Der Farn - Ferro Zeni - E-Book

Der Farn E-Book

Ferro Zeni

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Beschreibung

Seltsame Anfälle machen Magda zu schaffen: Mitten in der Schule hat sie plötzlich das Gefühl, als sei die Welt von einer goldglänzenden Schicht überzogen, die ihr den Atem raubt. Da erfährt sie von ihren Eltern, dass für sie und ihre Freunde der Zeitpunkt gekommen ist, um erstmals in die geheimnisvolle Welt von Aobra zu reisen. Dort lernen die Kinder Flugsaurier kennen und werden Zeugen einer Katastrophe. Denn der böse Oron hat den Farn vernichtet, der als einziger Wächter das gesamte lebendige Universum beschützte, und nun steht der Untergang allen Lebens bevor. Eine Prophezeiung besagt, dass ausgerechnet Magda das Universum retten wird, aber wie? Wird es ihr überhaupt gelingen, mit den hilfreichen Lichtwesen Kontakt aufzunehmen? Und was hat es mit dem Fluch auf sich, der Madga bei jeder Reise nach Aobra schwächer werden lässt? Ein Fantasyroman, der den Leser in andere Welten und ferne Kontinente entführt, wo die jugendlichen Helden finsteren Bedrohungen standhalten müssen, um Farne für die Rettung der Welt zu sammeln.

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Seitenzahl: 423

Veröffentlichungsjahr: 2019

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für Barbara, Sophia, Sarah und David

INHALT

Der Einbruch

Erste Schultage

Die Besprechung

Die Abreise

Zum ersten Mal in Aobra

Der schwarze Tod

Der Untergang des Universums hat begonnen

Im Äther der Lichtwesen

Bei den Indianern

Die Atemübung

Der schwarze Tod breitet sich aus

Stonehenge

Der Auftrag

Der erste Farn

Die Verschwörung

Das nächste Ziel

Toronora

Afrika

Im Regenwald

Der Durchbruch

Eine gefährliche Reiseroute

Schlechte Nachrichten

Die Familie hält zusammen

Die Drachenpalasthöhle

Der Aokigahara-Wald

Das Universum

Nach Hause

Der Angriff der Raben

Auf der Insel

Die Rückreise

Die Rettung

Wieder trocken

Die Abreise verzögert sich

Das Palmenhaus

Wie kann man Farne motivieren

Die Schlacht

Im Äther

Die Farne werden aktiv

Styxa

Die Spinne

Der Kampf geht zu Ende

Nachtrag

DER EINBRUCH

Das fahle Licht des blassen Mondes fiel durch die gläsernen Dachplatten eines großen Gewächshauses und beleuchtete schwach ein Dickicht aus Pflanzen, deren Blätter, Blüten und Äste das Licht auffingen und unheimliche Schatten warfen. Es war still, bis auf das Surren der Lüftung, die für eine gleichmäßige Temperatur und Luftfeuchtigkeit sorgte.

Irgendwo bewegte sich etwas. Ein schwarzer Schatten löste sich von den Umrissen der grauen Pflanzen. Er bewegte sich geschmeidig und lautlos. Auf seinen vier Pfoten wanderte er ruhelos durch die Gänge der Anlage, spähte aufmerksam in alle Ecken, hob gelegentlich den Kopf und lauschte den Geräuschen der Nacht.

Es war ein Panther, der da durch das Glashaus strich. Er bewachte das Gebäude, die Pflanzen und deren Eigentümer, die im anliegenden Haus tief und fest schliefen.

Zur selben Zeit schlich ein anderer Schatten draußen um das Gewächshaus herum. Er kannte sein Ziel und bewegte sich sehr vorsichtig und langsam. Es war eine große Gestalt mit Kapuze und einem weiten, dunklen Umhang, so dass man nicht erkennen konnte, wer sich darunter verbarg. Als sie an einem bestimmten Fenster angelangt war, beugte sich die Gestalt nach vorne und spähte in das Innere des Gebäudes. Dann streckte sie ihren dürren, langen Zeigefinger unter dem Umhang hervor und berührte mit der Spitze des Fingernagels das Glas. Unter dem Nagel schmolz das Glas wie eine Schneeflocke auf der warmen Hand und floss in der Form einer klaren Flüssigkeit geräuschlos zu Boden. Als der gesamte Fensterrahmen vom Glas befreit war, raffte die Gestalt ihren Umhang zusammen und kletterte behutsam durch die nun ausreichend große Öffnung in das Innere des Gebäudes.

So leise und vorsichtig der Einbrecher war, dem Panther war nicht entgangen, dass etwas nicht stimmte. Er lauerte bereits hinter einem dichten Busch und beobachtete die schwarze Gestalt mit funkelnden Augen. Als diese das Fenster überwunden hatte und leise auf den Steinboden des Gewächshauses trat, griff das Raubtier an. Mit einem Satz sprang der Panther auf den Eindringling zu, krallte sich in seine Schulter und versuchte seine spitzen Zähne im Nacken seines Opfers zu vergraben. Aber der Angegriffene war stark. Viel stärker, als der Panther erwartet hatte. Mit einer Hand packte er das Tier am Fell und schleuderte es quer durch die Halle, wobei der schwere Körper des Tieres mit voller Wucht durch die Äste der Pflanzen hindurchschoss, die krachend den Weg freigaben. Mit einem lauten Aufprall landete die Raubkatze an der Mauer des Hauses. Aber der Panther war zäh. Er sprang auf und hechtete wieder auf den Einbrecher zu.

Der Lärm krachender Äste und zerbrechender Blumentöpfe weckte die Bewohner des Hauses. Lichter gingen an. Man hörte Stimmen und Leute durch Gänge laufen. Schritte näherten sich dem Gewächshaus.

Der Eindringling wartete ruhig auf den nächsten Angriff. Er wusste, dass Schutztiere nicht leicht zu töten waren und über ungewöhnliche Kräfte verfügten. In der Regel waren sie so stark mit ihrem Schützling verbunden, dass sie, solange dieser am Leben war, jede noch so schwere Verletzung überlebten. Aber dieses Tier musste sterben. Es war für die Verwirklichung des Planes unerlässlich, dass kein Lebewesen in der Lage war, seine Witterung aufzunehmen. Er musste im Verborgenen handeln und sich verstecken. Vorerst jedenfalls. Und er war einer der wenigen, die in der Lage waren, ein Schutztier endgültig zu töten. Es war nicht leicht und bedurfte intensiver Konzentration, aber er war darauf vorbereitet.

Die schwarze Gestalt streckte neuerlich ihren Finger unter dem Umhang hervor und zielte auf die herannahende Raubkatze. Als diese zum Sprung ansetzte, schoss aus der Fingerspitze ein leuchtend gelber Strahl, der das Tier genau hinter dem Schulterblatt traf und dort in den Brustkorb eintrat. Der Panther zuckte zusammen, strauchelte und getragen von seinem eigenen Schwung überschlug er sich mehrmals, zerschmetterte ein paar Blumentöpfe und blieb dann tot am Boden liegen.

Noch einmal zückte der Einbrecher seinen Finger und musterte die großen Töpfe vor sich. Als er entdeckt hatte, was er suchte, griff er danach und zog eine Pflanze aus der Erde, die er hastig mit seinen Händen zerriss und dann auf dem Boden unter sich zusammenschob. Dann jagte er zwei seiner gelben Strahlen darauf. Das jämmerliche Häufchen aus Blättern, Stängeln und Wurzeln fing Feuer, als hätte es jemand mit Benzin übergossen. Eine gelborangefarbene Stichflamme schoss in die Höhe und fiel sofort in sich zusammen. Das wenige Leben, das in diesen Pflanzenresten noch gesteckt hatte, verpuffte mit einer kleinen Explosion.

Nach einer kurzen Kontrolle der verkohlten und glühenden Überreste hob die schwarze Gestalt den großen Blumentopf, aus dem sie die Pflanze herausgerissen hatte, hoch, als wäre es ein leerer Kunststoffeimer, und zerschmetterte ihn auf dem Boden. Dann drehte sich der Einbrecher um, machte einen Hechtsprung durch das Fenster, rollte sich ab und verschwand im Dunkel der Nacht, gerade in dem Augenblick, als sich die Verbindungstüre zwischen Haus und Glashaus öffnete und ein heller Lichtstrahl aus dem Flur auf die Pflanzen fiel.

