Die Lodge - Peter Heller - E-Book

Die Lodge E-Book

Peter Heller

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Kingfisher Lodge bietet exklusives Angeln für wohlhabende Kunden. Jack hofft, mit einem Job bei der Lodge zur Normalität zurückkehren zu können – nach einem jungen, von Verlusten geprägten Leben. Seine Aufgabe besteht darin, die Ausrüstung der Gäste zu tragen und sie zu den besten Forellen zu führen. Doch dann durchdringt ein menschlicher Schrei die Nacht, und Jack ahnt, dass diese idyllische Fischerhütte eine Tarnung für eine weitaus unheimlichere Operation ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 317

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Peter Heller

Die Lodge

RomanAus dem amerikanischen Englischvon Marlene Fleißig

Nagel & Kimche

Zitat siehe hier: Matsuo BashÔ, Hundertelf Haiku.Ausgewählt, übersetzt und mit einem Begleitwort versehenvon Ralph-Rainer Wuthenow. © Ammann Verlag AG, Zürich 1985.Alle Rechte vorbehalten S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.

Titel der Originalausgabe: The Guide

Copyright © 2021 by Peter Heller

First published by Alfred A. Knopf,

a division of Penguin Random House LLC, New York,

and distributed in Canada by Random House of Canada,

a division of Penguin Random House Canada Limited, Toronto.

© der deutschsprachigen Ausgabe: 2022 Nagel & Kimche

in der MG Medien Verlags GmbH, München

Satz: JournalMedia GmbH, München

gesetzt aus der Aldus LT Std

E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-7556-0009-1

Für Pop,

mit seinem Weitblick,

der mich immer zum Lachen gebracht hat.

Prolog

Sie gaben ihm ein Quartier in einer Hütte am Fluss. In einer waldigen Schlucht, Fichten und Kiefern, mit hohen Felsen und ins Wasser stürzendem Geröll.

Jack ließ seinen Rucksack auf die Veranda fallen. Es war ein kühler Nachmittag, die Wolken zogen hoch am Himmel vorüber und warfen ihre Schatten auf die Schlucht. Er sah sich um. Die Hütte lag am Rande einer steilen Böschung im Schatten der Kiefern, das ferne Rauschen des Bachs zog hinauf und wurde vom Wind in den Bäumen fortgetragen. Es war tatsächlich eher ein Bach, auch wenn sie Fluss dazu sagten. Doch so hoch oben war dies seine liebste Art von Wasserläufen: kaum einen Steinwurf breit und stellenweise seicht genug, um von Ufer zu Ufer zu waten.

Er studierte den Rhythmus des Wassers, das sich in einer Linkskurve bog, schäumend an ein paar Felsen brach und dann in ein schwarzes Becken auslief, in dem hier und da flache Steine lagen.

Oberhalb des Beckens konnte er eine Fußgängerbrücke erkennen und einen Fischerpfad, der auf der anderen Seite stromaufwärts führte. Traumhafte Bedingungen fürs Forellenfischen.

