Der Farblose Wald - Richard Kunstmann - E-Book

Der Farblose Wald E-Book

Richard Kunstmann

0,0

Beschreibung

Merchants Hope ist im Umbruch. Rebellische Jugendgruppen werden vom Fürsten zerschlagen und in der Nervenheilanstalt des Stadtstaates ruhig gestellt. Doch einem Jugendlichen gelingt es den Häschern zu entkommen. Gemeinsam mit dem selbstgefälligen und eigensinnigen Troll Vel-hala begibt er sich auf sein größtes Abenteuer. Die mysteriöse Welt von Forest Dale wartet bereits auf ihn.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 452

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

1. Jugendliche Rebellion

2. Das alte Theater

3. Ein grandioser Plan

4. Weiße Wände

5. Jäger und Gejagte

6. Elisabeth

7. Fergus

8. Archiatreno, der Medicus

9. Der neue Plan

10. Ein wilder Ritt

11. Flussaufwärts

12. Vel-hala

13. Von Nichtsnutzen und Tagedieben

14. Am Lagerfeuer

15. Probatorik

16. Der Tiefe Wald

17. Die Traumtänzerei

18. Arten von Dunkelheit

19. Weiße Wände II

20. Von Zollburg-Edelhausen

21. Schneegestöber

22. Der Thing

23. Die Büchse der Pandora und ein neuer Plan

24. Theorie und Praxis

25. Der Farblose Wald

26. Kreative Kommunikationsketten

27. Gemeinsam einsam

28. Die große Schlacht

29. Nach der Flut kommt die Ebbe

30. Alte Bekanntschaft

31. Das Himmelstor

32. Die Höhle zur Burg Jote

33. Per Nussschale in die Nervenheilanstalt

34. Erinnerungen

35. Die Falle

36. Rollenübernahme

37. Ein Ausblick

1. Jugendliche Rebellion

Freyastag, der 10.15.4240 n. B.

„Also steht die Tugend und ebenso auch das Laster in unserer Gewalt. Denn wo das Tun in unserer Gewalt ist, da ist es auch das Lassen, und wo das Nein, da auch das Ja. Wenn also das Tun des Guten in unserer Gewalt steht, dann auch das Unterlassen des Bösen; und wenn das Unterlassen des Guten in unserer Gewalt steht, dann auch das Tun des Bösen.“ - Aristoteles

Der gedämpfte, im Wind flackernde Lichtschein der Laterne warf im Dämmerlicht der untergehenden Sonne unruhig tanzende Schatten an die braunroten Backsteinwände der Gebäude. Es war Abend geworden im kleinen Stadtstaat Merchants Hope.

Eine mächtige, schwindelerregend hohe Gebirgskette umspannte das weitläufige Tal. Schon am späten Nachmittag verschluckte sie die Sonne hinter ihren schneeweißen Gipfeln. Den nordwestlichen Teil des Gebirges nannte man die Wolkenberge. Im Süden lag das Totenmassiv und im Osten befand sich das sogenannte Himmelstor.

Der Wind pfiff scharf durch die eng stehenden Häuser und übertönte die Lärmkulisse, welche aus der angrenzenden, zu dieser Zeit rege besuchten Flaniermeile zu Tjara herüberdrang. Ihre klobigen Stiefel schmatzten leise im aufgewühlten, schlammigen Morast. Nach den starken Regenfällen in den letzten Tagen waren die unregelmäßig gepflasterten Wege in der ganzen Stadt im Dreck versunken.

Tjara sah nur Toivos Silhouette an der Gabelung der düsteren, engen Gasse stehen. Er bewegte sich nicht. Tjara wäre niemals auf die Idee gekommen, dass dort eine Person verweilte. Doch sie hatte ja mit ihren eigenen Augen gesehen, dass Toivo sich erst vor einigen Momenten dort postiert hatte. Sie blieb stehen und schaute noch einmal zurück, den sporadisch angelegten Weg hinab, den sie gerade erst hinaufgelaufen waren. Die tiefen Abdrücke ihrer Stiefel hinterließen eine deutlich erkennbare Spur auf dem sumpfigen Boden.

Obwohl der Weg nur eine geringe Steigung besaß, gab sie auf jeden ihrer Schritte acht, um nicht auszurutschen. Die Erdmasse war durch die andauernden Regenfälle aufgeweicht und der Untergrund schlammig.

Ein kalter Schauer fuhr ihr in die Glieder. Sie zog die klamme Kapuze ihrer kürzlich gestohlenen Felljacke tiefer ins Gesicht. Allmählich bereitete ihr das unangenehme Wetter Sorgen. Sie spürte den nahenden Herbst und niemand aus ihrer kleinen Gruppe besaß genügend Silberlinge, um angemessene Kleidung dafür zu beschaffen. Doch genau dafür waren sie heute hier.

Tjara schloss zu Toivo auf, der immer noch regungslos an der Ecke kauerte. Sie drängte sich, behutsam auf ihren eigenen Schatten achtend, neben ihn an das Ende des kleinen Hauses. Es war das letzte Gebäude in der schrägen Gasse. Sie musste keine Worte mit Toivo austauschen, um die Situation verstehen zu können. Sie kannte den impulsiven, ansonsten schwer berechenbaren Jungen mittlerweile gut genug. Er hätte sicherlich gesagt oder gezeigt, wenn sich die Situation entgegen des Plans verändert hätte.

Die Straße vor ihnen war offensichtlich besser gepflegt. Hier spielte sich das abendliche, bürgerliche Leben der Stadt ab. Es öffneten gerade die kleinen Tavernen und Gastwirtschaften, von denen ein würziger Duft bis an die Stelle zog, an der Toivo und Tjara verborgen standen. Aus ihren Fenstern fiel warmes Licht nach draußen und versprühte eine angenehme, einladende Atmosphäre. Diejenigen Bewohner Merchants Hopes, die es sich leisten konnten, schlenderten nach getaner Arbeit in schillernden Gewändern und mit auffälligen Kopfbedeckungen durch die hell beleuchteten Hauptstraßen.

Der Stand der Menschen konnte an dem abgelesen werden, was sie auf dem Kopf trugen. Je höher und ausgefallener die Hüte und Mützen, Perücken und Tierfelle auf den Häuptern aufgerichtet waren, desto wohlhabender und angesehener mussten die dazugehörigen Personen sein.

Zwischen den Menschen stapften vereinzelte, schwer beladene Trolle von einer Wirtschaft zur nächsten. Einige zogen dabei unhandliche, sperrige Karren mit Fässern voller Bier oder Wein über das besudelte Kopfsteinpflaster. Trolle waren in Merchants Hope ausschließlich Diener und Handlanger. Sie galten als unfreie Wesen, die aufgrund ihrer Physis für den anstrengenden Transport von Waren und anderen niederen Arbeiten geschaffen schienen. Einem normal großen Erwachsenen gingen sie vielleicht bis zur Brust. Doch sie waren muskulös und stämmig gebaut. Mit ihren wulstigen Pranken konnten sie ohne Probleme ein Loch in eine Holzwand schlagen.

Tjara hatte gehört, dass außerhalb der Stadtmauern freie Trolle lebten. Die eigensinnige Logik dahinter, warum ein Mensch sich über andere Wesen erhob, ging ihr natürlich auf. Es ging darum, sich selbst Vorteile zu verschaffen. Doch es war für Tjara unvorstellbar, wie man so ein Verhalten vor sich selbst rechtfertigen konnte.

Unverhofft kam Bewegung in die Szenerie und riss Tjara aus ihren Gedanken. Gondo und ein weiteres Kind, das sie nicht kannte, kamen auf ihr Versteck zugestürmt.

„Toivo“, keuchte Gondo nach Luft schnappend. „Sie sind weg. Sie sind alle weg. Eine Patrouille der Stadtwache steht vor ihrem Versteck.“

Toivos Blick war finster, doch er schwieg.

Tjara spürte wie die Enttäuschung in ihr Aufstieg. Das bescherte ihrem Plan ein jähes Ende. Sie hatten sich mit einer befreundeten Gruppe Kinder verabredet. Doch diese war nicht am vereinbarten Treffpunkt erschienen. Also waren sie zu ihrem Versteck gegangen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.

„Vermutlich haben die verfluchten Kinder der Privatschulen sie verraten“, wandte Toivo ein. Gondos Augen blitzten kampfeslustig auf und er nickte zustimmend. Tjara wusste, dass es eine körperliche Auseinandersetzung zwischen ihnen und den Kindern aus dem Internat der Privatschule gegeben hatte. Seitdem hatten sich die reichen Schnösel auf die Fahne geschrieben, die Unterschlüpfe der marodierenden Kinderbanden aufzuspüren. Toivo meinte, dass sie das taten, um sie feige an die Stadtwache zu verraten.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Tjara in die Runde. Betreten standen die vier Kinder in der kleinen Gasse. Der Junge, der mit Gondo gekommen war, strich sich den Schweiß aus dem verschwitzten Gesicht. Er hatte ein rundes Gesicht und helle, blonde Locken.

