Der Fluch der Knochenjäger - Robert J. Mrazek - E-Book

Der Fluch der Knochenjäger E-Book

Robert J. Mrazek

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Beschreibung

Eine archäologische Sensation im Visier finsterer Mächte.

Er gilt als einer der spektakulärsten Fossilienfunde des 20. Jahrhunderts: der Peking-Mensch, einer unserer ältesten Vorfahren. Ganze Mythen ranken sich um ihn. Seit dem 2. Weltkrieg sind seine Gebeine verschwunden. Doch nun sorgt in China eine Sekte für Aufruhr, die den Mythos für ihre zweifelhaften Praktiken ausnutzt. Um diesen ein Ende zu bereiten, soll Prof. Barnaby Finchem die Gebeine aufspüren. Zusammen mit der Archäologin Lexy Vaughan und dem Piloten Steven Macaulay begibt er sich auf eine gefährliche Spurensuche, die Unglaubliches zutage fördert ...

Spannungsgeladene Action rund um den Globus! Der Roman erschien im Original unter dem Titel The Bone Hunters. Der Fluch der Knochenjäger ist in sich abgeschlossen und unabhängig lesbar. Spannung pur wartet aber auch im ersten Teil der archäologischen Thrillerreihe: Eisiges Runengrab.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

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Seitenzahl: 481

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Anmerkung des Verfassers

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Dank

Über den Autor

Weiterer Titel des Autors

Impressum

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Über dieses Buch

Er gilt als einer der spektakulärsten Fossilienfunde des 20. Jahrhunderts: der Peking-Mensch, einer unserer ältesten Vorfahren. Ganze Mythen ranken sich um ihn. Seit dem 2. Weltkrieg sind seine Gebeine verschwunden. Doch nun sorgt in China eine Sekte für Aufruhr, die den Mythos für ihre zweifelhaften Praktiken ausnutzt. Um diesen ein Ende zu bereiten, soll Prof. Barnaby Finchem die Gebeine aufspüren. Zusammen mit der Archäologin Lexy Vaughan und dem Piloten Steven Macaulay begibt er sich auf eine gefährliche Spurensuche, die Unglaubliches zutage fördert …

Robert J. Mrazek

Der Fluch der Knochenjäger

Aus dem amerikanischen Englisch von Axel Franken

Für Susanna, James und Ilse Rose

Anmerkung des Verfassers

Im Jahr 1928 entdeckte eine vom österreichischen Paläontologen Otto Zdansky geleitete archäologische Expedition bei einer Grabung in Zhoukoudian, China, das Exemplar eines menschlichen Fossils. Bei dem Fundort handelte es sich um ein prähistorisches Höhlensystem etwa zweiundvierzig Kilometer südwestlich von Peking. Paläontologen schätzten das Alter des Fossils später auf ungefähr 780.000 Jahre.

»Der Pekingmensch«, wie das Fossil genannt wurde, wird noch heute als das früheste lebende Beispiel des Homo erectus betrachtet, des ersten Menschen, der aufrecht stehen und primitive Werkzeuge benutzen konnte. Er ist einer der bedeutendsten fossilen Funde in der Geschichte der menschlichen Evolution.

Nachdem die Japaner 1937 in China einmarschierten, wuchs die Sorge um den Schutz und die Erhaltung des Pekingmenschen. Das Fossil wurde von seiner Fundstätte in Zhoukoudian ins Peking Union Medical College verbracht, eine Gründung der amerikanischen Rockefeller-Stiftung. Zu dieser Zeit respektierte die japanische Armee die Besitztümer ausländischer Investoren im Land noch.

Ende 1941 wurde der amerikanische Botschafter, Nelson T. Johnson, gebeten, den Pekingmenschen in die Vereinigten Staaten schicken zu lassen, bis seine Sicherheit innerhalb Chinas wieder gewährleistet werden könnte.

Mit einiger Verzögerung wurde dem Wunsch stattgegeben. Ein paar Tage bevor die japanische Armee in Peking einzog, wurden die Fossilien des Pekingmenschen in luftdichte Glasbehälter geschlossen und sorgfältig in zwei Holzkisten gepackt.

Am 8. Dezember 1941 (chinesischer Zeit) trafen japanische Amtsträger in der medizinischen Hochschule ein und verlangten die Übergabe der Penkingmensch-Fossilien. Die Japaner befahlen medizinischen Mitarbeitern, den verschlossenen Tresor im Anatomiegebäude zu öffnen, in dem die Fossilien aufbewahrt worden waren.

Der Pekingmensch war nicht dort.

Er ist bis zum heutigen Tag verschollen.

Montag, 8. Dezember 1941Chinwangtao-FernstraßeQuipao, China

Es war eine der zwei dunkelsten Nächte, an die Korporal Sean Patrick Morrissey sich erinnern konnte.

Die andere war in jenem langen Winter auf der Oberen Halbinsel von Michigan gewesen, nachdem sein Stiefvater die Stelle als Wachmann für die Holzfirma bekommen und die Familie in einer Ein-Zimmer-Hütte unweit des Two Hearted River gelebt hatte. Sean war damals ein schmächtiger Zwölfjähriger gewesen. Inzwischen war er fast achtzehn, hochgewachsen, bärenstark und ein »China Marine«, ein in China stationierter Soldat der amerikanischen Kriegsmarine, der im Augenblick im vordersten Lastwagen des Militärkonvois als Beifahrer mitfuhr. Neben ihm saß Hauptfeldwebel James Donald »J. D.« Bradshaw am Steuer.

»Uns steht eine lange Nacht bevor, Junge«, sagte J. D., als er den Marinefilzhut mit den vier Einbuchtungen abnahm und neben sich auf die Sitzbank legte. Dann griff er unter den Sitz, förderte eine dreikantige Flasche Haig & Haig zutage und reichte sie Sean. Der Junge nahm einen gesunden Schluck und spürte ihn wie Feuer durch seinen Hals rinnen.

J. D. war ein Mann alten Schlages. Drei Aufenthalte in China seit 1928, und er sprach fließend Chinesisch. Mit sechsunddreißig war er alt genug, um Seans Vater zu sein, und sein Bürstenhaarschnitt war zu reinem Weiß verblasst.

Im Laufe des bisherigen Jahres hatte er die Rolle besser gespielt als Seans richtiger Vater, ganz zu schweigen von den zwei Stiefvätern, die nach diesem gekommen waren. Auf J. D.s unansehnlichem, von Aknenarben überzogenem Gesicht schien immer ein Lächeln zu liegen, jedenfalls in Seans Gegenwart.

Es war J. D.s Vorbild, das Sean stolz darauf gemacht hatte, ein China Marine zu sein, stolz auf die Traditionen der Marine an diesem fernen Ort und stolz auf die Art, wie die Marinesoldaten von so ziemlich jedem im Fernen Osten respektiert wurden – außer von den Japanern.

Zu Hause in Parris Island hatten die Ausbilder die Japaner als kleine Menschen mit vorstehenden Zähnen und Glasbausteinbrillen beschrieben, die man mit einem Suppenlöffel umhauen konnte. J. D. empfahl Sean, besser nicht darauf zu wetten, nicht auf die Weise, wie sie in den vergangenen drei Jahren die chinesische Armee in einer Schlacht nach der anderen verdroschen hatten. Jetzt war die japanische Armee in Bewegung, und alle anderen schienen auch in Bewegung zu sein und zu versuchen, von den Japanern wegzukommen. Niemand wusste, wo sie als Nächstes zuschlagen würden.

Sean fühlte sich besser mit der Colt 1911A1 .45-Kaliber-Pistole im Hüftholster und der Thompson M1928A1 .45-Kaliber-Maschinenpistole, die auf seinem Schoß lag. Drei Ersatzmagazine mit jeweils zwanzig Schuss lagen neben ihm, dazu ein Tornister mit Splittergranaten.

Ein paar Tage vorher hatten die Angehörigen der hochrangigen amerikanischen Militärs, Diplomaten, Geschäftsleute und Berichterstatter einen Zug nach Shanghai bestiegen. Nur die Wachen der Botschaft und eine kleine Abteilung Marineinfanterie waren auf dem Gesandschaftsgelände zurückgeblieben.

Hauptmann Theo Allen befehligte die Marineinfanterie-Abteilung. Mit den blassblauen Augen hinter seiner Drahtgestellbrille erinnerte er Sean an seinen Englischlehrer auf der Highschool, doch J. D. zufolge war Hauptmann Allen einer der härtesten Männer in der Truppe und Spezialist im Nahkampf.

An diesem Morgen hatte der Hauptmann ein Telegramm vom Hauptquartier der 4. Marineinfanteriedivision in Camp Holcomb im Norden erhalten, mit der Anweisung, einen kleinen Lastwagenkonvoi zusammenzustellen und sich für weitere Befehle bereitzuhalten. Aus dem dezimierten Fuhrpark waren zwei vor Kurzem reparierte Studebaker-Laster aufs Gelände gebracht worden.

Alle drei Fahrzeuge waren in demselben matten Grün lackiert, und auf den Türen standen in schwarzer Farbe die Buchstaben USMC für United States Marine Corps gemalt. An Metallstreben festgebundene Segeltuchdächer bedeckten die Ladeflächen der Eineinhalb-Tonnen-Laster.

Am späten Nachmittag hatte Hauptmann Allen seine Befehle erhalten, und der Konvoi war mit neun Marinesoldaten an Bord vom Gesandschaftsgelände abgefahren – einer der Marines fuhr mit Hauptmann Allen im Dienstwagen voraus, die anderen acht waren auf die beiden Laster verteilt worden.

