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Eine mysteriöse Runentafel im Visier eines finsteren Geheimbundes.
Grönland. Ein Expeditionsteam entdeckt im Gletschereis eine Sensation: eine Grabhöhle mit neun gut erhaltenen Wikingermumien und einer mysteriösen Runentafel. Während Runenexpertin Lexy Vaughan versucht, die Botschaft zu entschlüsseln, wird das Forschungscamp von einem bewaffneten Kommando überfallen. Außer Lexy überlebt nur der Pilot Steven Macaulay den Überfall. Gemeinsam versuchen sie, sich selbst und ihre Entdeckung in Sicherheit zu bringen - und geraten dabei ins Visier eines Geheimbundes, der vor nichts zurückschreckt ...
Ein rasanter Verschwörungsthriller von Robert Mrazek für Fans von Lincoln Child, Douglas Preston und Dan Brown. Der Roman erschien im Original unter dem Titel Valhalla. Eisiges Runengrab ist in sich abgeschlossen und unabhängig lesbar. Spannend geht es jedoch auch im zweiten Teil der archäologischen Thrillerreihe weiter: Der Fluch der Knochenjäger.
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Seitenzahl: 438
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Zitat
Einleitung
DIE RUNEN DER GÖTTER
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
TOTENSONNTAG
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Einundvierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
Vierundvierzig
Fünfundvierzig
Sechsundvierzig
Siebenundvierzig
Achtundvierzig
Neunundvierzig
Fünfzig
Einundfünfzig
Zweiundfünfzig
Dreiundfünfzig
Vierundfünfzig
Fünfundfünfzig
Sechsundfünfzig
Siebenundfünfzig
Achtundfünfzig
Neunundfünfzig
Sechzig
Einundsechzig
Zweiundsechzig
Dreiundsechzig
Vierundsechzig
Dank
Über den Autor
Weiterer Titel des Autors
Impressum
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Über dieses Buch
Grönland. Ein Expeditionsteam entdeckt im Gletschereis eine Sensation: eine Grabhöhle mit neun gut erhaltenen Wikingermumien und einer mysteriösen Runentafel. Während Runenexpertin Lexy Vaughan versucht, die Botschaft zu entschlüsseln, wird das Forschungscamp von einem bewaffneten Kommando überfallen. Außer Lexy überlebt nur der Pilot Steven Macaulay den Überfall. Gemeinsam versuchen sie, sich selbst und ihre Entdeckung in Sicherheit zu bringen – und geraten dabei ins Visier eines Geheimbundes, der vor nichts zurückschreckt …
Robert J. Mrazek
Eisiges Runengrab
Aus dem amerikanischen Englisch von Axel Franken
Für Martin Andrews
»Dort treffe ich dann meinen Vater. Dort treffe ich meine Mutter, meine Schwestern und meine Brüder. Dort treffe ich dann all jene Menschen meiner Ahnenreihe – von Beginn an. Sie rufen bereits nach mir. Sie bitten mich, meinen Platz zwischen ihnen einzunehmen, hinter den Toren von Walhalla, wo die tapferen Männer für alle Ewigkeit leben!«
Aus dem Film Der 13te Krieger
Er konnte die marternde Kälte nicht länger ertragen.
Die ewige Dunkelheit.
Den unaufhörlich heulenden Wind.
Er war der Letzte, der übrig war.
Eisstückchen übersäten seine Wangen, als seine geschundenen und schmerzenden Finger sich mit ihrer letzten Aufgabe abquälten. Er malte sich aus, wie der Rest von ihnen mit Schalen honigsüßen Mets in Walhalla feierte. Wo er bald zu ihnen stoßen würde.
Die Rettungsmannschaft würde im Frühling eintreffen. Sie würden sehen, was er in diesen letzten Stunden sterblichen Lebens getan hatte. Sie würden die Geschichte mit nach Hause nehmen und sie mit den andern teilen. Grindl würde erfahren, was er getan hatte. Sie würde auf immer stolz sein.
Und sie würden von dem geheiligten Ort wissen.
Und dorthin gehen.
8. NovemberHelheim-Gletscher, Grönländischer Eisschild
»Einen Toast auf die Crew der March Hare!«, rief John Lee Hancock über den kreischenden Wind, während er den Zinnbecher der Air Force Academy erhob und den Dom Pérignon, Jahrgang 1942, hinunterschüttete. »Heute Nacht werden wir ihre Geheimnisse zutage fördern!«
Hap Arnold, Hancocks hundertzwanzig Pfund schwerer weißer Schäferhund, rührte sich zu Füßen seines Herrchens, als die anderen zwölf Männer der Expedition in seinen Toast einfielen. Draußen vor dem Kommandozelt blies der Wind mit siebzig Kilometern die Stunde; die losen Zeltklappen knallten wie Pistolenschüsse.
»Steve und ich werden als Einzige ins Flugzeug gehen, aber Sie werden alles, was wir machen, auf den Fernsehbildschirmen hier oben verfolgen können«, erklärte John Lee.
Im Dezember 1942 war die March Hare, eine frisch getaufte B-17 Flying Fortress mit einer Besatzung von zehn Mann, von Goose Bay, Labrador, losgeflogen, um sich dem Eighth Air Force Bomber Command in England anzuschließen, als sie in einem Blizzard über dem Grönländischen Eisschild plötzlich verschwand.
Aufgrund der harten Wetterbedingungen waren während des Krieges Dutzende von Kampfflugzeugen über Grönland abgestürzt, aber die March Hare war einzigartig: Anstelle von Bomben hatte sie zehn Holzkisten mit Weihnachtsgeschenken von Präsident Franklin D. Roosevelt für seine europäischen Bewunderer mitgeführt, darunter König Georg VI., der britische Premierminister Winston Churchill, die im Exil lebenden Monarchen Europas und die oberen alliierten Kriegsbefehlshaber.
Das Ladungsverzeichnis beinhaltete persönlich signierte Bücher und handgeschriebene Briefe des Präsidenten, eine Menge goldener Gedenkmünzen und Briefmarken aus seiner Privatsammlung, Ölgemälde von Thomas Hart Benton und Grant Wood aus der Zeit des »New Deal«, alten Navajo-Türkisschmuck, handgeschnitzte Holzpuzzles und ein Dutzend Kisten mit Old Forester Kentucky Straight Bourbon Whiskey.
Etliche Jahrzehnte später weckte die March Hare John Lee Hancocks Interesse. Er investierte fünfhunderttausend Dollar, um das vermisste Kampfflugzeug zu finden. Als Gründer von Anschutz International, einem Technologievorreiter auf dem Gebiet der Exploration von Erdöl und Erdgas, rangierte Hancock auf Platz 82 der reichsten Männer der Welt. Sein privater Zeitvertreib waren besonders risikoreiche Abenteuer.
In der letzten Funkübertragung des Flugzeugs hatte der Bordfunker raues Wetter mit Blizzards gemeldet und dass der Pilot versuchte, irgendwo entlang Grönlands zerklüfteter und gnadenloser Ostküste zu landen.
Die Nachricht war von einer Wetterbeobachtungsstation nahe Kulusuk aufgefangen worden. Basierend auf Stärke und Richtung des Signals hatte sich ein Suchtrupp von Comanche Bay aus auf den Weg in ein Gebiet in der Nähe der Küstensiedlung Angmagssalik gemacht. Die Männer hatten gegen Winde von hundertsechzig Stundenkilometern anzukämpfen und fanden keine Spur der March Hare oder ihrer Besatzung.
Hancocks Expeditionsteam brauchte hingegen nur vier Tage, um die verschollene Maschine zu lokalisieren.
In Kenntnis des ursprünglichen Flugplans der »Fliegenden Festung«, ebenso wie der Stärke und Richtung der letzten Übertragung des Bordfunkers, beschlossen sie, die Jagd nach dem Flugzeug auf dem Helheim-Gletscher zu beginnen, westlich von Angmagssalik.
Hancocks Expedition war mit zwei Bell-206L-4-LongRanger-IV-Helikoptern ausgerüstet, mit denen sie Planquadrate entlang paralleler Linien von zwanzig Kilometer Länge und in Abständen von jeweils einem Kilometer absuchten. Wenn ein Suchmuster komplettiert war, flogen die Helis gleiche Linien rechtwinklig zu den vorherigen ab.
Beide Hubschrauber waren mit einem QUESTON (V) ausgerüstet, einem eisdurchdringenden Radarsystem, dessen Antennen in der Lage waren, ein ultrabreites Spektrum an HF-Energieimpulsen durch mehr als dreihundert Meter Glazialeis zu senden und zu empfangen und dabei klare virtuelle Bilder zu erzeugen.
Am vierten Tag der Suche registierte einer der Hubschrauber ein Objekt im Gletscher. Es befand sich weniger als zwanzig Kilometer von der Küste entfernt. Der zweite Hubschrauber kam mit dem ersten an der Stelle zusammen, und beide landeten auf dem Eisschild, um klarere Messwerte zu erhalten.