ERSTE SCHULTAGE

Einige Wochen zuvor standen drei Mädchen im Gang der Schule und studierten gemeinsam die Anschlagstafel, auf der die Unterrichtszeiten der Freifächer ausgehängt sein sollten.

»Kennt ihr euch da aus?«, fragte Magda ihre Freundinnen Leonie und Laila. Es war die zweite Woche des Schuljahres, und obwohl Magda das alles schon kannte, war wieder vieles verwirrend, kompliziert und anstrengend. Einiges war neu, Einiges hatten sie über die Sommerferien vergessen und einiges war mühsam wie im Vorjahr. Sie mussten sich so viel merken, notieren und organisieren, dass sie gar nicht wussten, wie sie das alles schaffen sollten. Teilweise hatten sie neue Unterrichtsfächer und neue Lehrer und es gelang ihnen nicht einmal, sich deren Namen zu merken. Außerdem mussten sie sich wieder daran gewöhnen, dass jeder der Lehrer auf andere Dinge Wert legte. Während einer Lehrerin eine schöne Handschrift besonders wichtig war, waren dem anderen selbst Rechtschreibfehler egal. Der eine wollte, dass sie aufstanden, wenn er die Klasse betrat, und eine Lehrerin legte Wert darauf, dass die Hefte mit den Hausübungen zu Beginn der Stunde auf ihrem Tisch lagen. Wie konnte man da alles richtig machen?

Hinter den drei Mädchen, im Atrium des Gebäudes spielten zwei der größeren Jungen miteinander Fußball. Als Ball diente ihnen eine leere, verbeulte Coca-Cola-Dose, die sie aus einem Mistkübel gefischt hatten. Es war nicht erlaubt, im Schulgebäude zu laufen, und natürlich noch weniger, Fußball zu spielen, aber darum scherten sich die beiden wenig. Im Augenblick war kein Lehrer zu sehen und so hielt sie niemand von ihrem Tun ab. Magda, Leonie und Laila kümmerten sich nicht darum. Einerseits war im Atrium ständig viel Betrieb und Lärm, und andererseits hätten sie nicht im Traum daran gedacht, Schüler aus einer höheren Klasse zu maßregeln. So etwas konnte nur schlecht ausgehen. Außerdem widmeten die Mädchen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit dem Schaukasten. Dort hingen unendlich viele Zettel mit Erinnerungen, Namenslisten und allgemeinen Informationen. Es gab auch mehrere Blätter mit der Überschrift »Freifächer«, aber es war nicht klar, inwieweit diese Listen ihre Klasse betrafen. Also suchten sie gemeinsam nach weiteren Hinweisen.

Während sie so Blatt für Blatt studierten und Magda sich auf ihre Zehenspitzen stellte, um auch die Nachrichten im oberen Teil des Kastens zu lesen, passierte es wieder. Es war, als würde sich ein vor ihren Augen hängender Schleier langsam lüften und den Blick auf ein unheimlich grelles Licht freigeben. Als wäre die gesamte Welt mit einem Mal von einer goldglänzenden Schicht überzogen und dieses Gold reflektierte das Licht einer Sonne, die heller war als alles, was sie bisher gekannt hatte. Dieses Licht war so hell, so durchdringend, dass es sich wie ein schweres Gewicht erst auf Magdas Augen, ihr Gesicht und dann auf ihren Körper legte. Es fühlte sich für sie an, als würde sie in einer zähflüssigen, glänzenden Brühe versinken. Eine Brühe, die ihre Bewegungen blockierte und die sich um ihren Mund und ihren Brustkorb legte, so fest, dass es ihr nicht mehr gelang zu atmen. Sie versuchte es, aber das, was da auf ihr lag, verhinderte es. Also hielt sie die Luft an und merkte, wie ihr schwindelig wurde, wie ihr Körper nach Sauerstoff lechzte und sie ihm das nicht geben konnte, was sie am dringendsten benötigte: Luft. Während sie das Gefühl hatte zu ersticken und sich alles um sie herum zu drehen begann, verschwammen vor ihren Augen die Umrisse. Sie konnte nichts mehr deutlich sehen, gleichzeitig sah sie aber viel mehr, als sie eigentlich hätte sehen dürfen. Es war, als spielten sich vor ihren Augen die Geschehnisse eines ganzen Jahres wie im Zeitraffer innerhalb weniger Sekunden ab. Personen, die vorher nicht da gewesen waren, tauchten auf und verschwanden, andere blieben eine Zeitlang flackernd da und bewegten sich dann wieder aus ihrem Blickfeld. Dinge wurden vorbeigetragen, Bilder erschienen an den Wänden und waren plötzlich wieder weg. Zwischen diesem rasenden Treiben gab es aber auch Umrisse, seltsame Gestalten, die nur ruhig dastanden, als ob sie Magda beobachteten, zusahen, was geschah, und abwarteten. Und auch ihre Freundinnen Leonie und Leila sah sie, wie sie vor ihr standen, sie fragend anblickten und etwas zu ihr sagten. Aber Magda hörte nichts. Es war, als ob ihr das Licht auch die Ohren verlegt hätte und alle Geräusche wie aus weiter Ferne an ihr Ohr drangen, so dass sie nur ein Summen und Rauschen wahrnahm, ein dumpfes Tröten, aber keine Worte verstand. Und alles war in dieses goldene, schwere Licht getaucht. Sie sah keine Farben mehr, keine Schatten, keine Konturen. Nur diese seltsamen Umrisse aus Licht.

Dann sah sie, wie etwas, das aussah wie eine verbeulte Getränkedose, in Zeitlupentempo auf Leonie zuflog, ihren Kopf traf und Leonie zu Boden fiel.

Ihr wurde schwarz vor Augen, sie strauchelte kurz, konnte sich aber noch rasch fangen. Magda fühlte sich schwindelig und benommen. Aber der ganze Spuk war mit einem Schlag verschwunden, so rasch, wie er gekommen war. Magda erblickte Leonie, wie sie vor ihr stand. Sie war nicht gefallen, nichts hatte sie am Kopf getroffen. Es war nur ein Traum gewesen.

Dennoch sagte ihr etwas in ihrem Inneren, dass es mehr gewesen war als ein Traum. Sie kannte diese Zustände, und obwohl sie sich vor ihnen fürchtete, fühlte sie aus irgendeinem seltsamen Grund, dass diese Anfälle Botschaften waren. Irgendwie wusste sie, dass der Aufprall der Dose noch bevorstand.

Magda packte Leonie am Arm und zog sie mit Nachdruck von dem Schaukasten weg. Genau in dem Augenblick trat einer der beiden Jungen mit voller Wucht gegen die Dose. Diese flog durch das Atrium und krachte unmittelbar neben den Mädchen lautstark in den Kasten, dessen Glas mit einem lauten Knall zerbarst. Hunderte Glassplitter prasselten zu Boden. Hätte Magda Leonie nicht zur Seite gezogen, wäre ihr die Dose gegen den Kopf geflogen.

»Wahnsinn!«, rief Laila erstaunt. »Wie schnell du reagiert hast. Ich habe nicht einmal bemerkt, dass eine Cola-Dose auf uns zufliegt.«

»Danke«, sagte Leonie. Auch sie war verblüfft. »Woher hast du das gewusst?«

»Keine Ahnung«, antwortete Magda. Ihr war übel und sie setzte sich erschöpft auf die Steinstufen. »Ich wusste es nicht, es war mehr so ein Gefühl.« Und das war ja auch die Wahrheit. Denn das, was sie in ihrer Eingebung gesehen hatte, war zu dem Zeitpunkt noch gar nicht passiert.

