Der Fluss, die Berge - die Berge, der Fluss - Karin Petersen - E-Book

Der Fluss, die Berge - die Berge, der Fluss E-Book

Karin Petersen

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Beschreibung

Karin Petersen schreibt über die plötzliche Konfrontation mit dem Sterben der Eltern. Und damit auch über die Begegnung mit großen Fragen oder Rätseln, nicht nur was deren Rolle als Eltern betrifft. Wie begreift man aber so ein Leben? Vielleicht in einem nicht nur traurigen Abschiednehmen von vertrauten oder rätselhaften Redensarten und Gesten, nie ausgesprochener Sehnsucht, von schönen oder auch schmerzlichen Momenten. Und dabei wächst eine vorsichtige Ahnung: je näher man einem Menschen kommen will, gerade auch einem "nahe stehenden", umso rätselhafter und spannender wird sein Leben, die ganze Kette von Zufällen, von großen und kleinen Entscheidungen, von Hoffnungen und Enttäuschungen, von Ängsten, Kompromissen und Sturheit, manchmal auch von Zuneigung und Liebe. Ein Rätsel, dem man sich nur stellen kann, indem man es wahrnimmt, anerkennt und ihm dadurch etwas Zerbrechliches gibt: Würde. Dramaturgisch gekonnt entwirft der Roman in perspektivisch wechselnden Passagen, in Dialogen, Brieftexten und historischen Momentaufnahmen ein Bild zweier Menschen, die in der gleichen Zeit, der Zeit des Zweiten Weltkriegs, aufwachsen, davon aber ganz unterschiedlich geprägt werden. Zwei Menschen einer Generation, die ihre Jugend, ihre Träume und Wünsche kaum ausleben konnte und sie oft für ein ganzes Leben in sich begrub.

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Seitenzahl: 287

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Karin Petersen

Der Fluss, die Bergedie Berge, der Fluss

Roman

: TRANSIT

© 2011 : TRANSIT Buchverlag GmbH, Berlin

www.transit-verlag.de

Umschlaggestaltung und Layout: Gudrun Fröba

Umschlagmotiv © plainpicture / Mark Owen – aus der plainpicture Kollektion Rauschen

eISBN: 978-3-88747-273-3

Inhalt

Impressum

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

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Aber die Liebenden gehn

über der eigenen Zerstörung

ewig hervor; denn aus dem Ewigen

ist kein Ausweg. Wer widerruft

Jubel?

Rainer Maria Rilke

Eins

Wir bewegen uns in einer Wolke aus Rauch und Licht, meine Mutter und ich. In den Herbstgärten, an denen wir vorbeikommen, schwelen Kartoffelfeuer, in deren Qualm die Sonne aufleuchtet. Das schwarze Kraut der geernteten Kartoffeln verbrennt zu dichten Schwaden, deren beißender Gestank uns in die Nase steigt.

Ich schiebe sie vor mir her, meine Mutter, sie könnte mein Kind sein, ein schmollendes Kind. Ich sehe es ihrem Rücken an, dass sie schmollt, dem seitwärts geneigten Kopf, der tut, als sei er aufgeschlossen für alles, was den Augen am Weg begegnet. Diese Aufgeschlossenheit soll mir zeigen, dass meine Mutter vergessen kann und vergessen hat, wer hinter ihr geht und sie im Rollstuhl schiebt. Die herbstlichen Gärten mit dem vernebelten Farbfeuerwerk der Astern und Dahlien, der sonnenbeschienene Fluss, der durch die Rauchschwaden schimmert, die niedrig gestuften Fassaden der Fachwerkhäuser, aus denen die Kirchturmspitze ragt, Herr Fricke, der uns, auf seine Forke gestützt, durch den Qualm über den Gartenzaun grüßt – all das, so sagt die Körperhaltung meiner Mutter, ist wichtiger, sehenswerter, willkommener als die, die hinter ihr geht.

Ich weiß nicht, warum meine Mutter mit mir schmollt. Ich habe es gar nicht mitbekommen, gesagt hat sie mir nichts. Es braucht nicht viel in diesen Tagen, um ihren Unmut zu wecken, den sie wie immer und wohl schon – soweit ich das wissen kann als ihre Tochter – ihr Leben lang äußert, indem sie schweigt. Schweigt mit diesem leidvollen Ernst im Gesicht, der besagt, dass sie an jedem Leid, das sie stumm mit sich selbst ausmacht, ohne anderen damit zur Last zu fallen, nur wachsen kann als Mensch.

Vielleicht habe ich ihr den Hut zu grob aufgesetzt. Vielleicht habe ich den Rollstuhl im Pflegeheim zu schnell an Magda vorbeigeschoben, Mutters Zimmermitbewohnerin, die mit ihrer hohen, albernen Stimme gern ein Schwätzchen mit mir hält. Vielleicht wollte Mutter etwas von mir, das ihr dringend und wichtig war, und hat es mir nicht gesagt; doch hat sie vergessen, dass sie es mir nicht sagte, und grollt mir, weil ich nicht darauf eingegangen bin.

So etwas passiert in diesen Tagen, vielleicht passiert es schon länger, doch hat es mich bislang nicht erreicht. Vielleicht habe ich bislang darüber gelächelt, denn wie soll ich nicht lächeln über eine, die das Gesicht leidvoll verzieht, weil sie glaubt, eine Absage bekommen zu haben für etwas, das sie nie geäußert hat?