„Hier wimmelt es nur so von Stadtwachen. Die ganze Stadt ist ein Haufen voller brutaler Wachleute, hinterhältiger Spitzel und feiger Petzen! Wir gehen zurück“, fluchte Toivo.

„Ja genau! Wir gehen zurück und dann ernähren wir uns von Luft und Liebe“, spottete Gondo aufgebracht.

„Du weißt genauso gut wie wir, dass es so keinen Sinn ergibt“, beschwichtigte ihn Tjara.

„Lass uns zurückgehen.“

Der Junge mit den Locken boxte ihn freundschaftlich auf den Oberarm und deutete mit dem Kopf in die Richtung von Tjara. Gondo zuckte genervt die Schultern und stimmte zu:

„Worauf warten wir dann noch?“

Toivo machte auf dem Absatz kehrt und ging sicheren Schrittes zurück in die verschlammte Gasse. Tjara ließ Gondo vor und folgte als Letzte. Der fremde Junge grüßte Gondo zum Abschied mit einem herzlichen Blick und verschwand dann im Getümmel der Hauptstraße.

2. Das alte Theater

Freyastag, der 10.15.4240 n. B.

„Die Gegenwart existiert nur in der Natur; Vergangene Dinge haben ihr Sein nur im Gedächtnis; Aber die Dinge, die kommen sollen, haben keine Existenz, denn die Zukunft ist nichts anderes als eine Fiktion, die der Fabrikgeist den gegenwärtigen Handlungen die Konsequenzen zuschreibt, denen die Handlungen der Vergangenheit folgen.“ Thomas Hobbes

Sie saßen wieder alle zusammen im Hauptquartier. Zumindest nannten Tjara, Toivo und ihre Freunde den von ihnen besetzten Unterschlupf so.

Soweit Tjara wusste, war das Hauptquartier eigentlich ein prominentes Theater. Jedenfalls war es das früher einmal gewesen. Jetzt glich es viel mehr einer herabgewirtschafteten Ruine, die nur noch vage durchscheinen ließ, was sie in vorangegangenen Jahren an Glanz besaß. Die Fenster waren durch lieblos angebrachte Bretterverschläge ersetzt, der Putz bröckelte von den fleckigen Wänden und der Staub lag in dicken Flocken auf den einst kaschmirroten Polsterstühlen des großen Saals. Selbst der, in der Vergangenheit sicherlich prachtvoll auftrumpfende, riesige Vorhang, welcher die Bühne einrahmte, hing nur noch in verblassten Fetzen von der schier endlos hohen, gewölbten Saaldecke.

Früher hatten sie hier bestimmt berühmte Stücke der hiesigen Kunstepoche aufgeführt, dachte Tjara. Jedenfalls hatte Toivo in einem der Hinterzimmer Plakate gefunden, welche in einst schillernden Farben und mit großen Druckbuchstaben Premieren und Aufführungen aller Art ankündigten. Tjara glaubte allerdings insgeheim, dass es nicht so gut gewesen sein konnte, ansonsten hätten sie den prunkvollen Laden ja nicht schließen müssen. Das war aber auch nicht ihr Problem.

Das Hauptquartier lag im angrenzenden Kellergewölbe des alten Gemäuers, durch lange teilweise eingestürzte Gänge weit entfernt vom großen Aufführungssaal, der einmal das pulsierende Herz des Etablissements darstellte. Der mittelgroße, schlecht beleuchtete Raum, in dem sie saßen, war früher ein Planungszimmer der Regisseure. Jetzt hatten sich die Kinder diesen nach ihren spärlichen Möglichkeiten weitgehend hergerichtet. Einer der Gründe, warum sie diesen unscheinbaren Raum am Ende des Ganges gewählt hatten, war, dass die massive Tür als eine der wenigen im Haus schon zum Zeitpunkt ihres spontanen Einzugs intakt war. Das lange, rechtwinklige Sofa bekam einige Stoffdecken als Bezug übergeworfen, so dass man die verschlissenen Sitzpolster nicht mehr sehen konnte.

Tjara hatte drei der besten Stühle, welche sie im Theater gefunden hatte im Halbkreis um ihr eigenhändig renoviertes Sofa gestellt. Abgeschlossen wurde die minimalistische Einrichtung der provisorischen Sitzecke durch eine altmodische Standlaterne, welche jedoch regelmäßig ausfiel, da sie nicht immer genug Lampenöl zum Entzünden des Dochts auftreiben konnten.

Nun saßen sie im Sonnenuntergang in der Sitzecke, über ihnen das einzige mit Glas bestückte Fenster im gesamten Gebäude. Von innen hatten sie ein dünnes Stofftuch davor gehangen. Dadurch blieb es verhältnismäßig warm und ein Schimmer grünlichen Lichts gelang in den schummrigen Raum. Dennoch konnte niemand Ungebetenes von außen hineinschauen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes lagen einige zerschlissene Matratzen auf dem kahlen Holzboden.

Gondo, der Tjara gegenübersaß, spielte schweigend und gelangweilt mit einer Strippe abgegriffenen Garns zwischen seinen grobschlächtigen Fingern. Es gab nicht viel zu bereden. Der Tag neigte sich dem Ende zu und das letzte Licht, das die herabsteigende Sonne noch durch das Fenster warf, genügte nicht mehr, um sich gegenseitig in die Augen zu schauen. Wir hätten das Fenster nicht zuhängen brauchen, dachte Tjara, denn die Stehlampe war aus. Von außen wäre es auch ohne das Stofftuch nicht möglich, in den dunklen Keller zu schauen. Das übriggebliebene Lampenöl war schon vor einigen Tagen ausgebrannt und sie hatten keines mehr auf Vorrat.

„Wo ist Thegn?“ Tjara richtete das Wort an Toivo.

Er blieb oft ein paar Tage weg, daran waren sie gewöhnt, doch so lange war er noch nie untergetaucht. Er pflegte Kontakte in der Stadt, über die er ihnen nie etwas erzählte. Tjara wusste nicht einmal, ob Thegn sein richtiger Name war. Jedoch interessierte sie das auch wenig. Hier gingen viele verlorene Kinder ein und aus. Einige blieben für Tage, andere länger.

„Wir haben andere Probleme“, antwortete Toivo vielsagend.

Tjara wusste das. Ihre kleine Bande, welche nur eine von mehreren Zusammenschlüssen von mittellosen Jugendlichen im aufsteigenden Stadtstaat Merchants Hope war, besaß gerade schlechte Karten. Der Ort war im Aufschwung. Der intelligente Fürst, der von seinem auswärtigen, prunkvollen Wohnsitz aus Merchants Hope regierte, erschuf ein regelrechtes Kunstimperium.

Ein mäßig begabter Künstler namens Delasstikonara starb vor wenigen Jahren. Tjara vermutete, dass der Tod erst kurz nach 4200 n. B. gewesen sein musste. Es geschah unter ungeklärten Umständen und parallel erwachte der Ruhm des Malers posthum zum Leben. Seitdem kamen die Menschen scharenweise mit ihren pferdegezogenen Kutschen vom ganzen, weiten Kontinent und erstanden eifrig noch vorhandene Öl-Gemälde zu unverschämt hohen Preisen. Das staatstreue Museum veranstaltete Sonderausstellungen und Versteigerungen. Die Besucher brachten Silberlinge in die heruntergekommenen Tavernen und aufkeimenden Flaniermeilen.

Reiche Menschen und solche, die es werden wollten, siedelten sich in Flussnähe an und steckten ihre überschüssigen Silberlinge in das graue Stadtbild, junge Künstler und die mittlerweile militärisch organisierte Stadtwache. Letzteres sehr zum Leidwesen von Tjara und ihren Freunden.

Die ehemaligen Grenzen der kleinen Stadt wurden regelrecht gesprengt und außerhalb des Mauerrings bildeten sich sporadische Vororte und Armenviertel, während der ungehemmte Trubel auf dem Marktplatz ins Unermessliche wuchs. Doch profitieren konnten davon nur die, denen es vorher schon gut ging. Die Stadtwache hingegen drangsalierte all jene, welche nicht den reichen Elternhäusern der Oberschicht angehörten.

Gondo schnaubte verächtlich. Er stand auf und verließ fast lautlos den Raum. Die massive Tür schloss sich rasselnd hinter ihm. Tjara starrte ihm gedankenverloren hinterher.

