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Wer ist Freund, wer Feind - und wer ist beides?
Ex-Army-Ranger Travis Devine soll die zwölfjährige Betsy Odom nach dem Tod ihrer Eltern zu ihrem Onkel begleiten, gegen den das FBI ermittelt. Aber Devine bemerkt schnell, dass nicht alle das Wohlergehen des Mädchens im Sinn haben. Was weiß Betsy wirklich über den Tod ihrer Eltern? Und wer will verhindern, dass die Wahrheit darüber ans Licht kommt? Devine sucht nach Antworten und findet eine Verschwörung, in die sogar seine Erzfeindin, die mysteriöse Frau aus dem Zug, verwickelt zu sein scheint. Ist der Moment gekommen, an dem sie und er sich zum ersten Mal gegenüberstehen? Um zu überleben, muss Devine herausfinden, auf wen er sich verlassen kann - und wer ihn wieder einmal ans Messer liefern will.
Der 3. Fall für Ex-Army-Ranger Travis Devine - unabhängig lesbar
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Seitenzahl: 595
Veröffentlichungsjahr: 2025
[Cover]
[Inhalt]
Über das Buch
Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Danksagung
[Feedbackseite]
Ex-Army-Ranger Travis Devine soll die zwölfjährige Betsy Odom nach dem Tod ihrer Eltern zu ihrem Onkel begleiten, gegen den das FBI ermittelt. Aber Devine bemerkt schnell, dass nicht alle das Wohlergehen des Mädchens im Sinn haben. Was weiß Betsy wirklich über den Tod ihrer Eltern? Und wer will verhindern, dass die Wahrheit darüber ans Licht kommt? Devine sucht nach Antworten und findet eine Verschwörung, in die sogar seine Erzfeindin, die mysteriöse Frau aus dem Zug, verwickelt zu sein scheint. Ist der Moment gekommen, an dem sie und er sich zum ersten Mal gegenüberstehen? Um zu überleben, muss Devine herausfinden, auf wen er sich verlassen kann – und wer ihn wieder einmal ans Messer liefern will.
David Baldacci, geboren 1960, war Strafverteidiger und Wirtschaftsanwalt, ehe er 1996 mit DER PRÄSIDENT (verfilmt als ABSOLUTE POWER) seinen ersten Weltbestseller veröffentlichte. Seine Bücher wurden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt und erscheinen in mehr als achtzig Ländern. Damit zählt er zu den Top-Autoren des Thriller-Genres. Er lebt mit seiner Familie in Virginia, nahe Washington, D.C.
DAVID BALDACCI
DERFEINDIN MEINERNÄHE
THRILLER
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Dietmar Schmidt
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»To Die For«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2024 by Columbus Rose, Ltd.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2025 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6-20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten. Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Textredaktion: Frauke Meier, Hannover
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille
Umschlagmotiv: © Perfect Lazybones/shutterstock
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-8434-4
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Zur Erinnerung an Guinness, die andere Hälfte unseres hündischen dynamischen Duos. Sechzehn Jahre lang hast du stets Liebe geschenkt, Guinn. Ich werde dich niemals vergessen.
Travis Devine blieb im Taxi sitzen, starrte auf den Zettel, den er soeben in seiner Manteltasche gefunden hatte, und fragte sich, wie viele Minuten er noch zu leben hatte.
Dabei hatte er nichts weiter gewollt, als sich mit einer Tasse überteuertem Kaffee und einem guten Buch einen gemütlichen Abend zu machen, nachdem er während seiner letzten Mission mehrmals beinahe das Leben verloren hätte.
Ich trage keine Uniform mehr, warum also bin ich anscheinend noch immer mitten im Gefecht?
Devine war gerade aus Maine zurückgekehrt, wo die meisten Leute hinfuhren, um zu angeln, zu wandern und der Natur nahe zu sein. Er hingegen hatte sich mit Leuten herumschlagen müssen, die ihn ohne Trauergottesdienst unter die Erde bringen wollten.
Er las die Worte noch einmal.
Wie nett, dass wir uns auf dem Flughafen begegnet sind, ehemaliger Captain Devine. Zweimal haben wir Sie nicht erwischt. Aber Sie wissen ja, wie man sagt: Aller guten Dinge sind drei. Hoffen darf man ja. Wir sehen uns bald. Versprochen.
XOXO
Die Frau im Zug
Der Taxifahrer, ein graubärtiger Sikh mit einem Pagri,sah Devine an und sagte hilfsbereit: »Halten Sie Ihre Karte oder Ihr Handy einfach an den Bildschirm, Sir, und folgen Sie den Anweisungen. Ist easy-peasy.«
Devine sah zu ihm hoch, berührte mit seinem Mobiltelefon das Gerät, das auf der Plastikscheibe zwischen den Vorder- und Rücksitzen des Fahrzeugs angebracht war, und schloss die Transaktion ab.
»Sehen Sie, easy-peasy«, sagte der Fahrer.
»Ja, easy-peasy.«
Devine stieg aus und nahm seine Tasche mit, seine Glock und sein Misstrauen gegen alles und jeden.
Einen Moment lang musterte er seine Umgebung mit einem 360-Grad-Blick. Wonach er suchte, konnte er nicht genau sagen; er wusste nur, dass es da war. Sie war da. Zuerst in dem Zug, der wie ein Adler durch die Schweizer Alpen geglitten war, dann auf dunklen, abgelegenen Landstraßen im mörderischen und arschkalten Maine, und jetzt hier in Spuckweite zur Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika.
Anscheinend entwickelte die »Frau im Zug« eine Art Besessenheit von ihm.
Devine betrat das Hotel, in dem er ein Zimmer gebucht hatte. Zurzeit hatte er keinen festen Wohnsitz. Sein Beruf ließ nicht zu, dass er irgendwo Wurzeln schlug, und das Gleiche galt für sein Temperament. Da die Leute ihn gewöhnlich entweder umbringen oder ihm diverse Schwerverbrechen anhängen wollten, wäre er sowieso der schlimmste Mieter oder Nachbar der Welt gewesen. Bei ihm war man aber an der richtigen Adresse, wenn man auf Heckenschützen stand, die aus großer Entfernung durch die Küchenfensterscheibe auf einen schossen, oder auf C4-Ladungen unter den Blumentöpfen auf der Veranda vor der Eingangstür.
Vielleicht sollte ich aufhören, in die Altersvorsorge einzuzahlen, denn bis zur Rente halte ich sowieso nicht durch.
Er ging am Empfang vorbei und weiter zum Hintereingang. Devine verließ das schicke Gebäude nach links und beschleunigte den Schritt. Morddrohungen erforderten praktisch immer eine Planänderung, und er hatte nicht die Absicht, sich zu einem leichten Ziel zu machen. Vielmehr verlangte das Regelwerk, dass man es den anderen so schwer wie möglich machte. Andernfalls nutzten gewisse Leute diese Schwäche nur aus.
Im Widerspruch zu dem, was auf dem Zettel stand, hatten sie bereits dreimal versucht, ihn umzubringen, den ersten Anlauf im Hochgeschwindigkeitszug von Genf nach Mailand eingerechnet. Deshalb wäre es nun der vierte Versuch, was alles andere als erfreulich war; nicht dass ein gewaltsamer Tod je erfreulich gewesen wäre. Aber schafften sie es, ihn zu ermorden, läge es wohl mehr an seinem Versagen als an ihrem Können.
Er textete seinem Boss, Emerson Campbell, und meldete die Morddrohung.
Campbell antwortete auf der Stelle. Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir kommen und holen Sie.
Devine antwortete: Nein, ich komme zu Ihnen. Wenn ich das nicht schaffe, wünsche ich meinem Nachfolger viel Glück. Statt Blumen bitte eine Spende an den Veteranenverband.
Er betrat ein Bürogebäude und fuhr mit dem Aufzug in den fünfzehnten Stock, wo er durch die Fensterwand die Straße unter sich beobachtete. Zeit und etwas Distanz zum eigentlichen Schlachtfeld ermöglichten es, die Dinge zu durchdenken und Details zu erkennen, die sich später vielleicht als unverzichtbar für das eigene Überleben erweisen mochten. Wenn die Kugeln erst flogen und man sich fühlte wie im pochenden Herz eines ausbrechenden Vulkans, zog Devine das reine Glück Verstand und Geschick vor. Je härter er aber arbeitete, desto mehr Glück schien er zu haben, eine Art Ausgleich in einer Welt, die davon abgesehen nicht sonderlich viel Sinn ergab.
Devine sah Pärchen, die Bars oder Restaurants betraten; Familien, die dahin gingen, wohin Familien auch immer gingen; Werktätige, die zu ihrem ersten, zweiten, dritten oder x-ten Job hasteten; Nichtstuer, die nichts taten, während sie auffallend lange Zigaretten oder Tuttifrutti-Vapes liebkosten. Ihm fiel jedoch niemand auf, der den Eindruck vermittelte, Tötungsabsichten im Allgemeinen oder gegen ihn im Besonderen zu hegen. Von seinem Standpunkt aus war es eine echte Schande, dass er sich ganz umsonst in einem Kampfgebiet eine erhöhte Position gesichert hatte, die normalerweise viele Erkenntnisse hätte zeitigen sollen.
Während Devine mit dem Aufzug wieder nach unten fuhr, überlegte er, wie er weiter vorgehen wollte. Auf halber Strecke hatte er die Bruchstücke eines Plans beisammen. Als der Fahrstuhl im Erdgeschoss anhielt, war eine Strategie formuliert, die eine circa fünfzigprozentige Aussicht auf Erfolg versprach. Mit dieser Chance musste er sich vorerst zufriedengeben.