Jetzt lächele ich nicht mehr über meine Mutter; es erreicht mich, wie sie so ist. Es verwirrt mich, ich verfange mich in ihren Netzen. Ich verstricke mich so in Mutters Verwirrung, die für sie gar keine ist, weil für sie Getanes und nicht Getanes gleich wirklich sind, dass ich selbst nicht mehr weiß, was ich gesagt und getan habe und ob das, was ich fühle, einen Boden hat in der Wirklichkeit.

Ja, auf einmal erreicht es mich, wie meine Mutter so ist. Wo ich sonst nachsichtig über sie lächelte, weil sich ihr Geist verwirrt, wie man so sagt, bin ich jetzt traurig, weil sie mich nicht wahrnimmt als ihre Tochter, die sie im Rollstuhl durch den beißenden Qualm der Herbstfeuer schiebt, der uns die sonnige Sicht vernebelt auf den Fluss, die Berge, die Häuser und den Kirchturm der Stadt.

Obwohl ich hinter ihr gehe, sehe ich meine Mutter von vorn. Ich weiß, wie ihr Gesicht aussieht, wenn ihr Rücken sich so spannt wie jetzt und sie den Kopf vorbeugt, um ihre Hände im Schoß zu betrachten und vielleicht an den Nagelhäutchen zu zupfen. Ihr kleines, altes Gesicht mit dem weich geschwungenen Mund und der scharfen Nase, von den Pflegerinnen trotz meiner Ermahnungen zu dick eingecremt, glänzt vor Sorge. Einer Sorge, so schwer, dass sie ihren Kopf nach unten zieht und ihr wie eine Flüssigkeit aus dem Gesicht in den Schoß tropfen könnte. Die Stirnfalten, die den Schwung der Brauen nachzeichnen, sind hochgezogen, die Augen leicht aufgerissen, als sähen sie etwas, das sie erschreckt und doch nicht erschrecken darf. Wie nach einem Seufzer, der eigentlich nicht hätte sein dürfen, sind die Lippen betont geschlossen und versprechen, nie wieder zu klagen; meine Mutter weiß vermutlich nicht, dass sie mit diesem Ausdruck selbst auferlegter Stummheit vernehmlicher klagt als mit lautem Geschimpfe.

Anders als ihr Schmollen, das mir, ihrer Tochter gilt, gilt ihre Klage nichts Bestimmtem. Meine Mutter hat die Einzelheiten ihres Lebens, die beklagenswert waren oder es jetzt sind, weitgehend vergessen. Sie hat auch vergessen, dass zu Hause ihr Mann stirbt, mein Vater. Wenn ich es ihr sage, sieht sie traurig aus und scheint zu begreifen, doch hat diese Traurigkeit, die Mutter ganz bestimmt wirklich empfindet, auch etwas Gespieltes. Sie sieht aus wie eine, die weiß, wie man aussehen muss, wenn zu Hause der eigene Mann stirbt. Ihre Traurigkeit hat auch etwas Zufriedenes wie die eines Menschen, der mehr als die meisten anderen weiß, dass Leben Leiden ist und der durch wirklich leidvolle Zeiten wie diese für alle Beteiligten wahrnehmbar in diesem Wissen bestätigt wird. Ich will nicht sagen, dass Mutter triumphiert, wie eine, die in ihrem Wissen und ihrer Erfahrung darum, dass Leben und Leiden eines sind, jetzt vor aller Augen Bestätigung findet; doch ganz verkehrt wäre es nicht.

Wir sind weiter gegangen, haben die Gärten mit ihren schwelenden Herbstfeuern hinter uns gelassen. Der Weg am Fluss, glatt asphaltiert zum bequemen Flanieren der Bewohner und Gäste der Stadt, fällt leicht bergab. Ich muss den schweren Rollstuhl festhalten und mich mit den Beinen gegen sein Gewicht stemmen, damit er mir nicht davonfährt. Und während ich mich mühe, ihn zu halten, vor mir Mutters abweisenden Rücken, bekomme ich auf einmal eine solche Wut, dass ich ihn am liebsten loslassen würde, diesen schweren, billigen, schlingernden Stuhl mit meiner beleidigten Mutter darin. Ich müsste nur meine Hände von den Schiebegriffen lösen, dann rollte der Stuhl mitten hinein in die Sonntagsspaziergänger, die uns entgegenkommen. Die würden erschrocken beiseite stieben, der Stuhl rollte weiter, vielleicht sogar, weil er Schlagseite hat, rollte er nach links vom Weg ab und die befestigte Uferschräge hinunter in den Fluss.

Die Lippen zusammengepresst, umklammere ich mit beiden Händen die Schiebegriffe des veralteten Ungetüms von einem Rollstuhl, stemme mich gegen sein Ziehen an und höre mich zu Mutter sagen: »Setz dich bitte mal gerade hin.«

Sie richtet sich sofort auf und nickt, und dann sind wir bei den weißen Bänken am Fluss angekommen, die jedes Jahr für die Sommergäste frisch gestrichen und im Winter weggeräumt werden.

»Wollen wir da sitzen?«, frage ich.

Wieder nickt sie, sie sitzt gern am Fluss.

Ich schiebe sie neben eine Bank, ziehe die Bremshebel fest und setze mich auf das äußerste Ende der Bank neben den Stuhl, so sitzen wir dicht nebeneinander, meine Mutter und ich.

