Der falsche Samariter - Earlene Fowler - E-Book
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Der falsche Samariter E-Book

Earlene Fowler

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Beschreibung

Endlich auf Deutsch - Band 2 der beliebten Benni-Harper-Serie!

Benni Harper hat sich breitschlagen lassen: Neben der Ausstellung, die sie gerade für das Volkskundemuseum plant, organisiert sie auch noch einen Kostümball im Altenheim von San Celina. Am Ballabend findet sie sich auf der Tanzfläche plötzlich in den Armen ihrer Jugendliebe Clay O’Hara wieder. Doch aus der Wiedersehensfreude wird tödlicher Ernst, als Clays Onkel und Bennis ehemalige Lehrerin tot aufgefunden werden - ermordet! Doch welche Verbindung gibt es zwischen den beiden Opfern, die sich im Leben nicht einmal besonders mochten? Benni wird neugierig und muss erfahren, dass Hass nicht verjährt ...

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Seitenzahl: 612

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Irish Chain

1

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Drei Tage später

Dank

Über dieses Buch

Benni Harper hat sich breitschlagen lassen: Neben der Ausstellung, die sie gerade für das Volkskundemuseum von San Celina organisiert, kümmert sie sich auch noch um einen Kostümball im Altenheim von San Celina. Auf der Tanzfläche findet sie sich plötzlich in den Armen ihrer Jugendliebe Clay O’Hara wieder. Doch aus dem Spaß wird tödlicher Ernst, als Clays Onkel und Bennis ehemalige Lehrerin tot aufgefunden werden – ermordet! Doch welche Verbindung gibt es zwischen den beiden Opfern, die sich im Leben nicht einmal besonders mochten? Benni wird neugierig und muss erfahren, dass Hass nicht verjährt …

Über die Autorin

Earlene Fowler lebt mit ihrem Mann, einer Unmenge von Quilts und dreiundzwanzig Paar Cowboystiefeln im kalifornischen Fountain Valley. In Amerika hat die Benni-Harper-Serie Kultstatus. Besuchen Sie auch die Website der Autorin: www.earlenefowler.com

Earlene Fowler

Der falsche Samariter

Ein Benni-Harper-Krimi

Aus dem amerikanischen Englisch von Diana Beate Hellmann

beTHRILLED

Deutsche Erstausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1995 by Earlene Fowler

Titel der amerikanischen Originalausgabe: «Irish Chain«

Originalverlag: The Berkley Publishing Group, a division of Penguin Putnam Inc.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Julia Feldbaum

Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt

Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Vasya Kobelev | Aka Photography | TECK SIONG ONG

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 978-3-7325-5541-3

www.lesejury.de

www.be-ebooks.de

Für Mama und Daddy, die mir die Wurzeln der Südstaaten gabenund die Flügel des Westens

und

für meine Omas,Edith Bennett Worley und Muriel Web Phillips,die mich lehrten, was es wirklich bedeutet,ein »zähes altes Weib« zu sein.

Irish Chain

Wo das Quiltmuster Irish Chain, Irische Kette, seinen Ursprung hat, ist nicht bekannt, doch es ist ein sehr altes Muster, das es Gerüchten zufolge bereits zur Kolonialzeit gab. Der »Ketteneffekt« wird durch die farbliche Anordnung der Stoffquadrate erzielt. Die einfache Kette wird aus zwei sich voneinander abhebenden Farben oder Mustern hergestellt, kann aber auch zu einer zwei-, drei- oder vierfachen Kette erweitert werden. Je mehr Ketten hinzugefügt werden, desto abwechslungsreicher werden die Farbkombinationen und desto komplexer wird die Musterung des Quilts. Der darf so groß werden, wie es gewünscht wird, denn die Kette kann immer weiter fortgesetzt werden. Sie endet erst, wenn der Quilter beschließt, sie enden zu lassen.

1

»Benni Harper, wenn du dein Hinterteil nicht auf der Stelle herbewegst, rupfe ich dir jedes Haar einzeln vom Schädel.«

Die Stimme, mit der Oma Dove mir am Telefon drohte, klang ebenso kratzig wie die alten Schallplatten von Hank Williams, die sie so liebte. Mit ihren mit Reibeisenstimme vorgetragenen Interpretationen von »I Saw the Light« und »I’m So Lonesome I Could Cry« waren auf der Ramsey-Ranch verwaiste Kälber mit der Milchflasche aufgezogen und in den Schlaf gesungen worden. Ich selbst übrigens auch.

»Ich wollte im Moment aus der Tür gehen«, log ich in liebenswürdigem Ton, obwohl ich in Wahrheit immer noch im leeren Volkskundemuseum und dort hinter dem Tresen des kleinen Souvenirladens saß. Sie reagierte darauf, indem sie den Hörer mit solcher Wucht auf die Gabel knallte, dass ich am anderen Ende der Leitung ein ohrenbetäubend lautes Klicken vernahm. Sie hatte mich noch nicht »junges Fräulein« genannt, was bedeutete, dass mir noch ein bisschen Zeit blieb.

Mir knurrte der Magen, und das erinnerte mich daran, dass ich, wie so häufig, vergessen hatte zu frühstücken. Da ich Dove aber kannte, wusste ich, dass sie nie von der Ranch nach unten in die Stadt kam, ohne etwas Essbares mitzubringen. Schließlich war sie fest entschlossen, mich wieder auf das hochzufüttern, was sie »das Idealgewicht einer Kampfhenne« nannte.

Ich hatte zehn Pfund Gewicht verloren, nachdem sich mein Ehemann Jack vor einem Jahr auf einem einsamen Straßenabschnitt des alten Highway One mit seinem Jeep überschlagen hatte und dabei ums Leben gekommen war – und diese Pfunde hatte ich nie wieder zugelegt. Darum machte Dove sich Sorgen, wie sie sich um jede unwichtige Kleinigkeit in meinem Leben Sorgen machte. Sie war von Natur aus ein Mensch, vor dem man strammzustehen hatte – und so zielorientiert wie ein Treibhund. Ihrer Aussage nach war ich immer noch ihr widerspenstigstes Kalb. Dass sie sich ständig in mein Leben einmischte, führte immer wieder zu kleinen Reibereien.

Die Hoffnung und Vorfreude auf ihre köstlichen Süßkartoffelbrötchen brachten meinen Magen erneut zum Knurren. Ich schenkte meinem Hunger keine weitere Beachtung und befasste mich wieder mit dem im Kreuzstich gearbeiteten Mustertuch, das ich gerade in unser Inventar aufnahm.

»Die besten Dinge bekommt man nur einmal im Leben«, las ich laut. Jeder der Buchstaben war in Blautönen gestickt – von Eierschalenblau bis hin zu einem satt schimmernden Marineton. Zudem waren sie mit schwarzen Stichen eingefasst. Deshalb sprangen mich die Worte geradezu an. Das Tuch war eines der mehr als zweihundert Musterexemplare, die das Museum erhalten hatte. Wir hatten in einer Zeitungsannonce darum gebeten, uns im Kreuzstich gefertigte oder mit anderen Stichen bestickte Tücher für unsere jüngste Ausstellung zur Verfügung zu stellen. Als Kuratorin des Josiah-Sinclair-Folk-Art-Museums war ich dafür verantwortlich, die ungefähr einhundert Stücke auszuwählen, die wir angesichts des uns zur Verfügung stehenden Platzes letztlich ausstellen konnten. Um bei der Auswahl fair vorzugehen, hatte ich mich bemüht, eine breite Palette von Stilrichtungen sowie Alter und Grad des handwerklichen Geschicks zu berücksichtigen. Vor allem aber hatte ich die Stücke mit Herz ausgewählt und mich für solche entschieden, die dem Anschein nach für den jeweiligen Künstler zum Zeitpunkt der Anfertigung eine besondere Bedeutung gehabt hatten. Was mir vorschwebte, war eine Ausstellung, die ihre eigene Geschichte erzählte, die Geschichte jedes einzelnen Künstlers, unserer Stadt und der Menschen im Allgemeinen.

Dass diese Präsentation ein Erfolg wurde, war wichtig für mich. Obwohl ich stolz auf meine letzte Ausstellung antiker Quilts war und auch auf die fünf Zeitungsartikel, die man über das Museum geschrieben hatte, konnte ich nicht darüber hinwegsehen, dass die Publicity mehr mit den Morden zu tun gehabt hatte, die auf dem Gelände verübt worden waren, als mit meinem Können als Kuratorin. Vor zwei Wochen hatte mich sogar eine Journalistin des Reiseressorts der L.A. Times kontaktiert, weil sie eine kleine Reportage über unser neues Museum schreiben wollte, und sie hatte die Morde nicht einmal erwähnt. Umso wichtiger war es, dass diese Ausstellung ein voller Erfolg wurde.

»Die besten Dinge bekommt man nur einmal im Leben«, las ich erneut und begutachtete die Borte aus Gänseblümchen und Maiglöckchen, den ausgefallenen Schriftzug und die in Blau und Violett gehaltenen Pfauen, die jede der vier Ecken zierten. Danach notierte ich mir den Namen und die Anschrift des Besitzers dieses Mustertuchs. Die aufgrund ihres Alters verblassten Worte, die 1924 von K.G. Drusell gestickt worden waren, schlugen eine wehmütige Saite in mir an.