Von dem Lärm aufgescheucht, waren zwei Lehrer gekommen, die nun den beiden Jungs eine gehörige Standpauke hielten. Leonie und Laila setzten sich schweigend neben Magda und warteten. Magda fühlte sich elend, ihr war richtig schlecht, aber sie wusste, dass in wenigen Minuten wieder alles vorbei sein würde. Sie kannte diese Anfälle. Zumeist erlebte sie diese in der Nacht, kurz nach dem Einschlafen, und der Schreck und die Angst zu ersticken rissen sie jedes Mal unsanft aus dem Schlaf, aus dem sie schweißgebadet erwachte. Magda hielt dies für Alpträume und schenkte ihnen keine besondere Aufmerksamkeit, bis sie die Traumzustände auch untertags überfielen. Als das zum ersten Mal geschah, befand sie sich gerade mit ihren Eltern in einem Shoppingcenter und vor Schreck über diese unbeherrschbaren Eindrücke stürzte sie zu Boden und erlitt ein paar Prellungen. In der Folge musste sie medizinische Untersuchungen über sich ergehen lassen, da der Hausarzt, den die Eltern nach diesem Vorfall konsultierten, einen epileptischen Anfall vermutete. Aber die Ärzte fanden nichts und Magdas Eltern stellten die Arztbesuche ein. Sie empfahlen ihr, die Erlebnisse in diesen Träumen zu beobachten, sich vorzunehmen, sich die Träume zu merken, so dass sie in der Lage wäre, darüber zu berichten. Außerdem empfahlen sie Magda, in diese Träume einzugreifen, sie zu steuern, Fragen zu stellen, die Situationen so zu beeinflussen, dass sie keine Angst mehr hätte.

Das war leichter gesagt als getan. Magda bemühte sich, aber es gelang ihr nur teilweise. Immerhin lernte sie, die Anfälle so zu überstehen, dass sie stehen oder sitzen bleiben konnte, bis alles vorüber war. Einem Beobachter fiel daher nichts Besonderes auf, außer dass sie plötzlich nicht mehr sprach und auch auf Fragen nicht mehr reagieren konnte.

Es war ihr etwas peinlich, Leonie und Laila davon zu erzählen, sie wusste ja nicht, wie ihre Freundinnen darauf reagieren würden. Ihre Geschwister, Maria und Manuel, hatten ihr empfohlen, darüber nicht zu sprechen. Die Information über eine Schwäche eines Mitschülers war in den Händen von Jugendlichen wie ein glühendes Brenneisen, das sie auf die Seelen ihrer Opfer drücken konnten. Magda hatte in den vorangegangenen Schuljahren selbst festgestellt, dass es immer Mitschüler gab, die sich durch besondere verbale Aggressivität auszeichneten. Auch wenn viele das nicht guthießen, so gab es immer ein paar, die solche Scherze lustig fanden und auf den Schwächen anderer herumritten. Leonie und Laila gehörten mit Sicherheit nicht dazu, aber es war nie auszuschließen, dass einmal ein unbedachtes Wort fiel. Magda hatte wenig Lust, mit Spitznamen wie »Spasti« oder anderen Beleidigungen gehänselt zu werden. Also hielt sie sich an den Rat ihrer Geschwister, auch wenn es ihr schwerfiel, ihren Freundinnen etwas zu verschweigen.

»Es geht schon wieder«, sagte sie. »Wahrscheinlich habe ich mich so erschrocken, dass mir schwindelig wurde. Das ist doch blöd, oder?«

»Überhaupt nicht«, widersprach Leonie. »Ich bin auch noch ganz benommen von dem Schreck. Und wenn ich daran denke, dass mich beinahe diese Dose am Kopf getroffen hätte, wird mir richtig übel.«

Magda nickte Leonie dankbar zu und wollte sich erheben. Die Schulglocke hatte geläutet und es war Zeit, das Klassenzimmer aufzusuchen. Aber einer der Lehrer, die gerade noch mit den beiden Jungs geschimpft hatten, hielt die Mädchen auf.

»Einen Moment, ihr drei«, sagte er und es klang sehr unfreundlich. »Was hattet ihr hier zu suchen?«

Er war sehr groß und hager, hatte schwarzes, schütteres Haar und wirkte streng, beinahe furchteinflößend. Zumindest für drei zwölfjährige Mädchen. Er beugte sich zu Magda herab und blickte ihr prüfend in die Augen. Magda schien es, als blitzte ein kleines, gelbes Leuchten in seinen Pupillen auf. Es war nur ein kurzer Augenblick und sie war sich nicht sicher, ob sie sich das nicht eingebildet hatte.

»Wir haben nur den Stundenplan gesucht«, sagte sie und starrte zurück. Sie wollte nicht zugeben, dass ihr der Mann Angst einflößte.

»Das ist die Anzeigentafel für die Oberstufe«, erwiderte der Lehrer knurrend. »Die Tafel für die Unterstufe ist im Gang gegenüber.«

»Danke«, sagte Magda und wollte sich umdrehen, aber Laila beeindruckte sein Auftreten deutlich weniger: »Woher sollen wir das denn wissen und außerdem, seit wann ist es verboten, sich in der Pause im Atrium aufzuhalten?«

Der Lehrer hob nicht einmal den Kopf, um nach Laila zu sehen, sondern starrte weiterhin in Magdas Augen. Es schien, als habe er etwas gesehen, etwas, was ihn beunruhigte oder zumindest neugierig machte. Er streckte Magda seinen langen, dürren Zeigefinger entgegen und hielt ihn einige Sekunden vor ihre Nase. Magda sah, dass die Haut der Hand gelb, fast weiß war. Außerdem war der Finger krumm und buckelig. Es war richtig ekelig und Magda musste unwillkürlich an eine alte, hässliche Hexe denken. Dann senkte der Lehrer seine Hand langsam und sagte: »Ihr müsst nur lesen, was dort steht. Das könnt ihr doch: LESEN?«

Magda zuckte zusammen. Der Mann buchstabierte das Wort ganz langsam und bei jedem Buchstaben tippte er ihr auf die Brust. Die Berührung mit dem Zeigefinger bereitete ihr Schmerzen. Es fühlte sich an wie kleine Stiche, so als hätte der Lehrer unter seinem Fingernagel eine Nadel versteckt. Aber das konnte nicht sein. Also nickte sie nur und sah zu Boden, während ihr die Tränen in die Augen schossen.

Mit einem Ruck richtete sich der Lehrer auf und ging davon. Die Mädchen blickten ihm verwundert und beunruhigt hinterher.

»So ein Spinner«, zischte Laila.

Alle drei hatten in dem Augenblick denselben Gedanken: »Hoffentlich ist das nicht einer von unseren Lehrern.«

DIE BESPRECHUNG

Am Abend fuhr Magda gemeinsam mit ihren Eltern nach Hause. Sie saß auf dem Rücksitz, ihre Mutter auf dem Beifahrersitz studierte Akten und ihr Vater lenkte das Auto. Das Haus der Familie Magilatti befand sich einige Kilometer außerhalb der Stadt, am Rande eines Waldes und war mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer zu erreichen.

Während der Fahrt überlegte Magda, ob sie ihren Eltern von der Begegnung mit dem Lehrer erzählen sollte. Aber eigentlich gab es nicht viel zu berichten. Was sollte sie auch sagen? »Heute hat ein seltsamer Lehrer mit mir geschimpft.« Damit musste sie wohl rechnen, dass sich nicht alle Lehrer und Lehrerinnen der Schule wie Ferienclubanimateure verhielten. Wichtiger war außerdem eine andere Sache: »Ich hatte heute wieder einen Anfall. Aber dieses Mal habe ich gesehen, wie eine Dose auf Leonie zuflog, und das ist dann wirklich kurz darauf geschehen. Es war, als hätte ich in die Zukunft geblickt.«

Die Eltern sahen sich an und Frau Magilatti runzelte die Stirn: »Bist du dir sicher?«, fragte sie. »Wäre es möglich, dass du durch deinen Anfall einfach ein paar Dinge durcheinanderbringst?«

»Schon möglich«, antwortete Magda ein wenig eingeschnappt. Offenbar glaubten ihr ihre Eltern nicht und hatten ständig eine simple Erklärung parat. Aber Magda war überzeugt, dass es so gewesen sein musste. Ihre Wahrnehmung und ihr Gedächtnis waren mit Sicherheit in Ordnung. Außerdem war es natürlich viel cooler, in die Zukunft gesehen zu haben, als zu akzeptieren, dass einem das eigene Gehirn einen Streich gespielt haben könnte.