Sie kannte seine Vergangenheit nicht besonders gut und glaubte, dass er schon immer auf der Straße lebte. Es wirkte jedenfalls für sie so, da er klaute, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan und sprach als hätte er noch nie eine Schule von innen gesehen. Seine kleine und schmale Statur war ihm dabei stets behilflich. Tjara fand, dass sein Gesicht die Personifikation eines Niemands abbildete. Ihn zu beschreiben fiel ihr schwer, denn die kurzen, schwarzen Haare und die braunen, eigenschaftslosen Augen ließen keine markanten Aussagen zu. Dadurch konnte er in der Masse untertauchen wie kein Zweiter. Er gehörte genauso wie Tjara zum kleineren Teil der Gruppe, der wirklich hier, auf den alten, schimmelnden Matratzen im Hauptquartier schlief. Gondo kam wieder durch die Tür und fläzte sich auf das Sofa.

„Und jetzt?“, fragte er, den Blick auf Toivo geheftet.

„Wir ziehen das durch“, antwortete Toivo ihm lakonisch. Dann wandte er sich an den Rest der Gruppe: „Heute Abend stürmen wir gemeinsam und siegreich die Privatschule! Für unsere Freunde.“

3. Ein grandioser Plan

Freyastag, der 10.15.4240 n. B.

„Es ist ausgeschlossen, dass alle Verhältnisse gut sind, solange nicht alle Menschen gut sind, worauf wir ja wohl noch eine hübsche Reihe von Jahren werden warten müssen.“ - Thomas Morus

Gerade kamen zwei Kinder um die Hausecke am Ende der Seitenstraße gerannt. Sie erreichten ziemlich außer Atem die Gruppe. Diese bestand, mit den beiden Neuankömmlingen, nun aus sieben Kindern, von denen noch keines die Volljährigkeit erreicht hatte. Sie erstatteten Bericht über die Lage nicht weit östlich des Marktes, wo sich das protzige Internat der privaten Schule befand.

Tjara wusste, dorthin gingen die Kinder, deren Eltern nicht in Ungnade gefallen waren. Der Fürst maß seine Bürgerinnen und Bürger nicht an ihrem Besitz oder ihrem Wohlstand. Für ihn zählte ausschließlich ihre Treue und Untergebenheit.

Jedoch besuchten Kinder, die ihren Eltern bei der Arbeit zur Hand gehen mussten, die Schule nur unregelmäßig. Ins Internat aufgenommen wurden hingegen nur die, welche von den Höfen und Landsitzen außerhalb der Stadt kamen und zuhause auch nach der Schule nicht aushelfen brauchten. Sie profitierten vom Reichtum, den ihre Eltern besaßen und ließen sich pragmatisch in die vom Fürsten inszenierten Rollen einbinden. Sie übernahmen später die hohen Stellen in den Ministerien oder der Stadtwache. Dort dienten sie treu den Wünschen des Fürsten. Tjara vermutete, dass das für Toivo wohl schon Anlass genug war, ihnen eine gehörige Abreibung zu verpassen.

Im fahlen Laternenlicht standen die Kinder im Halbkreis um Toivo herum und erwarteten die Anweisungen. Der Rauch des verbrannten Tabaks dimmte das Licht. Tabak war neben dem Alkohol die einzig zugängliche Droge für mittellose Kinder wie sie es waren. Alkohol war bei ihrer Gruppe jedoch außerordentlich verpönt, denn er hemmte die Einsatzfähigkeit und schwächte den klaren Geist, wie Toivo oft genug referierte.

„Sie sitzen am Fluss nördlich vom Internat an einer festlich gedeckten Tafel und betrinken sich“, sagte nun einer der beiden Jungen noch etwas außer Atem. Er sah noch sehr jung aus, hatte blonde, verwuschelte Haare und trug einen viel zu großen dunkelbraunen Mantel.

„Wie viele sind es genau, Thegn?“, fragte Toivo nach.

„Acht Jungs und ein Mädchen“, antwortete der blonde Junge.

„Halbe Hemden!“, ergänzte der zweite, etwas älter aussehende der beiden Jungen großkotzig.

Toivo zog die Stirn in Falten und grübelte. Dann antwortete er:

„Obwohl wir in der Unterzahl sind, sprechen die Umstände für uns. Die Stadtwache ist nicht zu sehen. Der Mond ist von Wolken bedeckt und es ist kühl. Somit sind wenig Passanten auf den Straßen und die Dämmerung wird uns genügend Dunkelheit schenken. Wir gehen sofort los!“

Die Ansprache löste Gemurmel in den Reihen der Kinder aus. Einige nickten eifrig.

„Über die kleine Gerberbrücke und dann hinter dem Internat entlang. Damit sie uns erst sehen können, wenn es für sie längst zu spät ist. Je mehr wir von den Schnöseln im Sitzen erwischen, desto weniger Gefahr laufen wir, selbst Schläge zu bekommen. Alle verstanden?“

Zustimmendes Gemurmel. Ein Gefühl von Euphorie breitete sich in der Gruppe aus. Toivo ging vor und die Kinder hängten sich an seine Fersen. Tjara bildete den Schluss. Sie hatte die Aufgabe bekommen, sich stetig zu vergewissern, ob sie von der Stadtwache oder Passanten beobachtet wurden. Diese Aufgabe war neu für sie, doch sie selbst hatte Toivo darum gebeten. Er gestand ihr nur selten Verantwortung zu, obwohl sie eine der ältesten war. Doch Tjara war kein Kind von Traurigkeit und wusste, wie man sich die gewünschten Dinge besorgte, wenn sie nicht freiwillig herausgerückt wurden.

Sie konzentrierte sich wieder, denn heute durfte sie sich keinen Fehler erlauben, wenn sie in Zukunft weiterhin mitreden wollte. Und das wollte Tjara. Ihr scharfer Blick überflog die Gruppe. Im Moment waren sie alleine in den engen, grob gepflasterten Gassen, die sich durch das Viertel der Gerber zogen. Dann durch die kleinen, ärmlichen Häuschen bis hin zur Gerberbrücke und darüber hinaus wie Tunnel in einem Ameisenhaufen.

Die meisten der hölzernen Fensterläden waren schon verschlossen. Damit wollten die Menschen verhindern, dass die aufziehende Kälte des Herbstes in die Häuser gelang. Wer nicht zuhause war, der war in der Schenke. In den Abendstunden wollten die Männer des Viertels nichts anderes mehr sehen als die alte, verrauchte Schenke ein paar Gassen weiter südlich. Dafür war die schweißtreibende Arbeit der Gerber, die schon in den frühen Morgenstunden begann, zu ermüdend.

Somit hatten die Kinder freies Geleit. Die gebogene Brücke führte über den schmalen Fluss Wolkenstrom hinweg und knirschte vor Altersschwäche, schon bevor der Erste der Gruppe sie betrat. Der Fluss war trüb, bräunlich und stank bestialisch. Tjara verabscheute diesen unangenehmen Geruch. Im Sommer ließ sich der Gestank noch weniger aushalten, wenn die Hitze den vielen Bakterienkulturen optimale Bedingungen verschaffte.

Doch auch jetzt konnte der sanfte Strom nicht wegspülen, was die Bewohner der Stadt täglich hineinkippten. Der sich angesammelte Müll der Stadtbewohner leuchtete ölig-glänzend im Dämmerlicht. Er hing in den Mulden, die sich am Ufer bildeten.

Die Stille des Abends wurde von einer Schimpftirade durchbrochen, die einem der älteren Jungen entfuhr, als er am Brückenende laut platschend in eine der schlammigen Abfallpfützen trat. Ein Mädchen fing prustend an zu lachen, woraufhin sie einen zornigen Blick als Antwort bekam.

„Bewegt euch“, zischte Tjara eindringlich und stieß die beiden unsanft weiter. Für so einen Schabernack haben wir jetzt weder Zeit noch Nerven, dachte sie gereizt. Ihr ganzer Körper bebte vor Nervosität.

Das letzte Licht der untergehenden Sonne erzeugte einen bizarren Eindruck als sie ein paar Minuten später hinter dem feudalen Internat ankamen. Sie versteckten sich hinter der Mauer des Gebäudes.

Tjara konnte die Anspannung in der Gruppe deutlich spüren. Niemand sagte mehr etwas. Alle warteten darauf, dass Toivo das ersehnte Kommando zum Angriff auf die verhassten Kinder des Internats gab. Die Kinder hatten keinerlei Waffen dabei. Sie hielten zwar nichts von Fairness im Kampf, jedoch war das Tragen von Waffen in Merchants Hope unter Todesstrafe verboten. Sie vertrauten ohnehin nur auf ihre eigenen physischen Kräfte.

„Und los!“, zischte Toivo das Kommando und sprang anfangs noch leicht gebückt mit großen Schritten voran. Er rannte um die Ecke des Gebäudes und nahm volles Tempo auf.