Es war eine einfache Hütte, auf der schmalen, überdachten Veranda standen ein Stapel gespaltenes Feuerholz und zwei Korbschaukelstühle. Wie es innen aussah, war ihm nicht so wichtig. Er hätte problemlos den Rest seines Lebens auf der Veranda sitzen und auf diesen Fluss schauen können.

~~~

Die Lodge sei ab dem zwanzigsten August ausgebucht, hatte ihm der Manager gesagt. Sie würden entweder am einunddreißigsten Oktober schließen oder wenn es zu sehr schneite, je nachdem, was zuerst kam. Jack würde einen Angler pro Tag führen, höchstens zwei, aber nicht mehr. Absolutes Luxusangeln. Zweihundert Dollar pro Tag plus Trinkgeld, alle zehn Tage einen Tag frei, es sei denn, er verzichtete darauf. Ein schönes Sümmchen. Weniger, als er auf einem Driftboot auf dem Colorado verdienen konnte, aber dafür inklusive Kost, Logis und …

»Zwei Drinks oder zwei Bier pro Abend. Danach dreht Ginnie dir den Hahn zu. Wir sehen es gerne, wenn die Guides vor dem Abendessen an der Bar sind und mit den Gästen reden, aber nichts ist erbärmlicher als ein Angel-Guide, der einen im Kahn hat, oder?«

Mit diesen Worten trat Kurt Jensen, der Manager der Lodge, auf die Veranda und überreichte Jack eine Karte mit dem Code für das schwere, kunstvoll gestaltete Tor am Ende der Zufahrt. Dicke Stahltüren mit springenden Forellen darauf, die auf zwei riesigen verrosteten Rollen unter dem Knirschen schwerer Ketten und Zahnräder auseinanderruckelten.

»Den brauchst du, wenn du rein oder raus willst.«

»Warum braucht man einen Code, um von innen aufzumachen?«, fragte Jack.

Kurt hatte das Fliegengitter aufgeklappt und stieß die Tür zur Hütte mit der Schulter auf. Er war ein bulliger Kerl, gut ein Meter achtzig groß, mit Cowboyhut und Wollweste. An den Schläfen grau, trübe blaue Augen. Jack schätzte, dass er auf die fünfzig zuging. »Die Tür klemmt«, sagte Kurt. »Ich bringe dir morgen einen Handschleifer.«

»Lass stecken, ich hab eine Flachfeile im Truck, das sollte gehen.«

Sollte Kurt ihn gehört haben, ließ er es sich nicht anmerken. Er war schon reingegangen und nahm den kleinen Innenraum der Blockhütte in Augenschein: zwei kleine Fenster mit zurückgebundenen Spitzenvorhängen, hinten eine Küchenzeile mit Waschbecken und zwei Gasplatten, ein kleines Bad mit Duschkabine und Propandurchlauferhitzer an der Wand. Eine elektrische Heizleiste und in der Ecke ein Holzofen, wohl fürs Ambiente, vermutete Jack. Für Licht sorgten zwei Wandleuchter, nackte Birnen an der Wand hinter Blechen mit Bärenmuster, und eine Leselampe auf einem Nachttisch aus Massivholz. An der Wand bei der Tür hing ein Google-Nest-Thermostat über dem kleinen Schreibtisch. Idyllisch. Auf dem Doppelbett, kaum größer als ein einzelnes, zwei dicke Wolldecken. Perfekt.

Es war recht eng in der Hütte. Jack holte eine Stoffmaske aus der Gesäßtasche und zog sie sich über die Ohren, aber Kurt winkte ab.

»Die wirst du hier nicht brauchen. Die Gäste fühlen sich dann unwohl. Tatsächlich wurde hier jeder außer dir getestet, und Ginnie misst allen, die in die Bar kommen, jeden Abend die Temperatur. Du scheinst mir keiner zu sein, der gern mit vielen Leuten abhängt, deswegen geh ich das Risiko ein.« »Du hast vom Tor gesprochen«, sagte Jack.

»Habe ich das?«

»Ja, warum man einen Code braucht, um es zu öffnen. Also, ich meine, von innen.«

»Damit nicht versehentlich was den Knopf erwischt, ein Kojote oder ein Windstoß. Unser letztes Tor ist ständig von allein aufgegangen, da kamen dann plötzlich alle möglichen Leute rein und haben einfach geangelt. Sind mir nichts dir nichts an allen Häusern vorbei und haben geangelt, bis wir sie verscheucht haben. Unmöglich.«

»Klingt übel«, sagte Jack trocken, doch dem Manager entging der Sarkasmus.

Kurt beendete seine Inspektion und atmete pfeifend aus. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie die Angler hier am Fluss durchdrehen. Die Leute von hier nennen unser Gebiet Milliardärs-Meile. Es ist hier eben so, dass sich private Gewässer mit öffentlichen mischen. Wir, die Taylor River Lodge stromab und noch ein paar andere. Am besten wäre es, sie würden die ganze Schlucht dichtmachen, den Grundbesitzern ein bisschen Frieden gönnen. Du brauchst Streichhölzer für den Holzofen und eine Axt, zum Zündholz spalten.«

»Ich hab alles«, sagte Jack und ließ unerwähnt, dass seine eigene Ranch am Colorado – seine und Pops – zwischen öffentlichen Wassergebieten lag und sie kaum Probleme hatten.

»Okay, gut. Ich helf dir mit deinem Zeug. Um halb sieben gibts Essen. Wenn du früh genug kommst, kannst du Cody, den anderen Guide, kennenlernen. Und deine Kundin für morgen, sie heißt Alison K.«

»K?«

»Eine Prominente. Prominente Gäste verwenden gerne nur ihre Initialen. Albern.«

»Verstehe.« Jack folgte seinem Boss nach draußen und sie gingen den kurzen Weg hinauf zum Parkbereich und Jacks Truck.

»Was ist das für ein Rad?«, fragte Jack, als sie an einem türkisfarbenen Fahrrad ohne Gangschaltung, aber mit Klingel und Korb vorbeikamen, das in einem Fleckchen Sonne stand.

