Der Fluss - Peter Heller - E-Book

Der Fluss E-Book

Peter Heller

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Beschreibung

Berge, Bücher und das Angeln – drei der Dinge, die Wynn und Jack miteinander verbinden. Seit Studienbeginn sind sie beste Freunde und träumen davon, mehrere Wochen in der kanadischen Wildnis zu verbringen. Mit Kanu und kleinem Gepäck brechen sie eines Tages auf, den Maskwa River zu befahren. Lange Tage geruhsamen Paddelns, dazu nächtliches Sterneschauen und Westernlesen, das schwebt ihnen vor. Das Abenteuer jedoch, das so vielversprechend beginnt, wird zu einer existenziellen Herausforderung. Wildwasser, Gewalt und Feuer stellen Wynns und Jacks Freundschaft auf eine harte Probe. – Eine spannungsreiche, eindringlich erzählte Geschichte über die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, das Überleben in der Wildnis und die menschliche Unberechenbarkeit.

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Seitenzahl: 335

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Peter Heller

Der Fluss

Roman Aus dem amerikanischen Englisch von Matthias Strobel

Für meinen Vater John Heller,

den besten Geschichtenerzähler, den ich je erlebt habe;

der mich auf kleinen Booten mitnahm und

»Little Joe the Wrangler« und »Barbara Allen« sang

PROLOG

Seit zwei Tagen schon rochen sie den Rauch.

Zunächst hielten sie es für ein Lagerfeuer und wunderten sich, weil sie seit Tagen auf den Seen unterwegs waren und kein Flugzeug gehört und niemanden sonst bemerkt hatten, auch kein anderes Kanu in der Ferne. Die Spuren, die sie bei den Portagen entdeckt hatten, stammten von Wölfen, Elchen, Ottern oder Bären.

Der Wind wehte in westlicher und nördlicher Richtung, und genau dort wollten sie hin, nach Norden. Wenn außer ihnen noch jemand in der Gegend war, dann vor ihnen. Seltsam war allerdings, dass sie den Rauch nicht nur frühmorgens und abends rochen; sie ertappten sich dabei, dass sie im Laufe des Tages immer wieder mal die Nase hoben und schnupperten wie Kojoten.

Eines Abends gingen sie auf einer bewaldeten Insel an Land, schlugen ihr Camp auf, machten ein Lagerfeuer aus Treibholz, grillten eine Seeforelle und sahen zu, wie am anderen Ufer die Sonne hinter den Fichten versank. Es war später August, ein klarer Abend, die Nacht würde kalt werden. Kein Polarlicht leuchtete, nur die von ihrem Feuer dicht an den Himmel gestobenen Funken waren zu sehen, wie Sterne. Sie stiegen den Hügel hinauf. Ihre Stirnlampe brauchten sie nicht, sie waren es gewohnt, sich im Dunkeln zu bewegen. Manchmal, wenn sie sich stark genug fühlten, paddelten sie die halbe Nacht durch. Sie liebten es, wenn die Dunkelheit die Geräusche verstärkte – das Glucksen der eintauchenden Paddel, das Schlagen des Holzschafts gegen den Bootsrand. Der lange, einsame Ruf des Eistauchers. Besonders die Eistaucher. Wie sie die Nacht dehnten mit ihrer Sehnsucht.

In dieser Nacht rief kein Eistaucher, wehte kaum Wind. Sie bahnten sich einen Weg die Anhöhe hinauf, zwischen Tamaracklärchen hindurch, Hemlocktannen und vereinzelten hohen Birken, deren Rinde hell schimmerte. Oben angekommen, führte ein Wildpfad zu einem Felsvorsprung, als wären sie nicht die Ersten, die bis zu diesem Aussichtspunkt vorgedrungen waren. Und da sahen sie es. Im Nordwesten. Erst dachten sie, es wäre die Sonne, aber es war viel zu spät für das Nachglühen eines Sonnenuntergangs. Und Ortschaften gab es im Umkreis von tausend Meilen keine. In weiter Ferne hing über den Bäumen ein orangefarbener Schimmer, als hätte sich am Horizont Glut angehäuft. Kein Flackern war zu sehen. Sie fragten sich, ob es vielleicht an ihren Augen lag, und wussten doch, dass es ein Waldbrand war.