Die virtuellen Bilder enthüllten, dass der Pilot der March Hare eine fast schon wundersame Landung zwischen zwei schroffen Gipfeln hingelegt hatte. Die B-17 lag ordentlich auf ihren Radstreben an dem Punkt, wo sie zum Stehen gekommen war, aber inzwischen war sie in einem soliden Grab aus Eis eingeschlossen, vierzig Meter unter der Oberfläche des Schilds.
»Wir gehen runter!«, sagte Hancock zu den Leitern seiner Expedition.
9. NovemberHelheim-Gletscher, Grönländischer Eisschild
Es war ein kalkuliertes Risiko, die Bergung im November zu versuchen, aber Hancock hatte sein Leben damit zugebracht, Risiken einzugehen, von den Luftschlachten, die er als Kampfpilot in der Operation Desert Storm gefochten hatte, bis hin zur Gründung von Anschutz International mit fünfzigtausend Dollar, die er in einem Pokerspiel in Kilgore, Texas, gewonnen hatte.
Die Tage waren kürzer geworden, und sie mussten mit sechs Stunden Sonnenlicht auskommen – bis zum 22. November würden es nur noch drei Stunden am Tag sein. Und ab dem 1. Dezember würde der Eisschild dann für fünfundvierzig Tage in völlige Dunkelheit gehüllt sein und die Sonne nicht mehr erscheinen.
Hancock hatte nicht vor, sechs Monate mit der Bergung des Flugzeugs zu warten; seine Männer und die Ausrüstung waren bereit. Schlimmstenfalls würden sie die Bergungsbemühungen aufgeben müssen und im Frühjahr wiederkommen. Er wies Steve Macaulay, seinen Stellvertreter, an, zu tun, was immer nötig war, ohne Rücksicht auf die Kosten.
Einen Tag später nahm Basis Hancock Eins auf dem Eis Gestalt an.
Zwei de Havilland DHC-6 Twin Otter waren zur Frachtbeförderung umgerüstet worden und begannen am folgenden Tag, Vorräte und Ausrüstung einzufliegen, darunter zwei Generatoren zur Thermalschmelze, Pumpen, Bohrgerät, Dieselgeneratoren, Ersatzteile, ein Satellitenkommunikationssystem, eine komplett ausgestattete Lagerküche, zwei Räumfahrzeuge und diverse mit Fleisch, Gemüse und sonstigem Proviant vollgestopfte Vorratsbehälter.
Hancocks Männer errichteten eine kleine kreisförmige Gruppe aus isolierten Polarzelten um die vorgesehene Bohrstelle. Ein Hubschrauberlandeplatz mit Landescheinwerfern wurde angelegt. Aus Kulusuk wurde ein Tausend-Gallonen-Tank mit Dieselkraftstoff eingeflogen und Brennstoffleitungen zu allen Zelten und dem im Baukastensystem errichteten Waschraum mit Latrine verlegt.
Dann begannen die eigentlichen Bemühungen um die Bergung der March Hare. Eine Stahlplattform wurde über der Stelle für den Bohrschacht niedergelassen, gefolgt von einem der Thermalschmelzegeneratoren. Das Gerät mit dem Spitznamen DACHS hatte einen Durchmesser von dreieinhalb Metern und würde einen kreisförmigen Schacht schmelzen, bis die March Hare erreicht war. Bei einer Schmelzrate von sechzig Zentimetern pro Stunde sollte es den Hochrechnungen der Teammitglieder zufolge in etwa drei Tagen so weit sein.
Das Wetter verschlechterte sich rapide. Schwere Schneefälle und schneidende Winde vom Polarkreis machten es beinahe unmöglich, die Zelte zu verlassen, und der erste Blizzard begrub beinahe die gesamte Expedition unter sich. Doch der Schnee lieferte auch eine gute Isolierung, und die Räumfahrzeuge der Expedition hielten die Wege zwischen dem Zelt-Komplex und dem Hubschrauberlandeplatz frei.
Die Temperatur fiel deutlich unter minus fünfzehn Grad Celsius und blieb dort. Wenn die Männer keinen Dienst hatten, legten sie sich in ihre Mumienschlafsäcke, um sich warm zu halten. Vier Tage, nachdem sie mit der Bohrung begonnen hatten, erreichte der DACHS die als Ziel gesetzte Tiefe von fünfzig Metern.
Hancock und Macaulay planten, die March Hare durch die Bodenluke im Bugraum zu betreten. Da sie annehmen mussten, dass sich in dem Flugzeug immer noch menschliche Überreste befanden, hatte Macaulay veranlasst, dass eine Ehrenwache vom Mortuary Affairs Center an der Dover Air Force Base hochgeflogen wurde, um die Leichname nach Hause zu begleiten.
Der DACHS wurde aus dem Schacht entfernt und durch einen Aufzugskorb aus Stahl ersetzt, der von einer Elektrowinde bedient wurde. Zwei mit Hochdruckdampfschläuchen ausgerüstete Männer wurden in den Schacht hinuntergelassen. Am Boden angelangt, begannen sie, sich auf die vordere Bodenluke der B-17 zuzugraben, indem sie mit den Schläuchen einen horizontalen Tunnel in das Eis schmolzen.
Als sie das Flugzeug erreicht hatten, wurden die Männer auf die Oberfläche zurückgeholt. Dort warteten Hancock und Macaulay in wasserundurchlässigen Thermoanzügen und isolierten Gummistiefeln darauf, nach unten zu gehen.
Macaulay würde eine leichte, hochauflösende Farbkamera mit Zoom bedienen, die für den Einsatz auf engstem Raum ausgelegt war; Hancock hatte einen Handscheinwerfer dabei. In die Kopfteile ihrer Anzüge waren zwei Sendeempfänger mit sprachgesteuerten Mikrofonen eingebaut.
»Hey … schauen Sie sich das an!«, rief einer der Ingenieure am Eingang zur Plattform.
Draußen hatte das Schneetreiben aufgehört, und der dunkle Himmel war mit pulsierenden Bändern von Violett, Rot und Hellgrün erfüllt.
»Die Göttin Aurora möchte uns etwas mitteilen!«, meinte Macaulay mit einem Lachen.
Bei Desert Storm war Macaulay Hancocks Staffelkommandeur gewesen – jetzt waren ihre Rollen vertauscht. In mancherlei Hinsicht hätten sie unterschiedlicher nicht sein können. Macaulay, groß und schlank, war mit seinem unbekümmerten Gemüt leicht zum Lachen zu bringen. Hancock hingegen war klein, untersetzt und stets ernsthaft.
»Los geht’s!«, sagte Hancock.
Als sie auf dem Grund des Schachts ankamen, ging er voraus in den Tunnel zur March Hare. Von der Wölbung des gefrorenen Dachs der Maschine tropfte beständig schmelzendes Eis wie Tränen auf sie herab. Als sie die glänzende Stahlluke unter dem Bugraum erreichten, griff Hancock nach oben, um den Griff herumzudrehen.
»Okay. Wir gehen jetzt rein«, funkte Hancock an die Oberfläche.
13. NovemberHelheim-Gletscher, Grönländischer Eisschild
Hancocks Atem kondensierte wie Zigarettenrauch in der eisigen Luft, als er den Scheinwerfer auf die Kanzel des Bombenschützen im Bug richtete. Macaulay folgte dem Licht mit seiner Kamera. Der Bugraum war leer. Die Ledertasche für die Zieldaten des Bombenschützen lehnte an einem der verankerten Beine seines Stuhls. Dort, wo das Bombenvisier hätte sein sollen, hielt eine Baseballkappe der Red Sox lediglich einen losen Kabelbaum zusammen.
»Kein Zielgerät«, stellte Hancock fest.
»Das Norden-Bombenvisier war damals top secret«, sagte Macaulay. »Man baute es nur in die Maschine des Geschwaderführers ein. Alle anderen warfen ihre Bomben dann auf sein Kommando zur gleichen Zeit ab. Man hätte der March Here also erst bei der Ankunft in England eines zugeteilt. Wenn überhaupt.«
Der Navigator des Flugzeugs hatte ebenfalls im Bugraum gearbeitet, und sein Metalltisch war von einer topografischen Karte Grönlands bedeckt. Mit einem Stift hatte er die Route des Flugzeugs von Goose Bay aus eingezeichnet. Die Linie endete über Grönland.
Nirgendwo gab es Rost, keine Spuren von Zerfall. Die Maschinengewehre auf dem Boden waren geölt und schussbereit; daneben lagen die Patronenhülsen aus glänzendem Kupfer.
Sie stiegen ins Cockpit hoch, wo Pilot und Kopilot das Flugzeug kommandiert hatten. Es war ebenfalls leer. Vielleicht waren sie alle rausgekommen, dachte Macaulay. Aber wo hätten sie Zuflucht gefunden?