Wir schauen auf den Fluss, der nach einem heißen Sommer wenig Wasser führt. In den Strudeln treibt blinkendes Sonnenlicht. Ein Dampfer fährt an uns vorbei mit wenigen Gästen oben an Deck, die nach vorn zur Brücke schauen, unter der sie gleich durchfahren werden, ohne sich ducken zu müssen, doch das wissen sie vielleicht nicht.

Meine Mutter winkt ihnen fröhlich zu, wie sie vorbeifahrenden Dampferfahrern unzählige Male zugewunken hat, und obwohl niemand ihr Winken sieht und erwidert, winkt sie fröhlich weiter, auch das hat sie immer getan. Als Kind, als Mutter, als junge und als alte Frau. Der Fluss, die Berge, die kleine Stadt; die kleine Stadt, die Berge, der Fluss – das war und ist ihre Welt.

Als der Dampfer vorbeigefahren ist, schaut sie mich von der Seite an. Ich glaube, mein Gesicht sieht versteinert aus. Mutter hingegen ist jetzt fröhlich. Sie sitzt am Fluss. Sie hat Dampferfahrern zugewunken und die Sonne scheint, das sind Gründe genug, um fröhlich zu sein. Sie hat ihren stummen Vorwurf von eben vergessen und den sterbenden Mann sowieso.

Mir kommt es vor, als würden wir unser Spiel mit vertauschten Rollen weiterspielen, obwohl ich finde, ich habe wirklich Gründe genug, versteinert auszusehen.

»Wollen wir auch?«, sagt sie.

»Was?«, frage ich, ohne sie anzuschauen.

»Dampfer fahren.«

Ich schüttele den Kopf. Ich schaue auf die Berge, den Fluss, die Wiesen am anderen Ufer, wo früher unser Haus stand, das Haus, in dem ich aufgewachsen bin mit Mutter, Vater und zwei Schwestern.

Obwohl das Haus nicht mehr dasteht, sehe ich es deutlich: Das langgezogene, einstöckige Kurbad mit der weiß umzäunten Eingangsveranda, in dem sich die Badekabinen, das Wartezimmer und der Massageraum befanden. Über einen niedrigen Mittelteil, unseren Flur, war es verbunden mit dem zweistöckigen Nebenhaus, in dem unten die Ruheräume für die Badegäste lagen und oben, über den Kronen der Bäume – dem Kletterahorn und der kleinen Kastanie, die so rasch wuchs – unsere Wohnung; nach vorn das Kinderzimmer und die gute Stube, beide mit Blick auf den Fluss, nach hinten die Küche und das Schlafzimmer der Eltern und später ein eigenes Bad und ein weiteres Zimmer, das mein Vater aus Gründen, die ich nie verstanden habe, das »Ahnenzimmer« nannte.

Ich sehe meinen Vater auf der Veranda stehen im weißen Kittel des Bademeisters und Masseurs. Er macht eine Pause; die dünnen Unterarme auf die Brüstung der Veranda gelehnt, beugt er sich vor und plaudert mit einer Frau, die vor ihm steht, vielleicht ein Badegast, der gerade kommt oder gehen will.

Obwohl ich mir nur vorstelle, dass mein Vater auf der Veranda steht und mit einem Badegast plaudert, ist mir einen Augenblick lang, als schaute er von dort drüben über den Fluss zu uns her, die wir ihm am anderen Ufer auf einer der weißen Sommergastbänke gegenübersitzen, seine Frau und ich, die mittlere Tochter. Sein Blick fährt mir mitten in den Körper, denn im selben Augenblick, wo ich mir vorstelle, dass er uns anschaut, Mutter und mich, weiß ich wieder: Es gibt ihn gar nicht dort drüben, so wie es das Kurbad nicht gibt, die Veranda und unser Kinderzimmer im ersten Stock des Nebenhauses nicht und auch nicht den Badegast. Bald wird es ihn gar nicht mehr geben, meinen Vater, den es als Bademeister dort drüben im Kurbad am anderen Ufer des Flusses schon lange nicht mehr gibt. Auch als den alten Mann, der im Sterben liegt zu Hause in der Wohnung, die er vor wenigen Jahren, als Mutter ins Pflegeheim kam, allein bezogen hat, wird es ihn bald nicht mehr geben.

In dem Augenblick, wo ich weiß, es war reine Einbildung von mir, dass Vater dort steht, wo ich ihn gesehen habe, muss ich sichtbar zusammengezuckt sein, denn Mutter hat meine Hand genommen. Sie muss ihn bemerkt haben, diesen Augenblick, wo meine Einbildung, Vater stünde im weißen Kittel des Bademeisters und Masseurs dort drüben am anderen Ufer und schaute zu uns beiden her, mit einem scharfen Schmerz zerreißt. Alles scheint zu zerreißen mit diesem Schmerz, alle Einbildungen von Vergangenheiten, die es so nicht mehr gibt und vielleicht nie gegeben hat, und die Gegenwart von Vater, der in seiner Wohnung stirbt – Mutter muss das gemerkt haben, denn sie hat im selben Augenblick, wo all das zerreißt in mir, meine Hand in ihre genommen.

Zuerst will ich sie ihr entziehen, meine Hand, doch dann lasse ich sie ihr. Mein versteinertes Gesicht weicht auf; wie eine Maske, die wegschmilzt, fühlt sich das an. Ich lasse es geschehen, so wie ich Mutter meine Hand überlasse, und als sie meinen Kopf zu sich auf ihre Schulter zieht, erlaube ich ihr auch das.