Da ich mit meinen vierunddreißig Jahren in wenigen Tagen bereits seit einem Jahr Witwe war, fing ich langsam an, mich zu fragen, ob diese Dame vielleicht recht haben könnte. Meine Beziehung zu Jack war auf jeden Fall das Beste gewesen, was ich je gehabt hatte – obwohl ich, da ich seit meinem neunzehnten Lebensjahr mit ihm verheiratet gewesen war, im Grunde keine Vergleichsmöglichkeiten hatte. Bis jetzt …

Ich hatte Gabriel Ortiz kennengelernt, mich aber zunächst mit ihm gezankt und ihm vor drei Monaten, als Mord eine der Hauptattraktionen unserer Museumsausstellung antiker Quilts gewesen war, zähneknirschend gestattet, sich in mein Leben zu schleichen. Seinen Lebenslauf hatte ich auf ewig in meinem Kopf gespeichert. Er war der provisorische Polizeichef von San Celina. Ein Hispano-Angloamerikaner mit olivfarbener Haut, der aus Derby in Kansas stammte und weit über zwanzig Jahre in Los Angeles hängen geblieben war. Er hatte lange, sehnige Beine, die an die eines Mittelstreckenläufers erinnerten. Ein üppiger, hie und da mit Silber durchzogener schwarzer Oberlippenbart verbarg eine sinnlich volle Unterlippe, die gänzlich verschwand, wenn er nervös oder wütend war. Er hatte blaugraue Augen, die der Farbe des Pazifiks im Januar glichen, und er war – in Ermangelung einer besseren Bezeichnung – seit einigen Monaten so etwas wie «der Mann an meiner Seite«. War es Liebe, der Wunsch nach Zweisamkeit oder einfach nur eine unglaubliche körperliche Anziehungskraft? Das war die große Frage. Eine, auf die ich mit leerem Magen zu derart früher Stunde an einem Samstagmorgen keine Antwort fand. Ich schaute auf die Daffy-Duck-Uhr an meinem Handgelenk – ein Geschenk von Gabe, der mit seiner rauchigen, süffisant klingenden Stimme erklärt hatte, Daffy und ich verfügten über die gleichen Charaktereigenschaften. Ich wusste bis heute nicht, was ich davon halten sollte.

Ich verließ den Souvenirladen und verriegelte die schwere spanische Tür der alten Sinclair-Hazienda. Dank der Großzügigkeit unserer reichen Wohltäterin, Constance Sinclair, beinhaltete das Gebäude jetzt das Josiah-Sinclair-Folk-Art-Museum und eine Künstlerkooperative.

Als ich meinen alten roten Chevy-Pick-up-Truck erreichte, auf dessen Türen nach wie vor »Harper’s Herefords« zu lesen war, drehte ich mich noch einmal um und begutachtete das frisch gestrichene zweistöckige Lehmhaus und die Ställe mit einem Anflug von Besitzerstolz. Vor vierzehn Tagen hatte sich am Wochenende die gesamte Kooperative zusammengetan, die Außenwände getüncht, das raue Holz der Stützpfosten der Eingangsveranda neu gebeizt und die davorstehenden riesigen ziegelfarbenen Lehmtöpfe mit in San Celina County beheimateten Blumen bepflanzt: winziger violettfarbener Storchschnabel, gelber Sauerklee und diese exotischen Panther-Lilien mit den langen Staubblättern und getupften Blüten. Im gedämpften Sonnenlicht dieses Februarmorgens strahlte das Gebäude förmlich. Eine frische Brise umwehte die Eukalyptusbäume, die wie ein silbergrüner Windschutz im Kreis um den mit Schotter belegten Parkplatz standen.

Ich legte den Kopf in den Nacken, atmete mehrmals tief durch und ergötzte mich an der ungewohnten Wärme der Sonne auf meinem Gesicht. Das hier war seit über einer Woche der erste Morgen, an dem die Central Coast nicht von den orkanartigen Stürmen und sintflutartigen Regenfällen aus dem Schlaf gerissen worden war, die Kaliforniens Dürre in diesem Winter mit einer Inbrunst ein Ende bereitet hatten, die man normalerweise an der Westküste nicht erlebte.

Ich fing allmählich an, das Museum und die Kooperative fast so sehr zu lieben, wie ich die Ranches geliebt hatte, auf denen ich zeit meines Lebens gewohnt hatte. Nachdem ich nach Jacks Tod von der Harper Ranch, die ihm und seinem Bruder gehört hatte, weggezogen war, hatte mir dieser Job hier das Leben gerettet. Ich hatte mich in den Alltagstrott des Museums und der Künstlerkooperative gestürzt und mir darüber im Laufe der Zeit ein neues Leben aufgebaut. Obwohl es nicht unbedingt eines war, das ich mir selbst ausgesucht hätte, war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich dem Aufwachen am nächsten Morgen freudig entgegensah. Jack zu verlieren hatte mich eine wichtige Lektion gelehrt. Man musste jeden Tag genießen, der einem geschenkt wurde, weil es unter Umständen der letzte sein konnte. Etwas, das so leicht zu verstehen und so schwer umzusetzen war.

Keine halbe Stunde später stand ich im Schlafzimmer des im spanischen Stil erbauten Hauses, das ich gemietet hatte, meine Jeans und die rosafarbene Flanellbluse lagen auf dem Fußboden. Ich versuchte, auf dem aus alten Telefonbüchern von San Celina gebastelten Schneiderinnen-Podest nur ja nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und tat, was mir immer ganz leichtfiel, wenn ich Dove um mich hatte: Ich jammerte.

»Ich kann nicht fassen, dass ich in so etwas herumlaufen werde.« Mit finsterem Blick begutachtete ich mich in dem langen Messingspiegel, der in der Ecke des Schlafzimmers stand, und zerrte an dem eng geschnürten Oberteil des bananengelben Kleides mit Reifrock, das meinen Bauch zu Brei zusammenquetschte. Von der Taille abwärts ähnelte ich einem dieser Baudoir-Lampenschirme, die es in Billigläden zu kaufen gab.

»Hör auf herumzuzappeln«, schimpfte Dove. »Du bist schlimmer als eine Zweijährige.« Mit dem Handrücken versetzte sie mir einen Klaps aufs Hinterteil. Aufgrund der vielen Lagen Tüll und hauchdünnem Chiffon spürte ich ihn kaum.

Als ich die Stellung als Kuratorin bekommen hatte, hatte ich bereits damit gerechnet, es nicht nur mit exzentrischen Künstlern, reichen Mäzenen und durchgeknallten Leuten zu tun zu bekommen, sondern auch damit, mit ungewöhnlichen Umständen fertig werden zu müssen. Aber nichts in meiner Fantasie hatte jemals Reifröcke beinhaltet.

Wenn man von den seltenen Gelegenheiten absah, bei denen ich mich in meinen wadenlangen schwarzen Rock, meine Cowboybluse aus Seide und meine guten Rehlederstiefel von Tony Lama warf – weil Constance in der Hoffnung, sich eine Spende zu erschleichen, irgendeinen Würdenträger anschleppte –, bestand meine Arbeitskleidung aus der gleichen Uniform, die ich den größten Teil meines Lebens getragen hatte: braune Stiefel von Justin Ropers und Jeans von Wrangler, die so häufig gewaschen worden waren, dass sie sich weich genug anfühlten, um darin zu schlafen.

»Dreh dich um, damit ich die andere Seite hochstecken kann«, sagte Dove. Mit winzigen Schritten wandte ich ihr den Rücken zu und versuchte, dabei nicht von den rutschigen Telefonbüchern zu fallen.

»Sehe ich so albern aus, wie ich mich fühle?«, fragte ich meine beste Freundin Elvia Aragon. Sie lag in ihrem dreihundert Dollar teuren tabascoroten Jogginganzug der Länge nach auf meinem Messingbett und sah so schön aus, dass sie die Titelseite des Hochglanzmagazins Elle hätte zieren können.

»Das weiß ich nicht«, gab Elvia zur Antwort. »Wie albern fühlst du dich denn?«

»Auf einer Skala von eins bis zehn … wie eine Neuneinhalb, würde ich sagen.«

»Oh nein. Eine Acht, höchstens.« Sie lachte und überkreuzte ihre niedlichen Füße, Schuhgröße 35. Sie steckten in strahlend weißen Nikes, die zweifellos die Hälfte von dem gekostet hatten, was ich in einer Woche im Museum verdiente. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren sie nur dazu benutzt worden, um die Entfernung zwischen der Tür zu ihrer Eigentumswohnung am See und ihrem grünen perfekt restaurierten 1959er-Austin-Healy zurückzulegen. Sie trug in den USA hergestellte Tennisschuhe – ein widerwilliges Zugeständnis an ihre sechs jüngeren Brüder, die sich voll und ganz der neuen Heimat verschrieben hatten. So stolz Elvia auch auf ihre mexikanischen Wurzeln war, im Herzen war sie Europäerin, vorzugsweise Französin.

Sie nahm mich kritisch in Augenschein. »Das ist eine Art von Glinda-die-gute-Hexe-Look, nicht wahr? Da er aus Kansas stammt, sollte das Gabe eigentlich in Fahrt bringen, um es mal so zu formulieren.«

»Herzlichen Dank für diese einfühlsame Modekritik, Miss Blackwell.« Ich zog mit der einen Hand den tiefen, herzförmigen Ausschnitt weiter hoch und zupfte mit der anderen einen der winzigen Puffärmel in Form. »Was hat sich deine Schwägerin dabei gedacht, als sie ihren Brautjungfern diese Kleider verpasst hat?«

»Ich habe keine Ahnung. Jeder hat mehr Geschmack als Gilbertos Ehefrau. Sie kommt aus Mississippi.«

»Pass auf, was du sagst, Mädel«, murmelte Dove mit dem Mund voller Stecknadeln.

»Ich habe Mississippi gesagt, nicht Arkansas«, stellte Elvia klar. »Das ist ein großer Unterschied.« Sie lächelte verhalten, und dabei bildeten sich Grübchen auf ihren seidenglatten Wangen, die die Farbe von Milchschokolade hatten.