Wie immer war Sean verzaubert von dem verrückten Gemisch aus Geräuschen und Gerüchen, das die alte Stadt erfüllte. Die Straßen quollen über von Menschen und Tieren, und die Luft war voll vom Gesang und Lärmen der Straßenmusikanten, dem Duft würziger Speisen, der von den Verkaufsständen längs der Straße herüberwehte, und dem Gestank der offenen Abwasserkanäle, die verfaulenden Fisch und Tierkot mit sich führten. Aus Radios in offenen Ladeneingängen und Speisehäusern dudelte es auf Chinesisch.

Der Konvoi nahm eine lange, langsame, umständliche Route quer durch die Stadt, ehe der Dienstwagen des Hauptmanns nach links auf eine überfüllte Durchgangsstraße abbog und durch zwei gewaltige Steintore fuhr, die die hohen Steinmauern eines großen Anwesens flankierten. Sean sah die Worte PEKING UNION MEDICAL COLLEGE über dem Eingang eingraviert.

Der Lärm der Straße ebbte ab, sobald sie im Innern waren. Weiter vorn stand ein betagter Weißer vor dem Hauptgebäude in einem mit Ziegelsteinen gepflasterten Hof. Ein Dutzend chinesischer Kulis umringte ihn. Es war offensichtlich, dass er auf sie gewartet hatte.

Noch bevor Hauptmann Allens Wagen zum Stillstand kam, begann der Alte mithilfe eines langen Gehstocks darauf zuzuhumpeln. Er trug einen altmodischen Tweedanzug mit weißem Hemd und Fliege. Auf der langen Nase in seinem Pferdegesicht thronte eine Brille.

Als Hauptmann Allen ausstieg, begann der alte Mann mit einer leiernden Stimme auf Englisch mit ihm zu sprechen, als habe er sich schon zu sehr an das Chinesische gewöhnt.

»Wir sind bereit«, sagte er. »Sie müssen sich beeilen!«

Sean hörte ein Dröhnen, das wie ferner Donner klang.

»Die Langstreckenartillerie der Japse«, sagte J. D., als das Geräusch zu einem tiefen, steten Grollen wurde.

In diesem Augenblick sah Sean die zwei Holzkisten, die auf dem Ziegelsteinhof hinter der vordersten Reihe der Kulis standen. Jede war so groß wie ein großer Kühlschrank. Die eine war in kräftigem Rot angestrichen, die andere bestand aus unbearbeitetem Teakholz.

Hauptmann Allen wies die Kulis auf Chinesisch an, eine Kiste hinten auf jeden Laster zu laden. Die rote, die sie in Seans und J. D.s Fahrzeug stellten, war mit schwarzen chinesischen Symbolen versehen.

Hauptmann Allen versammelte die Abteilung um sich.

»Ich kann Ihnen nicht sagen, was in diesen Kisten ist, weil ich es nicht weiß«, sagte er. »Aber was es auch ist, es ist wichtig, und unser Befehl lautet, dafür zu sorgen, dass es in Chinwangtao, der Hafenstadt bei Camp Holcomb, ankommt. Wenn wir dorthinkommen, wird die S.S. President Harrison auf die Kisten warten. Sie ist das letzte amerikanische Linienschiff, das noch in China ist.«

Sean verspürte eine Woge der Erregung. Mit siebzehn hatte er noch nie echte Angst gefühlt.

»Es sind ungefähr dreihundertzwanzig Kilometer dorthin«, fügte der Hauptmann hinzu. »Wir werden die ganze Nacht durchfahren und nur einmal zum Auftanken anhalten. Benzinkanister sind hinten in den Lastern verzurrt. Sie sollten wissen, dass die japanischen Truppen die Straße möglicherweise schon an mehreren Stellen abgeriegelt haben, also seien Sie jederzeit wachsam!«

Nachdem er sie hatte wegtreten lassen, klebte J. D. die Scheinwerfer aller drei Fahrzeuge mit weißem chirurgischem Klebeband ab, um ihre Sichtbarkeit zu verringern. Hauptmann Allen inspizierte die beiden Marinesoldaten hinten in jedem Laster und vergewisserte sich, dass sie mit .30-06 Browning Automatic Rifles und einem Vorrat an Zwanzig-Schuss-Magazinen ausgerüstet waren.

Als sie die Motoren anließen und sich zum Losfahren fertig machten, rief der alte Mann im Tweedanzug Hauptmann Allen vom Rand des Hofs aus zu. Tränen liefen über seine Wangen.

»Beschützen Sie sie mit Ihrem Leben!«, rief er in seinem leiernden Tonfall.

»Der hat leicht reden!«, meinte J. D. und spuckte Tabaksaft durchs offene Fenster, während sie durch den Eingang wieder auf die Hauptstraße rollten.

»Was meinen Sie, was in den Kisten drin ist?«, fragte Sean.

»Nicht schwer genug für Gold«, antwortete J. D., während er sich darauf konzentrierte, den Fünf-Meter-Abstand zwischen den Fahrzeugen einzuhalten, den Hauptmann Allen angeordnet hatte, »aber die rote Kiste ist die wichtige.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Sean.

»Die chinesische Beschriftung«, sagte J. D., und Sean fiel wieder ein, dass er die Sprache ja fließend beherrschte.

Der dunkler werdende Himmel im Westen war immer noch rötlich angehaucht, als sie das letzte Tor am Rande Pekings passierten und auf der Fernverkehrsstraße weiterfuhren. Das Grollen des Artilleriefeuers verklang langsam, als sie die Stadt weiter hinter sich ließen.

Anfangs hatte die Fernstraße eine leicht geschotterte Oberfläche und zwei Spuren in jede Richtung. Nach dreißig Kilometern schrumpfte die Fahrbahn auf zwei Spuren zusammen; aus dem Schotter wurde eine harte, ausgefahrene Bodenschicht. Der Konvoi war gezwungen, das Tempo auf fünfzig Stundenkilometer zu drosseln.

Entlang der Strecke kamen sie an Tausenden von chinesischen Flüchtlingen vorbei, die sich in der eiskalten Dunkelheit von Peking wegbewegten. Einige wenige Glückliche fuhren alte, mit Kohle angetriebene Laster und Autos. Andere saßen auf Ochsenkarren, auf denen sie Möbel und persönliche Habe um sich herum aufgehäuft hatten. Sean sah sogar einen Rikschakuli, der in seinem langen, gefütterten Kittel mit einer vierköpfigen Familie im Schlepptau dahintrottete.

Die meisten der Flüchtlinge waren jedoch zu Fuß unterwegs und gingen mitten auf der Straße und nahmen das Gehupe gar nicht wahr. Mehr als nur ein paar lagen am Straßenrand zu beiden Seiten, die Leichen ausgezogen bis auf die Haut.

Ein schneidender sibirischer Wind begann aus Norden zu wehen, und die Oberfläche der Straße wurde zu einer wirbelnden Masse grauen Staubs. Kleine Tornados aus feinem Pulver drangen durch die Ritzen in den Fenstern und füllten ihre Münder mit Sand. J. D. reichte Sean noch einmal die Flasche mit Haig & Haig.

Das Flüchtlingsaufkommen verringerte sich, als sie weiter nach Osten kamen. An einer Stelle sahen sie einen Rolls-Royce am Straßenrand stehen, aus dessen Motor schwarzer Rauch stieg. Eine schlanke und hübsche junge Frau in einem blauen Seidenkleid stand daneben und winkte mit vor Angst verzerrtem Gesicht dem Konvoi zu, um ihn zum Halten zu bewegen.

»Vielleicht sollten wir stoppen«, meinte Sean.

»Da könnten wir gleich für jeden anhalten«, erwiderte J. D.

Sean nahm seine Brieftasche mit der abgegriffenen Fotografie von Cathy heraus. Darauf stand sie im Garten hinter dem Haus ihres Vaters in Pontiac und erwiderte mit schüchternem Lächeln dessen Blick. Im November hatte Cathy geschrieben, wie stolz sie wegen seiner Beförderung zum Korporal sei. Ihr Vater war Vorarbeiter in der Chevy-Fabrik und fand, dass Sean ihrer nicht würdig war. Er würde anders denken, wenn Sean mit seinen neuen Streifen zurückkam.

Als sie etwas mehr als die Hälfte der Strecke nach Camp Holcomb zurückgelegt hatten, setzte Regen ein; der schwere Wolkenbruch verwandelte die harte, staubige Bodenschicht in eine schlammige Holperpiste. Als Sean durch das regenüberströmte Fenster in die Dunkelheit schaute, sah er in der Ferne ein paar Lichter. Sie stellten sich als ein verlassener Bahnhof entlang der Peking-Mukden-Eisenbahnlinie heraus.

Sie waren mehr als fünf Stunden gefahren, als der Dienstwagen langsamer machte und an den Straßenrand heranfuhr. Es war fast Mitternacht. Hauptmann Allen stieg auf der Beifahrerseite aus und kam durch den Regen zu ihnen zurück.

Sean ließ das Fenster herunter.

»Füllen Sie Ihre Feldflaschen auf, während wir auftanken«, sagte er, »und schalten Sie die Lichter aus!«

J. D. grinste, als der Hauptmann an ihnen vorbeiging, nahm noch einen schnellen Schluck Haig & Haig und reichte die Flasche Sean. Sean hörte die beiden Marinesoldaten auf der Ladefläche hinter ihnen die Benzinkanister losbinden, um den Tank aufzufüllen.

Eine verlassene Ortschaft erstreckte sich zu beiden Seiten der Straße in die dunkle Landschaft. Eingezäunte Tiergehege säumten die freien Flächen zwischen einem Dutzend Lehmhütten. In den Gebäuden brannte kein Licht. Die Gehege waren leer.