Devine blieb stehen, spähte aus der Aufzugskabine und begann mit seiner Kampfatmung: vier Sekunden einatmen, vier halten, vier ausatmen, vier halten. Und wiederholen. Er rechnete nicht damit, zu töten oder getötet zu werden, sobald er aus dem Fahrstuhl stieg, aber sein Geist und seine Nerven brauchten einen Neustart, und den bekam er, indem er Luft in kontrollierter Weise einsaugte und aushauchte.
Er verließ den Aufzug. Wer immer es auf ihn abgesehen hatte, diese Leute verdienten sich mit dem Töten ihren Lebensunterhalt, ganz wie er selbst, jedenfalls in gewisser Weise. Nur ging er davon aus, dass er moralisch auf höherer Stufe stand. Doch wer konnte das schon genau wissen? Wer tot war, war tot, und den Siegern blieb es überlassen, die Geschichte zu erzählen, wie es ihnen passte.
Er winkte ein Taxi heran, schickte es aber gleich wieder fort, als seine Warnsensoren prickelten, obgleich vielleicht einfach nur Paranoia dahintersteckte. Vorsicht, auch wenn sie übertrieben war, war schließlich besser als Tod. Er ging ein paar Blocks zu Fuß und beobachtete aus der Lobby eines anderen Hotels, wie auf der gegenüberliegenden Straßenseite der zerbeulte silberne Honda anhielt, den er über Uber gerufen hatte. Der Fahrer war am Handy, möglicherweise, um jetzt schon in Erfahrung zu bringen, wohin er als Nächstes musste.
Während er weiter beobachtete, schlenderten zwei Männer in sein Gesichtsfeld. Die Beulen unter ihren Jacken verrieten, dass sie Waffen trugen. Die Beulen am hinteren Hosenbund waren untrügliche Zeichen für die Funkgeräte, an denen die Mono-Headsets mit den geringelten Kabeln hingen, durch die sie beim Kommunizieren die Hände frei behielten.
Sie bemühten sich allzu sehr, cool zu wirken, nonchalant, und sie sahen sich auch pflichtgetreu niemals an. Ihre Waffen, ihre Kommunikationstechnik und die geschmeidige Synchronizität ihrer Bewegungen waren alles, was Devine benötigte, um zu erkennen, dass sie mit der festen Absicht zusammenarbeiteten, sein Leben zu beenden – es sei denn, der US-Präsident befand sich auf dem Weg hierher und sie bildeten das Vorauskommando des Secret Service. Aber wie Gesetzeshüter sahen sie nicht aus. Sie sahen aus wie das genaue Gegenteil.
Für Devine wurde diese Möglichkeit zur Gewissheit, als er den wuchtigen schwarzen Lincoln-SUV mit rundum dunkel getönten Scheiben bemerkte, der in Sicht glitt wie eine Schlange, die sich aus ihrem Loch wälzte und nach einem Abendessen umsah.
Sie wissen vom Uber. Und sie sind mir vermutlich vom Flughafen aus gefolgt. Der SUV soll mich zu der Frau im Zug bringen, damit sie sich angemessen von mir verabschieden kann. Mit einer Kugel durch den Kopf. Aber daraus wird nichts. Jedenfalls nicht jetzt. Ich habe zu tun.
Im sauberen Bogenwurf landete sein Handy im Mülleimer, denn es war eindeutig kompromittiert und kam einem Ziellaserstrahl an seinem Kopf gleich. Er schaltete es weder ab, noch nahm er die SIM-Karte heraus oder zerschmetterte es; sollten sie ruhig Zeit damit verlieren, es zu seinem letzten Ruheplatz zu verfolgen (und ihn, würden sie glauben). Ohne Zugriff auf die Cloud, für die sein Gesicht und sein Passwort benötigt wurden, war das Handy kein Hort wertvoller Daten, sondern ein nutzloser Ziegelstein.
Devine verließ das Hotel durch den Hinterausgang, fand einen altmodischen Taxistand vor einem anderen teuren nordvirginischen Hotel und stieg in das vorderste Fahrzeug.
Er nannte dem Fahrer die Adresse und sagte: »Schnell wie der Wind, mein Freund.«
»Ich will keinen Strafzettel.« Der Mann musterte Devine im Rückspiegel.
Devine ließ seine Dienstmarke aufblitzen. »Keine Sorge, bekommen Sie nicht. Fahren Sie einfach.«
Der Fahrer erkannte das geprägte Symbol einer Bundesbehörde.
»Sie sind der Boss«, brummte er.
»Im Moment bin ich das«, sagte Devine.
Auf der ganzen Fahrt hielt Devine wachsam Ausschau, während sie sich mit Tausenden anderen Fahrzeugen auf den Umgehungsstraßen der Hauptstadt durch das Hamsterrad quälten, das als DC-Metro-Rush-Hour bekannt war und tatsächlich mehr Stunden anhielt, als irgendein müder Pendler sich jemals freiwillig eingestehen würde. Ein weiterer Grund, weshalb Devine nie einen Schreibtischjob mit festen Arbeitszeiten gewollt hatte.
Als sie den Highway verließen, war er sich dessen allerdings nicht so sicher.
Annandale war ein Tummelplatz für Familienbetriebe in Einwandererbesitz und Restaurants mit einer Vielfalt internationaler Küchen, deren Aromen die Ausgehungerten immerfort anlockten. Auf diesem Abschnitt bildete der US 50 eine chronisch verstopfte Arterie voller müder Reisender, die geradewegs aus dem Herzen der Hauptstadt kamen oder dorthin wollten. Nirgendwo schien ein Grund ersichtlich, die alltäglichen Aktivitäten der Geschäfte und der Pendler in Annandale mit etwas Geheimem in Verbindung zu bringen.
Genau das war der springende Punkt und zugleich der einzige Grund für Devines Anwesenheit.
Er überraschte den Fahrer, indem er mit Bargeld bezahlte, und stieg aus. Sein Blick schweifte in alle Richtungen, während er nach potenziellen Bedrohungen Ausschau hielt.
Die Ladenzeile sah aus wie Tausende anderer Ladenzeilen überall in den USA, bei denen billig und uninspiriert das gemeinsame und unverkennbare Charakteristikum eines Landes bildeten, das in Trümmer fiel, nachdem ein kapitalistischer Exzess darüber hinweggefahren war. Das dort untergebrachte kleine Büro wirkte so nichtssagend, dass man seine Existenz nach drei oder vier Schritten vergessen hatte.
Ganz wie beabsichtigt.
Im Schaufenster stand ein Schild mit der Aufschrift: NUR MIT TERMIN.
Selbst wenn er sonst wenig Anlass zur Heiterkeit hatte, musste Devine über dieses Requisit der Täuschung lächeln.
Das Büro gehörte dem Office of Special Projects, einer winzigen Heimlichtuer-Truppe im überfüllten Zirkuszelt des Department of Homeland Security, kurz DHS. Dieses Heimatschutzministerium war ein Konglomerat aus etlichen Bundesbehörden, von denen jede ein eigenes Akronym mitbrachte.
Devine ging davon aus, dass selbst im Heimatschutzministerium nicht gerade viele von der Existenz des OSP wussten. Für diese kleine Boots-on-the-Ground-Organisation, die oberhalb ihrer Gewichtsklasse kämpfen konnte und es auch oft tat, arbeitete er. Allerdings war er nicht ganz freiwillig in ihre Dienste getreten.
Devine war ein Closer, ein Problemlöser. Er war Aufklärer, Ausputzer und Ermittler, und manchmal musste er töten, um ein Missionsziel zu erreichen oder selbst weiterzuatmen. Er versuchte, darüber nicht allzu viel nachzudenken, genau wie früher, als er für sein Land noch eine Uniform getragen hatte. Doch Töten blieb Töten, ganz gleich aus welchem Grund, aus edlen Motiven, aus Grausamkeit oder einer Kombination davon. Empfand man beim Töten nichts, war man vielleicht gänzlich empfindungsunfähig und ähnelte einem Ted Bundy, John Wayne Gacy oder Jeffrey Dahmer, und das war noch nie Devines Lebensziel gewesen.
Drinnen, in einem Büro, das mit ramponiertem Behördenkram aus zweiter Hand ausgestattet war, setzte er sich Emerson Campbell gegenüber. Sein Boss war ein Zwei-Sterne-General der Army im Ruhestand, dessen Aversion gegen hirnrissige Wehrpolitik ihn die verdiente Aussicht auf den dritten und vierten Stern gekostet hatte. Seine eisengrauen Haare trug Campbell kurz geschnitten, und er hatte die Bleirohrfinger eines Arbeiters, einen Hals wie ein Baumstamm und ein leises Flüstern, das bedrohlicher wirkte als das speichelfeuchte Gebrüll eines Drillsergeants. Er verdiente ein edleres Ambiente, aber Devine wusste auch, dass der Mann darauf nichts gab. Er hatte sich durch infernalische Kriegsschauplätze gekämpft; eindrucksvolles Mobiliar und mit Erinnerungsfotos gepflasterte Wände, wie man sie in den Generalsbüros im Pentagon hatte, erzeugten keinen Ausschlag auf Campbells interner Wohlfühlskala.
Er beäugte Devine wachsam. »Probleme auf dem Weg?«
»Davon abgesehen, dass sie über jede meiner Bewegungen im Bilde zu sein scheinen, gar keine. Übrigens brauche ich ein neues Handy. Mein altes liegt in Reston in einer Mülltonne. Und neues Plastikgeld. Die alte Karte war vermutlich auch gehackt.«
Campbell verschickte eine Textnachricht, und eine Minute später lagen ein neues Mobiltelefon und eine neue Kreditkarte vor Devine.
