werden?“
„Archäologe, das ist doch klar.“
„Bravo! Frau Lehmkuhl, wir benachrichtigen sofort die Polizei. Uns glaubt man. Bei Ihnen würden die vermuten, dass Sie einen menschlichen Schädel nicht von einem Tierschädel unterscheiden können. Kevin, du hast alles richtig gemacht.“
Kevin strahlte mit der Sonne um die Wette.
♥
Bei der Polizei in Greven, Grüner Weg, ging das Telefon. Der diensthabende Beamte bekam große Augen, als er hörte, um was es ging. Dann nahm er einen Bleistift und machte sich Notizen. Er fragte ein paarmal nach, machte sich wieder Notizen, bedankte sich für den Anruf, winkte einen Kollegen zu sich, um ihn abzulösen und machte sich auf den Weg zur Kripo, ein Stockwerk höher, bewaffnet mit dem vollgeschriebenen Zettel.
Er klopfte an, jemand sagte „Herein!“ und der Beamte wandte sich an seine Kollegin: „Sandra, ich glaube, wir haben eine Aufgabe für dich.“
„Hund entlaufen? Katze steckt in einem Rohr fest?“
„Nein, natürlich nicht. Du bist doch hier Chef, oder?“
„Richtig, denn ‚Die Chefin‘ läuft freitags im ZDF. Und der Herr Hauptkommissar ist dauernd unterwegs. Um was geht es denn?“
„Wahrscheinlich Mord.“
„Wo?“
„Das weiß keiner. Das ist deine Aufgabe.“
Dann erzählte er ausführlich von seinem Gespräch und gab alles wieder, was er sich notiert hatte.
„Und dann hat dieser Herr Professor noch gesagt, du müsstest in ein Steinzeitgrab kriechen, es wäre sehr eng und dabei macht man sich schmutzig. Nimm alte Klamotten mit!“
„Habe ich immer im Kofferraum.“
Damit machte sich Sandra Kampeter auf den Weg. Eigentlich konnte sie mit ihrer Karriere zufrieden sein. Mit 28 war sie Oberkommissarin, machte praktisch die gesamte Kripo-Arbeit, da ihr Chef dauernd unterwegs war. Das empfand sie als durchaus angenehm, da ihr Chef in letzter Zeit so etwas wie väterliche Züge entwickelt hatte und dauernd versuchte, sie an den Mann zu bringen. Bis jetzt vergeblich. Vielleicht war sie zu wählerisch – doch das glaubte sie nicht. Oder zu hübsch? Es traut sich keiner ran. Diesen Grund ließ sie eher gelten. Das waren jetzt aber nebensächliche Gedanken. Sie hatte einen Fall. Auf geht’s!
Dank der genauen Wegbeschreibung fand sie schnell die Stelle, wo die halbe Kita auf sie wartete. Sie stieg aus und sah sich von einer großen Anzahl von Kindern umringt. Die Kleinsten hingen sofort an ihren Beinen. Bevor Frau Lehmkuhl überhaupt etwas sagen konnte, hatte Kevin schon das Wort ergriffen.
„Hallo! Ich bin Kevin. Ich habe die Leiche entdeckt. Wollen Sie wissen wo?“
„Dann zeig mir einmal die Stelle.“
Ein kaum enden wollender Zug von kleinen und kleinsten Kindern bewegte sich in sehr gemessenem Tempo in Richtung des Hügels. Frau Lehmkuhl hatte inzwischen Zeit gefunden, sich vorzustellen. Am Eingang von Kevins Höhle lag wieder der Schädel.
Sandra Kampeter sah ihn sich an und sagte dann: „Eindeutig kein Schädel aus der Steinzeit. Aber bevor ich hier alles zerstöre, lasse ich lieber die Spezialisten anrücken. Und vor allem: Es handelt sich hier um einen Tatort. Der wird jetzt mit Flatterband abgesperrt.“
Es dauerte eine gute Stunde, dann rückte die Spusi in Gestalt von zwei Personen an: Ernst Kantner und Willi Erle. Das nun wiederum stellte ein Problem dar, denn: Nomen est Omen. Ernst Kantner war mit zwei Meter Größe und 120 kg Lebendgewicht nicht in der Lage, sich in das steinzeitliche Grab zu zwängen. Willi Erle war zwar dünn wie eine Bohnenstange, es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sich ins Innere der Grabanlage zu begeben, doch er befand sich erst am Anfang seiner Ausbildung und hatte noch nie alleine so eine Grabanlage untersucht.