Macaulay schob sich vorsichtig auf den Pilotensitz. Ein offenes Päckchen Lucky Strike lag auf dem Rand der Konsole neben den Gashebeln. Die Instrumentenanzeigen sahen aus, als wären sie noch voll funktionstüchtig. Das Restaurationsteam daheim in Lubbock würde nicht viel Arbeit mit der Maschine haben.
Er und Hancock begaben sich vorbei am oberen MG-Turm nach hinten zum Bombenschachtraum. Abgesehen vom Scharren ihrer Eisstollen auf dem Stahlboden herrschte Grabesstille.
Die Bombenkammer war vollgestopft mit unbezeichneten Holzkisten, die immer noch mit dickem Tauwerk festgezurrt waren; darin lagen Präsident Roosevelts Weihnachtsgeschenke für die europäische Elite. Hancock zeigte auf einen anderen Stapel im rückwärtigen Teil der Kammer. Jede Kiste trug die Aufschrift: »Old Forester Kentucky Straight Bourbon Whiskey«. Eine davon war aufgebrochen worden.
Als Nächstes war der Funkraum an der Reihe, und er war genauso leer wie die anderen. Der BC-348-Funkempfänger des Flugzeugs war auf der Tischplatte montiert; ein Dick Tracy-Comic lag darauf. Der BC-375-Sender an der gegenüberliegenden Stirnwand stand auf ON.
Im Raum der Seitenschützen fanden sie die Lösung des Rätsels.
Die Besatzung war gar nicht herausgekommen: Neun Männer lagen ausgestreckt in der Hecksektion, die offensichtlich als letzte Zuflucht vor der mörderischen Kälte hergerichtet worden war.
Die Männer hatten die Luken der MGs abgedichtet und all ihre Kleider und Decken zusammengerafft, um warm zu bleiben. Die meisten trugen ihre mit Lammfell gefütterten Fliegeranzüge und Bunny Boots. Sie waren alle erfroren.
Hancock richtete das Licht reihum auf ihre Gesichter, und Macaulay nahm sie mit seiner Videokamera auf. Die Mienen spiegelten eine Mischung aus Traurigkeit, Resignation, Ratlosigkeit und Verzweiflung wider.
»Nicht die schlechteste Art abzutreten, Steve.«
»Lebendig begraben zu werden wäre meine Wahl nicht.«
Dick Slezak, der Turmschütze, sah unglaublich jung aus für einen Mann, der jetzt auf die neunzig zugehen würde, wenn er den Krieg überlebt hätte. Er würde immer achtzehn bleiben.
»Ted Morgan fehlt«, sagte Macaulay, nachdem sie die neun Leichen untersucht hatten.
Morgan war der Pilot, der die wundersame Landung inmitten des Blizzards vollbracht hatte. Er war dreiundzwanzig Jahre alt gewesen und kam aus Macaulays Heimatstadt Lexington, Virginia.
Kurz nach Pearl Harbor hatte Morgan eine Armeekrankenschwester namens Cherie Carter geheiratet. Ein Jahr später brachte sie ein Mädchen zur Welt. Cherie lebte noch, inzwischen eine neunzigjährige Großmutter. Sie hatte sieben Jahre nach Teds Verschwinden wieder geheiratet.
Sie fanden ihn in der Kanzel des Heckschützen. Er lag auf dem Rücken und starrte nach oben zur Oberfläche des Eisschilds, als wollte er auf visuellem Weg ihrem Grab entkommen.
Macaulay war Morgans Gesicht aus dessen Personalakte vertraut. Es hatte Macaulay an sich selbst erinnert, hager und mit kantigem Kinn und einem Anflug von Großspurigkeit. Ein großartiger Pilot, der Jagdflieger hatte sein wollen und stattdessen den Bombern zugeteilt worden war.
Die Großspurigkeit war jetzt verschwunden.
Die geöffnete Flasche Old Forester stand neben ihm auf dem Boden der Kanzel; etwa zwei Fingerbreit Whiskey waren noch darin. Neben Morgans ausgestreckter Hand lag ein ledergebundenes Tagebuch. Macaulay öffnete den Reißverschluss und durchblätterte die letzten Seiten. Morgan hatte beinahe zwei Wochen überlebt. Er war als Letzter gestorben.
28. Dezember ’42. War ganze Arbeit von mir, das Flugzeug in Schnee und Dunkelheit zu landen. Alle unversehrt. Funkgerät funktioniert nicht, aber Jeff hofft, es bald repariert zu haben und unsere ungefähre Position durchzugeben. Kann nicht weiter als zehn Meilen von der Küste sein.
5. Januar ’43. Seit unserer Landung schneit es ununterbrochen. Slezag hat sich durch die Mitteltür nach oben gegraben und ungefähr zweieinhalb Meter über dem oberen MG-Turm die Schneeschicht durchbrochen. Die Männer gehen jetzt abwechselnd mit einer Signalpistole hoch. Wenn einer ein Flugzeug hört, soll er eine Leuchtkugel abschießen. Ist brutal da oben. Keiner kann länger als dreißig Minuten draußen bleiben.
8. Januar ’43. Jacobs hat unsere ganzen Leuchtkugeln verschossen – hat gesagt, er hätte ein Flugzeug gehört.
Morgans Handschrift begann sich zu verschlechtern.
9. Januar ’43. Können nicht länger an die Oberfläche. Slezak hat versucht durchzubrechen, aber bei acht Metern aufgegeben. Wir sind eingesperrt. Notrationen alle. Kein Sprit mehr in den Tanks. Taschenlampen leer. Völlige Dunkelheit.
Die Hitze vom Scheinwerfer, den Hancock hielt, begann die Eispatina auf Morgans Gesicht zu schmelzen. Ein Teil davon sammelte sich in seinen Augenwinkeln, und er sah aus, als würde er weinen.
11. Januar ’43. Als Einziger noch übrig. Falls uns jemals jemand findet, bitte kontaktiert Cherie und richtet ihr aus, dass ich sie bis zum Schluss geliebt habe. Verzeih mir.
Macaulay gab Hancock das Tagebuch.
»Armes Schwein«, sagte der, nachdem er die letzten Einträge gelesen hatte.
Morgan hatte sich mit seiner 45er ins Herz geschossen.
Macaulay hob die geöffnete Flasche Old Forester auf, nahm einen langen Zug und reichte sie Hancock.
»Wie Sie oben sagten, J. L. … auf die Crew der March Hare!«
Sie leerten die Flasche.
14. NovemberHelheim-Gletscher, Grönländischer Eisschild
Nachdem die Besatzungsmitglieder der March Hare auf die Oberfläche gebracht worden waren, wurden ihre Leichen vorläufig unter kleinen Schneehügeln bestattet, und das Expeditionsteam versammelte sich für einen kurzen Gedenkgottesdienst.
Macaulay fragte sich, wie Ted Morgans Frau wohl reagieren würde, wenn sie auf sein dreiundzwanzigjähriges Gesicht hinabblicken würde. Er hatte die Namen dem Mortuary Affairs Center an der Dover Air Force Base schon übermittelt. Sie würden eine Ehrenwache schicken, um sie nach Hause zu eskortieren.
»Ich brauche Melissa«, sagte Hancock zu Macaulay, als es vorbei war.
»Klar, J. L.«, erwiderte dieser mit einem Grinsen.
Eine Stunde später traf mit dem Bell-Hubschrauber vom Flugfeld bei Kulusuk eine schlanke, vollbusige junge Frau mit fescher Skimütze, goldgefasster Sonnenbrille und eng anliegendem Skianzug ein.
Macaulay traf sie am Rand der Landezone. Sie schäumte vor Wut.
»Ich habe eine Woche lang in einer Dachpappebaracke aufeinem Trümmerfeld gewohnt, das in diesem gottverlassenen Land den Namen Flughafen trägt!«, schmollte sie.
Sie war eine Cheerleaderin der Dallas Cowboys und eine der Frauen, die derzeit bei John Lee angesagt waren. Wie den andern hatte er auch ihr einen neuen Porsche 911 Carrera gekauft. Das Autohaus in Fort Worth gab ihm inzwischen schon Mengenrabatt. Jedes Mädchen durfte sich seine Farbe selbst aussuchen. Melissas Wagen war neonpink.
»Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen«, sagte Macaulay mit unbewegter Miene zu ihr.
»Was soll das bedeuten?«, wollte sie wissen.
»Das Gleichnis vom treuen Knecht, Melissa«, antwortete er. »Lukas 12, 48.«
Sie schaute ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
»Wo steckt er?«, fragte sie ihn.
Macaulay zeigte auf Hancocks Schlafzelt, und sie steuerte es an, in der Hand eine kleine Lederaktentasche. Ein paar Augenblicke nachdem sie das Zelt betreten hatte, kam Hap Arnold, Hancocks weißer Schäferhund, herausgetapst.
Eine Stunde später tauchte Melissa wieder auf, bestieg wieder den Hubschrauber und flog davon. Als sie fort war, steckte Hap den Kopf in Hancocks Zelt, um zu sehen, ob er willkommen war, und gesellte sich zu seinem Herrchen im Inneren.