Ich rieb mir die nackten Arme. »Bist du sicher, dass du nicht auch noch etwas anderes in deinem Kleiderschrank hast? Ich fühle mich so … entblößt.«

»Dieses Kleid ist für eine Hochzeit im Juli angefertigt worden, nicht für ein Fest Ende Februar«, gab Elvia zur Antwort. »Und wir haben jedes Kleidungsstück unter die Lupe genommen, das ich besitze. Dieses ist das einzige, das zumindest vom Ansatz her mit dem Bürgerkrieg in Verbindung gebracht werden kann. Warum hast du dir für diesen Seniorenball kein schlichteres Motto ausgesucht als ›Vom Winde verweht‹?«

»Das hat dein kleiner Bruder verbrochen. Ramon und sein Universitäts-Anfängerkurs ›Freizeitbeschäftigung für Erwachsene‹. Ich hätte mich für ein Shuffleboard-Turnier entschieden.«

»Ich finde das wirklich entzückend, dass sich diese jungen Menschen wegen einem Haufen alter Leute so viel Mühe machen«, warf Dove ein.

»Ganz so ist es nicht«, hielt ich dagegen. »Sie ersparen sich damit eine zwanzigseitige Semesterarbeit. Das ist eine große Motivation.«

Elvia nahm ihre Tasse mit Himbeertee in die Hand, die auf meinem Nachttisch stand, und trank einen Schluck davon. »Ich weiß immer noch nicht genau, wie du in die Sache hineingerutscht bist. Ich dachte, die Zeiten, in denen du dich als Aushilfslehrerin verdingt hast, seien vorbei.«

»Zwei der Damen, die den Patchworkkurs besuchen, den ich im Oak Terrace gebe, sitzen im Mieterrat des Heims. Als Ramon und seine Klasse ihr Projekt dem Vorstand des Altenheims vorgetragen haben, aber keinen erwachsenen Betreuer dafür finden konnten, hat Thelma Rook mich gebeten, das zu übernehmen. Ich glaube, sie wollte mich lediglich dazu zwingen, ein Kleid zu tragen.«

»Was beweist, dass sie über mehr Überzeugungskraft verfügt als ich«, sagte Dove.

»Wer weiß …«, gab ich lachend zurück, beugte mich dabei leicht nach vorn und zog an dem Träger ihrer verwaschenen Jeanslatzhose. »Wie lange dauert das noch, bis du endlich mit der Absteckerei fertig bist? Diese Pumps sind so eng, dass meine Zehen bereits die weiße Fahne schwenken.«

»Immer langsam mit den jungen Pferden, ein kleines Stück muss ich noch machen.« Dove erhob sich stöhnend, warf sich ihren taillenlangen, geflochtenen weißen Zopf über die Schulter und schaute Elvia mit ihren wachen blauen Augen an. »Was hast du in diesem Kleid getrieben? Mit einem Gorilla getanzt?«

»Mit Gilbertos Schwager Dwayne, der stammt aus Tupelo«, gab Elvia zur Antwort. »Was einem Gorilla recht nahe kommt.«

»Ich glaube, ich gönne meinen Knien mal eine Pause und genehmige mir ein Stück von dem Pfirsichauflauf, den ich dir mitgebracht habe.« Dove kniff mir in den Oberarm. »Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, mein Liebling: Falls du willst, dass dieser Mann, den du dir da geangelt hast, weiterhin hier herumschnuppert, siehst du besser zu, in Zukunft etwas mehr in deinem Kühlschrank zu haben als Coca-Cola und Fertigtörtchen von Hostess.«

»Wenn’s ihm ums Essen geht, sollte er eine Köchin daten«, sagte ich und zog meinen Arm weg. Dove reagierte mit einem Schnauben.

Ich trat mir die Satinpumps von den Füßen, die eine halbe Nummer zu klein für mich waren, und ließ mich neben Elvia auf dem Bett nieder, sorgsam darauf bedacht, mich nur ja nicht auf die Stecknadeln zu setzen, mit denen ein Teil des Rocksaums hochgesteckt war. »Wie laufen denn die Vorbereitungen zum Mardi-Gras-Festival?«

Blind Harry’s, die Kombination aus Buchhandlung und Kaffeestube, die Elvia in der Innenstadt von San Celina führte, war von der Handelskammer zur Kommandozentrale für die diesjährigen Mardi-Gras-Festivitäten auserkoren worden. Elvia war verantwortlich für das Straßenfest und für die Parade, die heute in einer Woche stattfanden. Laut Aussage unserer San Celina Tribune handelte es sich dabei um die authentischsten Feierlichkeiten, die außerhalb des Bundesstaates Louisiana in den gesamten Vereinigten Staaten anlässlich des Mardi Gras abgehalten wurden. Aus der Taufe gehoben hatte das Ganze vor fünfzehn Jahren ein Grüppchen gebürtiger Louisianer, die von diversen Ölfirmen an die Central Coast versetzt worden waren, um dort auf den Bohrtürmen vor der Küste zu arbeiten. Als die Bohrungen eingestellt wurden, blieben viele dieser Arbeiter hier – und mit ihnen ihre festlichen und zuweilen chaotischen Sitten und Gebräuche. Sie passten perfekt in das feierfreudige San Celina County, in dem jede Ausrede willkommen war, »um es feuchtfröhlich krachen zu lassen«.

»Bisher läuft alles nach Plan«, gab sie mir zur Antwort. Mit einem Projekt wie diesem war Elvia ganz in ihrem Element. Nichts machte sie glücklicher, als das Sagen zu haben. »Es war zwar mehr Arbeit, als ich erwartet hatte. Aber durch das Geld, das wir mit dem Verkauf der Glasperlenketten, des anderen billigen Modeschmucks und der Karnevalsmasken eingenommen haben, sieht unsere Bilanz schon jetzt besser aus, als es in den letzten fünf Jahren im Februar der Fall war. Das sollte Cameron eigentlich leicht verärgern.«

Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf ihre zarten roten Lippen. Cameron McGarry, der mysteriöse schottische Besitzer des Blind Harry’s, hatte ursprünglich beabsichtigt, die Buchhandlung als Abschreibungsprojekt zu benutzen, um einen Teil der Profite zu decken, die er mit seinen drei Spielkasinos in Reno einfuhr. Nachdem Elvia das Geschäft vor fünf Jahren übernommen hatte, machte sie es, obwohl man ihr genau das Gegenteil prophezeit hatte, zum beliebtesten und profitabelsten Buchladen im Umkreis von drei Countys. Erstens ließ sie im Keller eine Kaffeestube betreiben, zweitens hatte sie gesonderte Bereiche für Krimis, Liebesromane und Science-Fiction eröffnet, und drittens hatte sie das größte kommerzielle Inventar an Fachliteratur zum Thema Ranching und Tierhaltung erworben, das es im gesamten Bundesstaat Kalifornien gab.

Das auf dem Nachttisch stehende Telefon läutete. Elvia reichte mir den Hörer quer über das Bett, und dann stand sie auf und zeigte mit dem Finger in Richtung Küche.

»Lass mir ein bisschen was von dem Auflauf übrig«, sagte ich zu ihr und hielt die Hand dabei über die Sprechmuschel.

»Benni?« Der Anrufer war eine Frau, die, wie deutlich zu hören war, schon recht betagt war.

»Ja?« Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor, und ich versuchte, ihr einen Namen zuzuordnen. Die fünfzehn Frauen, die an meinem Patchworkkurs im Altenheim von Oak Terrace teilnahmen – einem Kurs, der von der Künstlerkooperative und einem kleinen Zuschuss der Stadt finanziert wurde –, hatten alle meine Telefonnummern, sowohl die von zu Hause als auch die von meinem Arbeitsplatz. Und seit sie damit angefangen hatten, an verschiedenen Projekten zu arbeiten, hatten sie sich angewöhnt, sie rücksichtslos zu benutzen.

»Miss Violet hier«, erklärte sie mit zittriger und gereizt klingender Stimme.

»Oh ja, Miss Violet.« Ich schnitt mir selbst im Spiegel eine Grimasse. »Wie geht es Ihnen?«

Alle Damen meines Kurses hatten mir angeboten, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen – mit Ausnahme von Miss Rose Ann Violet, die nicht die Absicht hatte, in ihrem hohen Alter irgendjemandem ein derartiges Benehmen durchgehen zu lassen.

»Sie hat gesagt, sie würde ihn umbringen.«

»Was?«

»Sie hat das ›A‘-Wort benutzt, das ›B‘-Wort und das ›D‘-Wort. Zweimal.«

Ich hielt mir das Telefon vor das andere Ohr und fragte mich, ob die Senilität endlich mächtig genug geworden war, um bei der bislang unbezwingbaren Miss Violet Einzug zu halten. »Wovon reden Sie?«

»Von Oralee Reid«, gab sie zurück. »Und Brady O’Hara. Dass es so weit gekommen ist, erstaunt mich natürlich nicht. Poker ist das Spiel des Teufels. Nachdem Hattie uns alles erzählt hatte, wurde er bösartig wie eine Schlange, und danach war ihm nicht mehr zu trauen. Wir mussten ihn ständig im Auge behalten. Ob es um Fünfcentmünzen oder M&M’s ging. Für solche Leute spielt das keine Rolle.«

»Wie bitte?« Es passierte nicht zum ersten Mal, dass eine meiner Damen Sätze aneinanderreihte, die nicht so recht zueinanderpassten. Viele der Senioren waren nicht nur im Oak Terrace, weil sie alt waren, sondern weil sie leichte Schlaganfälle erlitten hatten.