J. D. öffnete eine große Papiertüte und nahm eine Handvoll chinesischer Rosinen heraus, steckte sie in den Mund und begann zu kauen. Der Saft tropfte ihm aus den Mundwinkeln aufs Kinn.

»Du gehst zuerst pinkeln«, sagte er, während er den Blick über die Gebäude schweifen ließ, »und siehst nach den Reifen!«

Sean ließ den Tornister mit den Splittergranaten auf dem Sitz, nahm die Thompson und stieg aus dem Führerhaus auf den schlammigen Boden. Nachdem er den Laster umrundet und sich vergewissert hatte, dass der Reifendruck hielt, blieb er am vorderen Kotflügel stehen, um sich zu erleichtern. Während einer der beiden Marinesoldaten hinten Benzin in den Tank goss, richtete der andere sein BAR auf die am nächsten stehende Hüttenreihe.

Ein weiterer Soldat bewegte sich zwischen den Lastern und füllte die Feldflaschen der Männer aus einem Zwanzig-Liter-Kanister. Sean sah die Regentropfen, die vom Rand der Krempe seines Filzhuts auf den Boden fielen.

Ein Hund begann zu bellen. Das Geräusch schien von hinter einem der Gebäude auf der anderen Seite der Straße zu kommen. Ein paar Sekunden lang war der Hund ruhig und fing dann wieder an, aufgeregter diesmal.

Plötzlich hörte das Gebell auf.

Sean zog den Spannhebel an der Thompson zurück und legte eine Kugel ins Magazin ein. Ein paar Augenblicke später trat die schemenhafte Gestalt eines Mannes aus einem der verdunkelten Gebäude. Der Mann schwankte ein bisschen, als er auf den Dienstwagen des Hauptmanns zuging. Einen Moment lang fragte sich Sean, ob er betrunken war. Er sah, dass der Mann etwas in den Händen hielt. Es schien eine Rauchfahne hinter sich herzuziehen.

»Eine Japsenmine!«, schrie J. D. »Knall ihn ab!«

Sean legte die Thompson an, betätigte den Abzug und feuerte eine kurze Salve ab. Die Kugeln schlugen in der Brust des Mannes ein und ließen ihn nach hinten taumeln. Zwei Sekunden später hüllte ihn eine gewaltige Explosion ein und erhellte die Nacht.

Sean fühlte die Schotterstücke wie heftigen Regen auf sein Gesicht niederprasseln; die Luft war vom Gestank nach Kordit erfüllt. Die Fahrertür des Dienstwagens schwang auf, und der Marinesoldat kletterte heraus und ging dahinter in Deckung.

»Sie kommen!«, schrie er und feuerte mit seiner .45er-Pistole auf einen der Eingänge.

Ein Nambu-Maschinengewehr eröffnete vom Dach eines der Gebäude das Feuer auf sie. Leuchtspurgeschosse flammten durch den Regen und trafen den Dienstwagen und die Windschutzscheibe ihres Lasters.

Genau darum geht es hier, dachte Sean Morrissey. Es passierte ihm wirklich. Nicht, was er sich von Comicheften oder Kriegsfilmen her ausgemalt hatte. Das hier war echt.

Er hörte die Soldaten hinten in ihrem Laster mit ihren BARs das Feuer erwidern, womit sie das feindliche Maschinengewehr vorübergehend zum Schweigen brachten, während noch mehr Gestalten aus den dunklen Gebäuden herauskamen und sich auf den Konvoi zubewegten.

Der Fahrer des Dienstwagens fing an, mit eingezogenem Kopf und in Schlangenlinien nach hinten zu Seans Laster zu rennen. Mündungsfeuer blitzte in der gezackten Linie der japanischen Soldaten auf, und der Marineinfanterist fiel mit dem Gesicht voran der Länge nach hin. Er bewegte sich nicht mehr.

Sean benutzte die Motorhaube des Lasters als Deckung, richtete die Thompson auf den heranrückenden Feind und feuerte, diesmal ein ganzes Magazin. Vier Soldaten brachen zusammen.

Er ersetzte das Magazin und begann, kurze Salven abzugeben, drei oder vier Schuss jedes Mal; das Antwortfeuer der Japaner zertrümmerte den Scheinwerfer neben seinem Ellbogen und zerstörte die Windschutzscheibe des Führerhauses.

Eine weitere schemenhafte Welle von Soldaten tauchte aus dem Dunkel der Häuser auf. Sie rückten zusammen vor, rannten flachfüßig und mit weit gespreizten Beinen. Sean sah einen von ihnen den Arm heben und etwas laut gegen seinen Helm klatschen.

Sean erinnerte sich daran, dass japanische Granaten auf eine harte Oberfläche geschlagen werden mussten, um sie scharf zu machen. Er feuerte auf den Soldaten, als dieser gerade zum Wurf ausholte. Die Explosion riss ihn und zwei andere von den Füßen. Einer kam weiter auf Sean zu.

»Banzai … Banzai!«, schrie er.

Es war der größte Japaner, den Sean je gesehen hatte, über eins achtzig, und er schwang ein Schwert, als er sich dem Laster bis auf anderthalb Meter genähert hatte. Als Sean einen längeren Feuerstoß abgab und die Kugeln sich in die Brust des Mannes bohrten, schien er ein paar Momente lang mit grotesken Tanzbewegungen in der Luft zu schweben, ehe er hinfiel und sich nicht mehr rührte.

Sean konnte jetzt die BARs aus der Richtung der Straße hinter dem Konvoi feuern hören. Offenbar versuchten die Japaner, sie einzukreisen und von beiden Seiten längs der Straße anzugreifen.

Aus dem Führerhaus des Lasters hörte er ein lautes Stöhnen. Es musste J. D. sein. Als Sean durch die geöffnete Beifahrertür hechtete, spürte er einen stechenden Schmerz im rechten Arm. Als er einen Blick auf seinen Ärmel warf, sah er, dass eine Kugel den fleischigen Teil seiner Schulter durchdrungen hatte.

J. D. saß immer noch aufrecht auf dem Fahrersitz hinter der zertrümmerten Windschutzscheibe. Ein Schuss aus dem Nambu-Maschinengewehr hatte ihm das rechte Auge weggerissen. Er war gerade noch bei Bewusstsein; um ihn herum auf dem Sitz hatte sich eine Blutlache aus einer anderen Wunde in seiner Seite gebildet. Sean zog ihn aus der Schusslinie und legte ihn auf der Beifahrerseite auf den Boden. J. D.s unversehrtes Auge wurde kurz wieder klar.

»Ich komme wieder!«, sagte Sean.

Er ließ sich durch die geöffnete Beifahrertür fallen und fand eine neue Feuerstellung in dem flachen Abflussgraben, der am Rand der Fahrbahn entlanglief. Die Wunde in seinem Arm fing an zu pochen, als er ein weiteres Magazin nachlud.

Der Dienstwagen brannte inzwischen, und die lodernden Flammen aus seinem Benzintank erhellten die Straße vor dem Konvoi. Tote Japaner lagen bis hin zu den dunklen Gebäuden. Es gab dort keine Angreifer mehr, jedenfalls für den Augenblick.

Am anderen Ende des Konvois wurde unablässig geschossen. Aus dem Augenwinkel heraus sah Sean jemanden aus dieser Richtung am Graben entlang auf ihn zugekrochen kommen. Es war Hauptmann Allen. Um seinen Oberschenkel lag ein Druckverband, und aus einer Kopfverletzung floss Blut.

»Sie haben uns umzingelt!«, sagte er durch zusammengebissene Zähne.

Ein japanischer Soldat, der hinter dem Dienstwagen gelegen hatte, kam wieder auf die Beine und stürmte auf sie zu. Er hielt den Kopf tief gesenkt, als wollte er nicht wissen, was ihn erwartete. Sean mähte ihn mit einem einzigen Feuerstoß um.

»Können Sie diesen Laster fahren?«, fragte Hauptmann Allen.

»Jawohl, Sir!«, sagte Sean.

»Schaffen Sie die rote Kiste zum Hafen in Chinwangtao!«, sagte Allen. »Die President Harrison.«

»Jawohl, Sir!«, sagte Sean.

Hauptmann Allen nahm ihm die Thompson ab und zielte auf die nächstgelegenen Gebäude.

»Gehen Sie!«, befahl er.

Kugeln aus dem Nambu-Maschinengewehr schlugen in der Erde vor ihm ein, als Sean aus dem Graben stieg. Gleich darauf war er durch die Beifahrertür und hinter dem Lenkrad, während Hauptmann Allen die Maschinengewehrstellung auf dem Dach unter Beschuss nahm und ihm Feuerschutz gab.

Sean rammte den Schaltknüppel in den ersten Gang, trat die Kupplung, und der Laster fuhr abrupt an. Als der Wagen beschleunigte, bestrichen Maschinengewehrkugeln seine Seite und den Motorraum. Der Laster fuhr weiter.

Sie hatten einige Kilometer hinter sich gebracht, als Sean langsamer fuhr und wieder anhielt. Sie waren auf offenem Gelände. Behutsam hob er J. D. wieder auf den Sitz und untersuchte seine Verletzungen. Das rechte Auge war zwar weg, aber die Kugel hatte seinen Schädel nur geschrammt. Sean legte eine Mullbinde um die leere Augenhöhle. Aus der Wunde in seiner Seite tröpfelte das Blut nur noch. Sean nahm eine Ampulle mit Morphium aus dem Verbandskasten des Lasters, während J. D. ihm mit schmerzverzerrtem Gesicht zusah.

»Ich will das nicht!«, sagte er.

»Ich muss Sie zu einem Sanitäter schaffen«, sagte Sean.