„Halt! Die Stadtwache!“, schrie Tjara, die die helle Handlaterne des fürstlichen Prügeltrupps erspähte. Gerade noch rechtzeitig, bevor auch sie um die Ecke war. Diejenigen, welche weiter hinten im Pulk liefen, stoppten ab und zögerten unsicher. Währenddessen krachte Toivos Schuhsohle schon frontal auf das blasse Gesicht eines älteren Jungen. Dieser hatte noch ungelenk versucht aufzustehen, nachdem er den wütenden, herannahenden Mob bemerkte. Unter einem unappetitlichen Knacken ging das Nasenbein des Jungen zu Bruch.

Tjara sah, wie er unter der geballten Wucht, mit der Toivo in ihn hineingesprungen kam, rücklings auf die lange Tafel fiel, an der er eben noch gegessen und gefeiert hatte. Geschirr und Besteck klirrte. Ein halbgefüllter Krug wurde von der Tischkante gestoßen und zersprang am Boden in unzählige Stücke. Der Getroffene blieb regungslos liegen. Einen unendlichen Moment lang lag absolute Stille über der Wiese, welche das Internat mit dem Fluss verband. Dann entflammte der ohrenbetäubende Lärm der beginnenden Schlägerei. Tjara wusste, das Überraschungsmoment war verschenkt. Nur vier der sieben Kinder waren zielgerichtet und planmäßig auf die Internatsbuben losgestürmt. Tjara und die anderen beiden waren vorerst unentschlossen an der Hausecke stehen geblieben.

„Drauf, drauf, drauf!“, kreischte Tjara verzweifelt, als sie ihre Schockstarre überwunden hatte.

Nun war es zu spät, um abzuhauen! Sie mussten ihren Freunden beistehen. Stadtwache hin oder her. Wirre Gedanken schossen durch Tjaras Kopf wie ein Kugelhagel. Was sollten sie tun?

Bis auf den Jungen, der bewusstlos auf dem Tisch lag, waren alle Angegriffenen mittlerweile aufgesprungen und eilten um die Tafel herum, um ihren Kommilitonen beizustehen. Die Tafel sah nun nicht mehr so festlich aus. Die Lage schien passabel, resümierte Tjara die Situation. Wäre da nur nicht jederzeit zu erwarten, dass die bewaffnete, eindeutig parteiische Stadtwache dem Gerangel ein Ende setzte!

Es gab erste gröbere Verletzungen auf beiden Seiten, doch Toivo und seine Freunde besaßen noch die Oberhand, als ein erster Gewehrschuss knallte.

Die gut ausgebildete Stadtwache stürmte in Formation die Szenerie. Das Getümmel löste sich auf und die Kinder stoben auseinander. Tjara erkannte zwei ihrer jüngeren Verbündeten, die mit über dem Kopf verschränkten Händen am Boden lagen und sich nicht aufrappeln konnten. Die Internatskinder deckten sie mit Tritten ein. Sie wusste, die beiden würden die Flucht nicht schaffen. Suchend schaute sie sich im Getümmel nach Toivo um. In welche Richtung war er geflohen?

Ein dumpfer Schmerz zog in ihr Schienbein. Sie hatte soeben einen harten Fußtritt kassiert. Tjara konnte nicht genau erkennen, wer ihr das Bein gestellt hatte. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Ein Knie stemmte sich rabiat in ihren Rücken. Ein heißer Schmerz verteilte sich über die gesamte Länge ihrer Wirbelsäule und trieb ihr die Tränen in die Augen. Nein! Das darf nicht real sein, dachte Tjara. Im Augenwinkel sah sie verschwommen die indigofarbene Uniform des Stadtwächters, der sie erwischt hatte. Eine starke Hand griff ihr von hinten in die mittlerweile stark zerzausten Haare und presste ihr Gesicht in die niedergetrampelte, kurzgeschnittene Wiese.

Tjara war kurz davor sich zu übergeben. Der Schmerz durchströmte sie von Kopf bis Fuß und sie fühlte sich, als würde sie jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Dann wurde sie ruckartig aufgerichtet. Der Mann mit der indigofarbenen Uniform, welcher bis eben auf ihrem Rücken saß, hatte eine solche Kraft, dass Tjara einfach durch die Luft glitt wie ein Sitz an einem Kettenkarussell.

Wie kann dieser Bastard so stark sein, fragte sich Tjara erschrocken, während sie wieder auf ihren wackeligen Füßen aufkam. Sie lugte verstohlen nach links und rechts und sah, dass die beiden Jungs, die sie vorhin am Boden gesehen hatte, ebenfalls festgenommen worden waren. Einige Meter entfernt standen die Internatskinder. Sie grinsten hämisch und beobachteten diese ungemeine Bloßstellung.

In Tjara stieg eine unfassbare Wut auf. Diese schamlosen Untertanen! Doch sie war handlungsunfähig. Der Stadtwächter war zu stark.

Da ihre Eltern mit ihren Abgaben den Lohn der korrupten Stadtwache zahlten, hatten die reichen Kinder aus dem elitären Internat natürlich nichts zu befürchten. Im Gegensatz zu Tjara. Verlogene Verräter, dachte sie aufgewühlt. Sie hatte nicht einen Schlag ausgeteilt, doch wer würde ihr schon glauben, sollte jemand von denen gegen sie aussagen. Weiter vorne erkannte sie noch mehr Stadtwächter, doch Tjara konnte nicht sehen, ob sie noch mehr Gefangene abführten. Hoffentlich ist Toivo heil davongekommen, dachte sie im Stillen.

4. Weiße Wände

Freyastag, der 10.15.4240 n. B.

„Aber ich mag nicht unter verrückte Leuten gehen", bemerkte Alice. "Oh, dagegen kann man nichts machen", sagte die Katze; "wir sind hier alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt." "Woher weißt du denn, dass ich verrückt bin?", fragte Alice. "Du musst es sein", sagte die Katze, "sonst wärst du nicht hierhergekommen.“ - Lewis Carroll

Die schwere Tür schlug mit ohrenbetäubendem Lärm in die massiven Angeln und sogleich ließ der Schließmechanismus das Schloss einrasten. Stille trat ein. Die weißen, blassen Wände des kahlen Raumes, der winzig wirkte und keine Fenster besaß, erdrückten Tjara. Ihr Brustkorb zog sich zusammen und ein kaltes, stechendes Gefühl nahm ihr die Luft. Sie atmete immer noch schwer. Enttäuschung machte sich in ihrer Brust breit.

In der hinteren Ecke nahm sie an der Wand Platz. Sie verschränkte ihre Beine zu einem Schneidersitz und strich sich zaghaft über ihre glühenden Wangen. Sie ließ ihre abgewetzten, dicken Stiefel einfach an. Sie konnte sich so oder so nicht hinlegen. Denn es gab kein Bett in diesem Raum.

Wo waren die anderen? Hoffentlich ist ihnen nichts passiert, dachte Tjara. Hoffentlich sind wenigstens ein paar davongekommen. Vielleicht konnten die beiden anderen die gefangen wurden fliehen und waren mittlerweile in Sicherheit. Wenn dem so wäre, dann könnte es sogar schon einen Plan geben, um mich hier herauszuholen, überlegte sie weiter.

Tjara versuchte sich vorzustellen, wie Toivo und die anderen im alten Theater saßen. Vor ihrem inneren Auge fläzte sich Gondo gerade genüsslich auf das schäbige Sofa und Toivo erklärte in alter Heldenmanier die Vorgehensweise, um sie zu retten.

Mittlerweile musste außerhalb des in die Tage gekommenen Gemäuers die Nacht hereingebrochen sein. Da der Herbst schon hereinbrach und die meisten Blätter von den Bäumen gefallen waren, ging die Sonne mit jedem Tag früher unter und die Nächte wurden kälter und länger.

Tjara ahnte, dass sie auch hier, in der Nervenheilanstalt bitterlich frieren würde. Die Kinder draußen erzählten sich schaurige Spukgeschichten über diesen gruseligen Ort. Anhand dieser Erzählungen wusste sie, dass sie nur dort gelandet sein konnte. Diese Institution hatte nur ein Ziel: Die Verwahrung von normwidrigen Menschen jeden Alters, welchen keine Straftaten nachgewiesen werden konnten. Hier gab es keine Therapie, keine Hilfe oder Pflege. Sie trennten nicht einmal die sogenannten „Patienten“ in Frauen und Männer. Geschweige denn nach dem Alter oder ihrer angeblichen Krankheit.

Die Stadtwache von Merchants Hope fuhr ein strenges Regiment, das jegliche fehlende Linientreue auf das Härteste verfolgte. Seitdem waren die beiden Gefängnisse im Norden und Süden der Stadt hoffnungslos überfüllt. Selbiges galt für die Nervenheilanstalt in der Peripherie im Osten und den zentralen Friedhof. Die Stadtwache prahlte und drohte offen damit.