»Haben Sie mir nicht zugehört, Benni Harper? Meine Güte, haben Sie sich denn überhaupt nicht verändert? Offenbar nicht, wie?«

Sie kanzelte mich ab, wie meine Lehrerin mich in der vierten Klasse abgekanzelt hatte, und das war nur natürlich, denn sie war schließlich meine Lehrerin gewesen. Diese prekäre Situation traf nicht nur mich. Die ehrbarsten Bürger von San Celina hatten zweiundvierzig Jahre lang ihre bissigen Kommentare und die Demütigung erdulden müssen, dass Miss Violet ihre Namen mit Kreide in die Ecke ihrer sauberen Schiefertafel gekritzelt hatte. Sie hatte zwar nicht jeden in San Celina mit den Feinheiten der Bruchrechnung und der Geschichte der Missionsstationen in Kalifornien vertraut gemacht, doch sie verfügte über genug ehemalige Schüler und Schülerinnen, um einen Wahlausgang zu beeinflussen, sofern man geneigt war, sich dahingehend beeinflussen zu lassen.

»Ich höre sehr wohl zu«, erwiderte ich mit dem maulenden Stimmchen eines Kindes. Dann räusperte ich mich und befleißigte mich eines reiferen Tonfalls. »Ich bin sicher, dass Oralee nur Spaß gemacht hat.«

»Das glaube ich nicht. Sie hat es auf König Henochs Kopf geschworen.«

»Wirklich?« Das ließ die Angelegenheit in einem gänzlich anderen Licht erscheinen. Den Namen von König Henoch nahm Oralee nicht leichtfertig in den Mund. Er war ihr preisgekrönter Blackangus-Bulle und über Jahre hinweg das Herz ihrer Herde gewesen. Vor etwa sechs Monaten war er aus seiner Weide ausgebrochen und auf dem Weg zu ein paar ahnungslosen Färsen mit im Wind schwingenden Kronjuwelen über den Highway getrottet. Dabei war er von einem Eintonner Ford-Pick-up, der fünfsträngigen Stacheldraht transportiert hatte, angefahren und getötet worden. Der Farmer, der den Laster gefahren hatte, kam ohne eine Schramme davon, aber viele Leute waren der Überzeugung, dass der Schock über den viel zu frühen Tod von König Henoch für Oralies Schlaganfall verantwortlich war. Und der war wiederum der Grund für ihren anschließenden Aufenthalt im Oak Terrace.

»Ich glaube, wir sollten die Behörden einschalten«, sagte Miss Violet. »Hat Ihr neuer Liebhaber nicht irgendwie mit der Polizei zu tun?«

»Irgendwie schon«, gab ich ausweichend zurück, weil ich hoffte, sie würde sich nicht erinnern, in welcher Form er mit ihr zu tun hatte. »Was ist denn das eigentliche Problem zwischen ihr und Mr O’Hara?«

Miss Violet seufzte. »Oralee hat gesagt, er habe die letzten zwei Monate beim Pokerspiel geschummelt. Sie spielen um Fünfcentmünzen. Oder um M&M’s.«

Nun, das würde den Kommentar erklären, den sie vorhin abgegeben hatte. Ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen. »Um die aus Schokolade oder um die mit Erdnüssen?«

Wieder seufzte sie. Dieses Mal lauter. »Albenia Louise Harper, nehmen Sie mich etwa nicht für voll?«

»Oh doch, Ma’am«, erwiderte ich. Wenn Miss Violet einen mit dem kompletten Namen ansprach, war man gut beraten, mit dem Witzereißen aufzuhören. »Entschuldigen Sie bitte. Können Sie nicht Mr Montrose darauf ansprechen? Als Leiter des Oak Terrace sollte er meiner Meinung nach in der Lage sein, die Wogen zu glätten.«

»Dieser Mensch!« Die Stimme der alten Dame wurde so schrill wie die eines Sittichs. »Der interessiert sich doch nur dafür, wie viele Tütchen Zucker wir morgens über unsere Cornflakes streuen. Der ist überhaupt keine Hilfe, ganz egal, worum es geht. Der bildet sich ein, sich damit retten zu können, diese Pferde zu beobachten. Wir haben ihm gesagt, er müsste bezahlen. Hat der ernsthaft geglaubt, er würde ungestraft davonkommen? Wissen Sie, zuverlässig ist der noch nie gewesen. Oralee hätte das eigentlich wissen müssen, aber die lässt sich ja von niemandem etwas sagen.«

Ich versuchte gar nicht erst zu ergründen, was sie gerade von sich gegeben hatte. »Wie kann ich Ihnen denn helfen? Was genau schwebt Ihnen vor?«, fragte ich in geduldigem Ton und mit all der Liebenswürdigkeit, die ich aufzubringen vermochte.

»Sprechen Sie mit Oralee«, sagte sie. »Aus mir unerfindlichen Gründen hört sie auf Sie. Es muss irgendwie erreicht werden, dass sie ihr so ungezügeltes Temperament besser in den Griff bekommt. Andernfalls wäre ich nämlich gezwungen, einen offiziellen Antrag zu stellen, dass man mir eine verträglichere Zimmergenossin zuweist.« Sie senkte die Stimme. »Sie raucht Zigarren, wissen Sie das? In der Nacht. Im Badezimmer. Sie meint, ich wüsste das nicht, aber ich weiß es sehr wohl. Mein Papa hat immer behauptet, ich hätte die Nase eines Bluthundes.«

Miss Violet und Oralee teilten sich ein Zimmer in einem der Flügel des Oak Terrace, in dem Senioren untergebracht waren, die des Gehens mächtig waren. Die Zimmervergabe erfolgte also nach Kriterien, die es zu einem reinen Glücksfall machten, dass die Zimmergenossen auch auf menschlicher Ebene zueinanderpassten. Im vorliegenden Fall war die Paarung ebenso unpassend wie die von Country-Komikerin Minnie Pearl mit Bandenchefin Ma Barker.

Ich amüsierte mich gerade aufgrund der Vorstellung, wie Oralee einen Stumpen qualmte, als mir Miss Violets Stimme hysterisch ins Ohr wisperte.

»Ach, du liebe Güte! Raten Sie mal, wer gerade ins Zimmer gekommen ist?«

Ich hörte gedämpfte Geräusche, die darauf schließen ließen, dass die beiden sich um den Telefonhörer rauften.

Im nächsten Moment kläffte Oralees vulgär und rau klingende Stimme in den Hörer: »Wer spricht da?«

Es war eine Stimme, die gewohnt war, Befehle wie Flipperkugeln durch hügeliges, mit dickstämmigen Eichen bewachsenes Gelände zu schießen. Einzig und allein mit dem Ziel, sie an Männer zu richten, denen es selbst dann widerstrebte, den Anweisungen einer Frau Folge zu leisten, wenn sie die Besitzerin der Ranch war.

»Hi, Oralee! Ich bin’s, Benni Harper. Miss Violet hat mir gerade erzählt –«

»Ich habe gehört, was die kleine Miss Rosy-Posy-Pudd’n ›n‘-Pie von sich gegeben hat. Hat sie erwähnt, dass O’Hara ein Dreckwanst ist, ein unflätig daherlabernder Mistkerl, ein falschspielendes Arschloch?« Nur das leichte Lallen am Ende der einzelnen Worte verriet, dass sie einen linksseitigen Schlaganfall erlitten hatte.

Für einen kurzen Moment hatte ich Mitleid mit Miss Violet. Ich war schon selbst von dieser Stimme verbal verprügelt worden, mehr als einmal. Vor achtzehn Jahren – damals war ich sechzehn – hatte ich, um mir die Anzahlung für mein erstes Auto zu verdienen, an den Wochenenden für Oralee gearbeitet und in der Nacht nach den trächtigen Kühen gesehen.

Sie stellte von Anfang an klar, dass sie mich für eine rotznasige Göre hielt, die sich wie eine Klugscheißerin aufführte und die sie lediglich eingestellt hatte, weil sie meinen Vater respektierte. Sie beobachtete mich mit der Unbarmherzigkeit eines alten Präriefalken unter der Krempe ihres verfleckten und verbeulten Resistol-Cowboyhutes. Und zwar genau so lang, bis ich ihr zeigte, wie man nach Kühen suchte, die sich in Vorbereitung auf die Geburt von der Herde abgesondert hatten. Ich erzählte ihr, wie man die Atmung der Tiere überwachte und wie ich meine Taschenlampe dazu benutzte, in ihren traurigen dunklen Augen Anzeichen darauf zu finden, dass es Probleme geben würde. Sie half mir mehr als einmal dabei, ein Kalb herauszuziehen. Und wenn wir anschließend dabei zusahen, wie das Muttertier das Kleine immer und immer wieder leckte, bis das Kälbchen sich schließlich auf seine spindeldürren Beine erhob, um seine erste Milch zu trinken, verzog sie ihre von der Sonne gegerbten und wie Leder aussehenden Lippen zu einem seltenen Lächeln. Zweimal verloren wir Kälber bei der Geburt. Einmal sogar das Muttertier und das Kleine. In beiden Fällen erging sie sich in einer ausgiebigen Schimpftirade und sprach danach für den Rest der Nacht kein Wort mehr. Sie machte mir in ihrer alten Küche eine warme Mandelmilch und Zimttoast, bevor ich auf meinem Paint Horse Zelda nach Hause ritt.

Ich liebte Oralee wie eine meiner Verwandten, beneidete Miss Violet allerdings nicht darum, sich das Zimmer mit ihr teilen zu müssen.