Im Verlauf der nächsten beiden Tage schmolzen die Männer mithilfe von Dampfschläuchen einen gewaltigen Hohlraum über und um die B-17. Einer der Mechaniker des Teams kam zu dem Schluss, dass, hätte die March Hare sich auf der Oberfläche befunden, man nur die Batterien hätte ersetzen und Treibstoff in die Tanks füllen müssen, um sie vom Schild herunterzufliegen. So aber würde der Bomber in Teilen hochgeholt werden müssen.
Macaulay war im Kommandozelt und ging gerade den Logistikplan Abtransport der Komponenten durch, als Tommy Sparks, einer der Hubschrauberpiloten, mit verwirrtem Gesichtsausdruck hereinkam.
»Steve, ich habe heute Morgen zufällig den QUESTON (V) in meinem Vogel eingeschaltet, und es ist echt seltsam … Wir haben ein weiteres starkes metallisches Signal unter der March Hare.«
»Wie weit darunter?«, erkundigte sich Macaulay.
»Ich bin mir nicht sicher. George nimmt eine Neukalibrierung der Radarvorrichtung vor, um sicherzugehen, dass ich keine Gespenster gesehen habe. Er dürfte bald Bilder haben.«
George Cabot war ehemaliger Nachrichtenoffizier der Air Force und der Technikexperte des Teams. Ein paar Minuten später kam er mit den virtuellen Scans; seine karottenroten Haare standen steil nach oben. Hancock gesellte sich zu ihnen.
»Das ist definitiv interessant«, sagte er. »Könnte es ein Erzvorkommen sein?«
»Zu klein«, meinte Cabot. »Und es gibt auch ein Muster.«
Er legte die Scans auf den Tisch.
»Schauen Sie hier! Sehen Sie diese Punkte? Sie sind fast exakt dreißig Zentimeter auseinander und verlaufen in nahezu geraden Linien … Die vier hier schneiden sich.«
»Und was könnte das bedeuten?«, fragte Hancock.
»Wenn ich wild drauflosraten müsste, würde ich sagen, es sieht aus wie vier lange Reihen von Eisennieten«, sagte Cabot.
»Ein Schiff?«, fragte Macaulay.
»Möglicherweise … Was es auch ist, das Ding ist beinahe dreißig Meter lang und in der Mitte viereinhalb Meter breit. Die Nieten sehen aus, als würden sie sich an beiden Enden verjüngen. Die hier entlang der Mittellinie könnten ein Kiel sein, die anderen die Spanten und Ruderbänke.«
Macaulay starrte auf die Bilder.
»Übrigens«, fügte Cabot hinzu, »gibt es noch einen anderen metallischen Impuls, der aus dem Festgestein unter diesem Ding kommt … Keine Ahnung, was das sein könnte.«
»Was sollte ein Schiff so weit von der Küste machen?«, wunderte sich Macaulay.
»Wer weiß? Sicher ist, dass es auf ursprünglichem Grundgestein steht, es ist also schon lange Zeit dort unten.«
»Wie tief?«, fragte Hancock.
Cabot besah sich den zweiten Scan.
»Mehr als hundertfünfzig Meter«, sagte er.
»Das ist dreimal so tief wie die March Hare«, stellte Macaulay fest.
»Ja, zu weit«, stimmte Cabot zu.
Hancock starrte immer noch auf die möglichen Nietenlinien.
»Na ja, auf vierzig Metern sind wir ja schon«, sagte er, »und wir werden mindestens vier Tage brauchen, um die March Hare hochzuholen und die Einzelteile auszufliegen. Der DACHS ist eindeutig zu langsam. Schicken wir das WIESEL an die Arbeit!«
»Sie wollen der Sache wirklich auf den Grund gehen?«, fragte Cabot und kratzte sich die roten Haare.
»Wir sind ja sowieso hier … Teufel auch, es könnte Spaß machen!«, erwiderte Hancock.
Das WIESEL war die kleinere der beiden Thermalschmelze-Einheiten, die seine Ingenieure entworfen und gebaut hatten. Mit nur einem knappen Meter Durchmesser konnte es Eis mit anderthalb Metern pro Stunde schmelzen, fast dreimal so schnell wie der DACHS. Noch einhundertzehn Meter mehr würden nur ungefähr drei Tage dauern.
Eine Stunde später war das WIESEL einsatzbereit.
16. NovemberHelheim-Gletscher, Grönländischer Eisschild
Die schwachen Sonnenstrahlen durchdrangen die bleierne Wolkendecke nur noch für drei Stunden am Tag. In zwei Wochen würde völlige Dunkelheit herrschen.
Eines der Bergungsteams begann, ausgerüstet mit Schweißbrennern, die March Hare in Teile zu schneiden, die in den drei Meter fünfzig großen Schacht passten. Ein zweites Team lud die geborgenen Komponenten in die de Havilland Twin Otter, die sie zu einer ehemaligen Basis der Luftwaffe der Vereinigten Staaten bei Narsassuaq flogen. Ein drittes Team bohrte mit dem WIESEL immer tiefer auf das geheimnisvolle Ziel zu.
Als eine Ehrenwache der Air Force eintraf, um die Leichen der Besatzung abzuholen, wurde die Arbeit kurz unterbrochen, während das Expeditionsteam sich in den fallenden Schnee stellte, um einer Flaggenzeremonie beizuwohnen.
Einen Tag darauf wurden die letzten Teile der March Hare an die Oberfläche gebracht. An diesem Nachmittag schlug ohne Warnung ein weiterer Wintersturm zu. Fast zwei Meter dichten Schnees begruben den Zeltkomplex; die ankommenden und abgehenden Flüge mussten gestrichen werden, während die Landepiste mit dem Bulldozer geräumt wurde.
Kurz nach Mitternacht, als Macaulay gerade ein Nickerchen auf seiner Pritsche im Kommandozelt machte, wurde er von einem Ingenieur geweckt, der ihm mitteilte, dass das WIESEL mehr als einhundertfünfzig Meter unter dem Eisschild Muttergestein erreicht hatte.
»Auf geht’s!«, sagte Macaulay und ging zu Hancock hinüber, um ihn zu wecken.
Vierzig Meter unter der Oberfläche erwartete sie George Cabot am Rande des neuen Schachts. Eine Elektrowinde war so aufgerüstet worden, dass jeweils ein Mann auf Steigbügeln stehen konnte, die an einem Stahlseil befestigt waren und ihn langsam auf den Boden des Schachts absenkten.
»Ich habe vor einer Stunde zwei Männer mit den Dampfschläuchen runtergeschickt«, sagte Cabot.
»Warum sind Sie nicht selber runtergegangen, George?«, fragte Macaulay lächelnd.
»Ich bin vielleicht klein, aber nicht dumm, Steve«, antwortete Cabot und paffte an seiner Meerschaumpfeife. »Ich bin nicht scharf darauf, ein fünfzigstöckiges Gebäude im Innern einer Ein-Meter-Abwasserleitung runterzuklettern.«
»Sie müssen ja gar nicht runterklettern«, warf Hancock ein. »Machen Sie einfach die Augen zu, und in zwanzig Minuten hat die Elektrowinde Sie am Boden. Außerdem sind es nur noch zirka vierzig Stockwerke; wir haben schon vierzehn über uns.«
»Nein, danke«, lehnte Cabot ab. »Ich halte mich ans Ablesen der Instrumente.«
Macaulay starrte in das Loch hinab. Es war nicht größer als ein Gullydeckel.
»Kein Licht auf dem Weg?«, fragte Hancock.
»Wegen der Dampfschläuche ist nicht genug Platz, um Flutlicht anzubringen«, erklärte Cabot. »Sie werden sich mit Taschenlampen behelfen müssen.«
Plötzlich knisterten die Funkempfänger.
»Mein Gott, das müssen Sie sich ansehen!«, rief einer der Männer am Boden des Schachts.
Cabot schaltete die E-Winde ein, und Hancock trat in die Steigbügel; gleich darauf war er fort. Macaulay folgte ihm schnell in das Loch hinunter. Als Cabot die beiden in der Dunkelheit verschwinden sah, bekreuzigte er sich.
Im Inneren des engen Schachts spürte Macaulay trotz des Thermoanzugs, wie eine eisige Kälte ihn durchdrang, als sie tiefer fuhren.
Es war keine körperliche Angst. Als Kind hatte er den schrecklichen Autounfall, bei dem seine Eltern starben, unverletzt überlebt. Er hatte auch eine Notwasserung im Persischen Golf überlebt, nachdem er seine zweite irakische MIG während der Operation Desert Storm abgeschossen hatte. Das hier war anders. Es war etwas, was nicht auf Logik gründete. Was immer dort unten war, es erfüllte ihn mit Furcht.
Als sie den Grund des Schachts erreichten, traten sie aus den Steigbügeln und wandten sich in Richtung des Lichts. Die beiden anderen Männer leuchteten mit ihren leistungsstarken Taschenlampen auf ein Objekt in weniger als sieben Meter Entfernung.