Ich glaube, es ist Mutters Geruch, der mich zum Weinen bringt, denn ich kenne ihn schon immer. Sie duftet nach weicher Haut und frischer Wäsche mit einem Hauch von altem Kleiderschrank, den lange niemand geöffnet hat. Dass es diesen Geruch gibt in allem, was es nicht mehr gibt, so vielleicht nie gegeben hat und bald nicht mehr geben wird, ich glaube, das bringt mich zum Weinen. Und auch wenn Mutters Geist verwirrt ist, versteht sie, dass ich bei ihr ausruhen muss von all dem, das in den letzten Tagen geschehen ist, wenigstens diesen einen Augenblick.

Wann habe ich es erfahren? Etwas in mir hat es vorher gewusst. In diesen Spätsommertagen ging alles schief, von morgens bis abends gingen Dinge schief. Ich fuhr mit dem Rasenmäher über die Schnur, und er verreckte mit einem grässlichen Röhren. Ich griff in die Rosen und stach mir einen Dorn in den Finger, so tief, dass ich ihn nicht herausbekam. Der Finger schwoll an, meine Hände wurden ungeschickt und ließen meine schönste Tasse fallen, die große, mit Äpfeln und Kirschen bemalt.

In der folgenden Nacht wachte ich auf von einem Ziehen links im Brustkorb, dort wo ich mein Herz vermutete. Jeder Atemzug schmerzte, ich legte beide Hände auf die schmerzende Stelle, atmete flach und ängstigte mich in der Dunkelheit. Ja, ich ängstigte mich zu Tode und wusste gar nicht wovor. Die tanzenden Schatten der Bäume, vom Licht der Bogenlampe an die Wände meines Zimmers geworfen, das Knistern im Gebälk des Daches, schnelle Schritte in einiger Entfernung vom Haus – all das ängstigte mich auf eine Weise, die ich mir nicht erklären konnte.

»Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern, keine Angst, keine Angst Rosmarie…«

Ich flüsterte den erstbesten Schlager, der mir in den Sinn kam, eines von Vaters Lieblingsliedern. Laut wollte ich es nicht singen, denn im Haus sollte niemand mich hören mitten in der Nacht.

An Vater dachte ich gar nicht in diesen Tagen, in denen alles schief ging, und auch nicht in dieser Nacht, in der ich mich zu Tode ängstigte.

Im Frühjahr bei meinem letzten Besuch hatte Frau Dehmel, die unter ihm wohnt und die, sowie sie mich im Treppenhaus hört, die Wohnungstür öffnet, um nachzuschauen, wer dort in ihrem Treppenhaus herumspaziert, zu mir gesagt: »Euer Vater macht mir Sorge. Er ist nicht mehr der Alte.«

Doch als ich sie fragte, was das denn hieße und ob wir etwas tun könnten für ihn, zuckte sie nur die Achseln. Sie verschloss ihre Wohnungstür so unfreundlich vor mir, als sei ich diejenige, die von ihr etwas wollte, dabei sprach sie mich immer an wie eine, die sonst niemanden zum Reden hat.

Mir war nichts aufgefallen. Vater war freundlich und gut gelaunt, wie fast immer in letzter Zeit, wenn wir ihn besuchten, meine Schwestern und ich. Vielleicht war er etwas blasser gewesen. Vielleicht war er etwas langsamer gegangen in seinen großen Hausschuhen, die er an den Seiten und hinten aufgeschnitten hatte, um Platz für die großen Ballen und die schmerzende Ferse zu schaffen. Vielleicht hatte sein Mittagsschläfchen im Fernsehsessel mit der Zeitung im Schoß, den Mund geöffnet, als setzte er zu einer Frage an, etwas länger gedauert als sonst. Dünner war er geworden, das weiß ich, das Essen schmeckte ihm nicht. Doch war er schon immer ein karger, mäkeliger Esser gewesen, der auf seinem Teller herumstocherte; der höchstens die Hälfte aß und den Rest von sich schob, als seien normale Portionen für ihn eine Zumutung.

Nein, eigentlich war Vater im Frühjahr noch der alte gewesen.

An einem dieser Spätsommertage, wo alles schief ging, wo ich nachts wach lag und mich zu Tode ängstigte, rief Vater mich an.

»Naaa?«, sagte er am Telefon.

»Na«, sagte ich.

»Wie geht’s?«, wollte er wissen.

»Gut«, sagte ich knapp, in Gedanken noch bei der Arbeit, aus der mich sein Anruf herausgerissen hatte.

»Ich bin hier im Hotel Sorgenfrei.« Er klang vergnügt, als freute er sich, mich zu überraschen damit, dass bei ihm etwas anders war als sonst.

»Wo bist du?«

Ich hörte ihn gedämpft, doch energisch zu jemandem sagen: »Ich telefoniere gerade mit meiner Tochter, könnten Sie bitte warten?«

Er war nicht nur woanders, er sprach auch anders. Dass er mich als Grund anführte, einen anderen Menschen warten zu lassen, einen fremden noch dazu, war doch sehr ungewöhnlich.

»Tja«, wandte er sich wieder laut an mich. »Scherz beiseite, ich bin seit gestern in der Klinik.«

»Welcher Klinik?« Das war eine dumme Frage, und deswegen stellte ich gleich noch eine, die mir richtiger schien: »Warum das denn? Was machst du denn da?«

»Nun schimpf mal nicht gleich mit mir«, sagte Vater.