Devine steckte beides ein. »Ihre Assistentin, Dawn Schuman? Sie dachten doch, sie wäre das Leck, mit dem ich mich herumschlagen muss.«
»Wir haben weder sie noch ihre Leiche gefunden. Noch nicht. Aber es scheint klar zu sein, dass sie diejenige welche war. Ich finde es noch immer schwer zu glauben, dass sie umgedreht worden ist, aber für ihr Verschwinden gibt es keine andere Erklärung.«
»Das heißt, sie hat mein Handy kompromittiert, bevor sie abgehauen ist?«
»Oder den Leuten, mit denen sie sich eingelassen hat, die nötigen Informationen gegeben, um es zu knacken.«
»Ich habe wohl Glück, dass ich von der Frau im Zug keine Spritze mit Fentanyl verpasst bekommen habe, als sie mir den Zettel zugesteckt hat.«
»Ich bin tatsächlich überrascht, dass nichts dergleichen passiert ist«, merkte Campbell an.
»Und hoffentlich erleichtert«, fügte Devine kühl hinzu.
Campbell taxierte ihn auf militärische Art: Starren, Funkeln, aber dann, wie aus dem Nichts, ein Hauch von Verständnis, Mitgefühl sogar. »Hören Sie, Devine, ich weiß, Sie sind angepisst wegen der Sache, und das ist Ihr gutes Recht. Aber wir haben alles getan, was wir konnten, um das Problem so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen.«
»Gut, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich darauf zählen kann, dass sie weiter nur Idioten schicken, die ich töten kann, bevor sie mich töten.«
»Ich verstehe Ihre Frustration, Soldat. Wirklich.«
»Dann gibt es in dem Punkt für mich offenbar nichts weiter zu tun, Sir.« Er holte vier Sekunden lang Luft, um die Wut in seiner Brust zu bändigen. »Was jetzt?«
»Ein anderer Einsatz. Westküste.«
»Warum? Damit ich weit, weit weg von hier bin?«
»Und damit Sie dort sind, wo Sie gebraucht werden. Um jemanden zu beschützen.«
»Jetzt bin ich also ein besserer Leibwächter?«
»Und vielleicht gibt es eine Begegnung mit der Vergangenheit.«
»Okay, jetzt haben Sie meine volle Aufmerksamkeit.«
»Danny Glass? Klingelt bei dem Namen etwas?«
Devine nickte. »Irak. Wir wurden für einen Einsatz zusammengebracht. Was er getan hat, hat uns allen den Arsch gerettet. Ich habe ihn für eine Belobigung vorgeschlagen. Inwiefern ist er involviert?«
»Kurz nach dem Gefecht, von dem Sie reden, hat er die Army verlassen. Er steht in keinem guten Ruf.«
»Ich habe ein paar Latrinenparolen über ihn gehört, aber erklären Sie es mir ruhig genauer.«
»Er ist Angeklagter bei einem großen Strafprozess in Seattle. Ein Freund von mir im Justizministerium hat mich angesprochen. Wollte wissen, ob ich einen guten Mann für den Einsatz hätte. Er hat erwähnt, dass Danny Glass in die Sache verwickelt ist, und mir fiel ein, dass Sie Glass aus Ihrer Militärzeit kennen. Es schien gut zu passen. Ich habe Sie meinem Freund vorgeschlagen, und er war einverstanden.«
»Und trauen Sie Ihrem Freund?«
»Ja. Wir haben zusammen gedient, bevor er auf die zivile Seite gewechselt ist. Hab ihm mal das Leben gerettet.«
»Im Kampf?«, fragte Devine.
»Nein, in L. A. auf dem Freeway. Amokfahrer.«
»Okay, was noch?«
»Glass hat eine Nichte namens Betsy Odom. Sie ist zwölf. Ihre Eltern sind vor Kurzem gestorben, und Glass ist ihr einziger lebender Verwandter. Er möchte ihr Vormund werden und sie später adoptieren.«
»Und warum interessiert sich das Justizministerium dafür?«
Campbell nahm eine altmodische Pappaktenmappe aus der Schreibtischschublade und warf sie ihm hin. »Um ganz offen zu sein, ich weiß nicht alles, und das gefällt mir nicht besonders. Bei der Army sind wir nicht so vorgegangen, aber anscheinend müssen wir bei gemeinschaftlichen Einsätzen damit leben. Trotzdem werde ich tun, was ich kann, um ein vollständigeres Bild zu erhalten. Alles was ich herausfinde, erfahren Sie sofort. Ich mag es nicht, meine Leute mit halbgaren Anweisungen in Gefahr zu bringen.«
Devine entspannte sich und sank tief in den Sessel. Er respektierte diesen Mann sehr, der in gewisser Weise eine ältere Version seiner selbst war. Und Campbells Schlusssatz hatte Devine in jeder Hinsicht beruhigt.
»Na, was bleibt mir sonst, außer Zeit zu verbrennen und Blut zu vergießen, Sir? Legen wir los.«
Zwei Nächte später marschierte Devine sicheren Schrittes eine steile, rutschige Straße in Seattle hinauf, während die von Küstennebel durchzogene Dunkelheit ihn einhüllte wie die Deckenburg eines Kindes. Die Steigung von beinahe fünfundvierzig Grad beschleunigte seinen Herzschlag. Wenigstens trug er keinen Vierzig-Kilo-Rucksack, nur einen 200-Milliliter-Pappbecher mit Kaffee.
Hinter ihm erstreckte sich der Hafen voller geschäftlicher, militärischer und der Erholung dienender Aktivitäten, allesamt nautischer Natur. Vor ihm breitete sich der Rest der Stadt auf mehreren Hügeln aus wie eine moderne Festung, die freien Blick auf anrückende Heere bietet. Er wohnte in einem Hotel und war auf dem Weg zu einem anderen, um jemanden zu treffen. Zwei Personen, um genau zu sein. So wenige Informationen er auch hatte, so viel wusste er doch.
Der Flug nach Seattle war ereignislos verlaufen. Fünf Stunden in einer A320 der United Airlines. Campbell hatte ein Erster-Klasse-Ticket spendiert, damit Devine in dem Jet mit dem schmalen Rumpf wenigstens die langen Beine ausstrecken konnte. Er hatte sich auch den Luxus eines Biers gegönnt, das in dieser Klasse gratis war. Auf jeden Fall war das besser als ein Kotzsitz in einer vollgepackten C-130 der Air Force, andererseits hätte dafür auch ein Platz in der Touristenklasse oder sogar draußen auf der Tragfläche gereicht.
Zu dieser Jahreszeit war es in Seattle immer kalt, regnerisch und neblig. Devine kannte die Stadt von früher und fand sie in gewisser Hinsicht interessant und stimmig. Aber wie in jeder Metropole konnte einen auch hier jederzeit etwas anspringen und ohne große Vorwarnung in den Hintern beißen.
Er fand sein Ziel in einem Teil der Stadt, der noch auf sein Facelifting wartete. Das vierstöckige Hotel klemmte zwischen einem Vape-Shop und einer Cannabisausgabestelle, deren Ziegelfassade mit Plastikefeu beklebt war. Die Geruchsmischung erinnerte ihn daran, wie er in einen Müllcontainer geworfen worden war, Teil eines inoffiziellen Aufnahmerituals in West Point, veranstaltet von einem halben Dutzend betrunkener Kadetten aus dem Abschlussjahrgang, die nun allesamt Männer in Uniform befehligten.
Die kleine, schäbige Lobby war leer, der ramponierte Aufzug außer Betrieb. Immerhin gab es einen runden Tisch mit einem silbernen Kaffeespender, einem Stapel Becher und einem Schild mit der Aufschrift: WARMER APFELSAFT – BEDIENEN SIE SICH!
Devine bediente sich nicht. Er warf seinen Kaffeebecher in einen Mülleimer und stieg die Treppe hoch.
Im dritten Stock ging er nach rechts und stapfte ans Ende des Flurs. Der Teppich war fleckig und verschlissen; die Wände brauchten einen neuen Anstrich. Und offenkundig hatten der Cannabismief und die widerlich süßen Wolken des Vape-Shops die dünnen Außenwände zu beiden Seiten des Hotels durchdrungen und sich in eine berauschende Dunstwolke verwandelt, an der alle Bewohner des Hauses teilhaben durften. Devine hielt die Luft an, damit er nicht durch bloßes Atmen stoned und süchtig wurde.
Er glaubte, eine Tür knarren zu hören, einen leisen Schritt, und hier und da meinte er, flüchtig einen Schatten oder zwei wahrzunehmen. Dennoch materialisierte sich keine Gefahr, und er nahm an, es hinge mit der Neugier der Leute zusammen, die hier arbeiteten oder wohnten. Er ließ den Griff der Glock los und ging weiter.
An die letzte Tür im Gang pochte er auf eine besondere Art und hörte im Gegenzug ein anderes Klopfen, das er mit wieder einer anderen Kombination beantwortete. Ein wenig kam er sich vor wie in einem Spionagefilm aus den Sechzigerjahren, aber ein geheimes Klopfzeichen hackte man mit keinem Computer. Die Tür öffnete sich, so weit es die kurze Sicherheitskette zuließ, und eine Frau schaute zu ihm heraus.
»Travis Devine?«
»Jawohl, Ma’am.«
»Papiere?«
Er zeigte ihr seinen Ausweis. Sie löste die Kette, öffnete die Tür ganz und winkte ihn herein. Dann streckte sie den Kopf hinaus und sah den Korridor hinunter, bevor sie die Tür zumachte und abschloss.