Fast hätte Macaulay laut nach Luft geschnappt. Die Dampfschläuche hatten den vorderen Teil eines alten Schiffes freigelegt. Der Steven schwang sich in elegantem Bogen von den überlappenden Rumpfplanken weg nach oben und sah aus wie der gewundene Kopf einer Seeschlange. Komplexe Schnitzereien von Waffen und Kampfszenen verzierten die äußeren Berghölzer.
Macaulay trat auf eine Eisplatte und schaute in den Schiffskörper hinunter. Eingebettet in die Bugsektion stand eine Seemannskiste, dicht besetzt mit Beschlägen aus Silber oder Zinn. Dahinter lagen drei Ruderbänke frei.
»Ich habe Bilder von Schiffen wie diesem gesehen, die von den Phöniziern vor ungefähr dreitausend Jahren benutzt wurden«, sagte er.
»Die Nordmänner übernahmen ihre Schiffsbauweise von den Phöniziern«, erklärte Hancock. »Ihre Schiffe wurden entweder von Segeln oder von Rudern angetrieben, so wie dieses hier.«
Er nahm sein Klappmesser heraus.
»Ich werde einen Holzschnitzel mitnehmen für eine C-14-Datierung«, sagte er.
»George meinte, es gäbe noch einen weiteren metallischen Impuls unter dem Schiff«, sagte Macaulay.
Die beiden anderen Männer richteten ihre Dampfschläuche auf die Eisfläche darunter.
Ein paar Minuten später tauchte ein Loch im Grundgestein auf, eine kleine schwarze Öffnung. Hancock wies sie an, die Schläuche abzuschalten. Er leuchtete mit der Taschenlampe durch die Öffnung.
»Sieht aus wie eine Höhle«, meinte er.
Indem er die behandschuhten Hände einsetzte, um das Loch zu erweitern, kroch Hancock hinein. Macaulay, der ihn vom Eistunnel aus beobachtete, konnte Hancocks Taschenlampenstrahl in alle Richtungen kreisen sehen. Keine Minute darauf kam er wieder herausgekrochen.
Sein fassungsloses Gesicht sprach Bände.
»Dichtet die Öffnung wieder ab!«, befahl er. »Keiner kommt hier runter!«
17. NovemberOstlund LakeSolem, Minnesota
Alexandra Vaughan hatte gerade den aufregendsten Tag ihres Lebens gehabt.
Die Vorgeschichte dazu begann drei Jahre früher. Ein alter Farmer pflügte einen steinigen Acker bei Solem, in der Nähe des sumpfigen Quellgebiets des Ostlund Lakes. Dabei entdeckte er eine zerbrochene Beilklinge. Ihre Schneiden waren mit merkwürdigen Schnitzereien versehen, und der Farmer schickte sie zur Untersuchung an die Minnesota Historical Society in St. Paul.
Alexandra hatte vor Kurzem ihren Doktor in Nordischer Archäologie in Harvard gemacht. Mit dreißig arbeitete sie jetzt in einer Stabsstelle im archäologischen Referat der Gesellschaft. Die Beilklinge landete auf ihrem Schreibtisch.
Sie einfach nur in Händen zu halten hatte bereits einen prickelnden Schauer durch ihren Körper gejagt. Sie hatte identische Klingen in der Sammlung nordischer Waffen im Dänischen Nationalmuseum in Kopenhagen gesehen.
Obwohl St. Paul gerade von einem Wintersturm heimgesucht wurde, stieg sie in ihren alten Land Rover und fuhr nach Solem hoch. Nachdem sie den Farmer befragt hatte, war sie sicher, dass er die Wahrheit bezüglich des Fundortes sagte. Eine Woche später bestätigte die C-14-Analyse, dass die Beilklinge vor mehr als siebenhundert Jahren angefertigt worden war.
Alexandra brachte ihre Ergebnisse zu Dr. Benchley, dem Leiter des Archäologiereferats, und empfahl die Durchführung einer groß angelegten Grabung am Fundort. Nach kurzer Durchsicht der Materialmappe lachte Dr. Benchley sie aber nur aus.
»Lexy, das ist bloß ein weiterer Kensington-Stein«, sagte er, »ein ausgemachter Schwindel! Die Nordmänner haben Minnesota nie erreicht. Dieser Farmer hat das Beil vermutlich einem Cousin in Norwegen abgekauft und ist jetzt auf der Suche nach ein wenig Ruhm.«
»Das letzte Wort über den Kensington-Stein ist noch nicht gesprochen!«, erwiderte Lexy hitzig. »Und zufällig glaube ich, dass die Runeninschrift darauf echt ist. Das hat mich überhaupt erst hier rausgebracht!«
»Fein«, sagte er. »Wo du schon dabei bist, wieso gehst du nicht raus und findest Bigfoot?«
Unbeirrt verbrachte Lexy ihren zweiwöchigen Urlaub mit einem Zelt auf den Feldern und steinübersäten Hängen in der Nähe der Fundstelle. Der Ort war sehr abgelegen, und sie musste zwei kleine Flüsse im Land Rover durchqueren, um dort hinzukommen.
Ihre ersten Bemühungen erbrachten nichts. Es mochte reine Sturheit sein, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass es dort etwas Wichtiges zu finden gab, wenn sie nur lange und angestrengt genug suchte.
Im Verlauf der nächsten zwei Jahre kehrte Lexy sechsmal an den Ostlund Lake zurück, was den Großteil ihrer Freizeit beanspruchte. Am Ende durchkämmte sie die Gegend mit Sonden und einem Metalldetektor. Bei ihrem sechsten Ausflug dehnte sie die Suche auf einen nahe gelegenen Felshang aus, der mit Espen und dichtem Gestrüpp übersät war.
Beim Überqueren einer dornigen Erhöhung bemerkte sie eine Vertiefung in der Erde; als sie mit dem Metalldetektor darüberfuhr, bekam sie eine positive Anzeige.
Sie begann zu graben. Nachdem sie fast dreißig Zentimeter Erdreich und Geröll entfernt hatte, legte sie ihren ersten Fund frei.
Es handelte sich um eine abgeflachte Partie gesickten Metalls, möglicherweise Teil eines Kampfschildes. Sie nahm das Objekt mit zurück zur historischen Gesellschaft und unterzog es einer Radioisotop-Altersbestimmung: Es war siebenhundert Jahre alt.
Sie war sich jetzt sicher, dass es sich um eine nordische Begräbnisstätte handelte und dass derjenige, der dort begraben war, mit seinen Waffen für die Reise nach Walhalla, dem mythischen Wohnsitz der gefallenen nordischen Krieger, beigesetzt worden war. Bei ihrem nächsten Besuch wurde sie wieder fündig und grub eine weitere Beilklinge aus und dann das Heft eines Schwertes mit einem Knauf im Zweispitzstil. Das Schwert eines Nordmanns. Sie hatte ein identisches im Wikingermuseum in Hedeby gesehen, der größten nordischen Stadt während der Wikingerzeit.
Die Entdeckung war der Grund, weshalb sie die Stelle in Minnesota überhaupt erst angenommen und dafür prestigeträchtige Stipendien in London und Istanbul ausgeschlagen hatte. Sie stammte mütterlicherseits von den alten Nordmännern ab. Einige ihrer frühesten Erinnerungen waren die Wikingergeschichten, die ihr von ihren norwegischen Großeltern erzählt worden waren. Sie hatte die Wikinger im Blut.
Auf dem Rückweg nach St. Paul gab der Land Rover in einem der Flüsschen den Geist auf, und sie musste eine Seilwinde an einem Baum am anderen Ufer aufbauen, um ihn von Hand ins seichte Wasser zu ziehen. Bis dahin waren ihre Stiefel, Kordhose und Anorak schlammverkrustet.
Eine Stunde vor St. Paul begannen die Bremsen zu versagen. Als sie durch das Tor der historischen Gesellschaft fuhr, ließ sich das Bremspedal bis ganz auf den Boden durchdrücken, und sie musste die Handbremse benutzen, um den Wagen auf dem Mitarbeiterparkplatz zum Stehen zu bringen.
Sie schnappte sich ihren Probenkoffer und betrat mithilfe ihres elektronischen Schlüssels die Labore in der Kelleretage, wobei sie eine Abkürzung durch die Zimmerflucht nahm, in der die Gesellschaft gegenwärtig Minnesotas Bürgerkriegsflaggen restaurierte.
Vor der Vitrine mit der Kriegsflagge des 28sten Virginia-Infanterieregiments, das während Picketts Charge bei Gettysburg in Gefangenschaft geraten war, stand ein hochgewachsener Mann. Er war unrasiert und trug zerknitterte Khakis und einen marineblauen Blazer.
»Dr. Vaughan?«, fragte der Mann, als sie weiter auf das Archäologielabor zuging.
»Dieser Bereich ist für Besucher nicht zugänglich. Die öffentlichen Ausstellungen befinden sich oben.«
Sie blickte zurück und sah, dass er ihr folgte.