J. D. drückte das linke Auge zu.

»Fahren Sie zum Hafen!«, sagte er. »Wir können nicht mehr weiter als ein paar Stunden davon weg sein.«

Wenn die Straße vor uns japsenfrei ist, dachte Sean. Er hob die halb volle Flasche Haig & Haig auf und führte die Öffnung an J. D.s Mund. Der Hauptfeldwebel nahm einige tiefe Schlucke, bevor Sean noch zwei Fingerbreit in seine Wunde goss.

»Fahren wir!«, knurrte J. D.

Als Sean den Laster durch die Nacht steuerte, wiederholte er dasselbe stumme Gebet. Rette ihn, Herr! Rette ihn, Herr! Rette ihn, Herr! J. D.s Atem ging immer unregelmäßiger. Jedes Mal, wenn sie eine vom Schlamm verstopfte Spurrille in der Fahrbahn trafen, erbebte der Laster heftig, und J. D.s Hand umkrampfte Seans verletzten rechten Arm.

Es war nach drei am Morgen, als Sean in der Ferne die Lichter Chinwangtaos sah. Die stets geschäftige Stadt war fast leer und die Stille unheimlich, als sie durch die Straßen fuhren. Sean hielt nicht an, bis sie die Piers erreichten, wo die großen Seeschiffe andocken mussten.

Als er über die Betonmole fuhr, die zu den äußeren Anlegestellen führte, erlangte J. D. das Bewusstsein wieder. Sean wies ihn auf eine kleine Abteilung chinesischer Soldaten hin, die Baumwollballen zu den Mauern zweier großer Lagerhäuser schleppten.

»Sie stecken den Hafen in Brand«, sagte J. D. »Die Japse müssen nahe sein.«

Sean fuhr über den letzten Pier. Alle Liegeplätze waren leer, bis er das Ende des Kais erreichte. Ein verdunkeltes Schiff nahm in der Finsternis langsam Form an. Sean konnte chinesische Kulis sehen, die Ölfässer über den Laufsteg zum Vorderdeck rollten. Weit über ihnen auf der Brücke brüllte ein Offizier den Männern unten am Dock etwas zu und schwenkte die Arme mit kreisförmigen Bewegungen.

»Sie legen ab«, sagte J. D. »Ich kann den Namen des Schiffs nicht sehen.«

Sean stieg aus dem Laster und rannte zum Laufsteg.

»Ist das die President Harrison?«, schrie er zu dem Offizier auf der Brücke hoch.

Der Mann schaute zu ihm herunter und lachte.

»Ich habe gehört, sie ist von die Japs versenkt worde«, rief er mit starkem europäischem Akzent. »Das hier ist die Prins Willem.«

Die Prins Willem war offensichtlich ein altes Küstenschiff. Sie stank nach auslaufendem Treibstoff, und riesige Rostflecken überzogen die Rumpfplatten und verunzierten den einst weißen Anstrich der Aufbauten. Sean wusste nicht viel über Schiffe, aber dieses hier sah nicht aus, als könnte es es aus dem Hafen schaffen.

»Wir fahren jetzt … die Japse sind jeden Moment hier«, rief der Offizier.

Seine Besatzungsmitglieder begannen die Festmacher einzuholen.

»In dem Laster da ist etwas wirklich Wichtiges!«, brüllte Sean. »Können Sie uns mitnehmen?«

»Was ist es?«, wollte der Offizier wissen.

»Das weiß ich nicht, aber sie wollen nicht, dass die Japse es bekommen!«, rief er zurück.

Der Offizier starrte ihn mehrere Sekunden lang an. Dann winkte er dem halben Dutzend Kulis zu, die noch auf dem Dock standen. Als er ihnen etwas auf Chinesisch zurief, rannten sie zum Laster, ließen die Heckklappe herunter und drängten ins Innere.

Sean verfolgte, wie die rote Kiste übers Dock zum Laufsteg und dann nach oben aufs Schiffsdeck getragen wurde. Er konnte die Einschusslöcher darin erkennen und fragte sich, ob das, was sich darin befand, zerstört worden war.

»Kommen Sie?«, fragte der Offizier.

Sean rannte zum Führerhaus des Lasters zurück und öffnete die Beifahrertür. J. D. saß in derselben aufrechten Haltung da. Einen Moment lang fragte Sean sich, ob er noch am Leben war.

Plötzlich hörte er von weiter unten am Pier Schüsse. Im grellen Schein der brennenden Lagerhäuser bewegte eine motorisierte japanische Militäreinheit sich schnell über die Betonmole. Er beobachtete, wie sie auf den Pier einbog und im Näherkommen beschleunigte. Hinter sich hörte er, wie die Leinen losgemacht wurden. Der Laufsteg war immer noch am Pier befestigt, als das Schiff sich zu lösen begann.

»Wir müssen gehen, J. D.!«, sagte er und streckte die Hand aus, um ihm aus dem Sitz zu helfen. »Die Japse sind hier!«

»Ich gehe nicht«, erwiderte J. D.

Sean schaute nach unten und sah den Haufen Splittergranaten auf seinem Schoß. J. D. hatte keine in dem Leinensack dringelassen. Sean warf einen schnellen Blick über die Schulter auf das abfahrende Schiff: Es zog den Laufsteg aus Metall hinter sich her, dessen Ende nur noch notdürftig am Pier hing.

»Geh!«, brüllte J. D.

Sean rannte auf den Laufsteg zu, den bereits ein halber Meter schwarzes Wasser vom Pier trennte. Mit einem Sprung gelang es ihm, darauf Fuß zu fassen. Während er aufs Deck zukletterte, warf er einen Blick zurück und sah den vordersten japanischen Wagen der motorisierten Einheit neben J. D.s Laster anhalten.

Dahinter kam ein leichter Panzer. Als der Laster ihm den Weg versperrte, schwenkte der Geschützturm des Panzers ruckfrei zu dem sich entfernenden Frachtschiff hin und eröffnete das Feuer. Der erste Schuss aus dem 37-mm-Geschütz schlug im Heck der Prins Willem ein und riss ein anderthalb Meter großes gezacktes Loch in die Rumpfplatten.

Mit Fingern, die sich in ihrem vertrauten Rhythmus bewegten, begann J. D. Bradshaw die Stifte aus den Granaten auf seinem Schoß zu ziehen. Als er damit fertig war, schwang die Beifahrertür auf, und ein untersetzter japanischer Offizier mit Goldzähnen richtete eine Pistole auf ihn.

»Willkommen in der Hölle!«, sagte Bradshaw, bevor die gewaltige Explosion das Ende des Piers ausradierte.

Eins

5. MaiBellamy-AnnexLong WharfBoston, Massachusetts

Am Ende war alles doch noch gut ausgegangen, dachte Dr. Barnaby Finchem.

Astrud stammte ursprünglich aus Norwegen, doch nachdem sie als Austauschdoktorandin nach Boston gekommen war, war sie zu einer hingebungsvollen Bürgerin der Red-Sox-Nation geworden. Eine ihrer lang gehegten Fantasien war es, ein Mal in der ersten Sitzreihe neben dem Pesky Pole – der Foul-Stange auf der rechten Seite des Außenfelds im Fenway Park – zu sitzen. Von einem Harvard-Kollegen, der ihm seine Festanstellung verdankte, hatte Barnaby Karten bekommen.

Dann hatte Barnaby vier Innings des aktuellen Spiels ertragen, wobei er seine ein Meter achtundneunzig lange und dreihundert Pfund schwere Körpermasse in einen Plastiksitz stopfte, der für den kleinen Däumling entworfen worden war. Ihre Sitze befanden sich dem Green Monster, der Mauer hinter dem linken Outfield, gegenüber, und die einzige Möglichkeit für Barnaby, die Batter’s Box zu sehen, war, sich übers Geländer vorzubeugen und den Hals um die Person herumzurecken, die einen Platz näher am Schlagmal saß.

Natürlich beugten sich alle beim Pesky Pole vor und reckten ebenfalls die Hälse. Im zweiten Inning begann ein alkoholisierter Fan in der Reihe hinter ihm, ihn wegen seiner wallenden weißen Haarmähne zu belästigen.

»Hey, Medusa, du versperrst das ganze verdammte Outfield!«, rief der Fan aus, was bei den Schwachköpfen um ihn herum Gelächter hervorrief. Barnaby drehte sich um. Der Mann war kahl wie eine Billardkugel.

»Neid ist keine Entschuldigung für Dummheit«, konterte er.

Von da an waren die Bemerkungen des Mannes zunehmend obszön geworden.

Zum Glück hatte alles aufgehört, als der Pitcher der Red Sox einen Flugball schlug, der weit auf den Pesky Pole und geradewegs auf Barnaby zusegelte. Eine fettleibige Frau auf dem Platz hinter ihm stieß ihn in ihrem Eifer, den Ball zu fangen, nach vorn übers Geländer. Nach einer strengen Verwarnung vom Red-Sox-Sicherheitsdienst, in der von lebenslanger Stadionsperre die Rede war, wurden er und Astrud zum nächsten Ausgangstor eskortiert. Gott sei Dank hatte sie ihn nicht für das Fiasko verantwortlich gemacht.

Im Taxi zurück nach Cambridge war sie immer beflissener geworden, hatte zuerst sein wundes Knie gestreichelt, bevor ihre gelenkigen Finger langsam an seinem Oberschenkel hinaufwanderten. Als sie in der Nähe der Longfellow Bridge in einen Verkehrsstillstand gerieten, beschloss Barnaby spontan, sie zu seinem geheimen Unterschlupf am Long Wharf zu bringen, der nur ein paar Blocks entfernt war.