»Doch, Ma’am, sie hat Mr O’Hara ein-, zweimal in unserer Unterhaltung erwähnt«, sagte ich. »Pass auf, Oralee, ich werde heute Abend mit ihm darüber sprechen. Ich bin überzeugt, dass das Ganze lediglich ein Missverständnis ist.«

»Und Kuhfladen duften«, gab Oralee zur Antwort. »Die Sache ist ganz einfach: Brady O’Hara ist ein schlechter Mensch, und ein Ganove ist er obendrein. Das ist er immer schon gewesen, und das wird er auch immer bleiben. Er bildet sich ein, sich mit seinem Gesülze und diesem diabolischen Lächeln aus allem herausreden zu können. Du rufst besser die Bullen, damit die ihn in den Knast stecken, bevor ich seinem irischen Hintern so einen Tritt verpasse, dass er bis Tucson fliegt.«

»Jetzt mach aber mal halblang, Oralee – die Polizei?«

»Ich wette, dass du deren Nummer auswendig kennst.«

Ein harsches Geräusch dröhnte durch die Leitung – es klang wie ein Mittelding aus Husten und Krächzen. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich geschworen, dass es ein Lachen war.

»Wir werden dafür sorgen, dass sich dieser Jungbulle, mit dem du da zusammen bist, seinen Lebensunterhalt mit richtiger Arbeit verdient und nicht nur auf seinem schnuckeligen Knackarsch sitzt und –«

Ich hörte, dass es am anderen Ende der Telefonleitung zu einem lauten Handgemenge kam. »Autsch! Hör bloß auf, mich zu kneifen, du altes Weib. Aua, verdammt noch mal!«

»Ich werde Gabe alles berichten, wenn ich ihn sehe«, sagte ich und zwang mich, nur ja nicht zu lachen. Das hätte sie nur noch mehr aufgestachelt. »Schauen wir mal, was er tun kann. Hast du denn schon alles vorbereitet, um heute Abend auf den Ball zu gehen?«

»Zeitverschwendung. Ich bin zweiundachtzig. Da hat man nicht mehr viel Zeit zu verschwenden.«

»Du musst unbedingt kommen. Der Ball ist das Projekt des Patchworkkurses. Und du bist die Präsidentin.«

»Nur weil Mittie Barntower ins Gras gebissen hat und ihr alle die einzige andere Person gewählt habt, die den Verstand noch nicht ganz verloren hat.«

»Oralee«, ermahnte ich sie mit gespielter Strenge. Mit diesem Kommentar hatte sie sich jetzt wahrscheinlich einen weiteren Strafpunkt auf Miss Violets mentaler Schiefertafel eingehandelt. »Schau, ich muss jetzt auflegen. Dove muss noch den restlichen Rocksaum an meinem Kleid hochstecken. Wir sehen uns dann heute Abend.«

»Okay«, gab sie zur Antwort, wenn auch widerwillig. »Grüß Dove von mir, und sag ihr Danke für das Rehdörrfleisch, das sie Mac für mich mitgegeben hat. Das war wirklich lecker. Und vergiss ja nicht, mit diesem Bullen zu reden, mit dem du da zusammen bist, hast du mich verstanden?«

»Das vergesse ich nicht. Ich bin sicher, dass er zwischen euch beiden vermitteln kann.«

»Was heißt vermitteln? Ich erwarte Resultate, oder es wird zu Vergeltungsmaßnahmen à la ›Du-weißt-schon‹ kommen.« Im nächsten Moment hörte ich ihre Stimme nur noch gedämpft, weil sie den Kopf offenbar vom Telefon weggedreht hatte. »Hat dich das jetzt glücklich gemacht, Miss Spießig?«

»Oralee«, rief ich laut in den Apparat. »Versuch bitte, dich zu benehmen.«

»Die Aussichten, dass daraus was wird, sind in etwa so groß wie die, dass ein Kojote einer Hasenkonferenz beiwohnt.«

»Erspar mir deinen Wildwest-Sermon. Und zieh heute Abend ein Kleid an. Wenn ich eines tragen muss, musst du das auch.«

»Das mach ich, sobald ein Bulle einen Milcheimer füllt«, gab sie mir in fröhlichem Ton zur Antwort und legte auf.

Ich stand vor dem Spiegel, begutachtete das lächerlich aussehende Kleid und beneidete gerade die Menschen in Oralees Alter darum, dass sie nicht mehr eitel und deshalb frei waren, als Dove und Elvia ins Zimmer zurückkehrten. Elvia, die eine kobaltblaue Schale mit Pfirsichauflauf in den Händen hielt, machte es sich wieder auf dem Bett gemütlich.

»Wen hast du da denn gerade angebrüllt?«, wollte Dove wissen.

»Oralee Reid. Und angebrüllt habe ich sie nicht. Ich habe lediglich versucht, sie dazu zu bringen, mir ihre Aufmerksamkeit zu schenken.«

»Was wollte die schrullige alte Schachtel denn?«, fragte Dove mit einem milden Lächeln auf den Lippen. Dove war einer der wenigen Menschen, die sich nie von Oralee provozieren ließen, wahrscheinlich, weil sie ihr immer Paroli bot. Ich gab ihr eine Kurzfassung der Geschehnisse.

»Also, dass es ihr so schwerfällt, sich im Oak Terrace einzufügen, ist wirklich schade, aber der arme Mac hatte keine andere Wahl. Obwohl sie nur einen leichten Schlaganfall hatte, war sie danach in einem Zustand, in dem sie diese Ranch einfach nicht mehr hätte führen können. Und sie hat sich geweigert, zu ihm zu ziehen. Einmal hat er sie unangemeldet besucht, und am Ofen waren sämtliche Herdplatten eingeschaltet, während sie draußen in der Scheune war und eine Heukrippe repariert hat. Das hat ihn fast zu Tode erschreckt.« Mit nachdenklicher Miene nahm Dove ein apfelförmiges Nadelkissen von der Kommode. »Ich habe wirklich Mitleid mit ihr. Sein Zuhause verlassen zu müssen ist hart.«

»Ich weiß«, sagte ich und erinnerte mich an das so wohltuend langsame Tempo des Farmlebens – daran, wie Jack und ich im Bett gelegen und über die kratzenden Pfötchen der Eichhörnchen gelacht hatten, die auf unserem Holzschindeldach immer Fangen gespielt hatten. Und ich erinnerte mich an den Duft von frischem Heu und daran, wie seine schweren Arbeitsstiefel am Ende des Tages über die Holzdielen der Veranda gestampft waren.

»Hast du immer noch Schlafprobleme?«, fragte Dove und strich mir meinen lockigen Pony aus den Augen.

Ich drehte den Kopf zur Seite und gab ihr keine Antwort darauf. Ich verspürte inzwischen nicht mehr das Bedürfnis, über Jacks Tod zu reden. Man gelangt an einen Punkt, an dem es einem so vorkommt, als sei alles, was man sagen könnte, gesagt worden. Wovor einen niemals jemand gewarnt hatte, vielleicht nicht hatte warnen können, war die Tatsache, dass Trauer sehr viel mit langwierigen, schleppend verlaufenden Krankheiten gemein hatte, bei denen gute und schlechte Tage ebenso unvorhersehbar waren wie das Resultat, wenn man den Hebel eines Glücksspielautomaten betätigte. Wenn man gerade meinte, seine Wunden in ausreichendem Maße geleckt zu haben, brauchte man nur einmal nicht aufzupassen, und schon traf einen irgendeine Erinnerung mitten zwischen die Augen. Das Wissen um den Verlust brachte sämtliche Sinne zum Beben und ließ einen zitternd mit einem Gefühl zurück, das dem der Furcht nicht ganz unähnlich war.

So ganz allmählich gab es jetzt aber mehr gute als schlechte Tage in meinem Leben. Gabe zu haben, war eine Hilfe. Er hatte eine irrsinnig komische Seite, die einen Hauch von Arroganz mit sich führte und mich zuweilen selbst dann zum Lachen bringen konnte, wenn das sonst nichts vermochte. An guten Tagen konnte ich dann fast vergessen, wie Jack gestorben war, dass er im Straßengraben gelegen hatte, dass Alkohol und Dummheit ihn umgebracht hatten. Stattdessen beseelte mich dann die Vorstellung, dass er jetzt mit meiner Mutter zusammen war. Sie war gestorben, als ich sechs Jahre alt gewesen war, und die Vorstellung, dass sie jetzt irgendwo auf einer langen weißen Veranda saßen, Erbsen aushülsten und über mich wachten, beruhigte mich.

Oh, ich hatte schlaflose Nächte, aber was mich wach hielt und dazu trieb, bis zum frühen Morgen von einem Kabelsender zum anderen umzuschalten und es mit allem zu probieren - von The Donna Reed Show bis hin zu alten Spielfilmen mit Gary Cooper –, waren zum einen die nach wie vor ungewohnten Stadtgeräusche und zum anderen der Umstand, dass ich mich immer noch nicht daran gewöhnt hatte, allein zu schlafen. Ich konnte nachempfinden, wie Oralee sich fühlte. Sein gewohntes Leben aufgeben zu müssen hatte sehr viel Ähnlichkeit damit, einen Menschen zu verlieren, den man liebt.