»Was wollen Sie?« Lexy blieb stehen und drehte sich um, um ihn anzusehen.
»Können wir uns ein paar Minuten unterhalten?«
»Ich habe es eilig!«
»Dr. Benchley meinte, Sie würde interessieren, was ich zu sagen habe.«
Er reichte ihr eine Visitenkarte, und Lexy warf einen Blick darauf. Ein buntes Logo umgab die Wörter ANSCHUTZ INTERNATIONAL. Darunter stand:
BRIG. GENERAL
STEVEN MACAULAY
LUFTWAFFE DER VEREINIGTEN STAATEN
(IM RUHESTAND)
Lexy sah zu ihm auf. Macaulays dichtes braunes Haar war erst ansatzweise grau, und auch sein hageres Gesicht mit dem kantigen Kinn, den braunen Augen und dem Kinngrübchen wies nicht auf ein fortgeschrittenes Alter hin.
»Sie sehen zu jung aus, um ein General zu sein«, meinte sie skeptisch.
»Ich habe ein Gemälde in meiner Dachkammer hängen, das das Altern übernimmt. Haben Sie schon einmal von einem Mann namens John Lee Hancock gehört?«
»Der Ölmilliardär, dessen primäres Interesse darin besteht, in jedem geschützten Lebensraum für Tiere nach Öl und Gas zu bohren?«, fragte sie.
»Sagen wir einfach, er ist ein starker Befürworter der energiewirtschaftlichen Unabhängigkeit.«
»Was auch immer. Ich habe leider zu tun«, sagte Lexy, während sie mit dem elektronischen Schlüssel die Labortür öffnete.
»Fünf Minuten!«, beharrte Macaulay.
Sie dachte an Benchley. Sie wollte ihn nicht noch mehr verärgern.
»Kommen Sie mit ins Labor«, sagte sie.
Der große, hohe Raum wirkte antiseptisch rein. Holzschränke mit Glastüren säumten drei der Wände; auf den Fächern jedes einzelnen lagen Dutzende von Gegenständen. Lexy legte ihren Probenkoffer auf einen quadratischen Tisch, der mittig unter einer Reihe von Operationsleuchten stand, und bedeutete ihrem Besucher, auf dem Stuhl neben ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen.
»Wir haben einen interessanten Fund gemacht, bei dem Ihr Wissen und Ihre Fachkenntnisse sehr hilfreich wären«, fing Macaulay an.
»Wo?«
»Auf dem Grönländischen Eisschild. Wir waren dort oben, um einen Bomber aus dem Zweiten Weltkrieg zu bergen. Mr. Hancock ist der Gründer der Cactus Legion, die schon auf der ganzen Welt seltene Kriegsflugzeuge geborgen und restauriert hat.«
»Wie schön, dass er auch mal etwas erhalten will.«
»Bei der Bergung fanden wir noch etwas anderes, viel tiefer unter dem Eis. Es scheint sich um ein Wikingerschiff zu handeln.«
»Ist es getakelt?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Macaulay. »Der größte Teil ist noch vom Eis eingeschlossen.«
»Niemand hat je ein voll betakeltes Wikingerschiff gefunden. Das Gokstad-Schiff, das 1880 entdeckt wurde, war nahezu unversehrt, aber von Segel und Takelage waren nur noch kleinste Reste übrig. Möglicherweise haben Sie also einen guten Fund gemacht.«
»Werden Sie hochkommen und uns helfen, seinen Stellenwert zu bestimmen?«
»Ich habe vor Kurzem selbst einen Fund gemacht, und ich glaube, er ist von weit größerem Wert für die archäologische Geschichte. Er wird beweisen, dass die Nordmänner zweihundert Jahre vor Kolumbus in dieses Land gekommen sind.«
»Nur zweihundert Jahre?«, fragte Macaulay. »Wir haben gestern einen Holzschnitzel von dem Schiff nach der C-14-Methode datiert. Die Bäume, die zum Bau des Schiffes benutzt wurden, wurden vor über eintausend Jahren gefällt.«
»Das ist nicht überraschend«, erwiderte Lexy. »Erik der Rote, Leif Erikssons Vater, gründete seine erste Siedlung an der Südwestküste Grönlands im Jahr 982. Bei Ihrem Schiff könnte es sich um eines seiner Versorgungsfahrzeuge handeln.«
»Was wäre, wenn ich Ihnen sagte, dass wir außer dem Schiff noch einen anderen Fund gemacht haben?«
»Was denn?«
»Ich fürchte, das darf ich Ihnen nicht verraten, bis Sie vor Ort sind.«
»Tut mir leid, kein Interesse«, sagte sie mit Entschiedenheit. »Ist das alles?«
»Zeit ist von entscheidender Bedeutung, Dr. Vaughan. Dort oben steht der Winteranbruch kurz bevor, und das Wetter verschlechtert sich. Wir haben nur noch etwa drei Stunden Sonnenlicht am Tag.«
»Sie haben meine Antwort gehört.«
»Wir sind im Begriff, drei weitere Archäologen hinzuzuziehen«, fuhr Macaulay fort. »Vielleicht haben Sie von ihnen gehört – Professor Hjalmar Jensen aus Norwegen, Sir Dorian St. George Bond aus England und Rob Falconer aus Berkeley.«
»Sir Dorian hat den Kanon über nordische Navigationstechniken geschrieben. Jensen ist die führende Autorität für nordische Genealogie. Und Falconer ist brillant, wenn auch ein bisschen skrupellos. Sie sind also bereits in guten Händen, General Macaulay.«
Lexy erwähnte nicht, dass Falconer einmal ihr Geliebter gewesen war. Er hatte sie fast von den Männern kuriert.
»Wir möchten, dass Sie auch kommen.«
»Warum?«
»Professor Finchem, Ihr Mentor in Harvard, sagte mir gestern, wenn es um Runologie ginge, hätte niemand eine größere Begabung dafür, frühe nordische Runeninschriften zu übersetzen, als Sie. Er nannte sie die ›Codeknackerin‹.«
Lexy lachte. »Barnaby weiß mehr über Runeninschriften, als ich jemals wissen werde – er ist der Mann, den Sie wollen.«
»Tatsächlich war er auch unsere erste Wahl«, räumte Macaulay ein. »Leider erholt er sich zur Zeit von einer Operation am offenen Herzen. Er ist den Unbilden des Eisschildes in diesem Zustand wohl nicht gewachsen. Er hat Sie empfohlen.«
»Das ist äußerst schmeichelhaft, aber es bleibt bei meinem Nein«, sagte Lexy. »Ich habe einen Job hier, General Macaulay, und meine Freizeit und meinen Urlaub werde ich Ihnen nicht opfern.«
»Ihr Dr. Benchley ist Feuer und Flamme für Ihre Mitarbeit an der Sache«, erwiderte er. »Er ist ausgesprochen dankbar für die Zuwendung, die Mr. Hancock gerade dem Kapitalfonds der historischen Gesellschaft hat zukommen lassen. Und ich habe noch einen weiteren Anreiz: Wenn Sie mich begleiten, werde ich fünfzigtausend Dollar auf die Kontonummer eins-eins-vier-fünf-sechs-drei bei der Pilot Grove Savings Bank überweisen, ehe wir diesen Raum verlassen.«
Das war Lexys Girokontonummer.
Macaulay hielt sein Smartphone hoch.
»Ihre Bankverbindung ist schon hier drin vermerkt.«
Geld war ihr nie wichtig gewesen. Auch jetzt war es das nicht, obwohl der Gedanke an ihren Land Rover, der draußen ohne Bremsen stand, und an die Darlehenszahlung an ihre Graduiertenschule, die sechs Monate überfällig war, sie zögern ließ.
»Auf dem Flughafen wartet ein Learjet auf uns, Dr. Vaughan, und in vier Tagen werde ich Sie wieder hierherbringen, damit Sie Ihre eigene Arbeit fortsetzen können.«
»Das ist verrückt!«
»Lassen Sie mich Ihnen etwas über die sehr Reichen erzählen: Sie sind anders als Sie und ich«, sagte er.
»Sie haben also Fitzgerald gelesen.«
»Vor langer Zeit.«
Sie hoffte, sie würde ihren Entschluss nicht bereuen.
»Ich muss zuerst in meine Wohnung«, sagte sie, »um zu duschen und meine Ausrüstung zu holen.«
»Kein Problem.«
»Mein Auto funktioniert im Moment nicht.«
»Ich habe draußen einen Mietwagen stehen.«
18. NovemberInternationaler Flughafen Jean LesageQuebec City, Kanada
Hancocks Learjet hatte kaum seine Flughöhe von 7600 Metern über St. Paul erreicht, als eine junge eurasische Frau in einem Seidenüberwurf an Lexys Klubsessel auftauchte und ihr eine von Hand beschriebene Pergamentspeisekarte reichte.