Ein Waldbrand, wer weiß, wie weit weg, und wer weiß, wie groß, aber größer, als sie es sich vorstellen konnten. Er schien sich bereits über zwei Quadranten ausgebreitet zu haben. Sie sagten nichts, aber das Feuer wütete so still, schien so mächtig zu atmen, dass ihnen der Schreck in die Glieder fuhr. Außerdem trieb der Wind das Feuer direkt auf sie zu. Bei ihrem derzeitigen Tempo würden sie mindestens zwei Wochen brauchen bis Wapahk, dem nächsten Cree-Dorf, und der Hudson Bay. Sobald sie den nördlichsten See hinter sich gebracht hatten und auf dem Fluss waren, würden sie schneller vorankommen, aber es gab keine Möglichkeit, die zehn Meilen abzukürzen.

~~~

Am nächsten Morgen sichteten sie ein Camp. Es lag am nördlichen Ende der Insel. Sie steuerten es an. Zu ihrer Verwunderung machte niemand Anstalten, das große Hauszelt abzubauen. Keinerlei Zeichen für Aufbruch. Auf dem Kies lag ein weißgestrichenes, altmodisches Kanu aus Holz mit geradem Heck und Elektromotor. Daneben saßen zwei Männer auf Klappstühlen, die Beine langgestreckt. Jack und Wynn zogen ihr Kanu an Land und grüßten. Die Männer hoben lediglich den Arm. Zwischen ihren Stühlen stand eine Plastikflasche Bourbon auf den Steinen. Der Dickere von beiden trug ein Flanellhemd und eine eckige Metallbrille mit getönten Gläsern, der Dünne eine Texans-Kappe. An einer Kiefer lehnten zwei Spinnruten und ein Winchester-Modell-70-Repetiergewehr.

»Habt ihr das Feuer gesehen?«, fragte Jack.

»Habt ihr ’ne Muschi gesehen?« Die Männer lachten. Sie waren betrunken. Jack war angewidert, aber Betrunkensein an einem Sommermorgen war ja kein Kapitalverbrechen.

»Ein Waldbrand«, sagte Jack. »Riesenoschi. Im Nordwesten. Müsstet ihr eigentlich gerochen haben.«

»Habt ihr ein Satellitentelefon?«, fragte Wynn.

Erneut prusteten sie los. Als sie sich wieder eingekriegt hatten, sagte der Dickere: »Ihr müsst mal bisschen relaxen. Los, stellt euch einen Stuhl her.« Da waren keine weiteren Stühle. Er schwang die Bourbonflasche, die er am Hals hielt, in ihre Richtung. Jack hob die Hand. Der Mann zuckte mit den Schultern und führte die Flasche zum Mund, langsam, konzentriert, als steuere er einen Kran. Dann trank er. Der See war an dieser Stelle schmal. Wenn das Feuer über das westliche Ufer hinwegraste, wären sie auf dieser Insel nicht sicher.

»Wie habt ihr das mit den Portagen gemacht?«, fragte Jack. Einige Seen waren über schiffbare Flüsse verbunden, andere nur über schlammige Pfade, für die man alles ausladen und schleppen musste. Der letzte See mündete dann in den Fluss, einen großen Fluss, der sich hundertfünfzig Meilen nordwärts schlängelte, bis zu dem Cree-Dorf und der Hudson Bay. Jack war nicht gerade beeindruckt vom Fitnesszustand der beiden Männer.

»Wir haben so ’n Ding mit Rädern«, erklärte der Dünne. Er wedelte mit der Hand in Richtung Camp.

»Wir haben überhaupt alles«, sagte der Fettwanst.

»Außer Muschis.« Wieder schüttelten sich die beiden vor Lachen.

»Das Feuer kommt mit dem Wind. Von da. Ist schätzungsweise noch dreißig Meilen entfernt. Die totale Walze.«

Der Fettwanst starrte sie an. Sein Blick war jetzt ernst. »Wir haben alles im Griff«, sagte er. »Und ihr? Bei uns ist alles paletti. Hier, trinkt mal ein Schlückchen.« Er zeigte auf Wynn. »Hey, Großer, wie heißt du?«

»Wynn.«

»Der da ist der Fiese, oder?«, sagte der Fettwanst und nickte in Richtung Jack. »Wie heißt er denn? Pooh? Ha, ha.«

Wynn wusste nicht, wie er reagieren sollte. Jack sah die beiden an. »Vielleicht solltet ihr mal irgendwo rauf und einen Blick nach da riskieren.« Er deutete zur anderen Seite des Sees. Dass einer von beiden auf einen Baum oder einen Hügel steigen würde, glaubte er allerdings nicht. Er winkte und wünschte ihnen aus reiner Höflichkeit viel Glück. Dann stiegen er und Wynn in ihr Kanu und fuhren los.

~~~

Drei Tage, nachdem sie den Brand entdeckt hatten, paddelten sie am östlichen Ufer eines Sees namens Blueberries, so stand es zumindest in der Landkarte. Seltsamer Name, keine Chance, ihn so auszusprechen, dass es gut klang. Blueberries Lake. Sie hielten sich nah am Ufer, denn es wehte ein starker Wind, direkt aus West, und rüttelte sie heftig durch. Überhaupt war es ein merkwürdiger Vormittag: erst dieser starke Frost, der sich lange hielt, und dann dieser Wind, der eine dunkle Welle nach der anderen gegen das Kanu trieb. Die Gischt klatschte ihnen seitlich ins Gesicht, und die Wellen schwappten über den Bootsrand. Irgendwann beschlossen sie, sich auf einen Kiesstrand gleiten zu lassen. Dort knöpften sie die Spritzdecke auf das offene Kanu. Dann war da aber auch noch dieser dichte Nebel, der sich trotz des starken Windes hielt. So etwas hatten sie noch nie gesehen.

Sie paddelten dicht am Ufer entlang, als sie die Schreie hörten. Erst dachten sie, es wären Vögel oder Wölfe, konnten es nicht einordnen. Wie schon bei dem Feuer rechneten sie einfach nicht damit. Menschliche Stimmen waren das Letzte, was sie erwarteten. Und doch schrie da ein Mann, und eine Frau hielt mit schriller Stimme dagegen. Die Schreie wurden vom Wind verweht. Wynn stellte den Bug leicht quer und machte ein Zeichen mit dem Paddel, aber nur kurz, denn sie mussten ein gewisses Tempo halten, sonst würden sie kentern. Seine Geste war eine Frage: Sollen wir anhalten?

Als sie vor einer Stunde angelandet waren, um die Spritzdecke anzubringen, wäre das beinahe schiefgegangen. Wynn war der Schwerere von beiden, und dass er vorne saß, hatte ihnen im Wind geholfen. Doch als sie von einer Welle Richtung Ufer getragen wurden, waren sie in die Felsen gekracht, die glücklicherweise glatt gewesen waren; wäre es Kalkschiefer gewesen, hätte es das Boot zerlegt. Ein riskantes Manöver.

Sie konnten nicht verstehen, was die beiden sagten. Die Frau klang zwar wütend, aber der Mann nicht bedrohlich, sondern nur aufgebracht. Jack schüttelte den Kopf. Ein Paar wollte zu Hause seine Privatsphäre, warum sollte das hier anders sein? Sie konnten die beiden nicht sehen, ja, nicht einmal das Ufer erkennen, nur Andeutungen von Bäumen ab und zu, einen Schatten im aufreißenden Nebel, eine dunkle Wand, von der sie wussten, dass es der Wald war. Also paddelten sie weiter.

1

Beide liebten es, im Sturm unterwegs zu sein. Wenn die Spritzdecke das Kanu versiegelte, fühlten sie sich sicher, zumindest solange sie nicht seitlich ausbrachen. Zügig paddelten sie weg von den Schatten und Geräuschen des Ufers. Welchen Kurs sie nahmen war zweitrangig, Hauptsache, die Wellen trafen sie backbord. Schwere See konnten sie verkraften, aber landauswärts zu kentern würde ihren sicheren Tod bedeuten, also passten sie höllisch auf, dass sie sich in einem bestimmten Winkel durch die Schaumkronen kämpften. Beide knieten im Boot, damit der Schwerpunkt tiefer lag, auch wenn das an ihren Kräften zehrte. Dann plötzlich flaute der Wind ab, als hätte ihm jemand den Saft abgedreht. Keine halbe Stunde später war der See wieder glatt, und sie fühlten sich, als schwebten sie durch den Nebel. Wie unter einer Wolkenglocke glitten sie dahin, die Sicht begrenzt auf wenige Meter. Der blasse Nebel zog in Fetzen vorbei wie störrischer Rauch. Am Rumpf säuselte das Wasser, das einen silbrigen Glanz hatte, der Wynn an Kunstseide erinnerte. Es war alles wie im Traum. Er musste an den Roman von Poe denken, in dem Schiffbrüchige auf den Südpol zutrieben und es immer wärmer wurde, immer ruhiger.