»Aber…«

»Doch«, unterbrach er mich. »Du schimpfst mit mir.«

Er hatte Recht, ich schimpfte mit ihm, weil ich eigentlich erschrocken war.

»Alles paletti?«

Ich nickte und sagte leise: »Ja.«

»Ich bin hier bestens versorgt«, sagte er, denn jetzt wusste er, dass ich erschrocken war.

Vater konnte es nicht ertragen, wenn andere seinetwegen erschrocken waren, und fuhr fort zu schwärmen von seinem Hotel Sorgenfrei. Von den pünktlichen Mahlzeiten mit kleinen Portionen, der freundlichen »Bedienung«, wie er die Krankenschwestern nannte, und der Ärztin, die ihn untersuchte, eine junge und kluge, die mit ihm scherzte und gar nicht viel älter sein konnte als ich. Und so eine »schmeißt hier den ganzen Laden«, das imponierte ihm.

»Aber warum bist du da?«, unterbrach ich ihn schließlich.

»Kann nicht so wild sein, nur die Ferse wollen sie sich hier mal ansehen.«

»Deine Ferse? Deswegen kommt man doch nicht ins Krankenhaus.« Es muss Jahre her gewesen sein, dass er mit dem Hornhauthobel abrutschte und sich tief in die Ferse schnitt. Keine große Sache, wie er damals sagte, doch die Wunde heilte nicht. Er bastelte sich alle Schuhe so zurecht, dass sie ihm nicht auf die Ferse drückten, strich die Stelle abends vor dem Schlafengehen mit Heilsalbe ein und fuhr noch mehr Wege als sonst mit dem Rad. Damit war die Sache für ihn erledigt.

»Der Rest kommt von selbst«, hatte er auf meine Fragen gesagt mit dieser flotten Zuversicht, die ablenken sollte von seiner Person.

»Tja nu…« Jetzt klang er ungehalten, als hätte ich ihn verärgert.

»Was ›tja nu‹?«

»Könnte wohl was Übles sein, weiß man aber noch nicht.«

»Was Übles?«

»Na, das schieben wir doch locker über den Rand. Mach du mal nicht in alter Manier die Pferde scheu, so schlimm wird’s schon nicht sein.« Seine Stimme war gereizt und ärgerlich, als sei ich die Kranke und eine eingebildete dazu, die ihm mit ihren übertriebenen Befürchtungen schlichtweg auf die Nerven ging.

»Vater«, sagte ich. »So nicht.«

»Ist ja gut.«

Er wusste genau, was ich meinte.

Lange hatte er so mit seiner Tochter gesprochen: Als sei sie eine Kranke, die ihm mit ihrem traurigen Gesicht auf die Nerven geht. Der er ärgerlich über den Mund fahren muss, damit sie weiß, was Sache ist und aufhört, Dinge zu sehen und zu fühlen, die es nicht gibt. Damit sie aufhört, Gefühle zu haben, die durch nichts zu rechtfertigen sind; durch Hirngespinste hervorgerufene Gefühlsduseleien. Der man mit gereizten Worten die stumme Traurigkeit, die nichts als Einbildung ist, aus dem Gesicht wischen muss wie Dreck, der da nicht hingehört. Ihr die Hand auf die Schulter hauen wie einem Kumpel, der den Kopf hängen lässt, und gut gelaunt rufen: Kopf hoch! So richtet man Menschen auf, so bringt man ihnen Haltung bei im Leben. Lache Bajazzo! Das ist ein Leitspruch, der Menschen durch alle Lebenslagen trägt, wenn sie das nur begreifen würde, seine Mittlere, die viel zu zart besaitet ist für diese Welt.

Er hatte vergessen, dass er etwas zu tun hatte mit diesem traurigen Gesicht. Er will vergessen, dass diese Traurigkeit ihn an seine eigene erinnert. Er will vergessen und vergisst, dass er Dinge tut, die dieses Gesicht traurig machen. Er ersäuft sie erfolgreich, seine eigene Traurigkeit und die Traurigkeit seiner mittleren Tochter und das leidende Gesicht seiner Frau gleich dazu mit Bier und Korn und großartigen Reden über die großartigen Dinge, die er eines Tages tun wird, wenn er Frau und Kinder endlich Frau und Kinder sein lässt und wieder in See sticht:

Auf Matrosen, ohee! Einmal muss es vorbei sein! Wenn der Sturmwind sein Lied singt, dann winkt mir der Großen Freiheit Glück!

La Paloma, die Taube, die ihm voranfliegt, hinaus aufs Meer, hinaus in die Ferne, und ihr hier, ihr könnt mich mal gerne haben. Bademeister! Wollten sie ihn verjuckeln? Er und Bademeister! Er war Seefahrer, war es immer gewesen und wollte nie etwas anderes sein. Als junger Mann war er auf großen Pötten nach Indien und Afrika gefahren. Tropenhelme hatte er getragen, schwarze Frauen im Arm gehalten, während Affen ihm auf der Schulter hockten, und sollte jetzt den Bademeister spielen, hier in diesem verschlafenen Kaff ?