Frau Magilatti bemerkte den Unterton in Magdas Stimme. »Hör mal, Magdalena«, sagte sie. Wenn ihr etwas wichtig war, benutzte sie Magdas vollen Namen. »Wir wissen nicht, was du erlebt hast und insbesondere warum dir das passiert. Aber ich hätte einen Vorschlag. Probiere doch einmal mit einer der goldenen Personen, die du während dieser Anfälle regelmäßig siehst, zu sprechen.«

»Und was soll ich sagen?«

»Ich weiß es nicht. Frag nach dem Namen, stell dich vor«, schlug ihre Mutter vor.

Das Auto erreichte den Waldrand und Herr Magilatti räusperte sich: »Deine Geschwister sind schon da. Wenn wir angekommen sind, wasch dir die Hände und komm dann gleich ins Wohnzimmer, wir müssen dringend etwas besprechen.«

Das Auto bog um die Ecke und hielt unter der Terrasse, die gleichzeitig als Überdachung des Autoabstellplatzes diente. Magda lief die Stiegen zur Eingangstüre hinauf. Sie warf ihre Schultasche in eine Ecke, schlüpfte irgendwo im Flur aus den Schuhen und hüpfte dann in den ersten Stock, wo sie ihre Katze »Sugar« begrüßte. Rasch schnappte sie sich noch den neuen Bogen, den ihr letzte Weihnachten das Christkind gebracht hatte. Es war ein schwarzer Recurvebogen und er sah richtig gut aus. Magda hatte sich schon seit einiger Zeit für das Bogenschießen begeistert und verbrachte viele Stunden im Garten oder im Wald, um zu üben. Bisher hatte sie aber nur einen Kinderbogen zur Verfügung gehabt, der nicht so stark gespannt war und daher auch nur einen geringen Wirkungsgrad hatte. Das hier war ein echter Sportbogen. Sie legte einen der Pfeile ein und spannte den Bogen leicht. Dabei zielte sie auf ihre Sanduhr und legte dann Pfeil und Bogen rasch zurück. Es war natürlich streng verboten, im Haus damit zu spielen. Aber sie war immer noch sehr glücklich über dieses Geschenk und konnte es nicht erwarten, wieder damit zu üben.

Dann ging sie ins Wohnzimmer, um ihre Geschwister zu begrüßen. Ihre Schwester Maria und ihr Bruder Manuel saßen vor dem Fernseher und knabberten Tortilla-Chips. Zwischen Magda und ihren Geschwistern bestand ein deutlicher Altersunterschied. Maria war dreiundzwanzig und Manuel fünfundzwanzig Jahre alt. Maria studierte und Manuel arbeitete als Programmierer. Die beiden freuten sich sehr über die Ankunft ihrer Schwester und begrüßten sie überschwänglich. Magda war die Jüngste, und Maria und Manuel forderten daher immer wieder Knuddeleinheiten ein, was Magda durchaus genoss, auch wenn es ihr manchmal etwas zu viel wurde.

Dieses Mal reichte es aber nur für eine kurze Umarmung, denn die Eltern riefen alle in den Wintergarten und Herr Magilatti legte rund um die Sitzgruppe kleine Kristalle auf den Boden. Magda wusste, was das bedeutete. Thema der Besprechung war somit die Welt von Aobra. Eine Welt, die sie selbst nicht kannte, aber von der ihre Geschwister und zum Teil auch ihre Eltern bereits erzählt hatten. Maria und Manuel hatten diese Welt zum ersten Mal besucht, als sie etwa so alt gewesen waren wie Magda. Damals waren sie im Rahmen eines Sommercamps nach Aobra aufgebrochen und hatten seitdem viele interessante und abenteuerliche Reisen in diese Welt unternommen. Es war nicht zu vermeiden, dass die beiden ihrer Schwester von ihren Abenteuern erzählten, deshalb hatten die Eltern ihre jüngste Tochter schon recht früh in das Geheimnis von Aobra eingeweiht. Umso mehr fieberte Magda daher dem Tag entgegen, an dem auch sie ihre erste Reise antreten durfte.

Die Sache war ein wenig heikel, denn es war wichtig, dass niemand außerhalb eines Steinkreises oder eines Portals, das nach Aobra führte, an diese Welt dachte oder von ihr sprach. Denn Gedanken waren in Aobra um vieles mächtiger als auf der Erde und so konnte ein Gespräch, eine Erzählung, ja eine kurze Überlegung die Welt von Aobra beeinflussen, sie verändern und Portale öffnen. Daher mussten die Eltern darauf achten, dass ihre Kinder erst ab einem gewissen Alter von dieser Welt erfuhren. Sie sollten in der Lage sein, halbwegs ihre Gedanken im Griff zu haben. Aber Maria und Manuel hatten es nicht ertragen, ihrer jüngeren Schwester nichts von ihren Abenteuern berichten zu dürfen, und so erlaubten es die Eltern gelegentlich in einer kontrollierten Runde, dass sich die Familie über Aobra unterhielt.

Nachdem alle innerhalb des Steinkreises Platz genommen hatten, begann Frau Magilatti zu sprechen: »Wir müssen uns über Magdas erste Reise nach Aobra unterhalten. Wie ihr wisst, war die Reise für nächsten Sommer geplant. Aber es gibt Hinweise darauf, dass in Aobra derzeit große Veränderungen stattfinden. Es gibt Gerüchte, dass etwas Dramatisches passieren wird. Daher haben wir uns entschieden, Magdas Reise vorzuverlegen, und zwar auf die Herbstferien. Diese beginnen in fünf Wochen. Es bleibt daher nicht viel Zeit, alles vorzubereiten.«

»Wirklich, ich darf nach Aobra?«, Magda war begeistert.

»Ja«, nickte ihre Mutter. »Es sind zwar nur sechs Tage, aber wir werden uns bemühen, eine schöne Rundreise zu organisieren und dir und deinen Begleitern einen guten ersten Eindruck von dieser Welt zu verschaffen. Deine Geschwister werden dich begleiten.«

»Was?«, nun war es Maria, die von der Nachricht etwas überrascht war. »Ich weiß nicht, ob ich mir einfach so eine ganze Woche freinehmen kann. Ich habe einiges zu lernen und mein Praktikum kann ich nicht einfach unterbrechen.«

Auch Manuel hatte mit der Vereinbarung einer ganzen Woche Urlaub gewisse Probleme.

»Es wäre sehr wichtig, dass ihr euch diese Woche freinehmt. Möglicherweise ist es die einzige Chance für viele Jahre, dass Magda Aobra besuchen kann«, insistierte Rebecca Magilatti.

Maria und Manuel verzogen ein wenig das Gesicht, aber im Grunde freuten sie sich auch sehr, wieder einen Ausflug nach Aobra zu machen und ihre Schwester in die Geheimnisse und Wunder dieser Welt einzuführen. Darauf hatten sie schon seit Jahren gewartet.

DIE ABREISE

Einige Wochen später war es dann so weit. Herr und Frau Magilatti hatten eine Vielzahl von Telefonaten und Besprechungen über sich ergehen lassen, es war immerhin eine größere Gruppe, die es zu organisieren galt. Den Kindern war aufgetragen worden ihre Rucksäcke zu packen.