Er bemerkte, dass sie eine dunkle, mattierte 9-Millimeter-SIG-Sauer in der rechten Hand hielt. Sie war etwa eins fünfundsechzig groß, hatte eine leicht pummelige Figur und verschlossene Züge. Ihre strähnigen braunen Haare, in denen sich mehr als ein bisschen Grau zeigte, umgaben ein Gesicht in den Vierzigern. Sie wirkte unausgeschlafen und unglücklich, alles in einem einzigen trostlosen Paket.
Sie steckte die Waffe wieder ein und zeigte ihm ihren Ausweis. »Special Agent Ellen Saxby, FBI.«
Devine ließ das kleine Zimmer auf sich wirken, den ausgefransten Teppich, die abgenutzten Möbel, den allgemeinen Eindruck von Vernachlässigung. Auf einem Beistelltisch entdeckte er ein halb gegessenes Meatball-Sandwich von Subway.
Eine offen stehende Tür gab den Blick auf ein bescheidenes Badezimmer frei, das aussah, als wäre es in den Siebzigerjahren eingerichtet worden. Er bemerkte auch eine geschlossene Tür, die anscheinend zum Schlafraum führte. Dann war da noch eine fleckige Couch mit einem Kissen und einer darübergeworfenen Decke, die an einer Wand des Zimmers stand. Offenbar bettete dort Saxby ihr müdes Haupt zur Ruhe.
Er sah die Agentin an. »Die FBI-Tagespauschale ist wohl nicht mehr das, was sie mal war?«
»Auch der Staat muss auf seine Ausgaben achten, Devine.«
Er dachte an seinen Erste-Klasse-Flug, aber so etwas bekam man wirklich nur selten.
»Das weiß ich, aber die meisten Amerikaner wissen vermutlich nicht einmal, dass der Staat überhaupt ein Budget hat. Wo ist Betsy Odom?«
»Schläft. Im einzigen Schlafzimmer.«
»Sie sind hier allein zuständig?«, fragte Devine.
Sie nickte. »Ich hab in den letzten paar Tagen bestenfalls zehn Stunden Schlaf zusammenbekommen.«
»Wie kommen Sie zu dem großen Glück?«
»Vermutlich, weil ich den Lieblingskumpel meines Vorgesetzten beschuldigt habe, ein misogynes Schwein zu sein. Durch meine Beschwerde wurde Lieblingskumpel auf einen bequemen Posten im New York Field Office versetzt, und ich bin hier gelandet, eine bessere Babysitterin in einem Drecksloch, das so tut, als wäre es ein Hotel, obwohl es nach Wolfspisse stinkt.«
Devine lehnte sich an die Wand, ein bisschen überrascht über die negative Einstellung der Frau und den Umstand, dass sie einem Fremden solch persönliche Dinge mitteilte. »Dann erklären Sie mir mal, was hier los ist.«
»Ihre Leute haben Sie nicht eingewiesen?« Mit solch einer Bitte schien sie nicht gerechnet zu haben.
»Sie sagten, sie wären selbst nicht vollständig informiert worden. Deshalb muss ich mich jetzt auf den aktuellen Stand bringen lassen.«
»Sagen Sie mir, was Sie wissen, und dann machen wir von dort aus weiter.«
»Hinter der Schlafzimmertür ist vermutlich Betsy Odom, zwölf Jahre alt. Ihre Eltern sind vor Kurzem gestorben. Das Bureau interessiert sich für das Mädchen wegen ihres Onkels, Danny Glass.«
»Okay, wissen Sie denn, wer Danny Glass ist?«
»Habe ihn kennengelernt, als wir beide in der Army waren.«
»Können Sie das näher beschreiben?«
»Ich war West-Point-Abgänger, er Mannschaftsdienstgrad, und wir haben zusammen im Irak gekämpft. Danach habe ich ihn aus den Augen verloren, aber ich weiß, dass er einer Reihe von Verbrechen beschuldigt wird.«
Saxby sah zur Schlafzimmertür und antwortete mit leiser Stimme: »Er ist im Moment der Beschuldigte in einer Bundesermittlung, einem RICO-Verfahren wegen Organisierter Kriminalität, das bald hier in Seattle beginnen wird. Ursprünglich wurde die Anklage in New York erhoben, aber eine Änderung des Gerichtsstands wurde bewilligt, und so kamen wir hierher an die Westküste. Glass ist auf Kaution draußen, weil er sich die besten Anwälte leisten kann. Aber wir haben ihn an der kurzen Leine. Er hat unbegrenzte Finanzmittel und einen Privatjet. Deshalb hat man ihm den Pass abgenommen, und er trägt eine elektronische Fußfessel. Ein falscher Schritt, und er sitzt für die Dauer des Prozesses hinter Gittern.«
»Wenn ich es richtig verstehe, will er der Vormund seiner Nichte werden und hofft auf eine Adoption?«
»Richtig. Er hat einen Antrag auf Notvormundschaft für Minderjährige gestellt.«
»Was heißt das genau?«
»Der Bundesstaat Washington hat vor ein paar Jahren seine Gesetze und Verfahrensweisen für die Erteilung der Vormundschaft geändert. Jetzt dauert es gewöhnlich sechzig Tage, um einen Antrag auf Vormundschaft abschließend zu bescheiden. Das kann man aber umgehen, indem man einen Notantrag stellt, wie Glass es getan hat. Falls er angenommen wird, gilt die Notvormundschaft nur sechzig Tage lang. Deshalb hat Glass gleichzeitig etwas beantragt, was sich Vormundschaft für Minderjährige nennt. Das zuständige Familiengericht hat die beiden Fälle zusammengelegt, was üblich ist.«
»Aber er hat nicht die Vormundschaft für Betsy. Das Bureau hat sie. Wie ist es dazu gekommen?«
»Das Justizministerium ist an dem Tag, an dem die Odoms gestorben sind, vor Gericht gegangen und hat erwirkt, dass das FBI eine zeitweilige Vormundschaft erhält. Nur haben Glass’ Anwälte herausgefunden, dass wir zu Betsys Vormund erklärt worden sind, bevor die Tinte auf dem Antragsformular getrocknet war. Und weil Betsy das zwölfte Lebensjahr vollendet hat, wurde sie am nächsten Tag schriftlich unterrichtet, dass Glass versucht, ihr Vormund zu werden und uns aus dem Rennen zu werfen.«
»Das war wohl keine Überraschung.«
»Aber es war verdächtig. Fast, als hätte Glass gewusst, dass ihre Eltern sterben würden, und im Vorfeld schon alles vorbereitet.«
»Haben Sie dafür einen Beweis?«
»Das wäre schön.«
»Kann er ihr Vormund werden? Und sie adoptieren? Ich meine, der Mann ist ein Verbrecher.«
»Ein Beschuldigter. Die RICO-Vorwürfe sind ihm noch nicht nachgewiesen worden, und bis das geschieht, gilt er als unschuldig. Für das Familiengericht ist er im Grunde blitzsauber.«
»Aber das Gericht kann die RICO-Anklage berücksichtigen?«
»Absolut. Und wir hoffen, dass sie ausreicht, um zu verhindern, dass er ihr Vormund wird.«
»Sie haben die Vormundschaft an dem Tag erwirkt, an dem ihre Eltern gestorben sind? Wieso ging das so schnell?«
»Wir sind seit Jahren hinter Glass her und wussten alles über seine Schwester und seinen Schwager. Wir haben uns auf sie konzentriert, nachdem sie vor Kurzem unter verdächtigen Umständen zu Geld gekommen waren. Als sie starben, hat das Justizministerium seine legalen Zaubertricks angewendet, und ich wurde hierhergeschickt, um die Vormundschaft für ein Mädchen zu übernehmen, das ich vorher noch nie gesehen hatte.«
»Sie sagen, die Odoms sind unter verdächtigen Umständen zu Geld gekommen?«
»Wir nehmen an, dass Glass die Quelle gewesen ist, aber dafür haben wir keinen Beweis. Vielleicht Schweigegeld, weil sie etwas gewusst haben, das ihn belasten konnte. Mit dem Geld haben sie ein Haus und ein Auto gekauft.«
»Warum genau ist das Mädchen für Sie wichtig?«
»Sie könnte etwas aufgeschnappt haben. Etwas gesehen haben. Was, wenn sie Glass gefährlich werden kann oder er das denkt? Deshalb haben wir uns eingeschaltet.«
»Haben Sie schon irgendetwas aus ihr herausbekommen?«
»Nein. Sie ist ziemlich maulfaul.«
»Was genau wird Glass vorgeworfen?«
»Die RICO-Anklage wirft ihm unter anderem Herstellung und Vertrieb von Rauschgift im großen Maßstab vor, Erpressung, Betrug, Bestechung, Menschenhandel sowie den Diebstahl von und den Handel mit historischen Artefakten aus dem Orient und aus Asien. Glass besitzt außerdem eine Reihe von legalen Geschäften aller Art und Größe, von denen wir glauben, dass er sie benutzt, um die illegalen Gewinne zu waschen.«
»Wie kann ein Gericht einem Kerl wie ihm erlauben, seine Nichte zu adoptieren?«
»Garantien gibt es nicht, Devine, aber wir haben möglicherweise ein Ass auf der Hand.«
»Und zwar?«
»Betsy hat bei allem ein Mitspracherecht.«
»Will sie denn zu ihm?«
»Das weiß ich nicht. Wie gesagt, sie gibt ungern etwas von sich preis. Deshalb sagte ich ja auch, es wäre möglicherweise ein Ass.«
»Und ich bin hier, um Betsy zu einem Treffen mit ihrem Onkel zu begleiten?«
»Richtig. Morgen im Four Seasons.«
»Wozu brauchen Sie mich? Sie sind ihre Beschützerin.«
»Wenn zwei Achthundert-Pfund-Gorillas wie das FBI und das DHS in den Ring steigen, Devine, wer zum Teufel kann da sagen, was passieren wird? Also zu Ihnen: Was haben Sie so Besonderes an sich, dass Sie diesen Job bekommen haben?«
»Ich nehme an, das kommt daher, dass ich Glass während unserer Militärzeit im Irak gekannt habe. Ich vermute, die hohen Tiere hoffen, das könnte vorteilhaft für uns sein. Wie sind ihre Eltern umgekommen?«
»Dwayne und Alice Odom sind in ihrem Auto an einer Überdosis Drogen gestorben. Betsy hat offenbar versucht, sie mit Naloxon wiederzubeleben. Nach allem, was man hört, war es nicht das erste Mal, dass sie das tun musste. Es heißt, sie hätten eine viel zu hohe Dosis Fentanyl eingenommen und wären hinüber gewesen, sobald es in ihren Blutkreislauf gelangte. Sie sind vor ihren Augen gestorben.«
»Verdammt. Ziemlich traumatisch, besonders für ein Kind.«
»Das Leben ihrer Eltern ist auch vorher schon ein ziemliches Desaster gewesen. Sie sind ständig umgezogen und waren hin und wieder obdachlos. Ich bin mir nicht sicher, wie Betsy es geschafft hat, regelmäßig zur Schule zu gehen. Wir haben herausgefunden, dass Glass und Dwayne Odom einander nicht nahegestanden haben. Glass war erheblich älter als seine Schwester. In ihrer Kindheit war er der große Bruder und Beschützer.«
»Bruder und Schwester standen einander also durchaus nahe?«
»Wie es aussieht ja. Aber dann trat Dwayne auf den Plan, während Glass noch in der Army war, und hat Alice’ Herz im Sturm erobert. Dwayne war ebenfalls etliche Jahre älter als Alice. Er hatte im Leben einiges durchgemacht, während sie ziemlich behütet aufgewachsen und eher naiv war. Ich schätze, Alice hat in Dwayne etwas gesehen, das anziehend auf sie wirkte. Sie haben geheiratet, und irgendwann kam Betsy zur Welt.«
»Kann ich mit ihr sprechen?«
Ein leises Geräusch veranlasste Devine, zur Schlafzimmertür zu sehen. Sie war nun geöffnet. Und auf der Schwelle stand Betsy Odom mit lockigen kastanienbraunen Haaren und Sommersprossen in einem runden Gesicht aus Stein, das ihm dumpf entgegenstarrte.