Wynn stellte das Paddeln ein. Da er vorne saß, bestimmte er das Tempo, und so hörte auch Jack auf und sie trieben dahin. Das Boot war aus glattem Kevlar, rund sechs Meter lang, und durch den V-förmigen Boden an Heck und Bug glitt es schnurgerade durchs Wasser. Es hatte etwas Befriedigendes, wenn man das Paddeln einstellte. Es war, wie wenn ein Schwarm von Enten alle auf einmal das Flattern einstellten und mit ausgebreiteten Flügeln über die Bäume hinwegsegelten.

»Das war schräg«, sagte Jack.

»So was von. Was genau meinst du?«

»Alles«, sagte Jack. Er legte das Paddel quer über die Spritzdecke und zog eine Dose Skoal aus der Brusttasche seines Hemdes. Er war klatschnass, trotzdem trug er beim Paddeln nie eine Regenjacke. Vom Schwitzen werde er genauso nass, sagte er immer, selbst in diesem atmungsaktiven Zeug. Auch Insektenschutz benutzte er prinzipiell nicht. Er steckte sich eine Prise Kautabak hinter die Lippe. »Als da wäre: Wind und Nebel zur gleichen Zeit. Dann der Frost. Diese plötzliche Ruhe. Die Schreie. Und jetzt das. Ist schon extrem schräg.«

Wynn sagte nichts. Noch immer glitten sie dahin, und diese nahezu absolute Stille hatte etwas Sakrales. Er hielt einen Finger in das dunkle Wasser, das kalt war, vielleicht vier oder fünf Grad. Sein Finger erzeugte eine kleine, V-förmige Kielspur. Es war der einzige sichere Hinweis darauf, dass sie sich bewegten. »Ich musste gerade an eine Geschichte von Poe denken«, sagte er schließlich. »Arthur Gordon Pym.«

»Ja, genau«, sagte Jack und spuckte. »Wer die wohl waren? Klang wie ein Paar.«

»Vielleicht sehen wir sie ja wieder.«

»Besser nicht. Trotzdem habe mich die ganze Zeit gefragt, ob wir nicht hätten anhalten sollen.«

»Um sie vor dem Feuer zu warnen?«

»Ja.«

»War zu riskant«, sagte Wynn. Er meinte das Anlegen. Der Strand hätte auch zerklüfteter Kalkstein sein können. Schließlich hieß jedes zugängliche Ufer, das sanft ins Wasser abfiel, Strand.

»Vielleicht hätten wir doch anhalten und grüßen sollen.«

Sie trieben weiter. »Mittagessen?«, fragte Wynn.