Inzwischen, da er auf die siebzig zuging, hatten zwei überstandene Herzanfälle Barnaby gezwungen, seine Libido gravierend zu zügeln. Er war jetzt stolz auf die Einhaltung der strikten Maxime, nie zu versuchen, eine seiner Doktorandinnen zu verführen. Nur wenn eine davon ihn verführte und dabei noch unerträglich begehrenswert war, gestattete er sich, seine Verteidigungslinien durchbrechen zu lassen.

Astrud wurde den Anforderungen gerecht.

Er hatte sie bei einem wissenschaftlichen Wettbewerb für Studierende des Altnordischen kennengelernt, der von einem seiner Kollegen im Fachbereich Archäologie organisiert wurde. Barnaby hielt mittlerweile nur noch eine einzige Vorlesung – die Reihe über die Ursprünge der Zivilisation –, und dort einen Platz zu ergattern war schwieriger als am Pesky Pole.

Neun Doktoranden nahmen an dem wissenschaftlichen Wettbewerb teil. Als der Star der archäologischen Fakultät war Barnaby zum Vorsitzenden der Jury auserkoren worden. Sein Lebenswerk war Legende.

Nachdem er Cambridge summa cum laude absolviert hatte, hatte der ständig im Ausland lebende Engländer vierzig Jahre damit zugebracht, der Welt führender Experte für altnordische Kultur und Sprache zu werden. Es hatte noch andere Kandidaten für diese Ehre gegeben, doch die waren inzwischen tot, unter ihnen ein Mann, den er vor einem Jahr gezwungenermaßen hatte umbringen müssen.

Jeder Teilnehmer des wissenschaftlichen Wettbewerbs war mit der Aufgabe betraut worden, eine originelle Abbildung des alten nordischen Lebens zu erschaffen. Drei davon waren Triumphe der Vision und Eingebung, prächtig wiedergegeben, tief empfunden und intuitiv nachgebildet, Projektarbeiten, die in Barnabys eigener sorgsam geschulter Vorstellungswelt ihren Nachhall fanden. Fünf der übrigen Arbeiten waren weniger brillant. Und dann war da noch Astruds Werk.

In ihrem primitiven Ölgemälde hatte sie sich eine nordische Begräbnisszene des fünften Jahrhunderts vorgestellt, in der eine junge Frau auf einer hölzernen Totenbahre lag; ihr weiß gekleideter Leichnam war mit Wildblumen bedeckt. Historisch gesehen, das wusste er, hatte dies absolut keine Verbindung zum altnordischen Leben, aber das Gesicht war unauslöschlich schön von einem Helm aus blondem Haar umgeben.

Erst, als er das Bild näher betrachtet hatte, war ihm klar geworden, dass es sich um ein Selbstporträt der Doktorandin handelte, der Künstlerin höchstpersönlich.

»Wie haben Sie die Umstände für diese Begräbnisszene recherchiert?«, hatte er sie gefragt. »Es gibt eigentlich keine Hinweise darauf, wie eine nordische Bestattung im fünften Jahrhundert durchgeführt wurde.«

»Ich habe es mir vorgestellt, Dr. Finchem«, hatte sie geantwortet und mit ihren blauen Augen zu ihm aufgeblickt.

Bei allem, was heilig war, er hatte wirklich nicht für ihre Arbeit stimmen können, doch als der Wettbewerb vorüber gewesen war und sie beim Empfang auf ihn zukam, hatte sie in keiner Weise enttäuscht gewirkt.

»Allein Sie kennenzulernen, Dr. Finchem, war das Aufregendste, was mir im Leben passiert ist«, hatte sie gesagt.

Und seitdem schwand Barnabys Widerstand immer weiter dahin.

Zwanzig Minuten, nachdem sie das Red-Sox-Spiel verlassen hatten, schloss er die große Stahltür auf, die zu seinem Schlupfwinkel am Long Wharf führte. Er schaltete die Deckenlampen in dem einzigen großen Raum ein.

Das Zimmer maß etwa fünfzehn mal fünfzehn Meter und hatte sechs Meter hohe Decken, die von unbehauenen Eichenbalken gestützt wurden. Die Fenster, die zum Hafen hinausgingen, waren mit Eisenläden verschlossen.

Der erste Teil des Lofts umfasste ein wohlausgerüstetes Laboratorium mit all den Apparaturen, die sowohl für einen Archäologen als auch einen Pathologen notwendig waren, darunter ein Computerraum, diverse Drucker, Kameras, Aufzeichnungsgeräte und Flachbildfernseher.

Als Barnaby Astrud in den zweiten Teil des Raums führte, konnte er ihrem Gesicht ansehen, wie sie beinah von Gefühlen überwältigt wurde. Hier befand sich seine altnordische Bibliothek mit Dokumenten, Tagebüchern, alten Pergamenthandschriften und Runentafeln, die zwölf Jahrhunderte zurückreichten. An der Wand hing ein winziger Teil, eine Andeutung seiner riesigen Sammlung von Wikingerschwertern, -schilden, -messern und -werkzeugen.

Der letzte Teil war sein Wohnbereich, der auch eine umfangreiche Küche beinhaltete. Über gewerblichen Geräten und Granitarbeitsplatten hingen an einem Eisengestell Kupfertöpfe und Pfannen.

»Ich koche gern«, erklärte er.

Astruds Augen wanderten von der Küche weg zu dem erhöhten Schlafboden, der aus Rohholz errichtet und mit Tierhäuten und Schaffellen bedeckt war.

»Eine Wikingerlagerstatt des zehnten Jahrhunderts!«, stellte Astrud fest. »Ich habe mich schon immer gefragt, ob sie sich wohlgefühlt haben, wenn sie nackt darauf schliefen … Wie würden Sie so etwas erforschen, Dr. Finchem?«

Sie kamen auf dem Schlafboden zusammen. Barnaby war es inzwischen egal, ob seine Studentinnen wegen seiner Intelligenz, seines Rufs, seiner Notenvergabe oder seiner Fähigkeit, ihre Karriere zu fördern, mit ihm schliefen. Auch mit neunundsechzig liebte er immer noch das Gefühl und die Berührung einer schönen Frau, der er keine Alimente zahlen musste. Das hatte er schon mehr als einmal hinter sich.

Das einzige Hindernis für sein erhofftes Vergnügen lag in seinem oberen Brustkorb verborgen. Es war ein implantierter Cardioverter-Defibrillator, kurz ICD, der, so hatten ihm seine Ärzte versichert, die meisten lebensbedrohenden Herzrhythmusstörungen nach seinem letzten Herzinfarkt korrigieren würde.

Der ICD hatte Astrud noch nicht kennengelernt.

Als sie fertig waren, drehte Barnaby sich erschöpft auf den Rücken und streckte seine Eins-achtundneunzig-Gestalt aus. Es war gut gewesen, sehr gut. Er war kurz davor, in einen tiefen Schlaf zu fallen, als das Handy, das er auf der Küchentheke liegen gelassen hatte, zu klingeln begann.

Es war ein neues Telefon, und er hatte als Klingelton die Schreie einer Möwenschar gewählt, was noch der erträglichste Ton auf der Liste war. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, eine Grenze für die Dauer des Klingelns festzulegen, bevor der Anrufbeantworter sich aktivierte, und das Krächzen riss nicht ab. Nach zwei Minuten Gekreische klangen die Möwen, als wollten sie ihn bei lebendigem Leibe fressen kommen.

Niemand außer Astrud kannte die Nummer, und die lag besinnungslos neben ihm auf dem Wikingerlager. Aber was, wenn sie sie jemand anderem gegeben hatte? Das war die wahrscheinlichste Möglichkeit. Was im Taxi wie eine gute Entscheidung ausgesehen hatte, würde sich vermutlich als schwerwiegender Fehler herausstellen, sagte er sich. Falls sie so indiskret war, musste er sich sanft, aber bestimmt von ihr lösen.

Als die Möwen endlich schwiegen, merkte Barnaby, dass er einen Bärenhunger hatte. Er hatte auf den »Green Monster dog« am Imbissstand im Baseballstadion verzichtet, und der Liebesakt hatte seinen Appetit noch verstärkt. Vor seinem geistigen Auge zog die Reihe der exquisiten Mahlzeiten vorbei, die er zubereitet hatte und die jetzt in dem großen Viking-Kühlschrank eingefroren waren.

Eine davon war ein klassisches nordisches Weinschmorgericht, herzhafte Rehstücke und importiertes Wildschwein, langsam gegart in einer Terrine mit schwedischen Trüffeln, Karotten und Zwiebeln. Er hatte das Rezept in einem Runenpergament aus dem elften Jahrhundert entdeckt. Er ging in die Küche und nahm es zum Auftauen heraus.

Als der köstliche Duft den Wohnbereich zu durchdringen begann, stieg Astrud in einem seiner flammend roten Abercrombie-&-Fitch-Flanellhemden vom Lager herunter. Es endete schicklich an ihren Oberschenkeln und betonte ihre von Natur aus strohblonden Haare. Barnaby beschloss, damit zu warten, sie wegen der Weitergabe seiner Handynummer zur Rede zu stellen.

Nachdem er ihr ein Glas Castello Banfi Centine 2010 eingeschenkt hatte, nahm er einen Laib Fladenbrot nach Wikingerart aus dem Ofen, und sie ließen sich nieder, um das Festmahl zu genießen. Sie leerten gerade die zweite Flasche Wein, als Barnaby den noblen Gedanken in den Raum stellte, dass es vielleicht gut für sie wäre, sich einen angemessenen Mann zu suchen, womöglich nicht älter als ihr Vater. Einen Moment später klebte sie wieder an ihm wie eine Haftmine, und ihr süßer Mund lag auf seinem.