Sie erinnerte sich daran, dass das Letzte, was sie gegessen hatte, eine kleine Zwischenmahlzeit aus Käse und Kräckern aus der Pappschachtel am Abend zuvor hinten im Land Rover gewesen war. Auf einmal hatte sie einen Bärenhunger.
Nachdem sie sich ein Glas Pinot Grigio gegönnt hatte, genoss sie einen Teller kurz gebratener Jakobsmuscheln mit Schalotten in Sahnesoße und einem Salat mit Spargelvinaigrette. Als sie gerade dabei war, ihre Crème brûlée auszulöffeln, setzte sich Macaulay zu ihr an den polierten Tisch mit Teakeinlagen. Er hatte sich rasiert und geduscht, nachdem er das Flugzeug bestiegen hatte, und eine Jeans und ein blaues Arbeitshemd angezogen.
So zurechtgemacht sah er noch jünger aus. In die Winkel seiner müden braunen Augen hatten sich Lach- oder Sorgenfältchen eingegraben. Beim Rasieren hatte er sich geschnitten.
»Wie haben Sie für uns eine Starterlaubnis bekommen?«, fragte sie ihn.
»Die Welt funktioniert auf geheimnisvolle Weise«, entgegnete er und bestellte sich einen trockenen Martini.
Es hatte heftig geschneit, als sie am Flughafen von Minneapolis angekommen waren, und der Flugleiter am Terminal für private Flüge hatte Macaulay informiert, dass sämtliche Starts und Landungen gestrichen worden waren, bis sich die Sicht wieder verbesserte. Man ging nicht davon aus, dass der Flugverkehr vor dem nächsten Tag wieder aufgenommen würde.
Der Warteraum in dem kleinen Terminal war vollgestopft mit frisch gestrandeten Reisenden, die alle versuchten, Wagen zu mieten und Unterkünfte zu finden. Macaulay sagte ihr, sie solle warten, bis er zurückkomme.
Als die Minuten verstrichen, begann sie sich zu fragen, ob sie nicht womöglich irgendeinem skurrilen Spaß aufgesessen war. Spontan griff sie nach dem Handy, um die Zweigstelle ihrer Bank in St. Paul anzurufen. Nachdem sie ihre persönlichen Daten übermittelt hatte, sagte ihr die Bankangestellte: »Ihr gegenwärtiger Kontostand beläuft sich auf 50.082,36 $.«
Zwanzig Minuten später war Macaulay wieder da.
»Gehen wir!«, sagte er.
»Zurück nach St. Paul?«
»Raus zum Flugzeug. Ich musste mich vergewissern, dass es enteist wurde, bevor wir starten.«
»Aber der Flugleiter hat doch gesagt, dass alle Flüge gestrichen wurden!«, wandte Lexy ein, doch er führte sie bereits ins Freie.
Keine zehn Minuten später war der Learjet in der Luft.
»Werden sie uns folgen?«, fragte Lexy, als Macaulay den ersten Bissen seines Steaks aß.
»Wer?«
»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Sie haben immerhin das Gesetz gebrochen!«
»Alles für einen guten Zweck«, sagte er.
Sie landeten in Quebec zur Zollabfertigung.
»Was soll ich als Grund meines Besuchs angeben?«, flüsterte sie, als sie sich dem Schalter näherten.
»Vergnügen«, antwortete er. »Reines Vergnügen.«
Fünfzehn Minuten später waren sie wieder in der Luft. Als das Flugzeug Reiseflughöhe erreichte, bat Macaulay das eurasische Mädchen, ihnen zwei Gläschen von Hancocks hundert Jahre altem Armagnac zu bringen. Lexy fand den ersten Schluck grandios.
»Ich werde jetzt einmal eine Vermutung anstellen, warum Sie mich auf diesen Ausflug mitnehmen«, sagte sie.
»Nur zu!«, ermunterte Macaulay sie.
»Ich vermute, dass Sie außer dem Wikingerschiff, das Sie dort oben entdeckt haben, eine Tafel, eine Pergamentrolle oder etwas anderes mit Runen darauf gefunden haben.«
»Gute Vermutung!«, sagte er und nippte an seinem Weinbrand.
»Was wissen Sie überhaupt über Runologie?«, fragte sie.
»Genauso viel wie wahrscheinlich Sie über die Operationen der 8. US-Luftflotte gegen Schweinfurt 1943«, erwiderte er mit trägem Grinsen.
»August und Oktober«, sagte sie. »Sechzig Bomber gingen bei der ersten verloren und siebenundsiebzig wurden bei der zweiten abgeschossen. Beim zweiten Mal wurde der Kugellagerindustrie entscheidender Schaden zugefügt, aber Speer gelang es unter anderem durch Importe, die Auswirkungen auf die deutsche Rüstungsindustrie weitgehend zu kompensieren.«
Macaulay blickte sie mehrere Sekunden lang aufmerksam an.
»Wollen Sie mich heiraten?«, fragte er schließlich.
Sie lachte.
»Mein Großvater war B-17-Pilot. Er wurde 1944 über Berlin abgeschossen. Haben Sie jemals vom Kensington-Stein gehört?«
»Ihr Dr. Benchley hat mir erzählt, dass es sich dabei um eine zweihundert Pfund schwere Steinplatte handelt, die angeblich mit einer Wikingerinschrift versehen ist. Er meinte, Sie seien besessen von dem Ding und dass es sich um einen raffinierten Schwindel handele, dem Sie da aufgesessen sind. Benchley hielt es für einen großen Fehler, Sie bei unserm Unternehmen mitmachen zu lassen. Er bot an, selbst mitzukommen.«
»Ich werde beweisen, dass er echt ist!«, sagte Lexy und zog einige Blatt Papier aus einem alten Lederranzen hervor. Sie legte das erste davon vor Macaulay auf den Tisch.
»Das hier ist die Inschrift auf dem Kensington-Stein«, erklärte sie.
Macaulay schaute auf einen Text, dessen einzelne Zeilen aus merkwürdig aussehenden Symbolen, Buchstaben, Schriftzeichen und noch etwas anderem bestanden, das wie Strichmännchen aussah. Er hatte seit zwei Nächten nicht mehr geschlafen und Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren – und der Alkohol und diese verwirrende junge Frau machten es ihm nicht gerade einfacher.
»Sieht ein bisschen nach Hieroglyphen aus«, meinte Macaulay schließlich.
»Sehr gut, General!«, sagte sie lächelnd. »Die Nordmänner benutzten dasselbe Prinzip bei der Erschaffung des Runenalphabets. Runeninschriften reichen fast zweitausend Jahre zurück, und bis Christenmönche im elften Jahrhundert die lateinische Sprache in Skandinavien einführten, wurde dort das Runenalphabet benutzt, um alle wichtigen Begebenheiten aufzuzeichnen. Es ist recht einfach, und diese sechzehn Schriftzeichen sind die am häufigsten benutzten. In der Folgezeit wurden die grundlegenden Zeichen durch sogenannte punktierte Runen erweitert.«
Macaulay blickte auf und sah, dass Lexys große veilchenblaue Augen ihn fixierten. Im Licht der Wandlampe hinter ihr konnte er Schimmer von Altgold in ihrer dichten kastanienbraunen Haarmähne sehen. Sie war unbestreitbar attraktiv, aber das Letzte, was er zu diesem Zeitpunkt in seinem Leben brauchte, war eine andere Frau. Nicht nach Diana.
»Die meisten Runensteine aus dem elften Jahrhundert sind entweder Denkschriften für die Verstorbenen, Familiensagas oder Berichte über berühmte Expeditionen. Sie wurden von erfahrenen Steinmetzen eingemeißelt. Vor zwei Jahren habe ich einen Runenstein aus dem Jahr 1050 übersetzt, der in Norwegen ausgegraben wurde. Er erzählt die Entdeckung Vinlands durch Leif Eriksson etwa fünfzig Jahre zuvor.«
»Wo liegt Vinland?«, fragte Macaulay.
»Die Theorien reichen von Neuschottland bis Cape Cod, aber archäologische Beweise dafür hat bisher noch keiner gefunden.«
»Und was ist aus Eriksson geworden?«
»Das weiß niemand.«
Sie legte ein weiteres Blatt Papier vor ihn hin.
»Das hier ist eine Interlinear-Transliteration der Runenschrift auf dem Kensington-Stein«, erklärte sie aufgeregt. »Möchten Sie, dass ich sie für Sie ins Englische übersetze?«
Macaulay betrachtete das verwirrende Buchstabendurcheinander. Eine Übersetzung war das Letzte, was er von ihr wollte.
8 : göter : ok : 22 : norrmen : po :
. . . o : opþagelsefärd : fro :
vinland : of : vest : vi :
hade : läger : ved : 2 : skLär : en :
dags : rise : norr : fro : þeno : sten :
vi : var : ok : fiske : en : dagh : äptir :
vi : kom : hem : fan : 10 : man : röde :
af : blod : og : ded : AVM :
frälse : äf : illü.
»Wie wurde Ihr Interesse an alldem geweckt?«, fragte er.