»Ja, gern. Die Spritzdecke brauchen wir ja nicht mehr.«

Sie knöpften das Verdeck los. Jack kramte im Packsack und zog ein Stück kräftigen Cheddar, eine trockene Dauerwurst und einen Ziploc-Beutel mit halbzerbröselten Triscuits heraus. Er richtete sich wieder auf. In dem wiederverschließbaren Beutel war auch ein kleines Brettchen. Er klappte sein Messer auf, legte sich das Brettchen auf die Knie und schnitt Käse und Wurst auf.

~~~

Sie waren enge Freunde, studierten in Dartmouth und hatten sich den Sommer und Herbst freigenommen. Den ganzen Juni und Juli hatten sie als Outdoor Guides in einem Survival Camp in den Adirondacks gejobbt und dann beschlossen, die Hälfte ihrer Ersparnisse für einen Hin- und Rückflug zum Fluss auf den Kopf zu hauen. Keiner von beiden war in einer festen Beziehung. Jack hatte im Frühling mit seiner Highschoolfreundin Schluss gemacht. Sie wohnte im Frasertal, Colorado, in der Nähe von Granby, wo Jacks Familie eine kleine Farm hatte.

Wynn hatte seit der elften Klasse in der Putney School in Vermont keine Freundin mehr gehabt. Die Putney School war ein schickes Internat, aber da seine Familie nur drei Meilen entfernt wohnte, ging er nur tagsüber hin. Er war mit der Tochter eines Filmstars zusammen gewesen, für die er ein Naturbursche gewesen war, etwas Exotisches. Jack hatte er erzählt, ihm sei klargeworden, dass die Sache keine Zukunft hatte, als er in den Frühjahrsferien mit zu ihr nach Malibu geflogen war, alle an einem normalen Wochentag brunchen gegangen waren, die Filmstarmutter und ihre Tochter Eggs Florentine bestellt hatten und er gefragt hatte, was das sei. Beide hatten ihn angestarrt, und die Mutter hatte gesagt: »Wynn, das ist wie Eggs Benedict, nur mit Spinat statt Schinken.« Sie hatte ihre Brille hochgeschoben. »Eggs Benedict?«, hatte sie gefragt. »Ja? Nein?« Dann hatten beide gelacht, und Keri hatte ihm die Schulter getätschelt. Natürlich hatte er gewusst, was Eggs Benedict waren, daher war das Tätscheln so, als hätte sie dort ein Brandeisen angesetzt. Noch am selben Nachmittag hatte er sein Ticket umgebucht und war nach Hause geflogen. Es war sowieso Sirupsaison gewesen, seine Lieblingszeit des Jahres, und er hatte seinem Vater geholfen, in der kleinen Zuckerhütte am Sawyer Brook Ahornsaft zu Sirup zu kochen.

Manchmal hatten sie die ganze Nacht über gekocht. Am frühen Morgen hatte die Sonne die Schneeflecken in ein rötliches Licht getaucht, der Wind hatte an den trockenen Blättern der Eichen und den kahlen Ästen der Ahornbäume gerüttelt, und er hatte dem Rauschen des Schmelzwasserbachs gelauscht, dem Zwitschern der Kleiber. Unter der länglichen Pfanne mit dem klaren Ahornsaft hatte das Feuer geknistert. Sein Vater und er hatten nicht viel geredet, aber er hatte genügend Romane gelesen, um zu ahnen, dass es vermutlich die schönste Zeit war, die er und sein Vater je miteinander verbringen würden.

Unterdessen hatte er versucht, über seine unglückliche Liebe hinwegzukommen, und er hatte genügend Zeit gehabt, um sich darüber klarzuwerden, dass er im Grunde genauso seicht und opportunistisch gewesen war wie sie: Sie war scharf darauf gewesen, sich einen Naturburschen aus der Gegend zu angeln, der Flanellhemden trug, der Fische fangen und Holz hacken konnte und für den eine Nacht unter dem Sternenhimmel so gemütlich war wie für sie eine Nacht in einer Fünf-Sterne-Suite. Und er wiederum war scharf darauf gewesen, die Tochter eines Filmstars zu daten, die auftrat, als gehöre sie einer anderen Spezies an. Tatsächlich war sie lediglich ein junges Mädchen gewesen, das weit weg von zu Hause vermutlich Angst gehabt hatte, und er war wesentlich gebildeter gewesen, als er hatte durchscheinen lassen, hatte mehr Stunden in den Kunstmuseen von Boston und New York verbracht, als er hatte zugeben wollen. Er hatte einfach nur noch nie Eggs Florentine gegessen.

Eines Morgens, auf einem Spaziergang im Ahornwald von Dusty Ridge, war er zu dem Schluss gelangt, dass er und Keri nie richtige Freunde geworden waren und auch nie miteinander gelacht hatten. Eigentlich traurig.

Jacks Geschichte war simpler. Er kannte Cheryl seit der zweiten Klasse, als ihr Vater ins Tal gezogen war, um die Stelle des Polizeichefs anzutreten. Sie waren beste Freunde gewesen. Und nun wollte sie heiraten und Kinder haben, und ihm war klargeworden, dass sie ein herzensguter Mensch war und er sich jetzt schon mit ihr langweilte. Er hatte ihr den »Liebe Jill«-Brief im Mai geschrieben und es wirklich so gemeint, als er seiner Hoffnung Ausdruck gab, sie könnten Freunde fürs Leben bleiben.

Jack und Wynn hatten also beide turbulente Zeiten hinter sich, und vielleicht war in beiden eine wunde Stelle zurückgeblieben. Wynn würde jedenfalls nie zugeben, dass er tatsächlich verliebt gewesen war und Keris Spott ihn zutiefst getroffen hatte; und dass er in den ersten beiden Collegejahren vielleicht deshalb niemanden gedatet hatte, weil er immer noch seine Wunde leckte.

Sie trieben weiter dahin. Jack schnitt so lange Käse und Wurst herunter, bis nichts mehr übrig war. Sie aßen wie die Wölfe. Ein Kanutrip hatte den Vorteil, dass man sich beim Essen nicht zurückhalten musste. Sie hatten so viel Proviant in die zwei rund einen Meter hohen Plastikfässer gestopft, dass es auch dann noch reichen würde, wenn sie keinen einzigen Fisch fingen.

»Die wollen bestimmt auch nach Wapahk«, sagte Jack. Das war auch ihr Plan: den letzten See überqueren, dann zwei Wochen auf dem Fluss und dann in dem kleinen Dorf an der Mündung in die Hudson Bay an Land gehen.

»Oder sie paddeln nur ein bisschen auf den Seen hier herum und lassen sich ausfliegen. Sie und die beiden Trunkenbolde.«

Auch über die beiden hatten sie nachgedacht, allerdings ohne es laut auszusprechen. Jetzt, da sich ein Waldbrand auf sie zubewegte, wäre es am sichersten, sich vom Blueberries Lake ausfliegen zu lassen. Ein Schwimmerflugzeug hatte sie auf dem ersten See abgesetzt, ein Schwimmerflugzeug konnte sie auch wieder abholen. Heute Abend oder spätestens morgen Vormittag würden sie den Abfluss erreichen. Und wenn sie den See erst einmal hinter sich gelassen hatten und in die Stromschnellen hineinpaddelten, die zum Maskwa River wurden, würde es kein Zurück mehr geben. Sie würden sich durch den Trichter aus reißendem Wasser hineinziehen lassen, und dann würde ihnen nichts anderes übrigbleiben, als den ganzen Weg bis zur Hudson Bay zurückzulegen. An dem langen, schmalen Fluss gab es bis kurz vor der Mündung in die Bucht nirgends eine Stelle, an der ein Flugzeug landen konnte. Auf dem See zu bleiben hatte aber keinen Sinn, weil sie kein Funkgerät oder Satellitentelefon hatten, um sich mit dem Flugplatz von Pickle Lake in Verbindung zu setzen – oder sonst einem Flugplatz oder überhaupt mit irgendwem, falls sie Hilfe brauchen sollten. Sie hatten bei der Planung des Trips darüber gesprochen und waren zu dem Schluss gelangt, dass die modernen Kommunikationsmittel jegliches Abenteuer zunichtemachten. Außerdem konnten sie sich ein Satellitentelefon nicht leisten.

Sie trieben im Nebel. Jede leichte Brise aus Nordwest trug den beißenden Geruch heran, der so anders war als der Duft eines Kaminfeuers, der ihnen aus ihrer Heimat so vertraut war. Es roch verbrannter, irgendwie dunkler.

»Vielleicht haben die ja ein Satellitentelefon«, sagte Wynn. Sie trieben weiter.

»Findest du, wir sollten abbrechen?«

Wynn zuckte mit den Schultern.

Seit sie sich vor zwei Jahren kennengelernt hatten, waren sie auf unzähligen Flüssen gepaddelt und hatten etliche Berge bestiegen. Mal hatte der eine mehr Lust auf Nervenkitzel, mal der andere. Stets wahrten sie die feine, aber klare Balance zwischen Risiko und Vorsicht, mit wechselnden Rollen, was sie zu einem guten Team machte. Jack würde seinen Freund nie respektlos behandeln, indem er seine Sorgen kleinredete. Er sagte: »War ein ziemlicher Aufwand bis hierher, oder?«

»Ja.«

»Andererseits will man sich auch nicht von einer Feuerwalze plattmachen lassen.«

»Nee.«

»Lust auf ’nen Schokoriegel?«

»Immer.«

Die Brise von links war so leicht, dass sie auf Ohren und Wange kaum zu spüren war. Trotzdem schob sie den Nebel über das Wasser, so zeitlos träge, als würde dieser Nebel ewig währen. Allerdings schien es heller zu werden.

»Wenn dieses Paar sich nicht abholen lässt und wie wir den Fluss runterfahren will, dann sollten wir sie vor dem Feuer warnen«, sagte Wynn. Er gab Jack eine Verpackung, der sie zusammenknüllte und in eine Netztasche stopfte. Sie würden die Verpackungen heute Abend verbrennen. »Jeder, der den Fluss runterwill, muss sich sputen.«

Jack blies die Backen auf. »Aber wir würden einen halben Tag verlieren.« Er zog sein Paddel unter der Bugspitze hervor.

»Ja.«

»Na, dann mal los.«

Sie drehten das Kanu gegen den leichten Widerstand des falschen Kiels, drehten es auf dem glatten Wasser, als wäre es eine Spindel, richteten es aus und paddelten los. Dahin zurück, woher sie gekommen waren. Weil ihnen der Wind und die Wellen nicht mehr die Richtung vorgaben, hatte Jack den Kompass ausgepackt und hielt Kurs auf 170 Grad. So paddelten sie zurück in den Dunst, um die anderen zu warnen.