Der Fürst reduzierte aus Kostengründen die finanzielle Unterstützung dieser bis zum Bersten gefüllten Einrichtungen auf ein Mindestmaß. Das Gebäude verwahrloste über die Jahre zusehends. Der früher einmal anmutige Sitz der Handwerkerinnung des vorigen Jahrhunderts war nach deren Umsiedlung vor etlichen Jahren nur in Hinsicht auf die Sicherheit vor Ausbrüchen regelmäßig gewartet worden.

Tjara beruhigte sich langsam und fokussierte ihre Gedanken. Was hatte Toivo immer gepredigt? Im Falle, dass jemand von ihnen gefangen genommen würde, müssten sie stark sein. Es sei das Wichtigste, allen Gewalten zu trotzen, sich selbst dabei zu erhalten und für die Gruppe intelligent zu handeln, erinnerte sie sich. Nur wenn das Kollektiv, wie Toivo es immer nannte, weiter bestünde, dann wäre es möglich, dass der Einzelne eine Chance hat. Wenn nicht, dann drohte die endlose Verwahrung in der Nervenheilanstalt oder in einem der Gefängnisse, was so ungefähr auf dasselbe hinausliefe. Diese Worte passten leider wie die Gier zum Kaufmann, dachte Tjara.

Sie wusste nicht, wie viele ihrer Freunde ebenfalls in einem der benachbarten Räume geendet waren und ob es die Situation zuließ, dass sich schon jemand um ihre Befreiung bemühte. Allerdings wusste sie ziemlich genau, was jetzt ihre Aufgabe war. Wenn die Stadtwache kommen und sie befragen würde, dann musste sie unter allen Umständen dichthalten.

Tjara war die geborene Lügnerin. Sie war ohne Eltern oder wirkliche Bezugspersonen in einem Waisenheim aufgewachsen. So konnte sie nie ein tieferes Vertrauen in Menschen entwickeln. Ihre Gegenüber las sie wie aufgeschlagene Bücher und spielte sich damit ihre Vorteile heraus. Ihr war bewusst, dass eine Lüge immer stimmig und detailliert vorgetragen werden musste und dass Authentizität eine Frage der sicheren Ausstrahlung war. Niemand interessierte sich für die Wahrheit. Die Menschen glaubten ihrem Bauchgefühl mehr als ihrem Verstand.

Sie wickelte die meisten Menschen schlagfertig mit ihrem schönen Gesicht, den dunkelbraunen Augen und gleichfarbigen, lockigen Haaren um den Finger.

Warum sollte ihr das nicht auch hier gelingen, dachte Tjara und schöpfte etwas Hoffnung. Wenn ich nur genug Mut aufbringen kann, dann schaffe ich das. Wenn …

Sie ignorierte die Müdigkeit und die Schmerzen, die ihr die Stadtwache zugefügt hatte, und machte sich direkt daran, ihr Lügenkonstrukt vorzubereiten. Sie sprach es in Gedanken immer und immer wieder durch, wägte Eventualitäten und Antworten ab und überprüfte die Stimmigkeit. Es mutete nahezu wie ein Spiel an und half ihr dabei abzuschalten. Auch wenn es ihr schwerfiel, die Gedanken über ihre Freunde zurückzustellen.

Sie schaffte es, die schwierige Lage, in der sie sich offensichtlich befand, durch ihre anspruchsvolle Beschäftigung für ein paar Minuten beiseitezuschieben. Außerdem hatte Tjara das Gefühl, dass sie durch das Ergreifen der Initiative und das Planen der anstehenden Befragung, ihre Hilflosigkeit zumindest ein bisschen besiegen konnte. Sie wurde wieder zur innerlichen Herrin ihrer Selbst. Trotz der physischen Gefangenheit. Seit sie sprechen konnte, lernte sie zu lügen und auch jetzt war sie überzeugt, dass sie an dieser Hürde nicht scheitern würde. Tjara grübelte über die Befragung. Sie grübelte auch über ihre Freunde und die schiefgelaufene Aktion nach. Irgendwann verhedderten sich ihre Gedanken immer öfter. Sie drehte sich in ihren Überlegungen im Kreis und die unterdrückte Müdigkeit stülpte sich über sie wie eine schwere Wolldecke. Sie nahm ihr die Sicht, legte sich bleiern auf ihre Schultern und verdunkelte den Raum.

Langsam fielen ihre Augen zu und sie löste die Beine aus dem Schneidersitz. An der Wand herabsinkend fiel sie in einen unruhigen, aber tiefen Schlaf.

5. Jäger und Gejagte

Freyastag, der 10.15.4240 n. B.

„Suppose time is a circle, bending back on itself. The world repeats itself, precisely, endlessly.” - Alan Lightman

Toivo schoss wie ein Pfeil quer über die Wiese. Eine unbändige Furcht trieb ihn an. Nichts könnte ihn dazu bringen anzuhalten. Die Situation war ihm vollständig entglitten. Der Plan war gescheitert. Blut strömte aus einer Platzwunde an seiner Stirn und lief ihm in die Augen. Er wischte sich hektisch über das Gesicht. Seine Augen brannten. Nun kamen ihm auch noch die Tränen. Das verengte seine angeschlagene Sicht weiter. Er sah die engen Gassen und holprigen Wege, durch die er rannte, nur verschwommen.

Toivo fragte sich, wie das passieren konnte. Sie waren völlig überrumpelt worden und die Stadtwache hatte mehrere Kinder festgenommen. Natürlich keines von den Internatskindern! Wenn er es richtig gesehen hatte, dann war sogar Tjara von einem Uniformierten zu Fall gebracht worden.

Das darf alles nicht wahr sein, dachte er. Woher wussten die Wachen, dass wir kommen würden? Woher wussten die Wachen, dass wir genau jetzt kommen würden? Wer hatte es ihnen verraten? Und was interessierten sie sich überhaupt für eine Bande prügelnder Kinder?

Er trug die Verantwortung. Das war das Schlimmste an der ganzen Sache. Er selbst hatte den Plan geschmiedet und das Kommando übernommen. Nur er verschuldete die Festnahmen und die Prügel, die seine Freunde bekommen hatten und noch bekommen werden.

Nein! Viel schlimmer war natürlich, dass sie überhaupt Prügel bekamen. Doch es war seine Schuld. Seine Freunde kriegten sie wegen ihm. Sein Gewissen schmerzte ihn noch mehr als die Platzwunde an seinem Kopf. Toivo ließ die Wiese und das Internat hinter sich. Er stolperte und raffte sich wieder auf, sprang über Hindernisse und stieß Leute zur Seite, die sich nicht rechtzeitig aus dem Weg hechteten. Seine Beine fühlten sich taub und fremd an.

Es war einzig und allein sein Instinkt, der ihn in Bewegung hielt und die Richtung vorgab. Er dachte auch nicht daran anzuhalten, als die schmalen Türme der Privatschule schon in der Ferne verschwanden. Toivo lief und lief. Einmal quer durch das Gerberviertel, aus dem sie gekommen waren. Vorbei am alten Theater, links um die Ecke und dann immer geradeaus. Dann verließen ihn die letzten Kräfte und er stürzte der Länge nach auf den steinigen Boden. Kurz bevor sein Gesicht mit Schwung auf dem Boden aufschlug, schaffte er es gerade noch die Hände hochzureißen.

Er drehte sich mühsam auf den Rücken. Mit geschlossenen Augen stöhnte er vor Schmerzen. Schwer atmend fühlte er den Kies der Straße unter seinen aufgerissenen Handinnenflächen. Das Adrenalin pumpte unaufhörlich durch seine Blutbahn und die Schmerzen pulsierten in seinen erschlafften Muskeln. Von den Zehenspitzen bis zu der Platzwunde an der Stirn kam Stück für Stück das Gefühl und damit der Schmerz zurück in seinen Körper. Er spürte jetzt auch das erste Mal die Kälte, die sich über der Stadt ausgebreitet hatte.

Er schlug die Augen auf. Über sich sah er den leuchtenden Sternenhimmel. Die einzelnen Sterne funkelten friedlich zu ihm herunter. Toivo fühlte sich klein und unbedeutend, wie er so da lag und zum Himmel über ihm schaute.

Jeder dieser Sterne war für die abergläubischen Menschen in Merchants Hope ein eigener Gott. Diese Narren, dachte Toivo. Entweder waren all die Götter genauso hilflos wie die Menschen oder sie waren schlichtweg genauso egoistisch. Beides wäre kein Grund ihnen zu huldigen. Sollte es wirklich einen oder mehrere Götter geben, die so viel könnten, wie die Menschen behaupteten, dann würde die Welt nicht so schlecht sein, wie sie ist. Falls es wiederum einen Gott gäbe, der es könnte, aber nicht tut, dann sollte man ihn umso mehr verachten, fand Toivo.

Er setzte sich vor Schmerzen wankend auf.