Die Abreise sollte beim Steinkreis hinter dem Haus der Magilattis stattfinden. Dort in einem Graben befand sich eine Baumgruppe, in deren Mitte fünf weißgraue, fußballgroße Steine einen Kreis bildeten, der durch ein kleines Bächlein durchbrochen wurde. Über diesen Bach hatte Herr Magilatti vor einigen Jahren eine Hängebrücke errichten lassen, um diesem Teil des Gartens ein abenteuerliches Flair zu verleihen. Außerdem verbarg die Brücke den Blick auf den Steinkreis, der sich schräg unterhalb der Brücke im Gebüsch befand, und schützte ihn so vor neugierigen Blicken. Einige Stunden zuvor waren mehrere Besucher angekommen. Nicht nur Magda sollte sich auf diese Reise begeben, sondern auch eine Gruppe anderer Kinder und so versammelte sich in dem kleinen Wäldchen vor der Hängebrücke eine Gruppe von Jugendlichen und noch mehr Erwachsenen.

Drei von Magdas Freundinnen, Mary, Ange und Lilly, waren bereits am Vorabend angereist und hatten bei Magda übernachtet. Die drei gehörten zu ihren besten Freundinnen und dennoch hatte sie bis zu diesem Abend nicht gewusst, dass deren Eltern ebenfalls Aobrareisende waren. Denn – so hatte es ihr Bruder erklärt – nicht jeder war dazu in der Lage. Man musste über eine gewisse Sensibilität und ein Gespür für die Natur verfügen, sonst verweigerten die Portale den Durchgang.

Natürlich war während der Nacht an Schlaf kaum zu denken. Sie hatten so viel zu besprechen und zu plaudern, dass die Zeit wie im Flug verging. Hinzu kamen noch die Aufregung und Nervosität wegen der bevorstehenden Reise in eine andere Welt. Da fiel es wirklich schwer zu schlafen.

Nach dem Frühstück liefen sie alle in den Garten, um zu sehen, wer sie auf ihrer Reise sonst noch begleiten würde. Tatsächlich waren noch Leo, Patrick und Samuel angekommen. Ebenfalls drei von Magdas ehemaligen Klassenkameraden. Auch diese johlten vor Freude los, als sie erkannten, dass die Reise in Begleitung von Magda, Mary, Ange und Lilly stattfand. Aber Herr Magilatti unterbrach die beginnenden Plaudereien: »Wir sind jetzt vollzählig. Bitte zügelt eure Wiedersehensfreude noch ein wenig. Ihr müsst jetzt aufbrechen. Es bleibt noch genug Zeit zum Plaudern. Außerdem solltet ihr euch in einer Stunde mit weiteren Teilnehmern treffen, also beeilt euch bitte.«

»Wer kommt denn noch?«, fragte Magda.

»Lass dich überraschen«, antwortete ihr Vater und lächelte.

Also schulterten alle ihre Rucksäcke, umarmten ihre Eltern und dann kletterten die vier Mädchen und die drei Jungs gemeinsam mit Maria und Manuel in den Graben. Dort befanden sich die fünf weißen Steine. Sie bildeten einen Kreis mit einem Durchmesser von etwa drei Metern. Ein kleiner Bach plätscherte leise mitten durch den Kreis. Die Jugendlichen umringten die glitzernden Steine. Maria erklärte die weiteren Schritte:

»Wenn wir jetzt in den Kreis treten, seid bitte alle ganz leise. Wir nehmen uns an den Händen und ihr wartet auf mein Zeichen. Sobald alle bereit sind, werde ich einmal nicken. Dann seht in die Mitte des Kreises und schließt die Augen. Denkt dabei an etwas Schönes, ein Spielzeug, einen guten Freund, ein Bild, eine Reise, egal was. Es soll ein positiver Gedanke sein. Im Idealfall etwas, was euch richtig glücklich macht. Zwei Dinge sind ganz wichtig. Lasst niemals die Hände eurer Nachbarn los und öffnet die Augen erst, wenn ich es sage. Habt ihr das verstanden?«

Die Freunde nickten, Die Anweisungen waren ja nicht schwer zu verstehen.

»Wiederholt das bitte«, Maria blickte streng in die Runde. Man sah ihr an, dass es ihr sehr ernst war.

»Wiederholt das bitte«, wollte Leo gerade sagen, er hielt das für witzig. Aber Patrick stieß ihn mit dem Ellbogen in die Rippen.

»Niemals die Hände loslassen und die Augen erst öffnen, wenn du es sagst«, stammelten sie mehr recht als schlecht im Chor und Maria nickte zufrieden.

Sie fassten einander an den Händen. Es war ein wenig eng innerhalb des Steinkreises, sie standen praktisch Schulter an Schulter. Aber Magda war froh darüber. Die Nähe der anderen zu spüren beruhigte sie. Aus irgendeinem Grund war sie sehr nervös. Sie redete sich ein, dass diese Reise nichts Besonderes war. Ihre Geschwister hatten solche Sprünge schon unzählige Male durchgeführt. Aber sie wusste auch, dass nicht alle dazu in der Lage waren. Was, wenn das bei ihr der Fall war? Sie sah sich um. Auch die anderen schienen nervös zu sein. Mary und Lilly starrten wie versteinert ins Leere und Ange kaute auf ihrer Unterlippe herum. Nur Patrick grinste ein wenig. Magda hatte gehört, dass er schon seit einem Jahr gelegentlich kurze Ausflüge nach Aobra mit seinen Eltern unternommen hatte. Für ihn war die Situation nicht neu. Als er Magda davon erzählt hatte, war sie ein wenig sauer auf ihre Eltern gewesen und wollte die Sache ausdiskutieren. Aber Frau und Herr Magilatti ließen nicht mit sich reden. Sie bestanden auf einer offiziellen ersten Reise und einem Mindestalter.

Außerhalb des Kreises standen die Eltern mit sorgenvollen Gesichtern und schwiegen ebenfalls. Niemand war sicher, ob die Kinder in der Lage waren zu reisen, und es wäre natürlich sehr enttäuschend, wenn das Portal einen oder vielleicht sogar mehrere Reisende zurückweisen sollte. Also herrschte auch bei den Erwachsenen eine gewisse Anspannung und diese Nervosität übertrug sich auf alle.

Maria wirkte konzentriert, so als würde sie auf etwas hören. Es war totenstill. Plötzlich nickte sie und nun schlossen alle anderen ihre Augen. In dem Augenblick schoss ein blauer Blitz aus der Mitte des Kreises, wand sich zuckend um die Kinder, die innerhalb des Kreises standen, und kehrte dann zur Mitte zurück. Magda nahm ein beunruhigendes Knistern und Krachen wahr. Vor Schreck wollte sie die Augen öffnen, da hörte sie ihre Schwester rufen:

»Mach verdammt noch einmal die Augen zu!«

Offenbar war ihr jemand zuvorgekommen und Magda war froh, dass sie nicht die Erste war, die die Nerven verloren hatte.

Als der blaue Blitz wieder in der Mitte des Kreises angelangt war, verharrte er für einen kurzen Augenblick, dann schoss er in den Boden. Gleichzeitig ertönte ein lautes, ohrenbetäubendes Rumpeln, wie ein kurzer, sehr naher Donner. Im selben Augenblick verschwand die ganze Gruppe.

Magda spürte, wie sich etwas um ihren Rücken wickelte und sie umklammerte. Es zuckte und zwickte ein wenig, aber sie hielt tapfer ihre Augen geschlossen, so wie ihre Schwester es gesagt hatte. Dann ertönte ein lauter Knall und im gleichen Augenblick fühlte es sich an, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Es war, als stürze sie in einen unendlich tiefen Abgrund. Einige schrien kreischend auf und Magda presste die Hände ihrer Nachbarn so fest zusammen, wie sie konnte. Aber auch diese drückten in ihrer Panik zurück, so dass es richtig wehtat. Aus der Ferne hörte Magda Marias Stimme: »Haltet die Augen geschlossen, es ist gleich vorbei!«

Magda versuchte ihre Füße zu bewegen, aber irgendetwas hinderte sie daran. Es war ein eigenartiges Gefühl, als würde sie auf dem Boden stehen und gleichzeitig fallen. Sie spürte, wie der Druck um ihren Rücken zunahm. Etwas versuchte sie zurückzuziehen, aus dem Kreis herauszuzwingen, aber sie hielt sich mit aller Kraft fest. Dieses Etwas schob sich langsam von ihrer Schulter nach unten, bis es sie wie ein breiter Gürtel umschlang, der sich um ihren Bauch spannte. Es war unheimlich, diesen Widerstand zu fühlen, aber nicht die Augen öffnen zu dürfen. Das Bedürfnis, nachzusehen, was sie da gepackt hatte und mit aller Kraft an ihr zerrte, war unerträglich. Sie konnte das breite Band um ihre Hüften deutlich spüren. Aber es war kein gewöhnlicher Gürtel. Er veränderte sich und bewegte sich. Aus der Innenseite des Gürtels wuchsen kleine Dornen, die langsam größer wurden und gegen ihren Körper drückten. Sie hatte das Gefühl, als wüchsen diese Dornen immer weiter, bis sie ihre Haut durchstießen und sich einen Weg durch ihren Bauch und ihre Brust in Richtung ihres Herzen bahnten. Es tat weh. Und immer noch hielt sie die Augen geschlossen. Davon hatte ihr niemand erzählt. Niemand hatte sie davor gewarnt, dass eine Reise durch ein Portal so schrecklich sein würde. Plötzlich überflutete ein heißes, brennendes Gefühl ihren Magen. Eine große Übelkeit überkam sie. Magda ächzte laut auf.