~~~

Der Nebel löste sich doch noch auf. Es wurde heller, und als hätte es den Dunst nie gegeben, verflüchtigte er sich zu einem frischen Morgen. Plötzlich war der Himmel wolkenlos und herbstlich blau. Die Luft war so klar, dass sie wie ein Vergrößerungsglas wirkte: Jeder Birkenstamm hob sich deutlich ab vom Hintergrund der Lärchen und Fichten, die Spitzen der Äste waren wie gelber Tupfer, und die Nadeln hatten die Farben von herbstlichem Gras. Die rosaroten Weidenröschen am Ufer traten hervor wie auf einem Gemälde. Es war, als hätte sich der Sommer über Nacht dem Herbst gefügt. Wunderschön, und gleichzeitig erschreckend. Der Part mit dem Wildwasser lag noch vor ihnen, und er wäre wesentlich leichter zu bewältigen, wenn der warme Spätsommer sich noch eine Weile halten würde. Sie hatten Neoprenanzüge dabei, aber sie hatten auch schon von Expeditionen gehört, die von frühem Schnee oder Kälte überrascht worden waren, sogar Tote hatte es gegeben. Zum Beispiel bei einem berühmt gewordenen Kanutrip auf dem Dubawnt River. Sechs Männern aus Dartmouth waren im Jahr 1955 auf dem Fluss unterwegs gewesen, als der Anführer namens Art Moffatt bei eiskaltem Wetter durch eine Stromschnelle geschwommen und gestorben war. Dort oben im Norden konnte man unmöglich voraussagen, wann die Jahreszeiten wechselten. Ihr Zeitfenster hatten sie so gelegt, dass sie eine möglichst große Chance auf niedrige Wasserstände und warme Tage hatten; außerdem hatten sie ihre Jobs gehabt.

Sie paddelten. Jack summte. Wie meistens beim Paddeln alte Countrysongs, die sein Vater ihm immer vorgesungen hatte, wie »Streets of Laredo«, »Little Joe the Wrangler« und »Barbara Allen«. Auch Sky Ferreira, Drake und Solange; Wynn wusste das große Repertoire zu schätzen.

Einige Tage zuvor waren sie zwischen zwei Inseln auf dem Lake Sorrow gepaddelt. Wynn hatte vorne gesessen und im Wasser etwas gesichtet. Etwas Großes, das eine Kielspur wie von einem kleinen Boot erzeugt hatte. Er sah näher hin. Was immer es war, es hielt auf die Insel zu, auf der sie ihr Zelt errichten wollten. Jack summte und sang »Guantanamera« in der Version von Jean Wykclef: »I’m standing at the bar with a Cuban cigar ... Hey, yo, I think she’s eyeing me from afar ...« Wynn kniff die Augen zusammen und sah das Geweih eines Elchs. Ein riesiges Geweih, wie selbst von weitem erkennbar war. Zwei Meilen vom nächsten Ufer entfernt. Sie würden die kleine Insel mit einem amphibisch begabten Elchbullen teilen müssen. Wenigstens war noch keine Brunftzeit. »Hey, Jack, schau dir das an. Wahnsinn.« Er wusste nicht, warum er flüsterte. Jack summte weiter, hing irgendeinem Tagtraum nach. »Hey.« Summen, Gemurmel, ein Stück Rap. »Hey! Alter!« Verdutzt drehte Jack sich um.

»Ist dir klar, dass du schon den ganzen Tag summst?«

»Echt?«

»Ja. Außerdem kriegen wir Gesellschaft.« Wynn deutete mit dem Paddel nach vorne.

»Fuck, ist das ein Elch?« Jack lachte. »Schade, dass wir dem Burschen kein Geschirr anlegen können wie einem Rentier. Der schwimmt ja schneller als die Polizei erlaubt. Bestimmt vier Knoten.«

Sie beschlossen, trotzdem auf der Insel zu zelten, und hatten in dieser Nacht auch kein WG-Problem. In einer Bucht im Süden wuchsen Wasserlinsen. Sie hatten sich leise angeschlichen und dem Elch beim Fressen zugesehen. Kurz bevor es endgültig dunkel wurde, hatten sie am Lagerfeuer gesessen und einen späten Kaffee getrunken. Jack hatte leise gepfiffen, und Wynn hatte sich umgedreht. Der Elch hatte verloren am Waldrand gestanden, als hätte er sich gern zu ihnen gesellt. Offensichtlich hatte er noch nie einen Menschen gesehen.

Jetzt, wo der Nebel sich gelichtet hatte und die Luft klar und kalt war, dachten sie, sie würden das Camp des Paars schnell ausfindig machen, aber dem war nicht so. Sie fragten sich, ob es vielleicht mehr als zwei Personen gewesen waren. Vielleicht hatte ja auch eine ganze Expedition dort gezeltet, und sie hatten einfach nur eines der Pärchen am Strand streiten hören. Vielleicht hatten der Mann und die Frau sich nur von der Gruppe entfernt, um ihren Zwist auszutragen. Andererseits hätte es dann noch einfacher sein müssen, die bunten Zelte auszumachen, oder den Kanutross auf dem Weg nach Norden, wo der See sich in den Fluss ergoss. Aber es war nicht so. Sie sahen niemanden.

Was sie sahen, waren Flickenteppiche aus hellen Weidenröschen und hohe Baumreihen, seichte Buchten mit steinübersäten Stränden, manchmal umsäumt von hohem, gelbbraunem Gras. Felsige Nischen mit umgeknickten Fichten, bleich wie Knochen auf schwarzem Gestein, und zwischen den Felsen Pflanzen, die sie als Blaubeeren erkannten.