Schwerfällig bewegte er seine Glieder, doch sie gehorchten ihm. Er schien unverletzt. Beim ersten Umschauen bemerkte er, dass er fast wieder am Fluss war. Dieser teilte die Stadt vertikal in Ost und West. Als Kind liebte er den Wolkenstrom. Er hatte oft an seinem Ufer oder auf einer der Brücken gesessen und stundenlang ins Wasser geschaut. Es hatte etwas Beruhigendes, fand er. In den milden Sommermonaten verkam er zu nicht mehr als einem kleinen Rinnsal mit trockenen, rissigen Ausläufern an beiden Seiten des Flussbetts. Da konnte man problemlos zu Fuß hindurchlaufen.

Er tauchte seine schmerzenden Hände in das herbstkalte, klare Nass und spülte sich das angetrocknete Blut und den Dreck aus dem Gesicht. Die Kälte biss ihm in die Haut und er fühlte sich dadurch erfrischt als hätte er einen ganzen Tag geschlafen. Leider nahm dieser positive Effekt auch schnell wieder ab und er schüttete sich weitere Hände gefüllt mit Flusswasser ins Gesicht.

Über ihm leuchtete der Mond strahlend vom Himmel und erfüllte die Szenerie mit einer mystischen Atmosphäre. Toivo sah im schimmernden Licht des Mondes wie sich der Fluss bis hinauf zur Stadtmauer schlängelte und dort durch eine unscheinbare Aussparung floss. Die Aussparung endete nur einige Zentimeter über der Wasseroberfläche. Ein Wachmann stand Tag und Nacht auf dem Wehrgang darüber. Toivo zog es vor, durch das ebenfalls bewachte Südtor zu laufen.

Ihm fiel auf, dass er sich nicht mehr erinnern konnte, wie er vorhin hier herauskam. Doch es gab keinen anderen Weg. Seine Erinnerung endete in dem Moment, wo er im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm und parallel dazu das Licht in seinem Kopf schlagartig ausging.

Toivo schlussfolgerte, dass es eine Faust oder eine Lanze von einem der Stadtwächter gewesen sein musste. Wahrscheinlich hatte er sie auf den Kopf bekommen und dann war er nur noch gerannt. Die Erinnerung daran musste er vergessen haben.

Eine Gehirnerschütterung! Das wäre doch jetzt ein reizender Abschluss. So bekommt man doch eine Gehirnerschütterung, oder? Durch einen harten Schlag auf den Kopf, so dass das Gehirn an die Schädelknochen prallt. Und dadurch kann man ganze Stunden vergessen. Vielleicht sollte er damit bei Gelegenheit mal einen Heiler aufsuchen?

Toivo wurde mulmig. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal bei einem Heiler war. Diese Leute waren Halsabschneider und Scharlatane. Sie verkauften teure Salben und nutzlosen Hokuspokus, der niemandem half. Doch die Angst vor dem Tod ließ die Menschen scharenweise bei ihnen einkaufen.

Kann man ja auch irgendwo verstehen, resümierte Toivo.

Er passierte die Stadtwache am Tor. Sie schaute ihn neugierig an, doch er wich ihrem aufdringlichen Blick aus und hastete schleunigst an ihr vorbei in die Dunkelheit.

Toivo hoffte, dass wenigstens irgendjemand im Theater war. Je mehr, desto besser. Wenn es genug waren und er es schaffte, sie ausreichend zu motivieren, dann könnten sie vielleicht gleich morgen Abend einen Gegenangriff starten. Damit rechnete die Stadtwache bestimmt nicht. Die würden sich jetzt erst einmal feierlich selbst beweihräuchern und denken, dass sie die Kinderbande ein für alle Mal zerschlagen hatten. Doch genau das eröffnete ihnen die Gelegenheit. Das könnten sie ausnutzen. Wenn sie nur genug Leute wären, hoffte Toivo, während er durch das Loch im Zaun vor dem alten Theater stieg.

Am nächsten Tag begleitete ein leichter Nieselregen Toivos Schritte. Grobkörnige Kieselsteine säumten den halbherzig befestigten Pfad und knackten sanft und unregelmäßig unter den harten Sohlen der staubigen Stiefel. Die Sonne war längst hinter einen Hügel am Horizont getaucht und massive, dunkelgraue Wolkenberge lagen am düster werdenden Abendhimmel. Er durchschritt das gusseiserne Flügeltor zur Stadt.

Der Wind pfiff scharf durch die nun schwarzen, kahlen Silhouetten der Laubbäume, die sich entlang der Ebene erstreckten und sich unter dumpfem Rauschen und Ächzen schwankend talabwärts bogen. Vereinzelt gewachsene Bäume leisteten den tosenden Böen erfolgreicheren Widerstand, während über ihnen kleine Krähentrupps vergeblich gegen die brausende Lärmkulisse anschrien. Diese dämpfte das Kreischen, als wäre es in weiter Ferne. Staub und zierliche Äste umwirbelten Toivos Beine, während er sich einem von einer flachen, stabilen Mauer eingezäunten, kreisrunden Garten näherte. In dessen Mitte stand ein mannshoher, graziler Granitspringbrunnen.

Auf den ersten, laienhaften Blick ließ sich erkennen, dass es sich um ein fachmännisch und liebevoll, von einem wohl meisterhaften Steinmetz, beschlagenes Kunstwerk handeln musste. Eine zum Himmel schmal zulaufende Säule ging in eine kindliche Statue eines nackten Jungen über. Die kindliche Statue thronte aufrecht auf der Spitze der Säule. Den in einem wasserleeren, runden Becken stehende Sockel zierten drei längliche Fischfiguren mit drachenähnlichen Köpfen. Aus deren weit geöffneten Mäulern ragten spitze Zähne. Über denen waren zwei weitere, kleinere und leere Auffangbecken positioniert. Das mittlere Element der Säule umfasste schnörkellose, wohlgeformte Rundungen, deren verschlissener Oberfläche man die Spuren der Abnutzung durch den jahrelangen, steten Wasserlauf ansah.

Um den Brunnen war ein brachliegendes, rundes Blumenbett angelegt und darum eine akribisch gestutzte Wiese.

Erst jetzt sah Toivo im Halbdunkel, von zwei dreiköpfigen, verspielten Laternen beleuchtet, das dahinterliegende große Gebäude. Mächtig und anmutig trotzte es mühelos dem rauen Wetter. Das musste das neue Gefängnis sein.

Zum Eingangsportal führte eine aus rechteckigen Steinplatten gepflasterte Vorterrasse, die durch drei Stufen emporgehoben wurde. Das Portal bestand aus zwei knapp drei Meter messenden, an der Oberkante abgerundeten Eichenholztüren. Im obersten Stockwerk des fast quadratischen Steingemäuers brannte warmes, gelbliches Licht durch ein großzügiges, vorhangloses Fenster. Über diesem Fenster erstreckte sich eine eckige Steinmauer, welche das gesamte Haus umrundete. Toivos Blick fixierte sich auf die Steinmauer. Vermutlich war dahinter eine Dachterrasse. Er war sich jedoch nicht sicher, ob diese über einen begehbaren Zugang verfügte.

Toivo duckte sich unter das tiefliegende Geäst eines Nadelbaumes, um einen besseren Überblick über die Szenerie zu bekommen. Trotz des unbehaglichen, unaufhörlichen Regens, welcher beständig plätschernd um ihn herum niederging, kramte er aus einem alten, löchrigen Mantel einen kleinen, ledernen Tabakbeutel. Behände drehte er sich eine Zigarette aus dem trockenen Inhalt des Beutels. Dabei beobachtete er ruhig und fokussiert das Flackern an der hohen, weißen Decke des Zimmers, welches durch das erhellte Fenster sichtbar war. Toivo blies den Rauch in die Luft, wo er sich nun schemenhaft in der Dunkelheit zwischen den Nadeln der Fichte abzeichnete.

Das neue Gefängnis war zur Entlastung gebaut worden, da immer mehr unschuldige Leute vom Fürsten weggesperrt wurden und die alte, kleinere Haftanstalt mittlerweile aus allen Nähten platzte. In eines dieser beiden musste die Stadtwache die Gefangenen gebracht haben. Dazu zählten auch seine Freunde.

Schmerzlich durchzog ihn die Erinnerung an die unglücklich verlaufenen letzten Stunden. Seine Füße fühlten sich kraftlos und trotz der festen Stiefel vollkommen durchnässt an. Die taube Müdigkeit lag auf ihm wie ein schwerer Schatten, der sich weiter und weiter ausbreitet, wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwindet. Sie hatten in alle Richtungen des Himmels fliehen müssen, nachdem die Stadtwache sie von hinten überrascht hatte.