»Betsy Odom, das ist Agent Travis Devine«, sagte Saxby.
Devine trat vor. »Du kannst mich einfach Travis nennen, Betsy.«
Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Sie trug ausgebeulte, ausgebleichte Jeans mit Löchern an den Knien, die nicht fabriziert aussahen, sondern so, als wären sie auf natürliche Weise entstanden, ein hellblaues Nike-Sweatshirt und rosarote Söckchen mit einem Loch, durch das ein großer Zeh guckte. An den üblichen Stellen zeigte sie präpubertäre Rundlichkeit, überflüssiges Gewicht, das bei Wachstumsschüben verbraucht würde, beim körperlichen Wandel vom Mädchen zur jungen Frau. Ihre Augen waren von einem stumpfen Braun, die Lippen bildeten einen Strich, fest und unnachgiebig.
»Mister Devine würde sich gern mit dir unterhalten«, sagte Saxby.
»Ich hab Hunger«, entgegnete Odom, ohne sie anzusehen.
»Du kannst eine Hälfte von meinem Meatball-Sub haben. Ich hole dir eine Limo und Chips aus dem Automaten auf dem Flur.«
»Nein. Ich will Ihre beschissenen Essensreste nicht. Ich will essen gehen.«
»Wohin?«, fragte Saxby verdutzt.
»Irgendwohin.«
»Aber Mister Devine will mit dir reden.«
»Er hat gesagt, ich kann ihn Travis nennen. Wir können ja beim Essen reden.«
»Okay, dann hole ich meine Jacke«, sagte Saxby.
»Nein, Sie nicht. Nur ich und Travis.«
»Das ist nicht …«, setzte Saxby an.
»Hören Sie, das ist doch keine große Sache«, unterbrach Devine. »Im nächsten Block habe ich einen Burgerladen gesehen.«
»Dann muss ich mitkommen.«
»Nein«, widersprach Odom. »Nur Travis. Sie können hierbleiben und Ihr Sub aufessen.«
»Ich muss vorher anrufen«, sagte Saxby.
»Es sind keine fünfzig Meter«, warf Devine ein.
»Trotzdem muss ich vorher anrufen«, beharrte Saxby.
»Dann rufen Sie an.«
»Ich mach mich fertig«, rief Odom begeistert. Anscheinend spürte sie, dass sie ihren Vorteil ausnutzen musste.
»Betsy …«, begann Saxby, aber Odom knallte die Schlafzimmertür hinter sich zu.
Devine sagte: »Hören Sie, es ist gleich im nächsten Block. Vielleicht können Sie sich solange aufs Ohr hauen.«
Saxby warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Couch. »Das wäre schon schön. Aber …«
Die Schlafzimmertür wurde geöffnet, und Odom stand in einer ausgebleichten blauen Skijacke und klobigen Tennisschuhen vor ihnen.
»Ich bin so weit.«
»Gehen wir«, sagte Devine.
Saxby nahm ihr Handy. »Können Sie vielleicht einfach warten, bis ich das Okay habe?«
Devine sah sie an. »Sollte das Bureau ein Problem damit haben, texten Sie mir, und wir nehmen das Essen mit hierher.«
Draußen wandten sie sich nach rechts und gingen zum nächsten Block.
»Die Alte ist bekloppt«, sagte Odom, strich ihr Haar zurück und fixierte es mit einer Spange.
»Nein, sie versucht nur, dich zu beschützen.«
»Wovor denn?«
Gute Frage, dachte Devine. Vielleicht vor deinem Onkel, der dich adoptieren möchte.
Sie gingen in den rot und blau gefliesten Burgerladen und stellten sich an.
»Sind Sie so einer, der den Burger mit allem nimmt?«, fragte sie.
»Alles andere hat keinen Sinn, oder?«, entgegnete er, während er die Bedrohlichkeit jeder einzelnen Person im Geschäft abschätzte. »Nimmst du einen Shake und Pommes dazu?«
»Ich bin schon zu fett.«
Devine wusste überhaupt nicht, was er darauf antworten sollte. Seine Schwester war viel älter als er, und deshalb hatte er nur wenig Erfahrung im Umgang mit Mädchen in Odoms Alter. Er wusste aber, er durfte auf keinen Fall irgendeinen Kommentar abgeben über, nun ja, ihr körperliches Erscheinungsbild. Trotzdem, er hatte das Gefühl, er müsse etwas sagen, denn sie schien eine Antwort von ihm zu erwarten.
»Dein Körper macht sich gerade bereit, in die Höhe zu schießen wie Unkraut, und … Na ja, dabei verbraucht er das überzählige Gewicht«, führte er den Satz zu Ende und holte tief Luft. Okay, das war eine Katastrophe.
»Meine Mom war groß. Richtig groß, meine ich. Aber mein Dad war nur Durchschnitt.«
»Körpergröße wird normalerweise zuverlässig vererbt.« Devine schwieg kurz. »Sei also nicht überrascht, wenn du mit einem Baseballstipendium aufs College gehst«, fügte er scherzhaft hinzu.
Sie sah zu ihm hoch. »Sie sind groß.«
»Und mein Dad und meine Geschwister auch.«
»Ich habe keine Brüder oder Schwestern. Und Eltern auch nicht mehr«, sagte sie trübsinnig.
Sie bekamen ihr Essen und trugen es an einen freien Tisch. Odom hatte sich für einen Erdbeer-Milchshake und eine große Portion Pommes frites zu ihrem doppelten Bacon-Cheeseburger mit allen Extras entschieden.
Beim Essen warf Devine einen Blick aus dem Fenster und entdeckte etwas Merkwürdiges. Er wandte sich wieder Odom zu. »Mir tut es wirklich leid um deine Mom und deinen Dad.«
Sie zeigte ihm ein Stirnrunzeln. »Sie haben sie ja nicht mal gekannt. Reden Sie nicht so eine Scheiße, nur damit ich Sie leiden kann.«
»Ich bin nur menschlich, Betsy. Es ist tragisch, wenn jemand so stirbt. Für dich muss es entsetzlich gewesen sein, dabei zu sein, als es passiert ist.«
Sie biss von ihrem Burger ab und nahm einen Zug aus ihrem Shake, bevor sie antwortete. »Es war scheiße. Ich meine, ich konnte nichts machen.«
»Du hast dein Bestes getan. Du hast versucht, sie mit Naloxon wiederzubeleben.«
Sie sah ihn verdutzt an. »Nal-was?«
»Naloxon. Es holt jemanden ins Leben zurück, der eine Überdosis Opioide genommen hat. Aber … aber das weißt du doch, oder?«
»Überdosis? Meine Eltern haben keine Drogen genommen.«
»Mir wurde gesagt, sie hätten eine Überdosis Fentanyl genommen, und du hättest versucht, sie wiederzubeleben.«
»Das ist nicht wahr!«, rief sie hitzig. Die Empörung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Leute an anderen Tischen sahen nervös zu ihnen hinüber.