Sollten sie versucht sein, einen Halt einzulegen, um die Blaubeeren zu pflücken, sagten sie es nicht. Sie fühlten sich jetzt unter Druck. Wenn sie fast einen Monat länger Puffer eingeplant hatten, um die Seen zu überqueren und den Fluss zu befahren, dann weil ihre Reise kein fixes Ankunftsdatum haben sollte. Auch den Tag für den Flug heraus aus Wapahk hatten sie offengelassen – sie würden anrufen, sobald sie in dem Dorf ankämen – und sie hatten es locker angehen lassen wollen, auch mal nicht den ganzen Tag paddeln, wenn ihnen nicht danach war. Zwischenstopps einzulegen, um zu wandern oder zu jagen, wenn sie Lust dazu hatten, Beeren zu sammeln und einfach zu chillen, Pfeife zu rauchen und es sich gemütlich zu machen wie Huck Finn oder Stubb. Das Pfeiferauchen war zwar ein Anachronismus, aber sie liebten es, sich zurückzulehnen und Vanilletabak zu paffen, dann fühlten sie sich wie Forschungsreisende aus alten Zeiten. Sie hatten es kaum erwarten können, sich tief in die Wildnis zu begeben, ohne sich von einem enggesteckten Reiseplan gängeln zu lassen. Sogar ihre Uhren hatten sie zu Hause gelassen, wollten sich der Sonne und den Sternen anvertrauen, wenn sie zu sehen waren, und ihrem Biorhythmus, wenn nicht. Auf früheren Touren hatten sie oft hetzen müssen, weil sie neben dem Studium gejobbt hatten und ihnen kaum Zeit geblieben war. Sie hatten ausprobieren wollen, wie es sich anfühlte, wenn man tatsächlich in der Wildnis lebte, und sei es nur für ein paar Wochen. Und jetzt war plötzlich alles anders. Das Feuer, das sie entdeckt hatten, und der frühe Frost hatten alles verändert.

Sie paddelten zurück, auf einem Kurs von hundertsiebzig Grad, der sie etwas näher ans Ufer heranführte. Umso verwunderlicher war es, dass sie keinerlei Zeichen für ein Camp sahen und keinem anderen Kanu begegneten. An einem kleinen Nebenfluss, der sich über einen etwas breiteren Strand schlängelte, legten sie einen Halt ein, um ein Lagerfeuer zu machen, einen Tee zu trinken und über alles nachzudenken. Normalerweise hätten sie in dem kleinen Seitentümpel geangelt, doch diesmal nicht. Dessen Wasser war dunkler als das des Sees, der im Licht des frühen Nachmittags von opakem Grün gewesen war. Der Bach war wegen der Tannine braun gefärbt, und oft schon hatten sie in einem solchen Zufluss Saiblinge erwischt, doch keiner von ihnen holte seine Angelrute heraus.

Brennmaterial gab es zur Genüge. Sie befanden sich am windabgewandten Ufer, und am steinigen Strand türmte sich auf Höhe der Gezeitenlinie Treibholz. Da lagen Gerippe von Tannen, die längst einen glatten, silbrigen Glanz angenommen hatten, Überreste von Birken, die vor sich hin moderten, noch immer umhüllt von ihrer Haut aus pulvrig weißer Rinde. Kleinere Stöcke verwitterten, zu Stapeln gehäuft, in der Sonne, und wenn Jack sie über dem Knie zerbrach, knallte es wie ein Schuss. Er sammelte einen kleinen Stapel zusammen, während Wynn mit Gummistiefeln im Wasser stand und mit seinem Fernglas das Ufer und das jadegrüne Wasser absuchte. Jack war aufgefallen, dass Wynn das ziemlich oft tat – bis fast zu den Knien im Wasser zu stehen, wo er doch genauso gut am Ufer bleiben könnte –, und es amüsierte ihn. So wie Jack sich gerne Risiken aussetzte, watete Wynn gern ins Wasser. Selbst chaotisches Wildwasser scheute er nicht; vielmehr weckte es seine Lebensgeister. Das Gleiche galt fürs Angeln: Jack angelte gern vom trockenen Bug eines Ruderboots aus, während Wynn lieber hüfttief in einer starken Strömung watete. Jack führte es auf die Landschaften, in denen sie jeweils aufgewachsen waren: er mitten in den Rocky Mountains, wo er sich nach wie vor am wohlsten fühlte, mit ihren hohen Wüsten und noch höheren Gipfeln. Wynns Welt war ein Land der Bäche und Flüsse, der Teiche und Seen; eine Welt des Wassers.

Wynn richtete das Fernglas auf das nördliche Ufer und stellte scharf. Die Schneise, durch die der See abfloss, konnte er nicht erkennen, aber er hatte auf der Landkarte gesehen, wo sie war. Sie lag neben dem Buckel einer Eismoräne, einem in Urzeiten zusammengewürfelten Felsenhaufen, der durch das Moos und die Bäume flacher wirkte. Am Morgen waren sie schon fast dort angekommen, und nun waren sie wieder fünf Meilen entfernt. Dort entsprang also der Fluss, und anderthalb Meilen später setzten bereits die ersten großen Gefälle ein, eine stufige Stromschnelle, die letztes Jahr vier Kanuten das Leben gekostet hatte, weil sie die zwingende Vorschrift, sich rechts zu halten, missachtet hatten. Das Wasser war reißend, und das linke Ufer ein einziger steiler Felsen, wo man nirgends an Land gehen konnte. Nicht umsonst wurde bei jeder Beschreibung des Flusses dringend angeraten, auf der ersten Meile nach dem See so weit rechts wie irgend möglich zu fahren.

Zwei Gänsesäger flatterten durch Wynns Blickfeld, flogen in hohem Tempo südwärts. Er spähte nach Osten, wo er einen kreisenden Raubvogel erspähte; er folgte seiner Flugbahn, sah es weiß aufblitzen. Ein Weißkopfseeadler auf der Jagd, da war er sich sicher.