Toivo schimpfte still auf sich selbst. Warum hatte er Tjara diese wichtige Aufgabe übertragen? Er hätte wissen müssen, dass sie noch nicht erfahren genug war, um die erfolgsnotwendige Nachhut zu übernehmen. Wie konnte sie nicht bemerkt haben, dass die Stadtwache mit einer ganzen Mannschaft auf ihren Fersen gewesen war?

Ein schlaksiger Wachmann erschien am erleuchteten Fenster und lehnte sich auf dem Sims nach draußen. Toivo versuchte sich zu konzentrieren. Er kämpfte gegen die voranschreitende Erschöpfung an. Gondo und er waren getrennt aufgebrochen. Die beiden, die am wenigsten abbekommen hatten, von all denen, die sich nach der Flucht im alten Theater versammelt hatten. Gondo war zum alten Gefängnis im Süden von Merchants Hope und Toivo zum neuen im Norden gegangen.

Toivo ließ die heruntergebrannte, nasse Zigarette auf den matschigen Grund fallen und trat sie sorgfältig aus. Sein Blick blieb dabei fest auf den Wachmann gerichtet, der sich jedoch schon wieder vom Fenster entfernte.

Toivo wusste um die Sinnlosigkeit dieses stumpfen Unterfangens. Es war purer Aktionismus, der ihn hierhergetrieben hatte. Es war eine Sache der Unmöglichkeit an Informationen aus dem Gefängnis zu kommen. Die Zuständigkeit über dessen Schutz fiel auf die Stadtwache und an dieser dem Fürsten gegenüber loyalen, gewissenlosen Truppe führte kein Weg vorbei, das wusste Toivo.

Er zog sich zurück und schlich einmal ostwärts um das Gefängnisgebäude herum. Er hielt sich nah an die den gepflegten Vorgarten umgebene, feuchte Mauer gedrückt.

Auf der Dachterrasse erspähte er einen weiteren Wachmann. Dieser saß auf irgendetwas, was Toivo nicht erkennen konnte. Mit dem Rücken lehnte er an einem kleinen hölzernen Posten auf dem hinteren Teil des Daches und schmökerte dabei seelenruhig eine Pfeife.

Toivo schob sich weiter vorwärts. Noch zwanzig Meter, dann könnte er auf die Rückseite schauen. Dort befand sich der offizielle Eingang des Hauses. Er hoffte, dass er dort Wagenspuren oder Hufabdrücke finden würde, die ihm Aufschluss geben konnten.

Er erreichte scheinbar unbemerkt das Ende der niedrigen Mauer. Toivo schaute vorsichtig um den letzten Balken herum und war schlagartig enttäuscht: Der frische Regen hatte den sandigen Boden so weit aufgeweicht, dass er mehr einem Moor als einer Zufahrt glich. Der Erkenntnisgewinn belief sich auf präzise Null.

Er schnaubte verächtlich und erschrak sofort selbst über die Lautstärke und seine eigene Unvorsichtigkeit. Geduckt schaute er vorsichtig zur Dachterrasse hinauf. Doch der Pfeife rauchende Wachmann schien nichts bemerkt zu haben. Toivo konnte ihn von seiner Position aus auch nicht sehen. Wahrscheinlich hatten der prasselnde Regen und tosende Wind das Geräusch nicht mal annähernd bis auf die Höhe des Dachs heraufgelassen, dachte er.

Toivo beschloss die zwecklose Situation auf sich beruhen zu lassen. Es hatte keinen Sinn, weiterhin hier im kalten, windigen Nass zu sitzen und sich den Tod freiwillig zu holen. Er würde, mit an absoluter Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nicht herausfinden können, ob ihre Freunde hier gefangen waren oder nicht. Behände drehte er sich noch in der Hocke kniend auf dem Absatz herum. Dann pirschte er gebückt den Weg zurück, den er gekommen war.

6. Elisabeth

Sunnastag, der 11.15.4240 n. B.

„Das Gesetz ändert sich. Das Gewissen nicht.“ – Sophie Scholl

Auf dem Weg zurück ins Theater passierte Toivo seine alte Schule. Das langgezogene, baufällige Backsteingebäude mit den hohen Fenstern weckte düstere Erinnerungen in ihm. Noch vor einem halben Jahr betrat er täglich das Gebäude, lief durch die überfüllten Gänge und stritt mit den Lehrern.

Er hatte sich nie benommen, immer rebelliert. Sie hassten ihn. Toivo war sich sicher, dass sie das auch heute noch taten.

Die vergleichsweise große Schule unterrichtete unzählige Schüler und Schülerinnen in allen Altersklassen, doch sein hämisches Gesicht und seinen Namen vergaß dort bestimmt niemand so schnell.

Zum Glück wussten damals alle Lehrer, dass sein Vater im Ministerium für Bürgerglück und Wohlstand des Fürsten arbeitete. Sonst hätten sie ihn auch mit dem Rohrstock verprügelt, so wie die anderen Kinder. Bei ihm hatten sie sich das nicht getraut. Zum Glück, dachte Toivo.

Er lächelte stolz beim Gedanken an seine Schulzeit.

Mittlerweile wurde es hell. Die erfolglose Observation des Gefängnisses hatte die ganze Nacht gedauert. Die hohen Ausläufer des Himmelstores im Osten von Forests Dale versteckten die Sonne noch hinter sich. Doch ihr Licht schien schon über sie hinweg und färbte den Himmel in orange-roten Tönen. Die wenigen Wolken ähnelten weißen Rauchschwaden, welche sich durch das lodernde Meer von Flammen kämpften.

Immerhin hat der Regen aufgehört, dachte Toivo.

Seine durchnässten Stiefel schmatzten bei jedem Schritt. Toivos blaugefärbte Haare klebten ihm in dicken Strähnen im Gesicht. Er hatte sie selbst gefärbt, mit den Waidstoffen aus dem naheliegenden Gerberviertel. Tjara hatte ihm die Seiten im Anschluss kurz geschnitten. Sie sagte daraufhin, dass seine Frisur einer Stadtmauer glich, welche sich geradlinig durch eine Ebene zog, erinnerte sich Toivo.

Doch mit der Zeit wurden die Haare hinten und vorne länger. Toivo behielt die Seiten kurz und färbte sich die Haare nach, immer wenn sich die Gelegenheit bot. Doch jetzt sah er wahrscheinlich eher nach einem Pudel aus, der sich ungeschickterweise selbst einen Eimer Farbe über das Haupt geschüttet hatte.

Und so fühlte er sich auch, als er wenige Minuten später im Hauptquartier ankam. Im Theater schmiss er seinen Mantel achtlos auf das Sofa und warf sich erschöpft auf eine der Matratzen in der Ecke. Außer ihm war niemand da. Er konnte sich breit machen.

Es gab Toivo ein gutes Gefühl alleine zu sein. Er musste ohnehin auf Gondo warten, ob er das nun wollte oder nicht. Die Zeit konnte er genauso gut schlafend verbringen.

Er merkte gar nicht mehr wie ihm ausgelaugt die Augen zufielen. Schon kurze Zeit später schlief er ein.

Die Tür flog auf. Toivo schrak hoch und saß sofort aufrecht im Bett.

„Hast du etwas rausgefunden?“, rief er der Person entgegen.

„Was habe ich, bitte?“, fragte das blonde Mädchen, das sich unbeeindruckt auf das Sofa auf der gegenüberliegenden Seite fallen ließ. Sie schaute ihn mit großen Augen provokant an.

„Willst du auch eine?“, fragte sie und hielt ihm eine offene, bronzefarbene Schatulle hin.

Toivo stand auf und setzte sich neben sie. Er nahm die angebotene Zigarette entgegen und holte eine abgegriffene Packung Streichhölzer aus seiner Tasche. Gierig entflammte der rote Kopf am Ende des kleinen Holzstabs, nachdem er einen Funken gefangen hatte. Er reichte dem neuangekommenen Mädchen das noch lodernde Streichholz herüber.

„Weißt du was von den anderen, Lis?“, fragte er.

„Ja, klar. Ich meine, wie sollte ich es auch nicht wissen. Du hast mir schließlich verboten mitzukommen. Da ist es ja nur logisch, dass ich die Situation am besten einschätzen kann, wo ich doch gar nicht dabei war. Ist es nicht so?“ Lis funkelte Toivo angriffslustig an. Eigentlich hieß sie Elisabeth, doch den bürgerlichen Namen mochte sie nicht.

„Vielleicht wäre jetzt ein guter Moment für eine Entschuldigung, meinst du nicht? Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Das sind auch meine Freunde. Die, die jetzt über alle Berge verstreut auf der Flucht sind, meine ich“, sagte Lis.

Toivo schwieg.

„Hör auf mich zu ignorieren!“ Lis schlug wütend mit der Faust nach Toivo, doch er blockte den Schlag. Betreten schaute er zu Boden.

„Ja, es tut mir natürlich leid, Lis. Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Ich wollte, ich könnte die Uhr noch einmal zurückdrehen“, sagte er.