»Ich kann nicht mehr!«, rief sie.

Da ertönte Marias Stimme: »Es ist gleich geschafft.«

ZUM ERSTEN MAL IN AOBRA

Tatsächlich wurde es mit einem Mal warm, durch die geschlossenen Augenlider drang ein warmes, freundliches Licht und nun fühlte Magda wieder Boden unter ihren Füßen, sie spürte ihren Körper und sein Gewicht.

»Jetzt könnt ihr die Augen wieder öffnen«, sagte Maria.

Magda warf zuallererst einen entsetzten Blick auf ihren Bauch. Es fühlte sich an, als hätte ihr dort jemand mehrmals mit einem spitzen Gegenstand hineingestochen. Aber es war absolut nichts Ungewöhnliches zu sehen.

Dann brach sie zusammen. Ihr war so übel, dass ihre Füße sie nicht mehr trugen.

Maria und Manuel eilten ihr sofort zu Hilfe. Manuel gab ihr Wasser zu trinken und Maria bettete Magdas Kopf auf ihre Oberschenkel.

»Das war richtig furchtbar«, stöhnte Magda.

»Finde ich nicht«, widersprach Leo. »Ich fand das ganz witzig.«

Auch die anderen hatten die Reise gut überstanden und niemand sonst klagte über Probleme beim Übergang oder über Übelkeit. Maria und Manuel wechselten besorgte Blicke. War es möglich, dass Magda sich nicht zum Reisen eignete? Sie hatten davon gehört, nicht jeder war dazu in der Lage. Aber dass dies gerade bei ihrer Schwester der Fall sein sollte, war irgendwie undenkbar.

»Wahrscheinlich musst du dich erst daran gewöhnen«, vermutete Maria. »Manchmal benötigt der Körper ein paar Sprünge.«

Magda nickte. Ihr war es unangenehm, dass sie als Einzige so zusammengebrochen war.

»Es geht schon wieder«, sagte sie. Tatsächlich verklang die Übelkeit langsam und die Neugierde gewann die Oberhand. Sie war endlich in Aobra.

Die Gruppe stand auf einer Lichtung inmitten einer wunderschönen Oase. Diese umgab eine flimmernde Wüste. Unter einer glühenden Sonne erstreckten sich rote Felsen und rötlicher Sand rund um die kleine fruchtbare Insel. Die Oase bestand aus einer unwirklich grünen Wiese, in deren Mitte ein glitzernder, türkisfarbender Bach floss. Gespeist wurde der Bach aus einem kleinen Wasserfall, der aus einem hohen roten Felsen entsprang. Eine üppige Vegetation farbenprächtiger Pflanzen und Blüten schmückte die Oase. Magda sah Palmen mit dicht aufgefächerten, grünen Palmenblättern an ihrer Spitze. Diese Bäume trugen seltsame Früchte. Melonengroße rote, gelbe, braune, blaue und violette Beeren hingen unter den Baumkronen zwischen den grünen Wedeln und warteten darauf, geerntet zu werden.

»Und was jetzt?«, fragte Ange. Sie war ungeduldig und wollte die Gegend erkunden.

»Wir warten«, erklärte Manuel. »Einerseits sollen noch ein paar Begleiter zu uns stoßen und ich gehe davon aus, dass unsere Schutztiere demnächst auftauchen.«

Tatsächlich lief wenige Minuten später ein weißer Wolf über die Wiese auf die Gruppe zu. Leo entdeckte ihn zuerst.

»Ein Wolf!«, rief er. Es sollte dramatisch klingen, die anderen schockieren, aber irgendwie gelang ihm das nicht. Immerhin drehten sich alle nach dem Tier um, aber dessen strahlend weißes Fell verlieh dem Wolf eine Aura der Harmlosigkeit und außerdem hing eine schlackernde Zunge aus dem leicht geöffneten Maul. Es sah aus, als würde der Wolf lächeln. Das war einfach nicht beängstigend.

Der Wolf lief direkt auf Manuel zu, sprang einmal kurz an ihm hoch und ließ sich dann ausgiebig begrüßen und streicheln. Zur selben Zeit kletterten zwei ziemlich große und leuchtend grüne Eidechsen auf Marias Schulter. Der Wolf war Manuels Schutztier und die Eidechsen gehörten zu Maria. In der Welt der Menschen tauchten die Schutztiere nur selten so öffentlich auf, aber in Aobra konnten sie sich frei bewegen. Magda kannte die Schutzgeister bereits und beneidete ihre Geschwister um die Tiere. Sie hoffte schon seit langem, auch ihrem Schutztier zu begegnen. Aber Maria hatte ihr mehrfach erklärt, dass es am wahrscheinlichsten war, seinen Schutzgeist während eines Ausfluges nach Aobra zu treffen.

Auch Patrick hatte bereits einen Schutzgeist, dem er auf einer seiner Aobra-Reisen in Begleitung der Eltern begegnet war. Es war ein rotbrauner Fuchs, der hinter dem Wolf auf die Gruppe zugetrottet kam und nun artig vor Patrick auf dem Boden saß, während er etwas argwöhnisch die anderen Tiere betrachtete.

Alle anderen hatten noch keinen Schutzgeist und so begannen sie davon zu erzählen, welches Tier ihnen am liebsten wäre.

»Ich möchte auf jeden Fall eine Raubkatze, am liebsten einen Leoparden«, sagte Laila.

»Das ist doch ziemlich langweilig«, erwiderte Samuel. »Das will vermutlich jeder Zweite.«

»Was für einen Schutzgeist wünschst denn du dir?«, fragte ihn Leo.

»Etwas Ausgefallenes«, erwiderte der Gefragte. »Vielleicht einen Dinosaurier.«

»Besonders ausgefallen ist das nicht«, widersprach Manuel. »Es gibt einige Personen, die bereits Dinosaurier als Schutzgeister haben.«

»Das glaube ich dir nicht«, Samuel schüttelte ungläubig den Kopf.

»Mir wäre ein Vogel am liebsten, vielleicht ein Adler«, sagte Leo.

Maria lächelte freundlich und schwieg. Es war sehr unwahrscheinlich, dass diese Wünsche in Erfüllung gehen würden. In der Regel suchte sich der Geist seinen Schützling aus und nicht umgekehrt. Die Tiere wussten in Wirklichkeit besser, zu wem sie passten.

Magdas Blick wanderte hinüber zu Lilly. Diese beteiligte sich an der Diskussion nicht, sondern studierte aufmerksam den Himmel. Magda folgte ihrem Blick. Von dort oben näherte sich ein seltsamer Vogel. Je näher er kam, desto klarer wurde, dass das kein handelsüblicher Kanarienvogel war. Nun wurden auch die anderen auf das herannahende Ungetüm aufmerksam. Schließlich landete das Tier, das die Größe eines Kleinflugzeuges hatte, wenige Meter vor ihnen. Es legte seine Flügel an und nun stand da ein schreckliches, riesiges, knöchernes Untier. Ein lederhäutiger, federloser Vogel starrte die Gruppe neugierig an und klapperte dabei mit einem mächtigen, furchteinflößenden Schnabel voll spitzer Zähne.