Aber nirgendwo ein Kanu. Wynn gab auf, und Jack wusste, was er als Nächstes tun würde. Und so war es auch. Er legte das Fernglas auf einem Felsen ab, damit es nicht an ihm herumbaumelte, ging in die Hocke und suchte den Strand ab. Dann trug er Steine zusammen, aber nicht nur Steine, sondern auch Stöcke und zwei Federn, vermutlich von einem Fischadler und einer Krähe. Er bildete zwei Stapel oder vielmehr Grabhügel, hob um sie herum Wassergräben aus, und legte die Federn hinein, als wären sie Bötchen. »Langschiffe«, murmelte er zu sich selbst, aber Jack hörte ihn. »Wie ein Wikingerbegräbnis.« So wie Jack oft summte, sprach Wynn häufig mit sich selbst, besonders wenn er vor sich hin werkelte. So nannte es zumindest Jack. Wynn hatte ein Faible für Goldsworthy, den Umweltbildhauer, und war ein großer Bewunderer von vergänglicher Kunst und ihrer Ethik, von buddhistischen Sandzeichnungen bis hin zu den Monden von Jay Mead. Das Ego loslassen: Die Reinheit einer Schöpfung, die innerhalb von Stunden oder Tagen spurlos verschwand. Ein Statement zu Besitz und zur Vergänglichkeit aller Dinge. Die extravaganten Verhüllungen von Christo beeindruckten ihn weit weniger, die fand er eher großkotzig.

Wie Wynn da am Ufer in der Hocke saß, erinnerte Jack ein bisschen an einen Jungen mit Eimer und Schaufel am Strand. Wynn ging vollständig in seinem Tun auf, war glücklich. »Wirst du tatsächlich nie ein Foto machen?«

Wynn hob den Kopf, zuckte mit den Schultern. Er grinste verlegen, wie jemand, den man dabei ertappte, dass er mit einem Backenhörnchen sprach.

Jack machte ein Lagerfeuer. Es züngelte auf, loderte. Er tauchte den Topf ins Wasser. Dann legte er zwei flache Steine um die Flammen, harkte Kohlestückchen und brennendes Geäst in die Lücke dazwischen und stellte den Topf darüber. Es dauerte nicht lang und das Wasser kochte. Er fädelte einen Stock durch den Griff, hievte den Topf hinüber auf einen Felsen und ging zum Kanu, um Tee und braunen Zucker aus einer Plastikbox zu holen, die sie als Tagesrucksack benutzten. Darin waren außerdem zwei Notdecken, wasserfeste Streichhölzer und ganz unten eine Tube Feueranzünder; ein Proviantpaket, Haferflocken und Zucker, Powerriegel, gefriergetrocknete Früchte und ein paar Fertiggerichte; genug, um drei Tage über die Runden zu kommen; ein Signalspiegel und ein schmaler Kompass. Er warf die Teebeutel in den Topf, setzte sich in die Sonne und betrachtete den See.

Es gibt keinen Ort, an dem ich jetzt lieber wäre, dachte er. Aber auch: Etwas stimmt nicht. Er spürte es in seinem Nacken, wo sich ihm die Härchen aufstellten wie zu Hause, wenn in den Never Summer Mountains ein Gewitter drohte; oder in Montana, wenn er einem Bären vor die Nase lief. Er hatte ihn immer schon gehabt, diesen sechsten Sinn – manche Menschen haben ihn einfach –, und er hatte ihm mehr als einmal den Arsch gerettet. Wie damals, mit elf, als seine junge Stute über einem reißenden Fluss auf eine glatte Felsplatte geraten war. Sein Nacken wurde heiß, und er verscheuchte die Erinnerung.

Er amtete tief durch. Der reine Frieden, dachte er. Hinter ihm summten Bienen in den Weidenröschen und Astern. Der Tee zog durch, der See war spiegelglatt, und die Sonne stand weiß über dem Wald und wärmte das steinige Ufer. Seine Kleidung war fast trocken. Sein bester Freund saß nur zehn Meter entfernt und war genauso glücklich wie er. Schöner konnte es gar nicht sein. Wie er sich selbst gern sagte.

Im Westen waren keine Rauchwolken mehr zu sehen, der Wind musste gedreht haben. Und hier wehte allenfalls eine unmerkliche Brise, der blasse Rauch des Feuers stieg nahezu senkrecht auf, wurde dünner und verflog, bevor er die Spitzen der Fichten erreichte. Doch sein sechster Sinn ließ ihm keine Ruhe. Sie müssten eigentlich ganz in der Nähe der Stelle sein, an der sie das Geschrei gehört hatten. Aber da war nichts, rein gar nichts.

Er goss Tee in die Chrombecher, gab in seinen etwas Zucker hinein, rührte mit einem Zweig um. Obwohl er gemütlich auf seinem Holzblock saß, konnte er sich nicht entspannen. Was eben noch purer Spaß gewesen war, fühlte sich nun unheimlich an. Aber nicht wie eine Bedrohung von der Sorte »Der Herbst kommt dieses Jahr früh, wir sollten uns lieber beeilen« oder »Im Nordwesten wütet ein verdammt großes Feuer, wir sollten das Tempo etwas anziehen«: An solche Wendungen war er gewöhnt. Wenn man auf einer Farm aufwuchs, hatte man fast täglich mit solchen Dingen zu tun. Daher hatte er gelernt, sie irgendwo in seiner Psyche abzulegen, wo sie sein allgemeines Wohlbefinden nicht störten. Leben bedeutete, geistig flexibel zu sein und sich schnell anzupassen. Aber das hier war etwas anderes. Das Prickeln auf seiner Haut bedeutete, dass sie konkret in Gefahr waren, dass sie von etwas bedroht wurden, was er nicht benennen konnte.

»Hey«, sagte er. »Klingeling. Der Tee ist fertig.«

Wynn richtete sich auf und ergriff das Fernglas. Er stapfte zum Lagerfeuer und setzte sich auf den Baumstamm. Jack reichte ihm seine Tasse. »Merkwürdig«, sagte Wynn. »Ich habe das ganze Ufer abgesucht. Was wir da gehört haben, war das vielleicht nur der Wind?«

»Was? Der Wind soll ›Das ist verdammt noch mal meine Tour. Und meine Zeit!‹ geschrien haben? Zumindest habe ich das so gehört.«

»Ja, ich auch. Genau das hat sie geschrien. Und er: ›So ein Quatsch! Mir reicht’s! Das war das letzte Mal!‹«

»Was ist der Plan?« Sie hatten bereits über zehn Meilen zurückgelegt.

»Was meinst du?«

»Tja.« Jack starrte auf die Steine zwischen seinen Füßen und bewegte seinen Kiefer hin und her, wie immer, wenn er angestrengt nachdachte. »Vielleicht sind sie im Nebel an uns vorbeigepaddelt. Ist aber eher unwahrscheinlich, oder?«

Sie waren beide außergewöhnlich gute Paddler, und am Morgen hatten sie alles rausgehauen, was sie draufhatten.