Nach einer weiteren Zusammenkunft auf dem Schlafboden wusste er, wie sich ein Schlittenhund fühlte, wenn er sich der Ziellinie des Iditarod-Rennens näherte. Schließlich schlief er wieder ein, doch dann fingen die fleischfressenden Möwen wieder zu kreischen an.

»Willst du nicht rangehen?«, fragte sie mit dem verbleibenden Nachhall ihres heimatlichen norwegischen Akzents.

»Niemand außer dir hat die Nummer, Astrud«, sagte er mit einer nicht ganz so väterlichen Baritonstimme.

»Ich habe sie keiner Menschenseele gegeben!«, beteuerte sie, und ihre Augen wurden feucht.

Das Klingeln hörte wieder auf, und er wartete in der Stille darauf, dass es wieder begann. Stattdessen fing jemand an, mit Nachdruck an die stählerne Eingangstür zu klopfen. Das Gehämmer schallte durch den Raum.

»Um Thors willen!«, brummte Barnaby.

Mit der Absicht, denjenigen, der im Flur stand, verbal niederzumachen, stieg er vom Schlafboden und ging nackt und steifbeinig zur Tür. Er drückte die Nase unter den Türspion, schaute in den düsteren Gang und runzelte die Stirn.

Zwei

5. MaiLong WharfBoston, Massachusetts

Ein Mann mit dem Körper eines Sumoringers, der außer Form geraten war, stand in dem mit Ziegeln verkleideten Korridor und schwitzte, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen. Sein Gesicht war klatschnass, ebenso der Kragen seines blauen Oxfordhemds.

Das letzte Mal, als Barnaby ihn gesehen hatte, war er in einem Krankenhauszimmer in Rockland, Maine, gewesen. Es war der Tag gewesen, an dem sein Schützling Alexandra Vaughan die Grabstätte von Leif Eriksson auf einer Insel vor der Küste Maines entdeckt hatte. Und es war nach so viel Mord und Totschlag gewesen, dass es Barnaby für zehn Lebzeiten reichte. Damals war der Mann im Korridor der stellvertretende Assistent des Präsidenten der Vereinigten Staaten für nationale Sicherheitsfragen gewesen.

»Ich weiß, dass Sie da drin sind, Dr. Finchem!«, rief Ira Dusenberry. »Lassen Sie mich rein! Es ist äußerst wichtig!«

Die Zeit hatte es seither nicht gut mit ihm gemeint. Er hatte mindestens fünfzehn Kilo zugenommen, und sein plumpes Gesicht mit den Hängebacken hatte einen fensterkittartigen Teint. Sein brauner Anzug spannte sich über seinem Körper wie eine Wurstpelle.

Plötzlich wurde Barnaby klar, dass seine neue Handynummer nicht von Astrud weitergegeben worden war – sie war von einem der Geheimdienstlakaien des allwissenden Großen Bruders namens Washington gehackt worden. Sie konnten alles über jeden Amerikaner herausfinden, den sie ins Visier nahmen. Es machte ihn wütend, wieder auf ihrem Radar zu sein.

Barnaby schloss die Tür auf und öffnete sie. Ira Dusenberry nahm den ganzen eindrucksvollen Anblick seiner Nacktheit auf und wandte sofort die Augen ab.

»Ich muss Sie wohl nicht fragen, wie Sie diesen Ort gefunden haben«, sagte Barnaby verbittert. »Bei Ihrem schrankenlosen inneramerikanischen Spionagenetzwerk kennen Sie ja heutzutage all unsere Geheimnisse, die harmlosen wie die finsteren.«

»Alle nicht«, widersprach Dusenberry, »und leicht war es auch nicht. Wir mussten außerordentliche Maßnahmen ergreifen.«

Er konnte sich immer noch nicht dazu bringen, Barnaby anzusehen.

»Ist das wirklich nötig?«, wollte er schließlich wissen und trat an ihm vorbei ins Loft. Barnaby machte die Tür zu.

»Nur, wenn es ein verlogenes Zerrbild eines Staatsdieners wie Sie irritiert«, antwortete Barnaby.

»Ich bin nicht verlogen!«, verwahrte sich Dusenberry empört.

»Ach ja …? Letztes Jahr haben wir die größte archäologische Entdeckung gemacht, seit Howard Carter in Tutenchamuns Grab im Tal der Könige hineingestolpert ist«, sagte Barnaby. »Wir haben bewiesen, dass Leif Eriksson diese Küsten fünfhundert Jahre vor Kolumbus erreicht hat, und Sie haben beschlossen, dieses Wissen im Namen der nationalen Sicherheit geheim zu halten.«

»Es war eine Frage der nationalen Sicherheit!«, erwiderte Dusenberry, der sich immer noch weigerte, ihn anzublicken.

Barnaby ging zu dem kunstvoll geschnitzten Eichenkleiderständer an der stählernen Eingangstür, griff sich den marokkanischen Jelaba von seiner Saharaexpedition und wickelte ihn um sich.

»Nationale Sicherheit im Sinne der italoamerikanischen Stimmen bei der letzten Wahl«, meinte Barnaby.

Dusenberry gab keine Antwort.

»Jetzt, da der Präsident die Wiederwahl gewonnen hat, dürfte es doch keine Bedenken mehr geben, die Entdeckung bekanntzugeben.«

»Das könnte vielleicht arrangiert werden«, sagte Dusenberry mit einem knappen Lächeln, »sofern Sie uns bei einer weit wichtigeren Angelegenheit behilflich sind.«

Er warf einen Blick auf die ausgedehnte Fläche des Raums.

»Sind wir allein?«, fragte er.

»Das müssten Sie doch wissen!«, antwortete Barnaby und begab sich wieder in den Wohnbereich.

Astrud tauchte auf dem Schlafboden auf und kam herunter. Sie war vollständig angezogen – Red-Sox-Trikot, kurze Hose und Turnschuhe – und sah noch jünger aus als ihre einunddreißig.

»Ich glaube, ich habe Sie im Fernsehen gesehen!«, sagte sie zu Dusenberry.

Seine Augen verrieten eine Spur von Befriedigung, weil sie seine wichtige Rolle im Weißen Haus erkannt hatte.

»Sie sind einer der Kandidaten bei dieser Reality-Fett-Show, stimmt’s?«, fragte sie lächelnd. »Da, wo’s drum geht, wie viel man abnehmen kann, ohne sich dabei umzubringen?«

Dusenberry wusste nicht, ob sie es ernst meinte. »Wenn Sie jetzt gehen, junge Dame, werden Sie wahrscheinlich nicht als Bedrohung für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika angeklagt.«

»Ich wollte sowieso gerade gehen«, meinte sie.

Sie drehte sich um und sah zu Barnaby auf.

»Ich seh dich später«, sagte sie, nahm ihre Handtasche und schloss die Stahltür hinter sich.

»Zu all Ihren anderen Sünden«, sagte Barnaby, »haben Sie womöglich eine der großen Liebesbeziehungen dieses Jahrhunderts zerstört.«

»Ich brauche Ihre Hilfe«, erklärte Dusenberry. »Der Präsident braucht Ihre Hilfe.«

»Ich biete keine psychiatrische Beratung an«, antwortete Barnaby.

Dusenberry ignorierte die Spitze und fuhr fort: »Hören Sie, das hier tut mir leid. Ich wollte Sie eigentlich im Fenway Park treffen, aber Sie wurden rausgeworfen, bevor ich zu Ihnen kommen konnte.«

Barnaby hatte die braunen Senfflecken auf seinem Hemd und seiner Krawatte schon bemerkt.

»Wie viele Monster Dogs haben Sie gegessen?«, fragte er.

Dusenberrys Gesicht verriet die Richtigkeit seiner Vermutung. Tatsächlich hatte er drei von den Fünfundvierzig-Zentimeter-Würsten mit Sauerkraut und Senf gegessen, wie er zugab, und sie dann mit eiskaltem Lager vom Fass heruntergespült. Völlerei sei seine einzige Sünde, versicherte er Barnaby.

»Können wir uns jetzt setzen?«, fragte er und drehte sich von Barnaby weg, um seine Hose zu lockern, während er den nächsten Klubsessel in der Bibliothek neben der offenen Küche ansteuerte.

Barnaby ließ sich auf die Ledercouch ihm gegenüber sinken.

»Haben Sie schon einmal vom Pekingmenschen gehört?«

»Er war einmal der wertvollste Mensch auf Erden«, antwortete Barnaby.

»War?«, fragte Dusenberry.

»Er verschwand.«

»Genau. Sie wissen also schon von ihm.«

»Jeder Archäologe weiß von ihm«, sagte Barnaby. »Sein Verschwinden war vermutlich die größte Katastrophe in der Geschichte des Fossilberichts der menschlichen Evolution.«

»Wir müssen es finden … ihn«, erklärte Dusenberry. »Es ist eine Angelegenheit der höchsten nationalen Sicherheit.«

»Das ist es bei Ihnen immer«, meinte Barnaby.

»Er ist nicht einfach nur ein unschätzbares Fossil«, fuhr Dusenberry fort. »Haben Sie schon mal von Falun Gong gehört?«

»Es gibt auf dieser Welt wenige Dinge, von denen ich nicht gehört habe, aber das ist eins davon.«

»Falun Gong ist eine aktuelle chinesische Moralphilosophie in der Qigong-Tradition. Sie basiert auf Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht.«

»Das haben die Tibeter auch schon probiert, und schauen Sie sich an, was es ihnen gebracht hat«, sagte Barnaby. »Viel Glück in China.«

»Eigentlich wurde Falun Gong von einem chinesischen Trompeter namens Li Hongzhi im Jahr 1992 gegründet, und die Religion ging ab wie eine Rakete. Seine Anhänger nennen ihn den lebenden Buddha. Er hält sich derzeit in Arizona auf.«

»Ein Trompeter!«, wiederholte Barnaby.