»Veränderungen sind nie einfach«, sagte Dove mit leiser und sanfter Stimme. »Die Menschen lieben, was sie kennen. Aber der Herrgott hilft uns dabei, uns anzupassen.« Sie legte mir liebevoll die Hand zwischen die Schulterblätter. »So, und jetzt klettere schön wieder auf diese Telefonbücher, damit wir das hier fertig bekommen. Ich muss wieder zurück zur Ranch und deinem Daddy das Abendessen kochen. Und mach dir nur ja keine Sorgen um Oralee Reid. Bei der wird alles wieder gut. Diese Frau gleicht einer gestandenen Eiche.«

»Da wir gerade über Oralee sprechen«, warf ich ein, »wie kommt die Kirchengemeinde denn mit Mac zurecht? Mögen sie ihn?«

Oralees Enkel, MacKenzie Reid, war erst vor einem Monat zum Pastor der First Baptist Church unweit der Cal Poly, der California Polytechnic State University, berufen worden. Das war eine radikale Entscheidung für die konservative, aus vierhundert Mitgliedern bestehende Gemeinde gewesen, in der ich getauft worden war, geheiratet hatte und auf den Beerdigungen meiner Mutter und meines Ehemannes geweint hatte. Sie hofften, wie mir zu Ohren gekommen war – da ich in letzter Zeit eher selten am Gottesdienst teilgenommen hatte –, mit dieser Entscheidung jüngere Menschen in die alternde Gemeinde zu locken.

Mac Reid war in San Celina geboren und aufgewachsen. Er war gerade vierzig geworden und seit dem Tod seiner jungen Ehefrau, die vor fünf Jahren an einem Hirntumor gestorben war, Witwer. Er war ein groß gewachsener, schwergewichtiger und auf markante Weise attraktiver Mann, der über mehr Charisma verfügte, als ihm guttat. Er und mein Onkel Arnie, beide sechs Jahre älter als ich, waren während der Highschoolzeit eng miteinander befreundet gewesen. Sie ärgerten mich immer, bis ich anfing zu kreischen, was dann stets zur Folge hatte, dass Dove sie nach draußen in die Scheune schickte, wo sie Mist schaufeln mussten. In den Siebzigerjahren spielte Mac als gemeingefährlicher Abwehrspieler für das Footballteam der Baylor University, bis er kurz vor dem Abschluss jeden mit der Eröffnung schockierte, eine höhere Berufung erhalten zu haben. Ein typischer Baptisten-Pfarrer war er eindeutig nicht.

»Er macht seine Sache sehr gut«, sagte Dove, kniete sich wieder hin und begann den Rest des Saums umzustecken. »Was du wüsstest, wenn du mehr als einmal alle drei Monate zum Gottesdienst kommen würdest.«

Dazu sagte ich nichts.

»Er predigt mit sehr lauter Stimme«, fuhr sie fort. »Das hält die meisten wach, sogar die Faulenzer, die sich immer in die letzte Reihe verkriechen.«

»Ich habe es immer lustig gefunden, dass Oralees Enkel Pastor geworden ist«, meinte Elvia und stellte die blaue Schale auf meinem Nachttisch ab.

»Vielleicht eine umgekehrte Form der Rebellion. Du weißt ja, wie Kinder sind«, erwiderte ich in spitzem Ton. »Wenn du sie in die eine Richtung schiebst, schlagen sie gern die andere ein.«

Daraufhin knurrte Dove leise.

»Wohnt er draußen auf der Ranch?«, fragte Elvia.

»Nein«, antwortete Dove. »Oralee weiß das zwar noch nicht, aber er hat die Ranch zum Verkauf angeboten. Seit dem Tod seines Vaters hat er Handlungsvollmacht.«

»Muss er verkaufen?«, fragte ich traurig, weil ich die Antwort bereits kannte.

»Er kann nicht die Ranch und die Kirche leiten. Außerdem hat die Ranch schon lange keine Gewinne mehr eingefahren. Wie ich gehört habe, schickt er Oralee schon seit Jahren Geld. Deshalb ist inzwischen sogar all das aufgebraucht, was er von der Versicherung seiner Frau bekommen hat. Du weißt ja, dass das Gros des Reid-Besitzes von den Ölgesellschaften gepachtet ist, und die fangen jetzt an, es an Bauunternehmer zu verkaufen. Ein einfacher alter Rinderzüchter kann heutzutage nicht mehr von der Landwirtschaft leben.« Sie schaute zu mir auf. »Aber dir brauche ich das ja nicht zu erzählen.«

»Das ist wohl wahr.« Ich war immer noch damit beschäftigt, meinem Schwager Wade zu helfen, die Bestände der zwangsversteigerten Harper Ranch zu liquidieren. Wade und seine Familie waren bereits fort und wieder nach Texas gezogen, um dort bei Verwandten zu leben, und wir erledigten den Großteil der geschäftlichen Dinge auf dem Postweg oder per Telefon.

»Willst du Gabe wirklich von Oralee und dieser Kartenspiel-Geschichte erzählen?«, mischte Elvia sich in die Unterhaltung ein. Dankbar lächelte ich sie an. Sie wusste, wie sehr es mir immer zusetzte, mich gedanklich damit zu befassen, dass ich die Ranch verloren hatte.

»Meiner Meinung nach bin ich gezwungen, das zu tun, weil er sie heute Abend treffen wird. Und er hasst es, ohne Vorwarnung in solche Situationen zu geraten. Weißt du, seit er und ich zusammen sind, haben mich die Leute vermehrt auf der Straße angesprochen und mir von ihren Problemen erzählt. Gestern hat mich Mr Treton von nebenan zu fassen gekriegt und mir erklärt, seiner Überzeugung nach erhöhe das Elektrizitätswerk in den Altenheimen die Voltzahl, damit mehr statische Elektrizität entstehe und es in ihren Hörgeräten zu Kurzschlüssen komme. Er behauptet, das Elektrizitätswerk sei der Eigentümer sämtlicher Hörgeräthersteller im Land. Deshalb will er, dass Gabe ein Sonderkommando einrichtet, um der Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Er hat sich sogar angeboten, als verdeckter Ermittler tätig zu werden.«

»Dieser verrückte alte Narr«, meinte Dove. »Dem könntest du eine Kuhglocke ins Bett legen, und er würde sie nicht finden.«

»Falls das wirklich so ist, kann ich mir nur sehr schwer vorstellen, dass du irgendetwas von dem, was er von sich gibt, interessant findest …« Liebevoll tätschelte ich mit dem Handrücken ihr weiches weißes Haar. Sie hob den Kopf nicht.

«Hin und wieder hat er etwas Interessantes zu berichten. Und ich bin einfach gern da, wenn das passiert.«

Dass sie Mr Treton bestach, indem sie ihm mit selbst gebackenem Brot und gläserweise Kleehonig Informationen darüber entlockte, was ich im Alltag so trieb, verärgerte mich ab und an immer noch. Was sie allerdings nicht davon abhielt, es weiter zu tun.

»Alles erledigt«, verkündete sie und stand auf. »Jetzt muss ich das nur noch schnell festheften.«

Ich drehte mich um und begutachtete mich im Spiegel. »Na, jetzt aber! Schaut mich an. Scarlettmäßig herausgeputzt, um irgendetwas zu erleben – was immer das auch sein mag.« Ich zog an einer Strähne meiner rotblonden Locken.

Vor etwas mehr als zwei Monaten hatte ich mir in einem Moment blindwütiger Emotionalität mein taillenlanges Haar bis zum Kinn abgeschnitten, und jetzt hatte ich keine Ahnung, was ich mit dieser Frisur anfangen sollte, wenn man davon absah, dass ich hin und wieder mit den Fingern darin herumstocherte. »Vielleicht hätte ich mir die Haare doch nicht abschneiden sollen.«

»Die sehen hübsch aus«, versicherte Elvia mir und inspizierte auf der Stelle eine Strähne ihrer schulterlangen schwarzen Haare. »Du siehst sehr modern aus. Ganz … goldig.«

Sie hatte dieses Wort noch nicht ganz ausgesprochen, als ich innerlich bereits zusammenzuckte. Ich verwand im Allgemeinen zwar nicht viel Zeit darauf, über mein Aussehen nachzudenken, aber da ich vierunddreißig Jahre alt und mit einem Mann liiert war, der noch einmal acht Jahre älter war als ich, war »goldig« nicht unbedingt das Aussehen, das ich anstrebte. Drahthaarige Terrier waren goldig. Opie Taylor aus der Andy-Griffith-Show war goldig.

»Außerdem«, fügte sie hinzu, »ist alles besser als dieser langweilige alte Zopf, den du zu jedem Anlass getragen hast.«

»Du forderst dein Glück heute wirklich heraus, Suzie Q«, sagte Dove und zielte mit der Spitze ihres weißen Zopfes auf Elvia.

Wir lachten, als Elvia daraufhin beide Hände hob, als ergäbe sie sich. Im nächsten Moment wurde dreimal hintereinander an die Haustür geklopft. Ich schaute auf das Uhrenradio, das auf meinem Nachttisch stand. Elf Uhr an einem Samstagmorgen. Manche Dinge waren so berechenbar wie Frühlingszwiebeln.

»Dove, bist du wohl so lieb und machst auf?«

Ich raffte meinen Reifrock und flitzte in das Badezimmer, das an mein Schlafzimmer angrenzte.

»Pass auf den Saum auf, Benni«, schimpfte Dove.

»Bitte«, rief ich. »Ich bin nicht bewaffnet.«

»Du bist was?«, hakte Elvia nach.

Eine Minute später stand ich im Türrahmen des Badezimmers und sah mit an, wie Gabe hinter Dove mein Schlafzimmer betrat. In seinen engen schwarzen Laufshorts und dem verwaschenen grauen Sweatshirt, das ein schon leicht abgeblättertes Konterfei von Albert Einstein zierte, sah er an diesem Morgen ganz besonders attraktiv und so gar nicht wie ein Polizeibeamter aus.

»Hallo, Chief Ortiz!« Mit beiden Händen hinter dem Rücken lief ich gemächlichen Schrittes auf ihn zu, wobei der Reifrock um meine Knöchel wippte wie eine Glocke um einen Schwengel. Wir sahen einander fest in die Augen und strahlten uns an.