»Oh ja, das. Eins pro Gast. Siehst du, wie weitläufig hier alles ist?«

Kurt streckte seinen Arm Richtung Hügel, wo mehrere Hütten zwischen den Fichten verteilt zu sehen waren. Dann deutete er mit einem Nicken auf die staubige Sandstraße, an deren Ende Jack gerade so das prächtige Blockhaus der Lodge mit dem zugehörigen Forellenteich erkennen konnte. Darum herum hauptsächlich selbstgebaute Steinkamine, niedrige Dachfirste mit breiten Traufen und überdachte Veranden, Schaukelstühle und Hängegeranien. Jack nickte.

»Es gibt hier das Hauptgebäude, die Hütten, ein Poolhaus, ein Massagehäuschen, die Rezeption mit Anglerladen. Und auf dem Gelände ist Autofahren verboten – außer für mich.« Kein Lächeln. Kurt nickte in Richtung seines glänzenden schwarzen Pickups, der auf der Straße parkte. Über dem Laderaum war ein Metallgestell angebracht, daran befestigt eine Leiter, die Ladefläche selbst war mit einer flachen Schiebeabdeckung geschützt. »Mr. Den will es so. Dachte wohl, mit den Fahrrädern würde man sich ein bisschen so fühlen, als würde man in Crested Butte wohnen. Die Gäste lieben es. Wir verkaufen sie sogar, du würdest nicht glauben, wie viele wir davon loswerden. In rosa, grün und blau.«

»Hm. Nehmen die Leute sie mit in den Flieger?«

»Ach, wir liefern die für zweihundert Dollar. Also, sie könnten natürlich bei Amazon eins für den halben Preis kriegen, aber sie wollen genau das Rad, das sie hier gefahren sind. Dann erinnern sie sich jedes Mal, wenn ihr Arsch den Sattel berührt, an …«, wieder eine ausladende Handbewegung, »das hier.« Kurt verzog den Mund zu so etwas wie einem Lächeln. »Du wirst dich dran gewöhnen.«

Kurt wollte nach dem Riegel an der Haube über der Ladefläche von Jacks Truck greifen, aber Jack legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich mach das schon«, sagte er, »Danke.«

Kurt trat einen Schritt zurück. »Wie du willst. Dann bis später. Hab ich schon gesagt, dass der Fluss anderthalb Meilen lang ist? Und nur du, Cody und die Gäste – das wars. Und ich, sollte ich mal Zeit haben, was traurigerweise nie der Fall ist. Mr. Den lässt nicht mal die Köche oder Kellner oder das Hauspersonal da fischen. Das unberührteste Gewässer der Erde, sagt er immer. Den Damm oder den Stausee oben unterm Pass erwähnen wir nicht. Auch du nicht, niemals. Für Mr. Den und für die Gäste ist das der wildeste Fluss der Welt, verstanden?« Jetzt blitzte doch ein Funken Ironie in seinen Augen auf.

»Jep.«

»Unser Gebiet fängt oben an der ersten großen Wiese an und geht bis zum Stacheldraht von Ellerys. Ich denke, du hast Zeit, vorm Essen das Meiste auszukundschaften. Und beim Rest improvisierst du.«

Jack nickte nur.

»Wenn du stromaufwärts fischst, geh keinen Schritt weiter als bis zum Pfosten am Anfang der Wiese. Da hängt ein Schild dran, ›Hier wird geschossen!‹. Und das ist kein Witz. Kreutzer scheint da oben ein verfluchtes Beobachtungsfernrohr rumstehen zu haben, und ich weiß, dass er eine Waffe hat. Irgendwann wird er noch jemanden umbringen, kein Scheiß.«

»Übel.«

»Wie gesagt: der Typ ist ein absoluter Spinner.«

Als Kurt sich aufmachen wollte, sagte Jack: »Ach, Moment noch.« Der Manager hielt inne. »Die Saison ist ja schon halb vorbei. Was ist mit dem anderen Guide passiert? Meinem Vorgänger?«

Kurts Augen blitzten auf und er presste die Lippen zusammen. »Vorgänger?« Er musterte Jack von oben bis unten, als würde er ihn zum ersten Mal richtig wahrnehmen. Kompakt, ein breitschultriges Kraftpaket. Mit einem Hauch Bauernhof. Die Krähenfüße hatte Jack sich vermutlich von einem Leben im Sattel geholt. Ein taffer Typ, aber auf dem kurzen Lebenslauf hatte »Dartmouth College« gestanden. Das erklärte seine Art zu reden. Er hatte schon früher Jungs vom College eingestellt, nichts zu meckern.

»Ken? Kenne die Henne? Hat hingeschmissen und gekündigt. Angeblich Familienprobleme, aber ich schätze, er hatte einfach nicht genug Durchhaltevermögen.« Kurt lächelte jetzt breit. »Ich hab erst vor zwei Wochen erfahren, dass ich noch wen brauchen würde, es ist so verflucht viel los. Also hab ich dich angestellt.«

»Durchhaltevermögen?«, sagte Jack. Wieso ein Angel-Guide das haben musste, war ihm schleierhaft. Klar, die Tage waren lang, manchmal musste man viel rudern oder durchs Wasser waten, ab und an war man mit Entwirren beschäftigt, musste verlorengegangene Fliegen wieder einbinden und den Gast aufmuntern, aber …

»Weißt du, was der Aufenthalt hier kostet?«, Kurt schaute ihn nicht an, vielleicht eher einen Käfer am Boden. »Hab ich mir schon gedacht. Na ja, die Leute, die hier absteigen, kommen aus einem anderen Stall.« Er rieb sich die Stirn unter der Krempe, drückte den Cowboyhut wieder auf seine schweißnassen, platten Haare und nickte kurz. Dann ging er um Jacks Truck herum und lief den Weg zu seinem eigenen Pickup hinunter. Er humpelte leicht, vermutlich eine alte Verletzung. Der Teppich aus Fichtennadeln knackte unter jedem seiner Stiefelschritte.