»Ja, von niedriger Herkunft, könnte man sagen, so wie der Zimmermann aus Galiläa«, sagte Dusenberry. »Selbstverständlich muss er jetzt hier leben, sonst würde er in einem chinesischen Gefängnis verrotten. Ihre Regierung will die Bewegung unbedingt mit der Wurzel ausreißen. Man hat jedes Mittel eingesetzt, um sie zu zerschlagen. Uns liegen Berichte über Tausende von Gräueltaten vor, darunter Folter, Mord und sogar Organentnahmen bei den Anhängern. Eine Million Anhänger wurden in Umerziehungslagern wie unter Mao während der Kulturrevolution untergebracht.«

»Wie fügt sich da der Pekingmensch ein?«

»Es gibt einen neuen Ableger der Bewegung, der sich wie ein Flächenbrand ausgebreitet hat. Er basiert auf dem Glauben seiner heiligen Männer, dass der Pekingmensch, das erste bekannte menschliche Wesen, das aufrecht ging und Werkzeuge benutzte, in Wahrheit der ursprüngliche Mensch war, die gesalbte Gottheit, die die Menschheit begründete.«

»Gott selbst«, sagte Barnaby.

»Genau«, bestätigte Dusenberry. »Und wie bei Falun Gong merzt die chinesische Regierung diese Sekte aus, wo immer sie Fuß fasst.«

Dusenberry zog ein knittriges Foto aus der Hemdtasche und reichte es Barnaby. Die Ränder waren feucht von Schweiß.

»Darf ich Sie mit dem chinesischen Oligarchen Zhou Shen Wui bekannt machen?«, fragte Dusenberry.

Ein huldvolles orientalisches Gesicht strahlte von der Fotografie zu Barnaby hoch, engelsgleich in seiner gesunden Rundheit. Bis auf einen Haarkranz war der Mann kahlköpfig; unter einer breiten Stirn lagen dicke Augenbrauen. Seine Augen waren groß und wissend über einem Mund, der gütig lächelte.

»Zhou wurde vom chinesischen Politbüro ausersehen, die Verbreitung dieses neuen Zweigs der Bewegung zu stoppen. Über die Jahre hinweg ging eine beeindruckende Menge an Schikanen auf sein Konto, selbst für chinesische Maßstäbe«, sagte Dusenberry. »Wenn er sich nicht gerade in unsere streng geheimen militärischen Programme hackt oder geistiges Eigentum von amerikanischen Unternehmen stiehlt, fährt er in einem befestigten Zug mit einer Palastwache von zweihundert ausgebildeten Ninjakriegern durchs entlegene chinesische Hinterland. Ich rede von Folterknechten und Scharfrichtern. Wo immer sie feststellen, dass die Religion aufzublühen beginnt – und dabei handelt es sich meist ums dörfliche Hinterland –, gehen sie hin und löschen die Anhänger aus.«

»Es waren Japaner«, warf Barnaby ein.

»Wer?«

»Die Ninjakrieger oder shinobi gab es im feudalen Japan, nicht in China.«

Dusenberry ignorierte ihn. »Die chinesische Regierung sucht jetzt nach dem Pekingmenschen. Ihre schlimmste Befürchtung ist, dass es bei den unteren wirtschaftlichen Klassen zu unkontrollierbaren Glaubensübertritten kommen wird, wenn er gefunden und bei den chinesischen Massen als Gottheit eingeführt wird. Falls die Bewegung von diesen Massen angenommen wird, besonders von der ländlichen Kleinbauernklasse, bräuchte nur ein kleiner Prozentsatz davon zu rebellieren, und das chinesische Militär würde komplett überrannt werden. Ungeachtet der Größe ihrer Armee ist die Bauernbevölkerung ihr zahlenmäßig haushoch überlegen.«

»Und was glaubt Ihr Spitzenteam von Beratern?«

»Wir glauben, dass es gut wäre, den Pekingmenschen zu finden und ihn seinen Anhängern zu präsentieren.«

»Und dem regierenden Klüngel in China etwas zu geben, worauf er außer unserer Vernichtung sein Augenmerk richten muss.«

»Genau«, sagte Dusenberry erneut. »Wir hatten einen Informanten in Zhous Umfeld. Sein bösartiger Sohn, Li, hat das Kommando über eine paramilitärische Gruppe, die speziell dafür vorgesehen ist, ihn zu finden.«

»Dieser Informant dürfte Ihnen doch geben, was Sie wissen müssen.«

»Er ist vor einem Monat von der Bildfläche verschwunden. Vermutlich ist er tot.«

»Und warum ich?«, wollte Barnaby wissen, während Dusenberry weiter seinen aufgeblähten Bauch massierte.

»Im Lauf der Jahre ist eine Reihe von Hinweisen bezüglich des Verschwindens des Pekingmenschen aufgetaucht«, erklärte Dusenberry. »Wir haben zwar vor drei Jahren einen ressortübergreifenden Washingtoner Arbeitsstab gebildet, um ihnen nachzugehen, aber wie üblich können sie sich nicht einmal darauf verständigen, wie die Zusammenarbeit aussehen soll. Wir haben uns festgefahren.«

»Mein Fachgebiet ist altnordische Archäologie. Ich wüsste gar nicht, wo ich beginnen sollte.«

»Sie haben weitreichende Kontakte und gute Beziehungen zu den führenden Archäologen jedes Fachgebiets. Und Ihre Befähigung, ein altes Geheimnis zu lüften, haben Sie in der unseligen Walhalla-Geschichte auch unter Beweis gestellt.«

Ohne es zuzugeben, war Barnaby fasziniert. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Der Pekingmensch war der größte archäologische Fund der Geschichte, was die Evolution des Menschen betraf; daran konnte auch das derzeitige Blutvergießen in China nichts ändern.

»Ich möchte hinzufügen, dass der Präsident mich befugt hat zu sagen, dass, wenn Sie in dieser Angelegenheit Erfolg haben, er bereit ist, die Sicherheitsauflagen bezüglich des Leif-Eriksson-Fundes aufzuheben.«

»Ich würde Unterstützung brauchen«, sagte Barnaby.

»Sie bekommen alles, was Sie wollen«, antwortete Dusenberry. »Der ganze Arbeitsstab steht Ihnen zur Verfügung.«

»Es klang vorhin nicht so, als wäre das eine große Hilfe.«

»Ein bisschen Menschenführung würde viel dazu beitragen«, gurrte Dusenberry. »Was ist mit Dr. Vaughan und General Macaulay? Als ich sie das letzte Mal mit Ihnen zusammen gesehen habe, schienen sie wie siamesische Zwillinge zusammenzuhängen. Sie könnten erneut ausgesprochen hilfreich sein.«

»Sie sind nicht mehr zusammen«, antwortete Barnaby. »Überlassen Sie sie mir.«

»Dann haben wir eine Abmachung!«, sagte Dusenberry und hob den Deckel der Terrine mit dem nordischen Weinschmorgericht an, die noch auf der Granitarbeitsplatte stand. »Das riecht köstlich! Haben Sie was dagegen, wenn ich mich bediene?«

Drei

7. MaiKehlsteinhaus oder AdlerhorstObersalzberg, Deutschland

»Es ist nicht hier«, sagte Jürgen Ritter und kniff die Augen zusammen, um sie vor dem gleißenden Licht zu schützen, das die spätnachmittägliche Sonne durch die großen Spiegelglaspanoramafenster des Konferenzraums des Führers warf. Während der letzten Stunden waren weitere dreißig Zentimeter Schnee gefallen, und das grelle Licht, das vom Gipfel des Sonntagshorns reflektiert wurde, zwang Jürgen, den Blick von den Fenstern abzuwenden.

»Auf welcher Grundlage behaupten Sie das?«, fragte der schwedische Archäologe Sven Nordgren, während er auf seinem iPad mini tippte, um seine neuesten SMS abzurufen.

»Ich würde es im Innern spüren, wenn es hier wäre«, sagte Jürgen, der deutsche Fachmann des Teams für Pulsinduktionsmetalldetektion.

»Wie überaus wissenschaftlich!«, meinte Nordgren mit spöttischem Grinsen.

Obwohl es Vorfrühling war, wehte der raue Nachmittagswind am Kehlstein in Böen von sechzig Stundenkilometern, und das schrille Heulen hallte in den spärlich beleuchteten Gängen wider wie gepeinigtes Stöhnen.

Nordgren hatte in dem Kamin, der eine Wand des Konferenzraums beherrschte, ein prasselndes Feuer gemacht. Er wurde immer noch von den roten Marmor- und Bronzeplatten eingefasst, die ein Geschenk von Mussolini an Hitler gewesen waren. Die Flammen erwärmten den Raum kaum.

»Ich spüre solche Dinge immer in mir«, behauptete Jürgen beharrlich in seinem gebrochenen Englisch. »Aber solches Fingerspitzengefühl scheint Ihnen wohl abzugehen.«

Die Leiterin der Expedition, Dr. Alexandra »Lexy« Vaughan, schaltete sich ein, um einen Streit zwischen zwei wichtigen Mitgliedern ihres Sechs-Personen-Teams abzuwenden.

»Gehen wir noch einmal die Tunneldaten durch!«, sagte Lexy und warf einen Blick hinab auf das schneebedeckte Tal von Berchtesgaden, ehe sie zum Kamin ging, um sich zu wärmen.