»Ich bin zur Hälfte Norwegerin«, erklärte Lexy. »Meine Großmutter mütterlicherseits war Hobbyarchäologin und meine große Inspiration.«
»Wir sollten uns ein wenig ausruhen«, schlug Macaulay vor und unterdrückte nur mühsam ein Gähnen. »In ein paar Stunden werden wir zum Auftanken in Goose Bay landen, und anschließend sind es noch vier Stunden nach Kulusuk Island an der Ostküste Grönlands. Zum Glück brauchen wir dort nicht durch die Zollabfertigung; sie denken sich dort, wenn die Leute verrückt genug sind, kommen zu wollen, lasst sie doch!«
»Schlafen wäre jetzt nicht schlecht«, stimmte Lexy ihm zu.
»Die Kabine von Mr. Hancock steht Ihnen zur Verfügung«, sagte Macaulay. »Sie hat das bequemste Bett, das Sie in einer Höhe von 7600 Metern finden werden.«
Er sollte recht haben.
20. NovemberFlugfeld Kulusuk, Ostgrönland
Die Morgendämmerung schlich schon an den Vorhängen des Kabinenfensters vorbei, als Lexy ein leises Klopfen an der Tür hörte. Sie öffnete sich langsam, und das Gesicht des eurasischen Mädchens erschien darin.
»Wir werden in dreißig Minuten landen. Möchten Sie ein Frühstück mit General Macaulay einnehmen?«
Alexandra konnte frisch gebrühten Kaffee riechen und stellte fest, dass sie schon wieder hungrig war.
»Ich komme sofort!«
Sie wählte die gleiche Kleiderkombination, die sie auch im praktischen Einsatz trug: weite Kordhosen, Flanellhemd im Schottenmuster und lederne Jagdstiefel mit Gummisohle.
»Sie werden Ihre Winterausrüstung aufstocken müssen, wenn wir ankommen«, meinte Macaulay, als sie sich zu ihm an den Frühstückstisch gesellte. Er ließ sich ein Omelett mit Schinken und grüner Paprika und dazu Kaffee und Orangensaft schmecken, und sie bestellte das Gleiche.
»Ich habe mich über Funk mit unserem Basislager auf dem Eisschild in Verbindung gesetzt. Ihre drei Kollegen sind schon angekommen«, teilte er ihr mit. »Es stürmt dort, aber ich hoffe, wir schaffen es in einem der Teamhelikopter hin.«
Als Lexy durch die Fenster die endlose Landschaft aus Eis und Fels betrachtete, rief das ungeheure Ausmaß des Ganzen ein tiefes Gefühl der Vereinsamung in ihr hervor. Einige ihrer Vorfahren waren vor über tausend Jahren hierhergekommen.
Macaulay war ihren Blicken gefolgt.
»An manchen Stellen reicht das Eis drei Kilometer tief«, sagte er. »Wer weiß, wie viele Geheimnisse es birgt?«
Zum Horizont hin sah sie den zerklüfteten Umriss eines gigantischen Eisbergs, der still auf einem schiefergrauen Meer trieb. Er wirkte beinahe groß genug, um darauf zu landen. Als der Learjet im langsamen Sinkflug auf die trostlose Küste zuhielt, überflogen sie eine kleine Inuit-Siedlung. Die einfachen Hütten waren farbenfreudig rot, blau und gelb angestrichen. In der Nähe der Siedlung lief ein Mann hinter einem Hundeschlitten her.
Ein paar Minuten später landeten sie auf einer langen, eisgesäumten Piste.
»Willkommen in Kulusuk!«, sagte Macaulay. »In seinen ruhmreichen Tagen war dieser Ort Teil der alten DEW-Radar-Verteidigungslinie, dem Frühwarnsystem im Falle eines Angriffs der Sowjets. Seit unserem Abzug hat er schwere Zeiten durchgemacht.«
Eine kleine Ansammlung baufälliger alter Gebäude flankierte die Landebahn. Auf einem Vorfeld parkte ein Bell-412EP-Transporthubschrauber neben zwei zweimotorigen Flugzeugen; alle trugen das Logo von Anschutz International. Sobald die Motoren abgeschaltet waren, konnte sie den heulenden Wind hören.
»Das Wetter mag Ihnen rau vorkommen, aber ich kann die Bell bei diesen Bedingungen fliegen«, sagte Macaulay. »Bevor wir uns auf den Weg machen, müssen Sie sich etwas Wärmeres anziehen. Sie finden eine große Auswahl in Kulusuks Four Seasons dort drüben.«
Sie stiegen aus dem Flugzeug in den grimmigen, böigen Wind. Eisteilchen prasselten auf Lexys Gesicht, als Macaulay sie zu dem größten der Stahlbauten führte. In der Empfangshalle war das Jammern des Windes kaum leiser. Es roch nach brutzelndem Speck.
»Steve!«, ertönte ein schmerzgeplagter Ausruf aus der kleinen Schankstube auf der anderen Seite des Foyers.
»Oh nein!«, stöhnte Macaulay, als Melissa auf ihn zugestürmt kam.
»Gott sei Dank!«, sagte sie und wickelte sich in einer Wolke aus Bourbon in seine Arme. »Ich muss hier raus, Steve! Die Sonne geht kaum auf an diesem Ort, und schon ist wieder Nacht. Du musst J. L. sagen, wenn er mich hier nicht mehr braucht, muss der Lear mich zurück nach Dallas fliegen!«
»Ich werde es ihm ausrichten«, versprach Macaulay.
»Im Ernst, ich glaube, ich sterbe hier noch, Süßer«, sagte sie, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Er liebt diesen gottverdammten Hund mehr als mich!«
Melissas Augen hefteten sich auf Lexy.
»Wer ist sie?«, fragte sie nachdrücklich.
»Dr. Vaughan ist Archäologin«, antwortete Macaulay. »Ich fliege sie zum Basislager raus.«
»Wieso darf sie gehen und nicht ich?«
»Es ist wichtig, Melissa.«
»Sie ist seine Neue, stimmt’s?«
»Nein«, sagte er bestimmt.
»Lass mich nicht hier, Steve! Ich schwöre dir, ich kann es nicht mehr ertragen!«
»Ich habe dir doch gesagt, ich rede mit J. L.«, erwiderte er. »Halt einfach noch ein bisschen durch.«
Macaulay führte Lexy die Treppe hoch, um die Winterklamotten zu suchen.
»Worum ging es da gerade?«, fragte sie, während sie einen Thermoanzug über ihre Kleider anzog.
»Wie würde Ihnen ein Porsche Carrera 911 gefallen?«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Insiderwitz«, erklärte er. »John Lee genießt die Gesellschaft schöner Frauen und schätzt es, sie verfügbar zu haben. Normalerweise spendiert er ihnen einen neuen Porsche. Aber im Moment ist sein Interesse wohl stark abgekühlt. Die Abenteuerlust hat ihn gepackt.«
»Verstehe.«
Zehn Minuten später waren sie wieder im Freien und bewegten sich auf den Bell-Hubschrauber zu, der der wichtigste Transportheli des Teams war. Hancocks Bodenpersonal hatte die Vorfluginspektion abgeschlossen und die beiden Pratt-&-Whitney-Motoren für ihn warmlaufen lassen.
Es war ein Hubschrauber mit Rechts- und Linkssteuerung und Macaulay bedeutete Lexy, auf dem Kopilotensitz Platz zu nehmen. Sie konnte den Heli unter den Peitschenhieben der schweren Böen schon hin und her schaukeln spüren, bevor sie überhaupt abgehoben hatten.
»Keine Sorge!«, beruhigte er sie noch einmal. »Es wird ein bisschen holprig werden, aber der Flug wird nur etwa fünfzehn Minuten dauern, sofern wir nicht in ein schweres Schneegestöber geraten.«
Am Ende wurden daraus dreißig, und sie war die meiste Zeit davon luftkrank. Die Kombination aus Aufwinden und Fallböen war brutal; eben noch schossen sie wie eine Rakete nach oben, und im nächsten Augenblick torkelte die Bell wie betrunken in die Tiefe. Zum ersten Mal in ihrem Leben verstand sie, was es hieß, wenn einem das Herz in die Hose rutschte.
Sie zitterte tatsächlich vor Furcht, als sie in einen Schneesturm gerieten. Es war ein totaler Whiteout, und sie verlor jegliches Gefühl für ihre Position in Bezug auf die Gebirgskette, der sie sich näherten. Als wäre das nicht schon schlimm genug, wurden sie von einer weiteren Bö in die Höhe gerissen, um wenige Augenblicke darauf erneut in die Tiefe zu stürzen, als der Wind wieder nachließ. Lexy umkrampfte den Stahlrahmen ihres gepolsterten Sitzes und hielt sich fest.
Wann immer sie einen Blick auf Macaulay warf, schien ihn das alles nicht zu kümmern. Er blieb gelassen und scheinbar entspannt, während er den großen Helikopter durch die heimtückische Luft manövrierte.