Nachts taumelt er grölend und polternd die Treppe hoch, reißt die Tür zum Kinderzimmer auf, muss seine Töchter sehen, muss sicher sein, dass sie noch daliegen in ihren Betten, lallt Unverständliches in die erschrockenen Gesichter, schlägt die Tür wieder zu, rutscht mit dem Rücken an der Wand zu Boden und weint. Weint, bis er sich und sein beschissenes Leben vergisst und die erschrockenen Gesichter seiner Töchter und das leidende seiner Frau und La Paloma, die Taube, dazu. Weint, weil er weint und ihm bitterlich weh tut, dass er weint. Schluchzt auf beim Gedanken an den Tod seiner Schwester Karla an jenem Tag um die Mittagszeit, wo er unter Deck seinen dreckigen Dienst als Maschinist versah auf einer der Nuckelpinnen, die auf Hafenschutz machten zwischen Borkum und Wilhelmshaven. Weint über den beschissenen Krieg, der einer Siebzehnjährigen ein ganzes Leben nimmt und der immer noch weitergeht in ihm und überall auf der Welt. Weint, bis er nicht mehr weiß, warum er weint; bis er vornüberkippt und einschläft auf dem Fußboden vor der Tür zum Kinderzimmer seiner Töchter, die er laut hinter sich zugeschlagen hat mitten in der Nacht.

Er wusste genau, was ich am Telefon meinte mit den Worten: »Vater, so nicht«. Ich hatte es ihm gesagt.

Ich hatte lange dafür gebraucht, ein halbes Leben lang vielleicht, ich weiß ja nicht, wann ich einmal sterbe.

Nein, gesagt hatte ich es ihm nicht. Ich hatte es ihm geschrieben; sagen konnte ich es ihm nicht.

Einmal, als er bei einem seiner seltenen Anrufe am Telefon mit mir sprach, wie er immer sprach mit mir, in diesem gereizten Tonfall, der mir zeigen sollte, dass ich mit meiner Art nicht wusste, worauf es im Leben ankam, da hatte es mir die Kehle zusammengeschnürt. Ganz gleich, was Vater glaubte, was ich weiß oder nicht weiß, eins wusste ich auf einmal ganz sicher: Jetzt muss Schluss sein mit diesem Ton, in dem Vater mit mir spricht.

Doch sagen konnte ich es ihm nicht. Mein Hals war so eng, ich schluckte und schwieg und schwieg und schluckte, und als Vater ärgerlich ins Telefon rief: »Was ist denn mit dir?«, da legte ich den Hörer auf.

Ich schrieb ihm einen Brief; wochenlang schrieb ich an diesem Brief. Ließ ihn liegen, beachtete ihn nicht weiter, verlegte ihn, suchte danach und fand ihn wieder. Las mit klopfendem Herzen, was ich geschrieben hatte, strich es durch und schrieb wieder hin, was ich durchgestrichen hatte. Schließlich verführte ich mich durch den Gedanken, nie abzuschicken, was ich Vater da schrieb, das Äußerste zu schreiben: Es kann nicht sein, dass Du als mein Vater, der mir durch seine Trinkerei und besoffene Besuche nachts im Kinderzimmer tiefe Wunden zugefügt hat, dich hinstellst und mich behandelst, als sei ich die Kranke. Als sei meine Traurigkeit nichts als Firlefanz, Gefühlsduselei, für die es keine handfesten Gründe gibt. Es gibt sie, diese handfesten Gründe, und sie haben mit Dir zu tun, das weißt Du genau.

Wenn Du es nicht fertig bringst, respektvoll mit mir zu reden, will ich keinen Kontakt mehr zu Dir.

Diese Fassung des Briefes, in der ich Vater knapp und klar das Äußerste schrieb, was ich ihm schreiben konnte, ließ ich lange im Regal liegen hinter Büchern, die ich nie wieder lesen würde, weil ich sie schon gelesen und nicht für gut befunden hatte. So lange ließ ich den Brief dort liegen, dass ich mir einbilden konnte, ich hätte ihn vergessen.

Doch als Wochen später ein anderer Mann im Streit mit mir sprach, wie Vater immer mit mir sprach, holte ich den Brief hinter den Büchern hervor, steckte ihn ungelesen in einen Umschlag, adressierte und frankierte ihn und brachte ihn zum Briefkasten, zwanzig Minuten Fußweg vom Haus entfernt.

Er fiel in den Kasten, dieser Brief, mit einem Geräusch, als fiele ein schweres Gewicht in den großen, hohlen Raum der Endgültigkeit, in dem es kein Echo gibt; dabei steckte nur eine Seite im Umschlag. Ja, ich glaube, die Endgültigkeit war es, die dieses Geräusch erzeugte, denn ich konnte den Brief nun nicht mehr zurückholen und würde auch nicht neben dem Briefkasten stehen bleiben, auf die nächste Leerung warten und den Postbeamten bitten, meinen Brief heraussuchen und zurücknehmen zu dürfen, weil er sich erledigt hatte. Nichts hatte sich erledigt und vielleicht würde sich nie etwas erledigen, vielleicht würde wahr werden, was ich Vater schrieb:

Wenn Du es nicht fertig bringst, respektvoll mit mir zu reden, will ich keinen Kontakt mehr zu Dir.

Er rief mich nicht an, und auch sonst hörte ich nichts von ihm. Wochen später, als ich schon glaubte, es würde wahr werden, was ich Vater angedroht hatte, bekam ich einen Brief von ihm.