Dann schwiegen sie beide.

Der weiße Rauch ihrer Zigaretten kräuselte sich im Halbdunkel an der Zimmerdecke. Der grüne Schein, den das Seidentuch durchließ, tauchte das Zimmer in eine eigenartige Atmosphäre. Es wirkte toxisch. Die schwache Luftzirkulation ließ die schwelenden Rauchschwaden in sich kreisen, bis sie unter der Zimmerdecke zum Stillstand kamen. Toivo stützte sein Gesicht auf die Hände und atmete hörbar aus. Es hatte in den letzten Stunden eine ungesunde Blässe bekommen.

Dann wandte er sich wieder zu Lis.

„Gondo und ich haben einen Plan. Wir …“ fing er an.

„Ach, geh mir weg!“, unterbrach Lis ihn brüskiert. „Ich habe genug von deinen tollen Plänen! Falls du dich noch erinnern kannst, dann müsstest du ja wissen, dass die ganze blöde Situation, in der wir stecken, das Ergebnis von einem deiner tollen Pläne ist.“

„Was willst du denn tun?“ fragte Toivo.

Er wurde rot vor Wut. Er ging hart mit sich selbst ins Gericht, doch es fiel ihm schwer, Kritik von anderen anzunehmen.

„Gar nichts. Ich habe gar nichts mehr vorzubringen, Toivo. Meine Eltern haben heute Morgen beim Einkaufen auf dem Marktplatz von der Sache gehört und verbieten mir jetzt draußen herumzustreunen. Sie denken, dass ich mit der Geschichte etwas zu tun habe. Schön wäre es!“ Sie schnaubte verächtlich.

„Ich hätte damit ja auch gerne etwas zu tun gehabt, aber der große General Toivo trifft ja ganz alleine die Entscheidungen und wehe demjenigen, der damit nicht einverstanden ist.“

Sie atmete lange aus und sank tiefer in den Sitz. Dann fuhr sie fort:

„Ich habe mich rausgeschlichen, um euch zu sagen, dass ich in nächster Zeit nicht mehr herkommen kann. Meine Eltern haben gedroht, mich auf ein Internat in Grindershole zu schicken.“

„Oh!“, antwortete Toivo.

„Das ist mindestens zwei Tagesmärsche von hier entfernt. Dann würde ich euch alle nie wiedersehen. Und ich müsste eine dieser hässlichen Schuluniformen tragen so wie diese reichen, abgehobenen Schnöselkinder.“ Traurig schaute sie zu Boden.

„Ja, niemand möchte ins Mühlental. Niemand möchte irgendwohin südlich von Merchants Hope“, sagte Toivo.

Sie blickte auf und funkelte ihn böse an. „Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?“, fragte Lis.

Plötzlich hörten sie hektische Schritte über den Flur poltern. Sie unterbrachen ihren Streit. Kurz vor der Tür wurden die Schritte leiser. Gondo schlich sich ins Zimmer und schloss vorsichtig die Tür.

„Die Stadtwache steht am Zaun!“, flüsterte er den beiden Streithähnen zu. Erschrocken schauten sie ihn an.

„Ich glaube, sie haben mich nicht gesehen. Ich habe extra gewartet, bis sie ein Stück weiter die Straße hochgelaufen sind, bevor ich durch das Loch im Zaun geklettert bin. Es sind fünf Männer, glaube ich. Sie beobachten das Theater. Ganz sicher!“

„Aber warum sollten sie das tun? Meint ihr, dass sie einen Tipp bekommen haben? Es wusste doch außer uns niemand, dass wir hier unser Hauptquartier haben“, fragte Lis.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Gondo.

„Ich habe nur gesehen, dass sie einmal außen um das Gelände herumgelaufen sind. Es sind fünf Mann. Zwei von ihnen haben den Zaun inspiziert und die anderen haben die ganze Zeit auf das Theater gestarrt, als würden sie etwas suchen.“

„Sie haben den Zaun inspiziert, aber das Loch nicht gefunden?“, fragte Lis.

„Nein, scheinbar haben sie das übersehen. Vielleicht sind sie nicht die Hellsten, aber dafür schwer bewaffnet“, sagte Gondo.

„Hilf mir mal!“, forderte Toivo Gondo auf. Er war auf das Sofa gestiegen und versuchte aus dem zugehangenen Fenster einen Blick nach draußen zu erhaschen. Gondo kniete sich auf das Sofa und Toivo stieg auf seine Schultern.

„Und?“, fragte Lis ungeduldig.

Toivo stürzte unter einem lauten Rumpeln von Gondos Schultern auf den harten Fußboden vor der Couch und warf ihn dabei fast mit um. Er atmete hektisch, doch konnte sich ein selbstironisches Lachen nicht verkneifen.

„Das tat weh!“, sagte er belustigt und richtete sich auf.

„Tja, das hast du wohl verdient“, sagte Lis.

„Doch könntest du uns jetzt sagen, was du gesehen hast, oder hattest du einfach Lust mal wieder irgendwo herunterzufallen?“

„Die stehen immer noch vor dem Zaun. Genau in dem Moment als ich herausgeschaut habe, hat der eine in meine Richtung geguckt und da bin ich in Deckung gegangen“, erklärte Toivo.

„So kann man das natürlich auch nennen“, sagte Gondo.

Lis lachte auf.

„Leise!“, fluchte Toivo und schaute erschrocken zum Fenster hinauf.

„Das ist wieder typisch! Du darfst hier durch die Bude fliegen wie ein Affe durch den Urwald, aber wehe ich lache mal eine Sekunde!“, schimpfte Lis.

Sie erhielt keine Antwort.

„Nimm mich noch einmal auf die Schultern, Gondo“, sagte Toivo.

Gondo kniete sich wieder auf das Sofa unter dem Fenster.

„Versuch doch dieses Mal einfach nur den Kopf einzuziehen, falls jemand zu dir herüberschaut. Du musst uns deine Turnkünste nicht beweisen. Wir glauben dir auch so nicht“, sagte Gondo und grinste schelmisch.

Toivo ignorierte die sarkastische Bemerkung und stieg wieder zum Fenster hinauf. Diesmal war er vorsichtiger. Zögerlich schob er seinen Kopf zwischen das grüne Seidentuch und das dreckige Fensterglas. Damit er besser sehen konnte, verlagerte er sein Gewicht ein wenig nach rechts und hielt sich am Rahmen fest. Gondo ächzte unter ihm wie ein alter Troll, der Probleme hatte, die Ware zu bugsieren.

„Sie stehen jetzt beim großen Tor“, sagte Toivo. „Ich glaube, sie kommen hier rein!“

„Wir müssen sofort raus!“, schrie Lis schon der Verzweiflung nahe.

„Die bringen uns hier heimlich um! Und wenn sie uns umbringen, dann bringen meine Eltern mich dafür gleich nochmal um!“

Sie lief aufgeregt im Zimmer auf und ab. Die minimalistischen Absätze ihrer, im Vergleich zu Jungen, feinen Schuhe klackten im Tempo eines Spechts, der gerade einen Baum bearbeitete.

„Jetzt steh doch mal still, Gondo!“, meckerte Toivo.

„Ich sehe überhaupt nichts, wenn du so wackelst. Und Lis, du reißt dich jetzt mal zusammen!“

„Das lässt sich so einfach sagen, wenn man selbst nicht hier unten ist!“, antwortete Gondo.

„Sie laufen jetzt über den Hof auf die Eingangspforte zu“, sagte Toivo. „Wenn wir Glück haben, dann bemerken sie das offene Fenster nicht. Die Pforte kriegen sie jedenfalls nicht auf.“

„Und wenn sie doch reinkommen? Was machen wir dann?“ Lis war stehengeblieben und kaute ungeduldig auf ihren Fingernägeln herum.

„Zwei stehen noch draußen. Der eine am Tor und der andere läuft jetzt nach rechts am Zaun entlang. Hier kommen wir nicht unbemerkt raus“, beschrieb Toivo.

Dann sprang er von Gondos Schultern. Diesmal landete er sicher auf seinen Füßen.

„Gondo, lauf nach vorne und lausch an der Tür, ob du was verstehen kannst. Ich probiere in der Zeit das Fenster zu verbarrikadieren.“

„Das Fenster. DAS Fenster!“, rief Lis. „Es gibt ungefähr zehn davon, um das ganze Gebäude herum, die tief genug sind, um einzusteigen.“

„Ja, aber das eine können sie vom Eingang aus schon fast sehen. Wenn, dann finden sie das“, sagte Toivo besonnen.

„Und was mach ich?“, fragte Lis. „Du lässt mich nicht schon wieder außen vor! Ich komme mit dir mit!“ Sie verschränkte bockig die Arme vor ihrem Körper.

Toivo nickte.