Ernst sah Sandra an und meinte: „Es war zwar eine gute Idee, auf uns zu warten. Dann musst du dich nicht schmutzig machen. Aber wie du siehst, musst du nun doch dran glauben. Nimm dir einen von Willis Überziehern und kriech ins Grab. Wir werden hier draußen eine Kameraanlage aufbauen, mit der du dich ins Innere begibst. Dann warte auf meine Anweisungen. Wir setzen dann hier das Skelett so zusammen, wie du es drinnen gefunden hast.“
Sandra blieb nichts anderes übrig, als sich umzuziehen. Kevin versuchte noch, sie zu trösten: „Wenn du willst, gehe ich mit dir in die Höhle. Dann musst du keine Angst haben.“
„Danke, Kevin, das schaffe ich schon. Pass du draußen auf, dass sie die Knochen richtig zusammensetzen.“
Also begab sie sich mit der Kamera in die Grabanlage und übertrug die Bilder nach draußen. Frau Lehmkuhl verstand ihre Kinder nicht mehr, die die Bilder mit ‚Ah!‘ und ‚Oh!‘ und ‚Wie schön!‘ kommentierten. Nach über zwei Stunden erblickte Frau Oberkommissarin Sandra Kampeter wieder das Licht der Welt. Sie sah ein perfekt rekonstruiertes Skelett, so wie sie es im Innern gesehen hatte. Die Kita war jedoch abgezogen: Dienstschluss.
„Und?“, fragte sie Ernst Kantner.
„Niemand begibt sich freiwillig in so eine steinzeitliche Grabanlage, um dort zu sterben. Dann sieh dir diese Rippe an! Woher kommt das runde Loch? Frag mich nicht, wie lange dieser Bursche, es ist zweifelsfrei ein Mann, hier schon liegt. Aber eins ist sicher, du hast einen Ermordeten vor dir. An die Arbeit! Du schaffst das!“
Das war leichter gesagt, als getan. Es gab zwar einen Toten, aber man wusste lediglich, dass es sich um einen Mann handelte. Wie alt war er? Seit wann lag er dort? Kam er überhaupt aus dieser Gegend? Dagegen war die Identifizierung von Ötzi ein Kinderspiel gewesen. Bei Ötzi hatten viele Freiwillige eine DNA-Probe abgegeben. Vielleicht war man ja mit ihm verwandt? Aber hier war alles unklar und niemand, der etwas wusste, würde etwas verraten. Doch die einfachen Fälle machen sowieso keinen Spaß und man wächst mit den Aufgaben.
Wem gehört eigentlich der Grund und Boden, auf dem das Skelett gefunden wurde? Das konnte sie schnell in Erfahrung bringen. Doch allein auf sich gestellt, war da kaum etwas zu machen. Außerdem galt im Dienst das Vier-Augen-Prinzip. Sie brauchte Unterstützung. Aber von wem? Von ihrem Chef Gunnar Moormann? Der war dauernd auf Fortbildungen, hielt Vorträge und beschäftigte sich leidenschaftlich gern mit der Frau seines Lebens. Es sollte ihm gegönnt sein! Dann musste sie auf die zugesagte Verstärkung warten, frisch aus Hiltrup von der Polizeischule. Wahrscheinlich mit viel Euphorie und ohne praktische Erfahrung. Inzwischen würde sie sich um die Dinge kümmern, die sie ohne Unterstützung erledigen konnte: Die Lösung der Frage: „Wer ist Eigentümer des Waldgebietes, in dem das Skelett gefunden wurde?“ Das war leicht zu erforschen. Eigentümer war ein Bauer namens Schulte Amdiek. Seltsamer Name für einen Grevener Bauern, denn hier gab es keinen Deich, der den Namen rechtfertigte. Der Emsdeich sorgte erst seit Mitte der 1950er Jahren dafür, dass Greven nicht mehr unter Hochwasser zu leiden hatte. Aber „Amdiek“ heißt doch wohl „Am Deich“. Wo ruft man an, um Genaueres zu erfahren? Bei Schulte Amdiek.
Eine jugendliche Stimme stellte sich vor: „Hallo, Sie sprechen mit Bernadette Amdiek. Den ‚Schulte‘ können Sie weglassen und duzen können Sie mich auch, denn ich bin erst 13 Jahre alt.“
Das war eine klare Ansage! Dem musste man etwas entgegensetzen. „Hallo Bernadette. Du sprichst mit Sandra Kampeter von der Kripo in Greven. Ich bin Oberkommissarin. Aber du darfst mich Sandra nennen. Aber nur du, kein anderer.“
„OK, Sandra. Was kann ich für dich tun?“
Die junge Dame war wirklich nicht auf den Mund gefallen.
„Bernadette, wer kann mir Informationen zu eurem Hof geben?“
„Papa und ich.“
„Und deine Mutter?“
„Da ist die Kripo aber schlecht informiert. Erinnerst du dich an den Unfall mit der Kutsche, vor drei Jahren?“
Am liebsten hätte Sandra jetzt das Wort mit S-C-H ganz laut geschrien. Sie hielt sich zurück und sagte ziemlich leise: „Das tut mir leid, ich erinnere mich jetzt wieder. Aber das war damals eine reine Polizeiangelegenheit, die Kripo war nicht betroffen.“
„Das ist schon in Ordnung. Was willst du denn nun wissen?“