»Hallo, Benni Harper!«

Er nahm mich von Kopf bis Fuß in Augenschein. »Du siehst aus wie …« Es schien ihm die Sprache zu verschlagen.

«Scarlett O’Hara?«, machte ich ihm einen Vorschlag. »Vivien Leigh?«

Er lachte. »Also, ich dachte eigentlich eher an so jemanden wie Little Miss Muffet.«

»Und damit hat der Police Benevolence Fund in diesem Jahr von mir keine Spende zu erwarten.«

»Es sieht irgendwie niedlich aus.« Er hob die Hand und strich mit dem Zeigefinger über mein freigelegtes Schlüsselbein, was bewirkte, dass ich, ohne es zu wollen, zu zittern begann.

»Hände weg, Mister«, schimpfte Dove. »Bis du die Rechnungen bezahlst.«

»Jawohl, Ma’am«, erwiderte er, zog seine Hand weg und zwinkerte mir zu.

»Dove!«, sagte ich. »Stört dich das?«

»Ja, das tut es«, antwortete sie. »Habe ich doch gerade gesagt.«

»Hör mal«, sagte Gabe, »ich sollte meinen grauen Anzug bis fünfzehn Uhr aus der Reinigung holen, habe aber eine Sondersitzung mit dem Stadtrat. Könntest du das für mich erledigen und ihn zum Revier bringen?« Er zog sein Sweatshirt hoch, um sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen, sodass sein muskulöser brauner Bauch sichtbar wurde.

»Klar«, sagte ich und versuchte, nicht auf die schwarzen Ausläufer seiner Behaarung zu starren, die in einem schmalen Streifen in seinen feuchten Shorts verschwanden.

»Danke!« Er ließ sein Sweatshirt wieder hinunter und grinste, als er begriff, wohin mein Blick gegangen war.

Der körperliche Teil unserer Beziehung war mit der Geschwindigkeit eines lahmen Pferdes dahergehinkt, hauptsächlich aufgrund meiner Bedenken, mich auf eine neue Partnerschaft einzulassen. Das hielt mich allerdings nicht davon ab, wenigstens darüber nachzudenken. Sehr häufig darüber nachzudenken.

»Da schaut man nicht hin, junges Fräulein«, schimpfte Dove.

Ich spürte, dass mein Gesicht vor Hitze zu prickeln begann. »Also wirklich, Oma, ich glaube, mir ist das Ganze noch gar nicht peinlich genug. Vielleicht könntest du dich ein bisschen mehr anstrengen, um die totale Demütigung zu bewirken.«

»Du warst es, die ihre Augen an einer Stelle hat grasen lassen, an der es sich nicht gehört, sie grasen zu lassen«, entgegnete sie und hob dabei ihre weißen Augenbrauen.

Bevor ich mit einer gescheiten Bemerkung hätte kontern können, mischte Gabe sich diplomatisch ein. »Ich muss meine acht Kilometer zu Ende laufen und duschen. Möchtest du, dass ich dich heute Abend abhole?«

»Nein«, sagte ich. »Ich muss schon früh im Oak Terrace sein, um die letzten Vorbereitungen zu beaufsichtigen. Also müssten wir uns dort treffen. Versuch bitte, nicht zu spät zu kommen.«

»Versuchen werde ich das.« Er beugte sich vor, um mich zu küssen, und griff dabei nach etwas, was hinten im Bund seiner Shorts steckte.

Er war schnell, aber nicht schnell genug.

In dem Moment, in dem ich seine Lippen auf meinen spürte, zog ich eine kleine grüne Wasserpistole hinter meinem Rücken hervor und schoss ihm damit in die Schläfe.

»Kopfwunde!«, brüllte ich. »Fünfzig Punkte. Ich habe gewonnen!«

»Okay, du Winzling, das ist dein Ende. Sollen die Würmer dich fressen.« Er spritzte mir das Wasser ins Gesicht.

»Das gilt nicht. Kopfwunde bedeutet, dass du außer Gefecht gesetzt bist. Du mogelst.« Ich erwiderte das Feuer mit kurzen, schnell aufeinanderfolgenden Wasserstößen.

»Ich werde euch beiden hier mal gleich die Leviten lesen«, schimpfte Dove. Sie hatte es eilig, aus der Schusslinie herauszukommen, wurde aber dennoch von einem Wasserstrahl getroffen.

Nach ein paar geschickten Ausweichmanövern seinerseits und ein paar kindischen Kreischausbrüchen meinerseits betätigte er seinen Abzug ein letztes Mal und wedelte alsdann mit seiner leeren roten Pistole.

»Ha!«, tönte ich und hielt ihm meine immer noch halb volle Waffe unter die Nase. »Sieht ganz so aus, als wäre dir die Munition ausgegangen.«

»Das macht nichts.«

Er verstaute seine Pistole wieder im Taillenbund seiner Shorts und ließ seine dunklen Augenbrauen wackeln. »Ich bin ein extrem flotter Nachlader.«

»Du bist ein großspuriger Bauernsohn.« Ich trat dichter an ihn heran und spritzte ihm das Wasser genau zwischen die Augen.

»Bauernenkel«, verbesserte er mich. »Und keine dummen Witze zu so früher Stunde, oder ich bin gezwungen, dich zu verhaften. Ich berufe mich einfach auf meinen Job und nehme hier höchstpersönlich eine Leibesvisitation vor.«

»Davon träumst du wohl, mein Freund.«

Elvia, die immer noch auf meinem Bett saß, räusperte sich. »Wenn man bedenkt, was er beruflich macht, ist das ein unglaublich krankes Spielchen. Ihr braucht einen richtig guten Therapeuten, und zwar beide.«

»Was die brauchen, ist etwas ganz anderes«, gab Dove nun auch noch ihren Senf hinzu. »Die müssen sich endlich entscheiden, was sie miteinander anfangen wollen, und es dann auch tun. Zu meiner Zeit hat man um Dinge nicht so viel Wirbel gemacht. Man hat geheiratet, die Ehe vollzogen, und dann ist man aufgestanden und hat die Hühner gefüttert.«

Mit plötzlich ernster Miene sah Gabe mich an. »Und damit ist der Handel jetzt geplatzt, Sweetheart«, erklärte er mir. »Das mit den Hühnern hast du mir nie gesagt.« Er drehte sich um und wollte gehen.

»Klugscheißer«, meinte Dove, griff nach dem Zollstock, der an der Wand lehnte, und schlug ihm damit mit Wucht auf den Hintern.

Eines muss ich ihm zugutehalten: Er zuckte nur unmerklich zusammen. Sein Nacken war zwar leicht gerötet, doch er hob, ohne den Schritt zu verlangsamen, zum Abschied seine große Hand.

Dove drehte sich um und fuchtelte nun mir mit dem Zollstock vor dem Gesicht herum. »Das Problem mit euch jungen Leuten heutzutage ist, dass ihr nichts mehr ernst nehmt. Und ihr denkt zu viel. Diskutiert alles zu Tode.« Sie fächerte sich mit der freien Hand Luft zu und steuerte auf die Küche zu. »Lieber Himmel, ich glaube, ich brauche eine Tasse Kaffee. Und wisch das Wasser von deinem Kleid, bevor das Flecken hinterlässt.«

Elvia gluckste leise vor sich hin. »Mein Bruder hätte für ein Foto von dem, was da gerade passiert ist, fünfzig Dollar bezahlt. Kannst du dir vorstellen, wie Miguel auf dem Polizeirevier ein Bild herumreicht, auf dem sein Boss von deiner Großmutter den Hintern versohlt kriegt? Unbezahlbar.«

»Dove hat vier Söhne, neun Enkel und zwei Urenkel«, erwiderte ich. »Vor männlichen Hintern hat sie keinerlei Respekt, das darfst du mir glauben.« Ich holte mir ein Handtuch aus dem Badezimmer.

»Nun sag aber mal«, meinte Elvia in beiläufigem Ton, »was ist denn inzwischen der Status zwischen dir und Gabe?«

»Quo. Es heißt Status quo.«

»Ja, ja, ich weiß … Also nichts?«

»Du hast es erfasst.« Ich tupfte das Wasser ab, das bewirkte, dass der gelbe Chiffon auf meiner Haut klebte.

»Das hört sich für mich so an, als würdest du nicht darüber reden wollen.« Sie stand auf und strich sich eine imaginäre Fluse vom Oberschenkel. »Das verletzt mich zutiefst. Wir sind seit der zweiten Klasse miteinander befreundet. Wir haben einander immer alles erzählt.«

Ich ging über diese Bemerkung hinweg und hob die Arme, um den Reißverschluss meines Lampenschirmkleides aufzuziehen. Meine Beziehung zu Gabe war ein Thema, über das ich im Moment noch mit niemandem reden wollte, nicht einmal mit meiner besten Freundin. Die Vorstellung, eine neue Partnerschaft einzugehen, verwirrte mich und machte mich nervös, und wenn ich in einem derartigen Zustand war, neigte ich dazu, mich wie eine Schildkröte in meinen Panzer zurückzuziehen, bis ich wusste, was ich wollte. Es war nicht nur der körperliche Teil, der mir Angst machte, obwohl ich bereits die Vorstellung furchterregend fand, mich vor einem anderen Mann nackt auszuziehen, nachdem ich nahezu mein gesamtes Leben mit meiner Jugendliebe verheiratet gewesen war. Was mich wirklich ängstigte, war der emotionale Teil. Ich war mir nicht sicher, ob ich einen Menschen jemals wieder so lieben wollte, wie ich Jack geliebt hatte. Es tat zu weh, wenn sie einen verließen. Zum Glück hatte Gabe mich noch nie bedrängt, außer einmal im Scherz. Er war seit sieben Jahren glücklich geschieden und wusste nicht einmal, ob er in San Celina bleiben würde. Bei seinem Freund Aaron Davidson, dem offiziellen Polizeichef von San Celina, war vor ungefähr vier Wochen Leberkrebs diagnostiziert worden. Gabe und ich hatten beide unsere Gründe, Gespräche über die Zukunft zu vermeiden. Ich stieg aus dem Kleid und griff nach meiner Flanellbluse.