Er war auf der schweren, graugrünen Schreibmaschine geschrieben, die aussah wie aus Panzerstahl geschmiedet und auf die man kräftig einhacken musste, um die Buchstaben aufs Papier zu bekommen. Das kleine e, das im Text immer etwas höher stand als die anderen Buchstaben, musste man mit der Hand zurückholen, weil der Anschlaghebel mit dem Buchstaben darauf auf dem Blatt klemmen blieb; das wusste ich, weil ich mir auf diesem Ungetüm von Panzerschreibmaschine selbst das Schreibmaschineschreiben beigebracht hatte.

Vater schrieb nicht viel. Seine wenigen Sätze waren auf ein liniertes Blatt getippt, das er von einem Spiralblock abgerissen hatte, am oberen Rand sah man die Löcher der Perforation. Er musste das Blatt nur einmal falten, damit es in den Briefumschlag aus dickem Papier mit Wasserzeichen passte, der mit grauem Seidenpapier gefüttert war:

Liebe Karla,

stand da getippt mit hochgestellten kleinen »e«s.

Über Deinen Brief habe ich weinen müssen. So sehr, dass ich Dir erst nicht antworten konnte. Ich weiß, was ich getan habe damals. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Du musst es mir glauben, bitte, ich bereue das alles sehr. Dein dich liebender Vater Edward Odensen.

Wie ein amtliches Schreiben hatte Vater seinen Brief an mich mit vollem Namen unterschrieben; ich verstand es, er wollte mit seinem ganzen Namen einstehen für das, was er mir geschrieben hatte.

Wir sprachen über diese Dinge nie wieder, Vater und ich. Das heißt, gesprochen hatten wir ja nicht darüber.

Doch Vater redete jetzt anders mit mir. Und wenn er sich vergaß im Gespräch, wenn er mit mir wieder sprach wie mit einer, die nicht weiß, worauf es ankommt im Leben, und ich zu ihm sagen musste:

»So nicht«, dann wusste er sofort, was ich meinte, und änderte seinen Tonfall.

Ich weiß eigentlich nicht, warum alle Welt so heftig gegen die Einbildung ist und sie als Kontrast zur Wirklichkeit betrachtet. Einbildungen, so denken die meisten und mein nüchterner Vater mit Sicherheit, seien »Lug und Trug«, wie er das nennt, Hirngespinste eben, im Gegensatz zur wahren Wirklichkeit, die felsenfest und ewig in den schwankenden Wogen all dessen steht, was Menschen sich einbilden können.

Ich habe bei dem Wort »Einbildung« einen Menschen vor Augen, der sich innere Bilder macht von dem, was er außen sieht und hört. Ja, ich sehe es vor mir, wie sich bei einem solchen Menschen die Bilder nach innen falten und er sie dort sieht, statt außen. Warum sollten diese eingefalteten Bilder weniger wahr sein als das, was sich äußerlich entfaltet?

Mutter konnte vergessen, dass es mich in ihrer Gegenwart gab, und trotzdem wegen irgendwelcher Dinge schmollen, die ich nicht gesagt und getan hatte. Wenn mich ihre stumme Anklage manchmal erreichte und mich traurig machte, wie Mutter so umging mit mir, war sie längst wieder fröhlich; und dann kam ich mir vor wie eine, die Gefühle bemühte, für welche es keinen Anlass gab. Das waren schon Merkwürdigkeiten.

Vater hatte mein trauriges Gesicht lange als Gefühlsduselei verhöhnt. Es war gut, hier Klarheit geschaffen zu haben zwischen ihm und mir; es gab handfeste Dinge. Es gab Gefühle, die in handfesten Dingen gründeten. Nachdem wir unsere Briefe ausgetauscht hatten, verstanden wir uns mit Worten viel besser, Vater und ich.

Blieben außer Gefühlen und Worten, ob wirklich oder eingebildet, noch die Blicke zwischen uns. Wir sahen uns nicht oft in die Augen, mein Vater, meine Mutter und ich. Wir sahen aneinander vorbei, sahen uns auf die Hände, den Mund oder die Haare oder schauten auf Dinge, die gemeinsam vor uns standen oder sich in der Ferne befanden. Und wenn sie mir in die Augen schauten, meine Eltern, hatte ich das Gefühl, dass sie mich nicht sahen oder nicht mich sahen. Immer schien da etwas oder jemand zwischen uns zu stehen, das, den oder die sie deutlicher sahen als mich. Oder eigentlich sahen.

Der Blick von Vater über den Fluss her zu uns, Mutter und mir, die wir ihm auf einer der weißen Sommergastbänke gegenübersaßen, dieser Blick, der mir in den Körper fuhr, den hatte ich mir eingebildet. Vater sah mich nie so an, dass mir sein Blick in den Körper fuhr. Auch Mutter sah mich nicht so an. Da waren sich beide einig, obwohl sie sich sicher nicht abgesprochen hatten, was die Blicke betraf, die sie auf ihre mittlere Tochter warfen. Sie waren sich hier vielleicht gar nicht einig, sie hatten einfach beide den gleichen Blick auf ihre Tochter, einen Blick, in dem ich mich nicht erkannte als eine, die von ihren Eltern wirklich gesehen wird.

»Vater«, hatte ich am Telefon zu ihm gesagt, als er mich anrief aus seinem Hotel Sorgenfrei und mich gereizt anfuhr, »so nicht.«

»Ist ja gut.«

Er wusste genau, was ich meinte.

Doch da war Vaters Blick auf mich.

Ich weiß nicht, warum Vaters Blick auf mich plötzlich so wichtig für mich wurde: Ich wollte, dass er mich richtig ansah. Ich wollte, dass er mich ansah, als die, die ich war, und nicht so, als ob da etwas oder jemand zwischen uns stand, das, den oder die er deutlicher sah als mich.