Devine bemerkte es und sagte: »Okay. Okay. Ich glaube dir.«
Dabei dachte er: Was zum Teufel ist hier los?
Er sah zu, wie Odom eine Handvoll Pommes nahm und sie in den Mund stopfte. Sie spülte sie mit mehreren Schlucken Milchshake hinunter, die sie übertrieben laut schlürfte.
Wütend funkelte sie Devine ein. »Fentanyl! Was für ein Bullshit.«
»Kannst du mir von dem Tag erzählen, an dem es passiert ist?«
»Wozu?«
»Weil es mich interessiert. Es sei denn, du hast einen guten Grund, es mir nicht zu erzählen.«
»Ich kenne Sie nicht. Ich weiß nicht, warum Sie das wissen wollen. Und ich vertraue Ihnen nicht. Na, sehen Sie? Gleich drei gute Gründe, Großer.«
»Du wärst eine ausgezeichnete Debattiererin. Besonders, weil du erst zwölf bist.«
»Ich werde schon sehr bald dreizehn. Aber das sind nur Kalenderjahre.«
Devine blickte aus dem Fenster und sah erneut etwas, das ihm zu denken gab.
Er kaute eine Pommes und fragte mit aufrichtiger Neugierde: »Nur Kalenderjahre? Im Gegensatz zu was?«
Sie nahm einen weiteren großen Bissen von ihrem Burger, bevor sie antwortete. »Scheiß-im-Leben-Jahre nenne ich sie. Nach denen bin ich achtundzwanzig.«
»Wie berechnest du das?«
Sie schluckte den Mundvoll Burger hinunter. »Das ist mein Geheimnis. Eines Tages verkaufe ich es vielleicht für einen Haufen Geld. Vielleicht mache ich aber auch dämliche Tanzbewegungen auf TikTok oder schmiere mir cooles Lipgloss auf die Fresse und zeige das gegen riesige Werbeeinnahmen meinen Millionen Instagram-Followern, die mich anbeten.« Sie verzog das Gesicht. »Menschen sind so erbärmlich.«
»Na, das klingt mir aber mehr nach zweiundvierzig Scheiß-im-Leben-Jahren.«
»Ich hoffe, ich lebe überhaupt so lange, in Kalenderjahren, meine ich.«
Er sah sie erschrocken an. Bis jetzt hatte er angenommen, dass sie ihm die junge Klugscheißerin nur vorspielte. Ihre letzte Äußerung hatte jedoch wirklich aufrichtig geklungen. »Warum solltest du nicht?«
»Ich bin jetzt knapp über ein Dutzend Jahre auf der Welt. Für jemanden wie mich ist das eine lange Zeit.«
»Das soll was genau heißen?«
»Das heißt genau das, was ich gerade gesagt habe.«
Er lehnte sich zurück. »Okay, was kannst du mir über deinen Onkel erzählen? Hast du ihn je kennengelernt?«
»Nicht dass ich wüsste, aber meine Mom hat mir von ihm erzählt.«
»Was genau hat sie über ihn gesagt?«
Sie hielt ihr Handy hoch. »Es gibt da was, das heißt Google. Sollten Sie auch mal probieren.«
»Schönes Telefon«, kommentierte er.
Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Mein Dad hat es mir vor ein paar Monaten geschenkt. Es … es ist mein erstes.«
Devine sah die grenzenlose Traurigkeit in ihrer Miene und hätte gern etwas zu ihr gesagt, um ihr den Rücken zu stärken, wollte aber auch keine ungelenke Bemerkung absondern, die sie nur wütend machen würde.
Verdammt, das ist ja härter, als Terroristen zu verhören.
»Ich habe gehört, dass deine Eltern neulich zu ein bisschen Geld gekommen sind. Weißt du darüber etwas?«
Das brachte ihm einen weiteren erbosten Blick ein. »Nein, tu ich nicht! Okay?«
So viel dazu, sie nicht auf die Palme zu treiben.
»Schon gut. Möchtest du denn, dass dein Onkel dich adoptiert?«
»Hat mich Meatball auch schon gefragt.« Müde fügte sie hinzu: »Ungefähr hundertmal.«
»Du meinst Agent Saxby. Und warum hast du ihr nicht geantwortet?«
Sie legte den Burger auf den Teller und starrte ihn so unangenehm lange wortlos an, dass er schließlich fragte: »Was denn, habe ich Ketchup am Kinn?«
»Sie sehen wie ein netter Kerl aus, ahnungslos, aber nett«, sagte sie. »Deshalb beantworte ich jetzt Ihre Frage, und Sie können zu Meatball laufen und es ihr erzählen. Vielleicht lässt sie mich dann endlich in Ruhe.«
»Ich bin gespannt.« Er bewunderte, wie mühelos das Mädchen die Rollen vertauscht und de facto das Gespräch an sich gerissen hatte.
»Okay, hören Sie gut zu, es geht los … Verdammt, ja natürlich will ich von ihm adoptiert werden.«
»Warum?«
»Er ist reich, er hat einen Haufen Häuser und seinen eigenen verdammten Jet.« Wieder hob sie ihr Handy. »Zumindest sagt Google das.«
»Dann geht es dir um seinen Reichtum?«
Sie griff wieder zu ihrem Burger. »Wer will schon arm sein? Sie?«
»Nein. Aber ich mache nicht alle meine Entscheidungen davon abhängig.«
»Schön für Sie, Sie Pfadfinder. Aber bei mir läuft das so.«
»Weißt du, wie er sein Geld verdient hat?«, fragte er.
»Wie verdient irgendein Reicher sein Geld? Indem er alle anderen über den Tisch zieht.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob es gesund ist, so sehr auf Reichtum fixiert zu sein.«
»Sind Sie je obdachlos gewesen?«, fragte sie. »Oder mussten Sie mal hungern?«
»Nein.«
»Okay, dann halten Sie auch den Mund. Ich gehe jedenfalls zu ihm und erzähle ihm, wie lieb ich ihn habe. Und wie toll er ist. Yadda-yadda, bla-bla.«
»Eventuell muss er ins Gefängnis.«
»Dann kann ich in seinen Häusern wohnen und seinen Jet ganz allein benutzen. Das ist sogar noch besser.«
»Du scheinst ja auf alles eine Antwort zu haben.«
Sie wischte sich den Mund ab und stand unvermittelt auf. »Ich muss ins Bett, damit ich ausgeschlafen bin für meinen Lieblingsonkel. Ich will unwiderstehlich sein.« Odom maß ihn mit einem eiskalten Blick. »Nur damit das klar ist, Travis: Wenn Sie mir das versauen, mach ich Sie zur Sau.«
»Du hast ja wirklich ein Mundwerk wie ein Matrose.«
Sie grinste höhnisch. »Dabei zeige ich mich von meiner besten Seite, weil Sie so zerbrechlich wirken.«
»Mein Auftrag ist es, dich zu ihm und wieder zurückzubringen. Das ist alles.«
»Die Sache ist nur die, ich glaube, Sie könnten sich als Meatball Nummer zwei herausstellen. Gehen wir.«
Sie stapfte davon, und Devine blieb keine Wahl, als aufzuspringen und ihr nachzueilen.
Gerade hat eine Zwölfjährige, die auf die zweiundvierzig zugeht, mir so richtig gezeigt, wo der Hammer hängt.
Auf dem Rückweg zum Hotel sagte Devine: »Sieh nicht hin, aber uns folgen zwei Kerle. Ich habe sie draußen vor dem Burgerladen gesehen. Sie haben uns beobachtet.«
»Meatballs Jungs?«, fragte sie, ohne nach hinten zu blicken.
»Sie sehen eher wie Obdachlose aus.«
»Haben Sie Angst vor denen?«
»Sollte ich?«
»Sie kennen sie nicht, und Sie wissen nicht, weshalb sie uns folgen. Deshalb: Ja, sollten Sie.«
Im Hotel ging sie sofort in ihr Zimmer und schloss hinter sich die Tür.
Saxby sprang auf. »Wie ist es gelaufen? Was haben Sie herausgefunden?«
»Nun ja, sie hat mir gesagt, sie will von ihrem Onkel adoptiert werden, weil er reich ist.«
Zu seiner Überraschung nickte Saxby. »Warum nicht den Hauptgewinn mitnehmen?«
»Selbst wenn der Hauptgewinn ein Gangsterboss ist?«
»Sie ist ein Kind, was weiß sie schon?«
»Mehr, als Sie vermutlich glauben«, entgegnete Devine.
Er musterte das Einwickelpapier, das vom Sub noch übrig war. Offensichtlich hatte auch Saxby zu Abend gegessen.
»Wenn Odom für das FBI wertvoll ist, warum ist nur eine Agentin zu ihrem Schutz abgestellt worden?«
»Wir wissen nicht, ob sie wertvoll ist. Noch nicht.«
»Wie geht der RICO-Fall voran?«
»Es ging wunderbar, bis drei Zeugen der Anklage ermordet worden sind.«
Devine sah sie mit offenem Mund an. »Sie denken, Glass steckt dahinter?«
»Wahrscheinlich, aber wir haben keine Beweise.«
»Apropos Beweise, im Gegensatz zu dem, was Sie mir erzählt haben, sagt Betsy, dass ihre Eltern nicht drogensüchtig gewesen sind und sie nicht versucht hat, sie mit Naloxon wiederzubeleben. Sie wusste nicht einmal, was das ist.«
»Tja, dann habe ich eine brandheiße Information für Sie: Das kleine Miststück ist hinterhältig. Und der Polizeibericht war eindeutig.«
»In Ihren Augen ist sie ein hinterhältiges kleines Miststück? Büßen Sie Ihre Objektivität ein, Agent Saxby?«
»Verbringen Sie mal einen Tag nach dem anderen mit ihr. Die hat es faustdick hinter den Ohren.«
»Sie ist ein Kind, das mit ansehen musste, wie seine Eltern gestorben sind.« Devine gab sich keine Mühe, seine Verärgerung zu verbergen.