»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Lilly, die hoffte, Maria und Manuel wüssten, was zu tun wäre. Sie wagte es aber nicht, sich nach den beiden umzudrehen, daher sah es so aus, als hätte sie die Frage an den Vogel gerichtet.

Maria und Manuel reagierten ganz anders als erwartet. Anstatt dem Rest der Gruppe Anweisungen zu geben oder einen geordneten Rückzug anzutreten, liefen beide mit ausgebreiteten Armen auf das Untier zu und Maria fiel dem Vogel um den Hals.

»Bill«, rief sie, »wie schön, dich zu sehen!«

»Ich freue mich auch sehr. Es ist schon eine Zeit her, dass ihr das letzte Mal hier wart«, antwortete das Tier.

»Scheiße, das Vieh kann sprechen«, fluchte Leo. Aber er fluchte leise, so dass nur Lilly und Samuel es hörten. Der Vogel war wirklich eine furchteinflößende Erscheinung.

»Kommt her«, rief Manuel. »Er tut euch nichts. Das ist Bill. Er ist ein Pterodactylus und ein guter Freund, der uns schon bei vielen unserer Abenteuer begleitet hat.«

Da erinnerte sich Magda an die Geschichten ihrer Geschwister und verstand jetzt, wer mit Bill gemeint war. In ihrer Vorstellung war Bill einfach ein riesiger Vogel gewesen. Das hier war ein Dinosaurier. Und er sah richtig furchterregend aus.

Manuel legte seine Hand auf Magdas Schulter.

»Das ist unsere Schwester Magda«, erklärte er Bill. Der Pterodactylus beugte sich ganz nach vorne, so dass sich sein Schnabel unmittelbar vor Magdas Nase befand. Dann starrte er sie eine Zeitlang neugierig an.

»Fürchtest du dich vor mir?«, fragte er dann.

Magda starrte tapfer zurück. »Nein«, sagte sie, aber ihre Stimme zitterte ein wenig.

»Es gibt auch keinen Grund, sich zu fürchten«, sagte Bill. »Du wirst sehen, wir werden noch viel Spaß miteinander haben. Es freut mich, dass auch du endlich nach Aobra reisen darfst. Ich habe schon viel von dir gehört, umso schöner ist es, dass wir uns endlich treffen.«

Magda war begeistert. Das hier war alles noch viel besser, als sie es sich vorgestellt hatte.

»Darf ich mit dir eine Runde fliegen?«, fragte sie.

»Das ist Punkt zwei der Tagesordnung«, unterbrach Maria lachend das Gespräch und nickte ihrer Schwester fragend zu: »Weißt du, wo wir sind?«

»Ich denke, wir sind im Tal der Saurier«, antwortete Magda. Sie zeigte auf die Palmen mit ihren auffällig bunten, melonengroßen Nüssen. »Und das sind die Früchte, von denen ihr immer so geschwärmt habt.«

Maria nickte: »Die müsst ihr unbedingt probieren.« Sie nickte Bill zu, der vorsichtig einige Früchte unterschiedlicher Farben von einer Palme zupfte und auf den Boden legte. Mit einem scharfkantigen Stein knackten Maria und Manuel sie auf und reichten sie herum. Das Fruchtfleisch hatte eine Konsistenz ähnlich einer reifen Zuckermelone, aber je nach Farbe der Schale unterschieden sich die Früchte im Geschmack. Die braunen schmeckten nach Schokolade, die roten nach Erdbeeren, die grünen nach Kiwi, die gelben nach Vanille. Es war wirklich köstlich und die kleine Gruppe konnte sich gar nicht daran satt essen. Bill musste immer wieder Nachschub von den Bäumen holen und jeder wollte unbedingt von jeder Sorte einmal kosten.

Als sie halbwegs satt waren, setzten sie sich an das Ufer des Baches, steckten ihre Füße ins kühle Wasser und ließen sich die Sonne auf den Bauch scheinen.

»So könnte ich es aushalten«, sagte Leo, riss ein paar Grashalme aus und versuchte diese auf Mary zu werfen. Die Halme zerstreuten sich in der Luft, wurden von einem leichten Windstoß erfasst und ein großer Teil des Grases fiel Leo selbst wieder ins Gesicht.

Maria und Manuel unterhielten sich mit Bill. Sie sprachen mit gedämpfter Stimme, so dass Magda nicht genau verstand, worum es ging. Sie glaubte aber zu hören, dass noch jemand zu ihnen stoßen würde und sie daher warten mussten. Magda legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Das Rauschen des kleinen Wasserfalls und das Gemurmel ihrer Geschwister wirkten richtig einschläfernd.

DER SCHWARZE TOD

Plötzlich hörte Magda lautes Gejohle. Es kam von oben und klang seltsam fern. Sie öffnete die Augen und sah, wie ein riesiger Schatten über sie hinwegglitt. Dem folgte ein zweiter. Es waren Flugsaurier. Auf den Rücken der Saurier saßen Personen. Und jemand winkte. Magda kniff die Augen zusammen. Auf einem der Saurier entdeckte sie Leonie und Laila, ihre Schulkameradinnen. Auf dem anderen glaubte sie Emelie zu erkennen. Magda winkte zurück. Als wollten sie eine Kostprobe ihrer Flugkünste zum Besten geben, flatterten die beiden Saurier steil nach oben und stießen dann im Sturzflug auf die kleine Lichtung hinab. Die Mädchen kreischten wie auf einer Hochschaubahn. Andere Flugsaurier ohne Passagiere kamen dazu und beteiligten sich an den Flugmanövern. Es sah aus wie ein kleiner Vogelschwarm, der in geordneter Formation waghalsige Kunststücke vorführte. Die Manöver wiederholten sich einige Male, während die Passagiere der beiden Flugsaurier vor Vergnügen schrien. Die kleine Gruppe unten am Boden bewunderte das Spektakel begeistert.

»Das muss ich unbedingt auch machen«, sagte Patrick.

»Das wirst du«, versicherte ihm Maria.

Die Vögel hatten nach ein paar Minuten genug von den akrobatischen Übungen und flogen eine letzte große Schleife über die felsige Ebene.

In der Ferne konnte man ein dumpfes Grollen hören. Anfangs war es niemandem aufgefallen, es erinnerte am ehesten an ein fernes Gewitter. Aber das Grollen wurde lauter und lauter, und mit zunehmender Lautstärke wurde klarer, dass sich etwas Gefährliches, Unheimliches näherte. Inzwischen war erkennbar, dass das Rumpeln nicht von oben aus den Wolken kam. Dieses beängstigende Geräusch drang aus dem felsigen Boden. Sie spürten, wie die Erde zitterte. Zunächst hatten sie alle ihre Aufmerksamkeit auf die Flugsaurier gerichtet, aber je näher dieses Donnern kam, je lauter es wurde, desto weniger interessant wurden deren Flugkünste.

Auf einmal war es still. Auch die Mädchen in der Luft kreischten nicht mehr. Die Flugsaurier hatten ihre Manöver beendet und schwebten abwartend in der Höhe. Es war, als sei alles um sie herum verstummt. Selbst der Wasserfall war kaum noch zu hören. Magda warf einen Blick zu ihren Geschwistern. Auch sie wirkten unsicher und ratlos. Etwas Unheilvolles lag in der Luft.

Nach einem kurzen Augenblick der Ratlosigkeit wussten die Flugsaurier, was zu tun war. Sie vollführten eine großräumige Schleife und steuerten auf die Oase zu. Man konnte erkennen, dass sie es plötzlich eilig hatten. Ihre spielerischen Bewegungen waren verschwunden. Mit aller Kraft bewegten sie ihre Flügel auf und ab. Ihre Körper waren gestreckt und angespannt. Sie flogen zielgerade zur Oase, um dort zu landen.

Plötzlich ertönte eine Explosion. Es war ein dumpfer Knall, laut und beängstigend. Der Boden bebte.