Ich wollte es, weil ich nach Vaters Anruf aus seinem Hotel Sorgenfrei wusste, dass er bald sterben würde.

Zwei

Auch wenn Vater bezweifelt hätte, dass die Einbildungskraft ein Weg zur Wahrheit oder Wirklichkeit sein kann, hatte er Recht, wenn er sagte, dass ich, seine mittlere Tochter, mir eine Menge einbildete. Ich habe Einbildungskraft. An meinem Schreibtisch führe ich oft Selbstgespräche, in denen ich echten Fragen mit eingebildeten Worten und Bildern nachgehe und auf diese Weise manchmal überraschend wirkliche Antworten finde.

»Warum sahen meine Eltern, wenn sie mir in die Augen schauten, mich nicht oder sahen nicht mich?«

Kaum fragte ich mich das, tauchten neue Fragen auf:

»Wer waren die Toten?«

»Die Toten? Welche Toten?«

Ich sah meine Eltern vor mir, man könnte auch sagen, ich stellte sie vor mich hin. Zusammen mit uns, ihren Töchtern, in einen jener Räume, wie nur meine Einbildungskraft sie schaffen kann.

Mich stellte ich in die Mitte zwischen die Schwestern, die jüngere und die ältere. Mutter steht im Halbprofil vor uns. Kaum steht sie an ihrem Platz, richtet sie den Blick weg von uns, ihren Töchtern, in eine Ferne, in der sie etwas zu sehen scheint, was nur für sie bestimmt ist. Vater steht in einigem Abstand von uns. Sein Körper zeigt zu uns, doch sein Kopf ist zur Seite gedreht, wie um nach hinten zu schauen. Er steht unsicher auf den Beinen und schwankt manchmal leicht, als mühte er sich, nicht nach hinten wegzukippen.

»Welche Toten?«, frage ich noch einmal.

»Schau doch hin«, sagt die strenge Stimme zu mir, als könne ich mir die Frage selbst beantworten, weil ich ja zwei Augen im Kopf habe. Schau deine Eltern an.

Ich schaue mir in dem Raum, den meine Einbildungskraft geschaffen hat, die beiden an – Mutter, die mit stumm klagendem Mund in eine Ferne schaut, in die ich ihr nicht folgen kann; Vater, den Kopf zur Seite gedreht, wie um hinter sich zu schauen, eine Traurigkeit im Blick, die kurz vor dem wütenden Aufbegehren wieder in sich zurückfällt.

Auf einmal weiß ich es, wen Mutter dort sieht in einer Ferne, in die ihr niemand folgen kann: Sie sieht ihren Bruder dort, der gestorben ist, als es uns noch nicht gab, ihre Töchter, die lebenden. Ihren toten Bruder Werner sieht sie dort, der im Ärmelkanal zwischen Frankreich und England ertrank in einer Zeit, als Mutter nicht wusste, dass es uns, ihre Töchter, einmal geben und sie unsere Mutter sein würde. Als sie gar nicht wusste, ob es in dieser Zeit, wo ihr Bruder starb in einem Krieg, der kein Ende zu nehmen schien, eine Zukunft für sie gab, in der sie drei Töchter haben würde. Nicht wusste, ob sie weiterleben und weiterleben können würde ohne die Gestorbenen.

Auch warum Vater so steht, den Kopf zur Seite gedreht, wie um nach hinten zu schauen, schwankend, um nicht umzufallen dorthin, wohin er schaut, weiß ich auf einmal. Es steht jemand hinter ihm. Es steht jemand hinter Vater, und Vater möchte sich anlehnen an diese Person. Er möchte sich nach hinten fallen lassen in die Arme dieser Person. Sie übt einen solchen Sog auf Vater aus und er will sich so vollständig zu ihr neigen, dass er sich kaum auf den Füßen halten kann.

Vater trägt jetzt eines seiner jungen Gesichter, so jung, wie ich es bislang nur von Fotos kannte aus der Zeit, bevor er mein Vater wurde. Ein schmales, blasses Gesicht mit feinen, gleichmäßigen Zügen und Augen, deren Traurigkeit kein eingeübtes Lächeln verbirgt.

In diesem Februar 1945, zwei Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs, dient Edward Odensen als Bootsmaat und Seemaschinist bei der Hafenschutzflottille Borkum. Sein magerer, glatter Hals reckt sich aus dem dicken Flanellstoff der Uniform, wie um sich zu befreien von der Last dieses Kleidungsstückes, das am linken Ärmel und auf zwei Reihen blank polierter Knöpfe Anker trägt und auf der rechten Brust den Adler der deutschen Marine, der mit ausgebreiteten Flügeln auf dem rund eingefassten Hakenkreuz thront wie auf der Weltenkugel.

Die vollen Lippen des jungen Mannes, den niemand gefragt hat, ob er an diesem Krieg teilnehmen will, liegen fest aufeinander, als müssten sie Worte zurückhalten, die ihn gefährden könnten. Ein leiser Abglanz dieser verhaltenen Wut, die auf der Oberfläche des ebenmäßigen Gesichts bei flüchtiger Betrachtung kaum sichtbar wird, findet sich in den Augen wieder, die am Fotografen vorbeischauen, wie um vor ihm und allen zukünftigen Betrachtern des Fotos zu verbergen, was bei genauerem Hinsehen darin lesbar wird.