»Weiß ich«, sagte sie reumütig. »Hören Sie, können Sie hier einen Moment aufpassen? Ich muss mal eine rauchen.«
»Sicher. Ich schätze, Sie müssen Ihren Kopf klar bekommen, wenn auch nicht die Lunge.«
Sie sah ihn finster an, schnappte sich ihre Handtasche und verließ das Zimmer.
Devine setzte sich auf die Couch. Ein paar Augenblicke später ging die Schlafzimmertür auf, und Odom stand da, mit nackten Füßen und einem grauen Jogginganzug.
»Ich dachte, du hältst deinen Schönheitsschlaf?«
»Ich kann so lange schlafen, wie ich will, aber wenn ich aufwache, bin ich trotzdem nicht schön.«
»Hm. Erzähl mal, wann genau hat das FBI bei dir an die Tür geklopft?«
Odom setzte sich ans andere Ende der Couch und massierte sich die Zehen. »Ein paar Cops nahmen mich mit aufs Revier. Niemand wollte mir irgendetwas sagen. Dann kamen Leute in Anzügen und brachten mich weg. Am Ende bin ich hier gelandet, zusammen mit Meatball.«
»Das muss ziemlich erschreckend gewesen sein, Betsy. So etwas hätte wohl jeden geängstigt.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ist ja nicht so, als hätte ich irgendwas machen können. Erwachsene können einem einfach sagen, was man tun soll. Denken sie jedenfalls.« Der Nachsatz klang ein wenig bitter.
»Wenn es keine Drogen waren, frage ich mich, was deinen Eltern zugestoßen sein könnte.« Devine konnte das Mädchen schlecht in die Mangel nehmen, aber er musste versuchen, etwas aus ihr herauszubekommen.
»Ich will nicht darüber reden, okay? Was spielt das überhaupt noch für eine Rolle?«
»Ich bin nur verwundert, dass sich das FBI eingeschaltet hat.«
Sie warf ihm einen Blick zu. »Sind Sie denn nicht vom FBI?«
»Nein, andere Behörde. Ich bin beim Heimatschutz.«
»Sie haben mir nur gesagt, dass ich mit ihnen gehen muss.«
»Bist du nervös, weil du deinem Onkel bald zum ersten Mal begegnest?«, fragte Devine.
Sie sah ihn ungerührt an. »Sollte ich das sein?«
»Ich weiß es nicht, Betsy, ich weiß es wirklich nicht.«
»Sie wissen nicht sehr viel«, versetzte sie.
Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen.
Saxby kam herein. Sie roch nach Zigarettenrauch. »Ich dachte, du wärst im Bett, Betsy?«
Ohne ein Wort zog sich Odom in ihr Zimmer zurück und schloss hastig die Tür.
»Können Sie mir noch etwas sagen, das nützlich sein könnte?«
»Kenntnis nur bei Bedarf, Devine.«
»Den Ausdruck habe ich immer gehasst.«
»Ich mache die Regeln nicht«, sagte sie.
Saxby sah missmutig zu ihrem Couchbett, und Devine ließ sie allein.
Etwa auf halber Strecke zu seinem Hotel merkte Devine, dass ihm jemand folgte, und zwar nicht die beiden Herren von vorhin. Dieser Verfolger war allein.
Devine bog an einer Kreuzung nach rechts ab, erhöhte leicht das Tempo und ging an der nächsten Straße wieder nach rechts.
Als der Mann, der ihn beschattete, ebenfalls in die Seitenstraße einbog, trat Devine aus einer Nische in einer Hausfassade und fragte: »Haben Sie sich verlaufen, mein Freund?«
Der Mann sah zu ihm hoch, ein höhnisches Grinsen im Gesicht. Er war etwa eins fünfundsechzig groß, ein schlaffes Hemd von höchstens siebzig Kilo in einem billigen Anzug und abgewetzten Slippern. Sein schütteres Haar offenbarte fleckenweise blasse schuppige Haut. Er roch nach Alkohol und rauchte eine Zigarette. Die plötzliche Konfrontation schien ihn kein bisschen aus dem Konzept zu bringen. Im Gegenteil, er wirkte geradezu erfreut, als er Asche aufs Pflaster schnippte.
»Ich bin sogar genau da, wo ich sein muss, mein Freund. Und Sie vielleicht auch.«
»Ich höre.«
»Sie haben gerade Betsy Odom und ihre Aufpasserin verlassen.«
»Wirklich?«
Unmut zerknitterte das Gesicht des Mannes. »Ich werde nicht mehr jünger. Verschwenden Sie meine Zeit nicht, indem Sie sich dumm stellen, sonst kommen wir nicht weiter.«
»Das werden wir vermutlich sowieso nicht. Was genau wollen Sie?«
»Wichtiger ist, was Sie wollen. Sie sind ein Fed. Deshalb vermute ich, Sie hätten gern Infos über Danny Glass. Er will ja schließlich das Mädchen in seinen Besitz bringen, stimmt’s?«
»In seinen Besitz bringen? Interessante Wortwahl.«
»Für Glass sind auch Menschen nichts weiter als Besitz. Wussten Sie das nicht?«
»Und wieso sind Sie so gut informiert über ihn?«, fragte Devine höflich.
»Ich halte Augen und Ohren offen. Wer das tut, der weiß viele Dinge, wertvolle Dinge.«
»Sind Sie von hier?«
»Kann sein«, erwiderte der Mann knapp.
»Glass ist nicht von hier. Also, warum sollten Sie irgendwas über ihn wissen?«
»Ich bin auch nicht von hier. Aber man klagt ihn nun mal hier in Seattle an. Wie auch immer, wenn Sie kein Geschäft machen wollen, suche ich mir eben jemand anderen. Wir sehen uns, Loser.«
Er wandte sich zum Gehen, doch Devine packte seinen Arm und hielt den Mann an Ort und Stelle fest.
»Noch mal von vorn. Wie wär’s mit Ihrem Namen?«
»Na klar, ich heiße Fred. Und Sie?«
»Okay, Fred, was wissen Sie über Glass?«
»So läuft das nicht, Spinner. Erst rücken Sie die Kohle raus, dann rede ich.«
»Und wenn ich der Meinung bin, dass ich für mein Geld keinen angemessenen Gegenwert bekommen habe?«, fragte Devine.
»Dann beschweren Sie sich bei der Handelskammer. Keine Sorge, ich bin ein unbescholtenes Mitglied.«
»Über wie viel Geld reden wir?«, fragte Devine.
»Hundert Riesen ergeben eine hübsche Zahl, finden Sie nicht auch? Ich sage Ihnen, wohin Sie es überweisen. Hab nicht gern Bargeld bei mir. Hier läuft zu viel kriminelles Gesocks rum. Für einen Geschenkgutschein schlitzen die Sie auf.«
»Hundert Riesen? Klar, ich laufe zweihundertmal zum Bankautomaten und schaue, wie lange es dauert, bis meine dienstliche Debitkarte eingeschmolzen wird.«
»Ihre Entscheidung. Mir ist es gleich.«
»So viel Geld erfordert Genehmigungen auf mindestens drei Hierarchieebenen und persönliche Gespräche mit einem ganzen Bataillon von Regierungsbuchhaltern, die alle versuchen, den Preis zu drücken. Mit einer Entscheidung ist im nächsten Jahr um die gleiche Zeit zu rechnen, aber ich glaube nicht, dass unser Gegenangebot Ihnen gefallen würde. Dabei könnte es sich nämlich wirklich um einen Geschenkgutschein handeln.«
»Junge, ich dachte, Sie hätten Verstand – na ja, mein Fehler.«
»Was können Sie mir denn offenbaren für, sagen wir, hundert Mäuse?«
»Das haben Sie schon bekommen. Meinen Namen. Fred. Also her mit dem Hunderter.«
»Sie sind ein komischer Kauz«, sagte Devine.
»Und Sie sind ein unkomischer Loser.«
»Wissen Sie überhaupt etwas über Betsy Odom?«
»Ich weiß, dass Glass sie haben will. Und vielleicht, nur vielleicht, weiß ich auch warum, und ich glaube, dass das für Sie wertvoll sein könnte, aber vielleicht irre ich mich ja.« Freds triumphierende Miene passte nicht zu seinen letzten Worten.
Devine verarbeitete das provokante Statement im Zusammenspiel mit Freds Gesichtsausdruck. »Okay, vielleicht kann ich Ihnen ein bisschen Geld beschaffen.«
»Beeilen Sie sich lieber. Ich höre, er wird das Mädchen schon sehr bald in seinen Besitz bringen.«
»Sie scheinen eine Menge zu hören, was Sie nicht hören sollten«, meinte Devine.
»Jeder muss von irgendwas leben. Ich lebe davon.«
»Und wovon genau?«
»Ich liefere wertvolle Informationen und werde dafür entschädigt. Hoffentlich von Ihnen, wenn Sie so schlau sind, eine einmalige Gelegenheit zu ergreifen, die Ihnen mehr oder weniger ins Gesicht springt.«
»Wie kann ich Sie kontaktieren?«, fragte Devine.