Roy Boulting, der in Oxford ausgebildete Archäologe, der sich auf altnordische Handschriften aus der Zeit vor dem Flateyjarbók spezialisiert hatte, brachte die quadratischen, ein Meter fünfzig messenden Architekturpläne der Baufirma herüber, die die Errichtung des Adlerhorsts 1937 geleitet hatte. Er entrollte den Konstruktionsplan für das Tunnelsystem, das in den Granitberg gebohrt worden war, und breitete ihn auf dem Ende des Konferenztischs aus.

Der erste Tunnel führte von der Straße am Fuß des Berges zu dem kunstvollen Aufzug, der den Führer und seine Gäste zum Gipfel getragen hatte. Bei einer Länge von einhundertvierundzwanzig Metern war der Tunnel groß genug, um einem Menschen für den langen Weg zum Aufzug aufrecht Platz zu bieten.

»Ich habe jeden Zentimeter des Tunnels abgesucht«, sagte Jürgen, »und es gibt weder eine Luftblase noch irgendetwas Metallisches.«

»Vielleicht spürt Ihr pulsierender Detektor es nicht im Innern«, sagte Nordgren.

»Sie sind ein Dämlack!«, war Jürgens Antwort.

Die nächsten drei Stunden über studierten sie erneut die detaillierten Baupläne, wobei sie besonderes Augenmerk auf die Bereiche des Tunnels richteten, in denen elektrische Verdrahtung, Lüftungsrohre oder Abluftfilter untergebracht waren, um sie dann mit Jürgens Ablesungen von seinem PI-Detektor zu vergleichen. Das Team arbeitete fast bis Mitternacht und nahm sich zwischendurch nur eine Stunde Zeit, um ein kaltes Abendessen zu sich zu nehmen, ehe Lexy entschied, dass es Zeit für die Nachtruhe war.

Seit drei Tagen suchten sie nach einem Kalbslederpergament aus dem vierzehnten Jahrhundert, das zusammen mit Dutzenden anderer seltener altnordischer Artefakte aus dem Nationalmuseum in Trondheim gestohlen worden war, nachdem die Deutschen 1940 in Norwegen einmarschiert waren. Viele in der Nazihierarchie hatten alles Nordische bewundert und betrachteten die alte Rasse mit ehrfürchtiger Scheu.

Das Pergament enthielt Berichte aus erster Hand über zwei nordische Expeditionen durch Kanada in den Jahren 1362 und 1374. Lexy war davon überzeugt, dass die Berichte endlich ihre These beweisen würden, dass die Nordmänner schon Siedlungen in Minnesota gegründet hatten, bevor mehr als hundert Jahre später Kolumbus Hispaniola erblickte.

Auch wenn sie es ihrem Expeditionsteam gegenüber niemals zugegeben hätte, eigentlich pflichtete sie Jürgen bei: Es konnte durchaus nützlich sein, bei der Entdeckung neuer archäologischer Funde seinen Instinkten zu folgen. Sie selbst hatte ihren Instinkt bei zahlreichen Gelegenheiten eingesetzt, unter anderem auch bei der Entdeckung von Leif Erikssons Begräbnisstätte vor der Küste Maines.

Anders als bei Jürgen sagte ihr eigenes inneres Licht ihr, dass das alte nordische Manuskript tatsächlich ganz nah war, vergraben mit anderen archäologischen Schätzen tief in Hitlers Adlerhorst.

Die Zeit, dies zu beweisen, wurde allmählich knapp. Sechs Monate zuvor hatte die gemeinnützige Stiftung, die den Adlerhorst als Ausflugsstätte betrieb, ihre Bitte überdacht, nach dem verloren gegangenen historischen Fund zu suchen, die Anhaltspunkte, mit denen sie ihr Ersuchen unterstützte, überprüft und ihr die Erlaubnis erteilt, die Suche während desselben Vier-Tage-Fensters durchzuführen, in dem bereits andere Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten eingeplant waren.

Es war eine lange, umständliche Reise gewesen, die sie zum windumtosten Kehlsteinhaus geführt hatte. Die ersten Hinweise auf den möglichen Ruheplatz der nordischen Schätze hatte sie in den aus der Nachkriegszeit stammenden Prozessakten eines deutschen Gestapo-Offiziers gefunden, der die Polizeieinheit kommandiert hatte, die sie in Trondheim gestohlen hatte. Als er nach dem Krieg wegen der Ermordung von einhundert französischen Geiseln im Jahr 1944 zum Tode verurteilt wurde, versuchte er, sein Leben zu retten, indem er einen Brief an den erstinstanzlichen Richter schrieb, in welchem er anbot, Einzelheiten zur Lage bedeutender Kunstschätze zu liefern, die in der »Bayerischen Schanze« versteckt worden waren, dem Geburtsort des Nazismus und dem Ort, von dem alliierte Kriegsbefehlshaber glaubten, Hitler würde dort zum letzten Gefecht antreten. Er wurde gehängt, ohne die Information preiszugeben.

Lexys Suche hatte sie schließlich zu einem Kriegstagebuch geführt, das sie in den Archiven der Schutzstaffel (SS) fand, die von der Armee der Vereinigten Staaten 1945 erobert worden waren. Ihres Wissens war das Tagebuch nie von den Nationalarchiven in College Park, Maryland, katalogisiert worden, und auch sonst hatte es niemand je gesehen oder begutachtet.

Das Tagebuch war von einem Offizier der Waffen-SS namens Kurt von Seitzler geführt worden. Ende 1944 hatte er das Sicherheitswachbataillon auf dem Berghof kommandiert, Adolph Hitlers bayerischer Sommerresidenz in Berchtesgaden. Eine Reihe von Einträgen im Tagebuch hatte sie hierhergeführt.

»Uns bleibt nur noch morgen, um unsere Antwort zu finden, falls es eine gibt«, sagte Lexy zu den anderen, als sie aufhörten, um in ihre Zimmer zu gehen. »Treffen wir uns morgen früh als Erstes wieder hier!«

»Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«, flüsterte Jürgen, als sie ihre Abschrift des Von-Seitzler-Tagebuchs zur Hand nahm und zu ihrer Pritsche im Eva-Braun-Zimmer zurückging.

»Ich muss das hier analysieren«, sagte sie und ging an ihm vorbei. »Und ich muss Sie bitten, Ihre Detektorablesungen noch einmal zu überprüfen, bevor wir uns am Morgen treffen.«

Als sie merkte, dass er ihr folgte, drehte sie sich um und sah ihm ins Gesicht.

»Ich bete Sie an, Alexandra!«, flüsterte er. »Ich träume von Ihnen. Sie sind so schön!«

Jürgen glich einem jungen Maximilian Schell, auffallend gutaussehend und sich dessen sehr wohl bewusst. In ihren Jahren im praktischen Einsatz hatte Lexy gelernt, sich unerwünschter Avancen anderer Archäologen, die sich mit ihr das Zelt teilten, zu erwehren. Damit hatte sie schon zu tun gehabt, seit sie fünfzehn war und sich von einem spindeldürren Wildfang mit kurz geschnittenen Haaren in ein Geschöpf verwandelt hatte, das die Jungs in der Schule dazu brachte, in den Gängen stehen zu bleiben und sie mit offenem Mund anzustarren, wenn sie vorüberging.

Die einzigen zwei Worte unter ihrem Foto im Jahrbuch ihres Abschlussjahrgangs lauteten DIE ZEHN. Eine ihrer Freundinnen musste ihr erklären, was sie bedeuteten. In Harvard floss all ihre Energie in ihre Seminararbeiten und Exkursionen.

Ernsthafte Liebesbeziehungen hatte es in ihrem Leben nur zwei gegeben. Die erste hatte böse geendet, als der Mann, den sie zu lieben glaubte, ihre Doktorarbeit stahl. Die zweite war in einer traumatischen und gefährlichen Reihe von Ereignissen geschmiedet worden, an denen sie beide beteiligt gewesen waren. Am Ende hatte sie sich in ihn verliebt, aber sogar diese Beziehung hatte ihrer Hingabe an ihre Arbeit das Feld überlassen. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie es gut bewältigt hatte – es gab Zeiten, in denen sie ihn schrecklich vermisste.

Seit das Team im Adlerhorst zusammengekommen war, war Jürgen ihr hinterhergelaufen wie ein verknallter Teenager und hatte auf die wenigen Gelegenheiten gewartet, allein mit ihr zu sein und ihr seine unsterbliche Liebe zu beteuern. Wenn er nicht der beste Interpret für Metalldetektion und Seitensichtradar in Europa gewesen wäre, hätte Lexy ihn nach dem zweiten oder dritten Annäherungsversuch gefeuert.

»Ich bete Sie an!«, wiederholte er.

»Ich habe keine Zeit hierfür!«, sagte sie und hastete an ihm vorbei.

Wieder auf ihrem Zimmer und in ihren Schlafsack eingegraben, ging Lexy die Tagebucheinträge noch ein letztes Mal durch. Dann machte sie das Licht aus und schlief ein, während der heulende Wind draußen eine Flut surrealistischer Bilder in ihr Gehirn trug.

In ihren gequälten Träumen sah sie die Braun-Schwestern, Eva und Gretl, jung und lebendig, wie sie es vor dem Krieg waren, anscheinend unbekümmert und glücklich; sie tollten in diesen Räumen umher, blind gegenüber dem Bösen, das von dem Monster, welches Hitler war, begangen wurde.

Vor Morgengrauen war Lexy wieder auf den Beinen und saß schon am Konferenztisch, als die anderen mit Kaffee und Strudel eintrudelten. Wieder gelang es einem prasselnden Feuer kaum, die klirrende Kälte abzuwehren.