»Vielleicht haben sie ja auch so einen Elektromotor und einen Sonnenkollektor wie diese beiden Schwachköpfe.«

»Könnte durchaus sein«, sagte Jack. »Manchen Leuten geht’s halt nur darum, möglichst rasch über den See zu kommen.«

»Irre. Wieso bleiben die nicht einfach zu Hause und tuckern ein bisschen in der Gegend herum?« Wynn war der größere Purist von beiden. Jack hatte sich an diesem Morgen mehrmals bei dem Gedanken ertappt, dass ein Motor eine coole Sache wäre.

»Ist schon irgendwie komisch. Weiß auch nicht«, sagte Jack.

»Sagt dir das dein Spinnensinn, Peter Parker?«

»Ja.«

»Mist!« Wynn zuckte mit seiner Tasse und verschüttete etwas Tee. »Es ist immer das Gleiche.« Er drehte den Deckel seiner Tasse ab und pustete auf den siedend heißen Tee. »Hab mir die Zunge verbrannt.«

Jack hörte ihm kaum zu. Er hatte noch immer mit seiner Vorahnung zu kämpfen. »Wer immer das war, wir haben jedenfalls unsere Pflicht getan. Wir haben versucht, sie zu warnen.«

Jack wollte vermeiden, dass ihre Tour von etwas überschattet wurde; es gab nichts Schlimmeres auf einer Expedition als einen notorischen Schwarzseher. Jetzt wünschte er sich, sie hätten die Leute gefunden, wer immer sie waren, und diese Leute hätten ein Satellitentelefon dabei und könnten Pickle Lake anrufen. Vielleicht nicht gleich, um ein Flugzeug zu bestellen, aber zumindest um neueste Informationen über das Feuer einzuholen, das garantiert vom Katastrophenschutz überwacht wurde.

Jedenfalls hatte er gelernt, dass er das Sträuben seiner Nackenhärchen, seine Gänsehaut nicht ignorieren durfte. Es war wie das Schrillen einer Alarmglocke irgendwo tief in seinem Schädel, das er nur hören konnte, wenn er darauf achtete. Fakt war allerdings, dass sie selbst kein Satellitentelefon dabeihatten, dass das Paar spurlos verschwunden war und dass die Fahrt den Fluss hinunter daher beschlossene Sache war. Es erwarteten sie zwei Wochen starke Strömung und Portagen dort, wo die Stromschnellen zu reißend wurden. Also sagte er nichts, hielt diesmal seinen Mund.

»Sollen wir hier zelten?«, fragte Wynn. »Dann haben wir morgen jede Menge Zeit, in aller Ruhe zum Abfluss zu paddeln und das Gefälle hinter uns zu bringen.«

»Okay. Hey, Großer?«

»Ja?«

»Nichts.«

Wynn stellte seinen Tee ab und betrachtete seinen Freund von der Seite. Die markanten Wagenknochen unter dem Siebentagebart waren braun gebrannt, die gerade Nase sogar gerötet, die Fältchen um sein nahezu schwarzes Auge spreizten sich wie Krähenfüße und waren blasser als die restliche Haut; sein sehniger Nacken war übersät mit kleinen Sonnenflecken. Die hatte er sich nicht beim Kanukurs in irgendeinem Sommercamp oder beim Besuch der National Outdoor Leadership School geholt. Wynn beneidete ihn. Draußen zu sein, unter den Sternen zu schlafen, auf einem Lagerfeuer zu kochen war für Jack so natürlich wie atmen. Seit er alt genug war, um sich auf dem Rücken einer eingerittenen Stute zu halten, hatte er mit seiner Familie Reittrips unternommen. Wenn er fror, nass oder erschöpft war, schien ihm das nichts anhaben zu können, jedenfalls nicht so wie anderen Menschen. Es machte keinen Spaß, aber um Spaß ging es auch nicht in erster Linie. Das war der Unterschied, dachte Wynn. Dinge wie Kälte oder Hunger hatten keinen Wert an sich, waren nicht gut oder schlecht, sie waren einfach. Es war wünschenswert, dass sie nicht allzu lange anhielten, aber wenn doch, war alles halb so schlimm, Hauptsache, man überlebte. Dadurch besaß Jack eine Stärke und Gelassenheit, die Wynn bewunderte. Jack war fast fünfzehn Zentimeter kleiner als Wynn. Wynn konnte ein Auto aus dem Schlamm ziehen, aber Jack war leichter und schlanker und konnte deshalb schneller rennen. Wynn wusste, dass Jack diese Härte mit der Muttermilch aufgesogen hatte. Wenn Jack sich also Sorgen machte, dann nahm Wynn es ernst.

»Was überlegst du, Cap?«

Jack zuckte mit den Schultern.

»Hast du ein ungutes Gefühl?«

»Ein bisschen vielleicht.«

»Ich auch. Erst das Feuer, dann diese ätzenden Typen. Irgendwie ist dadurch alles komisch geworden. Aber wir haben nicht wirklich eine Wahl, oder?«

Jack sah ihn an. In der hellen Sonne funkelten seine Augen hell und klar. Er mochte sich Sorgen machen, aber es belustigte ihn auch. Wie viel Scheiße sich anhäufen konnte. »Nee, haben wir nicht«, sagte er. »Was auch bedeutet, dass es nichts zu entscheiden gibt.«

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Sie hatten jede Menge Proviant dabei, Schwarzbohnenmehl und Quinoa, Reis, Makkaroni, Linsen, sogar pfundweise Dörrfleisch. Außerdem hatten sie ein paar ausgefallene Fertiggerichte eingepackt, um für Abwechslung zu sorgen. Heute würde es zur Feier des Tages Truthahn à la King geben, eine Art Hühnerfrikassee. Sie aßen es mit Genuss. Wynn mixte Zitronenlimonade und gab einen Schuss Jim Beam aus der Plastikflasche dazu. Es war immer ein erleichterndes Gefühl, wenn man eine Entscheidung durchzog, selbst wenn man keine Wahl hatte.

Sie wussten beide nicht, warum das Gericht Truthahn à la King hieß. Wynn wies darauf hin, dass es französisch zu sein schien und King maskulin war und folglich le King heißen müsste. Jack sagte, à la sei wie au in au gratin, was »gemacht aus« bedeute, also müssten in dem Gericht auch Stücke von dem König drin sein. Jedenfalls sei es sein Lieblingsessen in der Granby Public School gewesen.