»Ich werde Sie kontaktieren, wenn es nötig ist. Aber warten Sie nicht zu lange.« Fred ging davon, und diesmal hielt Devine ihn nicht auf.
Er wartete, bis der Mann beinahe außer Sicht war; dann nahm Devine die Verfolgung auf.
Durch die regennassen Straßen von Seattle folgte er Fred, dem Hemd, in einen Teil der Stadt, in dem die Luft salzig und feucht war. Einige Gebäude waren dunkel, abweisend und bereit für die Sanierung. Der Verkehr und die Fußgängerströme traten in Schüben auf und ebbten dann wieder ab wie die zurückweichende Flut.
Fred drehte nach rechts ab und huschte mit seinen abgewetzten Slippern eine ausgetretene, fleckige Steintreppe hoch. Er verschwand durch eine rote Tür, von der die Farbe abblätterte. Devine eilte ihm hinterher und warf einen Blick auf das Schild über der Tür: The Sand Bar.
Die Sandbank, dachte er. Nein, wie originell.
Devine kam in einen großen Raum, gefüllt mit Wärme, Feuchtigkeit und Trauben von Menschen, die tanzten, tranken, taumelten oder einfach nur herumstanden; einige sangen sogar hingebungsvoll, wenn auch schief, die Songs mit, die von der Decke herunterschallten und vermutlich von Spotify stammten. Die Theke im Stil englischer Pubs verlief vor einer Wand. Die Tanzfläche in der Mitte war mit Parkett ausgelegt; in einem Seitenflügel rechts standen Flipper, Billardtische und Kicker zur Unterhaltung bereit. Nicht ganz Nüchterne versuchten sich an der Theke mit uralten Flirtritualen, während Devine nach Fred Ausschau hielt, der in dem Meer aus betrunkenen Gästen untergetaucht war.
Devine entdeckte einen rückwärtigen Korridor und folgte ihm. Er nahm an, dass Fred seinen Schatten bemerkt und das Lokal durchquert hatte, um ihn abzuhängen. Die Hintertür führte hinaus zu einer Gasse. Rechts war eine Mauer mit Mülltonnen davor, daher wandte sich Devine nach links und ging schneller.
Eine Minute später blickte sich Devine um und stellte fest, dass die beiden Männer, die ihm und Odom zum Hotel gefolgt waren, sich wieder an seine Fersen geheftet hatten.
Er suchte sich einen Weg zu der Gasse, in der sich die Gum Wall befand.
Benannt war sie nach unzähligen bunten Kaugummis, die Passanten an die Wand geklebt hatten. Ein Teil der Gummis hing langgezogen herunter und erinnerte an winzige, bunte Stalaktiten.
Er war schon bei einem früheren Seattle-Aufenthalt in dieser Gasse gewesen und wusste, dass die Pflastersteine im Zusammenspiel mit den hohen Mauern zu beiden Seiten jeden Schritt, den man dort machte, laut widerhallen ließen. Innerhalb weniger Augenblicke hörte er die Tritte zweier Personen hinter sich.
Aus der nebligen Dunkelheit stolperten ihm eng umschlungen ein Mann und eine Frau entgegen, die anscheinend fünf Mojitos weit in die angenehme Seite des Paradieses vorgestoßen waren. Trotzdem, der äußere Anschein konnte trügen, und Devine fragte sich, ob er Gegner auf sechs und zwölf Uhr hatte. Er zog die Glock aus dem Holster, hielt die Pistole aber unter der Jacke verborgen. Sein Zeigefinger glitt an den Abzugsbügel. Als das Pärchen näher kam, spannte er sich an, doch sie gönnten ihm keinen einzigen Blick, als sie an ihm vorbeitorkelten und dabei jeweils des anderen Lippen verschlangen.
Damit blieb noch das Duo auf sechs Uhr, was bedeutete, dass er nach wie vor mit einem Zwillingsproblem fertig werden musste.
Er bog in eine andere Nebenstraße ab, blieb stehen und drehte sich um.
Die Waffe in der Hand, wartete er.
Die Männer kamen um die Ecke und schlenderten auf ihn zu. Sie blieben stehen und starrten ihn an. Ihn und seine Pistole, die Devine nun offen zeigte.
»Habt ihr euch verirrt, oder habt ihr nur die gleiche Richtung wie ich?«, fragte er.
Der eine war ein kahlköpfiger Schwarzer, ein Fels von Mann, massig und muskulös, der Devine um ein paar Zentimeter überragte. Der andere war eins achtzig, weiß mit einem gewaltigen Schopf blonder Haare und einem gedrungenen Körperbau; sein Bauch hing ihm über dem Gürtel. Devine nannte sie bei sich Glatze und Matte, weil er irgendwie nicht davon ausging, dass sie ihm ihre richtigen Namen nennen würden.
»Wir sind dir gefolgt, Mann.« Glatze sprach mit einer tiefen Stimme, die zu seinem massigen Muskelbody passte.
»Danke für die Info. Das wäre mir sonst nie aufgefallen. Verratet ihr mir, wieso?«
»Scheiße, muss die Knarre denn sein?« Mattes hellere Stimme überschlug sich beinahe vor Nervosität.
»Keine Ahnung, sag du’s mir.«
»Wir wollen nur reden. Wir wollen keinem was tun, Mister. Echt jetzt, verdammt.«
»Raus mit der Sprache.« Devine ließ die Waffe, wo sie war.
»Du bewachst Betsy Odom«, sagte Matte.
»Wirklich?« Nach seinem Gespräch mit Fred, dem Hemd, bekam Devine ein Gefühl von Déjà-vu.
»Du und die FBI-Tussi«, warf Glatze ein.
»Was interessiert euch das?«
»Wir haben Betsys Eltern gekannt. Sie kennen wir auch«, antwortete Matte.
»Woher?«
»Wir waren mit Dwayne auf der Highschool«, sagte Glatze. »Er ist dann weggezogen, hat geheiratet und kam mit Alice und Betsy zurück. Da haben wir uns wieder zusammengetan. Hatten schöne Zeiten zusammen. Wirklich schön. Nette Familie.«
»Und jetzt sind sie tot«, sagte Devine. »Fällt euch dazu etwas ein?«
»Wie sollen sie denn gestorben sein?«, fragte Glatze.
»Stand das nicht in der Zeitung?«
»Wir lesen keine Zeitung, Alter. Ich meine, Scheiße …« Matte grinste. »Sehen wir aus, als hätten wir ’n Abo vom Wall Street Journal oder so was?«
Devine zögerte, entschied aber, dass es den Versuch wert war. Vielleicht erfuhr er im Gegenzug etwas Nützliches. »Überdosis.«
»Das ist Bullshit«, entgegnete Glatze.
»Wieso?«
»Weil sie keine Drogen genommen haben.«
Genau wie Betsy gesagt hat.
»Woher wisst ihr das?«
»Sie sind seit Jahren wieder hier«, sagte Glatze. »Ich hab viel von ihnen mitgekriegt. Drogen oder so ’ne Scheiße hab ich bei ihnen nie gesehen. Und wenn du was nimmst, dann ist das Zeug bei dir zu Hause und auf deiner Haut und in deinen Augen und in deiner Pisse, es ist überall.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Devine.
Glatze hob einen Arm. »Meine Arme sind so vernarbt, die sehen aus, als hätten sie Reißverschlüsse.« Er zeigte auf seine Nase. »Und die Scheidewand bin ich wegen Koks losgeworden. Ich riech nicht mehr viel, außer mein Kochkumpel hier nimmt zu viel Pak Choi oder diesen französischen Käse, der nach Arsch riecht.«
Matte nickte. »Mein Fluch war Meth. Vor einer Weile hatte ich davon eine Darmperforation. Kann ich echt nicht empfehlen, Mann. Beschissen ernste Geschichte, kein Witz.«
Glatze fügte hinzu: »Die Sache ist die, wir wissen, ob jemand was nimmt oder nicht. Und die haben nichts genommen.«
»Im Polizeibericht steht etwas anderes. Dort steht auch, dass Betsy versucht hat, sie mit Naloxon zurückzuholen. Offenbar hatten sie eine Überdosis Fentanyl.«
Matte schüttelte den Kopf. »Hat Betsy behauptet, sie hätte das gemacht? Das mit dem Naloxon, meine ich.«
Erneut zögerte Devine, aber dann sagte er: »Nein, hat sie nicht. Sie hat das Gegenteil behauptet.«
Matte sah Devine triumphierend an. »Na also! Hab ich das nicht gesagt?«
»Was glaubst denn du, was ihnen zugestoßen ist?«
Glatze beäugte Devine misstrauisch. »Weiß nicht. Aber wenn die Cops irgendeinen Scheiß erfinden? Dann hat normalerweise einer von Ihrer Sorte irgendeinen Mist gemacht, den er nicht machen sollte.«
»Meine Sorte?«, fragte Devine und nahm kommentarlos zur Kenntnis, dass Glatze zum Sie übergegangen war.
»Sie sind ein Cop, oder nicht? Bundesbulle, wie es aussieht. Ein Fed.«
»Haben Sie Erfahrung mit Cops, Bundesbullen und dergleichen?«
»Was glauben Sie denn?«, erwiderte Glatze trotzig. »Seh ich für Sie aus, als wär ich mit einem Trustfonds im Kreuz nach Harvard gegangen?«
»Sind Sie vorbestraft?«
Glatze fixierte Devine mit seinen großen braunen Augen. »Ist schwierig, ’nen richtigen Job zu bekommen, wenn man den Pinkeltest nicht besteht und kein sauberes Führungszeugnis hat. Und von irgendwas leben muss man trotzdem. Mehr sag ich dazu nicht.«