Unterhalb der Flugsaurier brach etwas mit großer Wucht aus dem Boden hervor. Ein Gemisch von Steinen, Erdschollen und Sand flog in die Luft und prasselte wie schwere Hagelkörner zu Boden. Durch die wachsende Wolke aus rotem Staub schob sich eine glänzende, schwarze Säule in die Höhe. Im ersten Augenblick sah es aus, als wäre es ein dünner, länglicher Fels, der da aus der Erde geschossen kam. Magda kniff die Augen zusammen und sah, dass der Rand dieser Säule waberte. Es musste eine Art Flüssigkeit sein.

Der Ausbruch geschah so schnell und überraschend, dass auch die Flugsaurier nicht reagieren konnten. Ein Pterodactylus wurde von der schwarzen Masse getroffen. Während die Säule in sich zusammenfiel, zog sie das arme Tier mit nach unten. Magda beobachtete, wie der Flugsaurier in Todesangst flatterte und kreischte. Aber er kam nicht von der schwarzen Masse los. Es sah aus, als klebte er mit einem seiner Flügel an der Säule fest. Am Boden verteilte sich die schwarze Masse, die nun am ehesten an zähflüssigen Teer erinnerte, und bedeckte alles unter sich. Auch den Pterodactylus. Das arme Tier versuchte sich zu befreien, es flatterte und strampelte wie wild, um dem zähflüssigen See zu entkommen. Aber je mehr der Flugsaurier kämpfte, desto mehr verfing er sich in der schwarzen Masse, die ihn immer mehr überzog, bis er schließlich vollkommen bedeckt war und nur noch eine wogende, schwarze Erhebung erkennen ließ, dass er noch lebte. Aber die Bewegungen wurden langsamer, bis sie schließlich ganz aufhörten. Innerhalb weniger Augenblicke hatte diese zähe, dunkle und unheimliche Masse das arme Tier getötet.

Die anderen Vögel waren der emporschießenden Säule erschrocken ausgewichen und beeilten sich zu landen. Kaum hatten sie sich jedoch etwas in der Luft stabilisiert, schoss die nächste Fontäne in die Höhe. Diesmal verfehlte die schwarze Masse einen der Flugsaurier nur knapp. Dieser erschrak, klappte die Flügel ein, kippte zur Seite und begann zu Boden zu trudeln. Diese Reaktion hatte verheerende Folgen. Durch das unerwartete Ausweichmanöver wurden Leonie und Laila, die auf dem Rücken des Tieres saßen, aus ihrer Sitzposition geworfen. Verzweifelt versuchten sie sich irgendwo festzuhalten, aber die Haut des Sauriers war glatt und straff, so dass es nichts gab, was ihnen Halt gegeben hätte. Die zwei Mädchen rutschten über den rechten Flügel und fielen dann hilflos und schreiend in Richtung des harten Felsbodens, der von der schwarzen, todbringenden Masse überzogen war.

DER UNTERGANG DES UNIVERSUMS HAT BEGONNEN

In einem großen von Sonnenlicht durchfluteten Gewächshaus standen zwanzig Personen im Kreis um einen am Boden verstreuten Haufen aus Erde, Blättern, verkohlten Pflanzenresten und Bruchstücken eines grauen Topfes, der unversehrt eine beachtliche Größe gehabt haben musste. Die Scherben ließen erkennen, dass es ein sehr altes Gefäß gewesen war. An den Außenflächen waren Schriftzeichen zu sehen. Zeichen einer alten, längst vergangenen Kultur.

Es war eine eigenartige Versammlung. Ein Uneingeweihter hätte wahrscheinlich einen vorgezogenen Karneval vermutet oder ein Treffen eingeschworener Cosplay-Fans. Abgesehen von einigen wenig auffälligen Menschen standen in der Runde äußerst ungewöhnliche Wesen. Es waren Außerirdische, die aus allen Ecken des Universums angereist waren, um sich ein Bild von der Katastrophe zu machen und um zu helfen. Alle blickten betroffen auf die verkohlten Überreste am Boden. Eine Frau weinte bitterlich, während ein Mann ihre Hand hielt und sich bemühte sie zu trösten. Daneben standen mit ernsten Gesichtern Frau und Herr Magilatti und ein sehr kleiner älterer Mann mit langem, weißem Bart. Neben ihm stand ein etwa zwei Meter großer, blauer Schneemann. Der kleine Mann war Professor Walauanuu. Er bewegte bedächtig den Kopf hin und her und runzelte sorgenvoll die Stirn: »Das ist eine Katastrophe«, sagte er und strich sich mit der Hand über seinen Bart.

»Er hat mein Schutztier getötet«, schluchzte die Frau und nickte in Richtung eines leblosen Körpers, der in einer Ecke des Gewächshauses am Boden lag. Es war ein schwarzer Panther.

»Es tut mir sehr leid, Andrea«, versuchte Rebecca Magilatti die weinende Frau zu trösten. »Ich weiß, der Panther war ein treuer und mächtiger Schutzgeist. Ich kann nicht verstehen, warum jemand so etwas Abscheuliches tut. Wissen wir denn, wer es war?«

»Ich bin überzeugt davon, dass das Orons Werk ist«, antwortete der Mann gegenüber. »Wir haben ihn beide gesehen, als er von unserem Grundstück flüchtete. Gewiss, es war Nacht, aber diese Gestalt und dieser Umhang sind unverwechselbar.«

»Es spricht viel für Oron als Täter. Es gibt wenige, die in der Lage sind, einen so mächtigen Schutzgeist zu töten«, sagte Professor Walauanuu. »Wir sollten aber nicht die Möglichkeit außer Acht lassen, dass womöglich jemand sich bloß wie Oron verkleidet hat, um ihm diese Tat in die Schuhe zu schieben.«

Der Mann nickte: »Das ist natürlich möglich. Nur, wer sonst sollte so eine Wahnsinnstat begehen? Das ist die schlimmste und gleichzeitig sinnloseste Tat, die man sich überhaupt vorstellen kann. Durch die Zerstörung des Farns vernichtet er alles Lebendige in diesem Universum. Das schließt auch ihn selbst ein.«

Professor Walauanuu blickte betrübt zu Boden. Er war einer der klügsten Köpfe mehrerer Welten, aber auch ihm fiel kein Grund ein, warum man eine derart schreckliche Tat begehen sollte. Dieser eine Farn war, so wie seit Urzeiten seine Vorfahren, der einzige existierende Wächter des lebendigen Universums gewesen. Er wachte über die Natur, die Leben ermöglichte, er hielt sie im Gleichgewicht, so dass sich Leben entwickeln und erhalten konnte, und er beschützte diese Welten vor den kalten, lebensfeindlichen Kräften, die das Universum beherrschten. Das Universum war für jegliches Leben tödlich. Die Farne auf diesem im Universum zentral gelegenen Planeten hatten es geschafft, Leben zu ermöglichen und zu erhalten. Dieser hier war der Letzte seiner Art. Er pflanzte sich von Zeit zu Zeit fort, indem er seine Sporen fallen ließ und, nachdem eine junge Pflanze aufgegangen war, verwelkte. Man musste die Pflanze behüten und schützen. Deshalb hatte man sie in die Obhut von besonders verlässlichen und verantwortungsbewussten Menschen gegeben. Es war eines der größten Geheimnisse und wurde seit Jahrtausenden erfolgreich gehütet.

»Was geschieht nun?«, fragte Herr Magilatti. »Was kommt auf uns zu? Womit müssen wir rechnen?«

»Es fällt mir schwer, es auszusprechen«, antwortete der Professor, »aber uns erwartet nichts anderes als das Ende aller Welten. Die Gravitationskräfte werden sich verändern, die dunkle Materie, vor der uns der Farn bisher beschützt hat, wird an Masse zunehmen und unsere Planeten beschießen wie ein dichter Meteoritenhagel. Die Atmosphären werden kollabieren, die Luft, die wir atmen, wird sich im Universum verlieren und unsere Planeten werden zu leeren und öden Himmelskörpern. Die Spinne frisst ihr Netz auf.«