»Aber hör mal, da wir gerade über dein Liebesleben sprechen … rate mal, wer wieder in der Stadt ist?« Ein verschmitztes Funkeln lag in Elvias schwarzen Augen.

»Vergiss mein Liebesleben! Wer?«

»Clay O’Hara.«

»Machst du Witze?« Ich setzte mich auf die Bettkante und zog mir meine Jeans an. Clay O’Hara. An den hatte ich seit Jahren nicht mehr gedacht, obwohl ich wusste, dass er Brady O’Haras Großneffe war. Als ich siebzehn und aus irgendeinem Grund, an den ich mich heute gar nicht mehr erinnern kann, sauer auf Jack war, war Clay einen ganzen Sommer lang die Liebe meines Lebens gewesen. Clay O’Hara mit den langen, dichten Wimpern, den braunen Augen und dem Blick eines verwundeten Tieres, den rotblonden Koteletten und dem dreisten Grinsen eines Piraten. »Ich frage mich, was der hier treibt.«

»Er kümmert sich offenbar um die Finanzen seines Onkels. Er ist gestern in die Buchhandlung gekommen. Als er mich erblickte, ist er sofort auf mich zugesteuert, und in der ersten Frage, die er mir gestellt hat, ging es um dich.«

Ich knöpfte meine Bluse zu und versuchte, meiner Stimme einen beiläufigen Ton zu verleihen. »Was hat er denn gefragt?«

Sie inspizierte ihre langen roten Acrylnägel. »Er wollte wissen, wo du jetzt wohnst. Was du machst. Und ich habe ihm nur erzählt, wo du arbeitest. Das mit Jack wusste er.«

Ich konnte mich nicht beherrschen und stellte die Frage, die auf der Hand lag. »Wie sieht er aus?«

»Eigentlich recht gut. Seine Haare hat er noch. Und dieses unwiderstehliche Lächeln. Erinnerst du dich an diesen Abend, an dem er, ohne dazu eingeladen worden zu sein, auf dem Abschlussball aufgetaucht ist und sich mitten im Tanz zwischen dich und Jack geschoben hat? Wenn Jack an dem Abend sein Klappmesser dabeigehabt hätte, würde Clay O’Hara jetzt im Himmelschor singen.«

Wir grinsten einander an. Besagter Abend endete für beide mit blutunterlaufenen Prellungen der Fingerknöchel und geschwollenen Lippen, und ich bekam von beiden keinen Gutenachtkuss.

»Das ist alles schon so lange her«, sagte ich und steckte meine Bluse in die Jeans. »Er ist vermutlich verheiratet und hat sechs Kinder.«

»Er hat nicht den Gang eines verheirateten Mannes.«

»Was soll denn das heißen?«, lachte ich und warf eines meiner Patchworkkissen nach ihr. »Du bist ein richtiger Besserwisser, Elvia Aragon.« Ich schaute auf meine Armbanduhr. »Mist, ich mus los. Ich muss Gabes Anzug abholen und dann kurz zum Oak Terrace, damit gewährleistet ist, dass diese jungen Leute da auch wirklich die Dekorationen aufbauen. Und da ich vergessen habe, Gabe von Oralee und Mr O’Hara zu erzählen, schreibe ich ihm das besser alles auf einen Zettel.«

»Anzüge abholen, tsss«, zischte Elvia leise vor sich hin, »das klingt für meine Ohren nach trautem Eheglück.«

»Ich habe auch für dich schon einige Male Sachen aus der Reinigung geholt«, erinnerte ich sie. »Ich bin all meinen Freunden gegenüber äußerst fürsorglich.«

»Nun ja, halt dir immer schön vor Augen, dass ein gewisser Polizeichef bei den ledigen Damen dieser Stadt ein ziemlicher Kassenschlager ist. Du solltest also zwischendurch, wenn du nicht gerade damit beschäftigt bist, einen Streit zwischen Senioren zu schlichten oder Punsch auszugießen, immer mal wieder ein Tänzchen mit ihm einschieben. Du könntest sogar erwägen, die heutige Nacht unvergesslich für euch zu machen.«

»Ziemlich abgeschmackt, Elvia. War das nicht das Motto des Abschlussballs? Ich frage mich, wie lange sie gebraucht haben, bis ihnen dieses verbale Kleinod eingefallen ist.«

»Halt deine Zunge im Zaum, ich war Vorsitzende des Ballkomitees. Außerdem … für dich war es eine unvergessliche Nacht.«

»Wem sagst du das!« Es war nicht nur zu dem Kampf zwischen Clay und Jack gekommen, Jack hatte mir an jenem Abend auch zum ersten Mal seine Liebe gestanden. Seine Lippen war so geschwollen, dass er den Mund kaum bewegen konnte, und trotzdem gelang es ihm, »Ich liebe dich« zu sagen. Zwei Tage später trennten wir uns und waren den Rest des Sommers nicht mehr zusammen. »Ich kann nicht fassen, dass das schon siebzehn Jahre her ist.«

»Weißt du, dieser Ball heute Abend hat etwas an sich, was mir irgendwie bekannt vorkommt. Ich habe das gespenstische Gefühl, dass das wieder eine Nacht wird, die du niemals vergessen wirst.«

»Das kann schon sein. Aber wahrscheinlich nicht so, wie du dir das vorstellst.«

Und wie es so häufig in unserer Freundschaft der Fall war, sollten wir beide recht behalten.

2

Das Seniorenheim Oak Terrace lag anderthalb Kilometer außerhalb der Innenstadt von San Celina an einem sich windenden zweispurigen Highway, der nach Morro Bay führte. Die Anlage, die aus fünf lachsfarbenen, im spanischen Missionsstil errichteten Gebäuden bestand, befand sich auf einer kleinen Anhöhe, die auf der einen Seite an Alfalfafelder angrenzte und auf der anderen an von Buschwerk bewachsenes Weideland, auf dem hie und da weißgesichtige Jährlinge grasten. Das bot jedem, der in dem englischen Rosengarten saß – einem beliebten Treffpunkt für Pfeifenraucher und Quasselstrippen –, den man vor dem Verwaltungstrakt angelegt hatte, einen Blick, als säße man auf dem Dach einer Postkutsche.

Als ich um vierzehn Uhr dort eintraf, dekorierten Ramon und seine Kommilitonen bereits seit etwas mehr als einer Stunde. Sie waren damit beschäftigt, die normalerweise bieder aussehende Kombination aus Aufenthaltsraum und Speisesaal des Altenheims mit leuchtend gelbgrünen und grell pinkfarbenen Luftschlangen und mit Helium gefüllten Luftballons in eine Partylandschaft zu verwandeln. Was diese Dekoration mit dem Bürgerkrieg zu tun hatte, ließ sich zwar selbst mit Mühe nicht erklären, doch die hellen Farben verliehen dem Raum in jedem Fall ein fröhlicheres und festlicheres Aussehen. Ich drückte dem Erstbesten, der mir über den Weg lief, die Taschen mit dem Apfelstrudel und den Pommes frites in die Hand, die ich bei McDonald’s für die Studenten gekauft hatte, und schnappte mir das Klemmbrett, aus dem hervorging, wer mit welcher Aufgabe betraut war. Am anderen Ende des Saales kämpfte Ramon mit zwei Säulen aus in Weiß und Gold gehaltenem Pappmaschee, einer Leihgabe der Schauspielabteilung der Cal Poly.

»Der Schiefe Turm von Tara«, witzelte er, als er mich kommen sah. Ich zog an dem langen, dicken Pferdeschwanz, der über dem Rückenteil seines von Motten zerfressenen schwarz-grün karierten Wollhemds von Pendleton hing. Diese Haare und diese Trödelladenklamotten, die er so gern trug, trieben seine fünf eher konservativ veranlagten älteren Brüder und seinen in Mexiko geborenen Vater in den Wahnsinn, was natürlich der Grund dafür war, dass er so herumlief.

Jedes Mal, wenn er die linke Säule losließ, bog sie sich gefährlich nach vorn, als wäre das ihre einzige Chance, dem Nordwind zu trotzen. Einer der Rollstuhlfahrer brauchte bloß die Kontrolle über sein Gefährt zu verlieren und dem Teil einen leichten Stups zu versetzen, und schon würde es umfallen wie ein Mammutbaum, den man dazu auserkoren hatte, zu Picknickbänken zu werden.

Wir versuchten, in der Ecke des braun gefliesten Saals – gleich neben dem offenen Kamin aus weißen Ziegelsteinen – die Veranda von Scarletts geliebtem Elternhaus nachzustellen. Die beiden Säulen, Relikte einer von der Schauspielabteilung produzierten Neuinszenierung von Ich, Claudius, die weder beim Publikum noch bei den Kritikern sonderlich gut angekommen war, bildeten die Kulisse für Erinnerungsfotos. Daneben hatte man zwei weiße Rattanstühle und einen Bühnenprospekt platziert, der mit einer eleganten Eingangstür und zweifelhaften Nachbildungen von Rhett und Scarlett bemalt worden war.