~~~

August. Die beste Zeit des Jahres zum Fischen, von jetzt bis Ende September.

Er musste nicht auf der Ranch sein, Pop würde es schon gut gehen … So, wie sonst auch – oder doch nicht? Jack hatte mit seinem Vater den Großteil vom Heu gemacht. Es hatte keinen Regen oder größere Probleme gegeben, und Pop hatte darauf bestanden, dass er loszog. Nach dem Heumachen gab es nicht mehr viel zu tun, außer Reparaturarbeiten, und an denen saß Pop morgens bis abends. Zäune, Maschinen, Pumpen, Trailer, Trucks, er machte nie eine Pause. Jack fragte sich, ob es anders gewesen war, als seine Mutter noch gelebt hatte. Sie war bei einem Reitunfall gestorben, da war er elf. War das wirklich schon vierzehn Jahre her? Hatte Pop sich diese ganze lange Zeit so abgeplagt? Waren seine Eltern je mal nur dagesessen und hatten die vorbeiziehenden Wolken beobachtet oder ein Mittagsschläfchen gehalten? Er konnte sich nicht daran erinnern, aber es musste solche Momente gegeben haben. Woran er sich dafür deutlich erinnerte, war die Liebe zwischen ihnen, die regelrecht in der Luft lag wie ein Duft oder der Hauch einer Brise, und er erinnerte sich an ihr Lachen. Um eine solche Liebe zu bewahren, mussten sie sich doch ab und zu die Zeit genommen haben, sich an der Gegenwart des anderen und der Welt zu erfreuen?

Dieses Jahr hatte eine dicke Schneedecke über den Feldern gelegen, die Kühe liefen frei oben in den Bergen herum und labten sich an den üppigen Weiden. Wenn der Herbstschnee noch eine Weile auf sich warten ließ, könnte er die ganze Saison hier als Guide arbeiten und Pop Ende Oktober beim Zusammentreiben der Herde helfen. Sein Vater wartete sowieso gerne bis nach dem ersten Schneesturm damit, angeblich, weil dann die Kühe viel leichter zu überzeugen waren. Aber Jack vermutete, dass er einfach gerne über die weißen, weichen Hänge ritt, auf die sich die blauen Schatten der Espen legten, während der Pulverschnee um seine Chaps stob.

Meistens ritten Pop und er über die Hänge des Sheep Mountain, wo man schließlich auf eine Wiese voll Salbei kam, mit Blick auf die Never Summers im Norden oder nach Süden auf die Gore Range, die im glitzernden Schnee erstrahlte. Normalerweise war er mit Pop und den Hunden allein, aber manchmal ritt Onkel Lloyd mit ihnen oder Willy kam von Granby rauf. Seine Border Collies waren echte Arbeitstiere, sogar Chica, die letztes Mal fast noch ein Welpe war. Sie hatten eine gute Zeit miteinander. Jack mochte den durchdringenden Duft von Winterwäldern, von eisgesäumtem Baumbruch, kalten Steinen in den Bächen, und die Geräusche dazu: das Klirren der Trensenringe, Hufschläge, das vereinzelte Aufheulen einer panischen Kuh und das ferne Pfeifen von Willy und Pop, die mit den Hunden zugange waren. Er mochte den dampfenden Pferdeatem, wenn sie im ersten Licht des Tages losritten; er liebte das alles so sehr, dass er jetzt, hier, als er hinten auf seinem Truck stand, aufhören musste, daran zu denken, weil ihm das Herz so schwer wurde.

Er schloss die Augen, roch die warmen Fichtennadeln auf dem staubigen Weg, hörte das gedämpfte Rauschen des Flusses in seinem Steinbett, und murmelte: »Alles ist gut. Neuer Job, ein paar Monate knietief in einem Fluss. Kann es was Schöneres geben?« Und fast glaubte er es selbst.

1

An jenem ersten Nachmittag schmiss er Seesack und Rucksack auf den Flickenteppich in der Hütte und schlüpfte rasch in seine Nylonshorts. Er steckte ein Päckchen Split-Shot-Bleikugeln und eine kleine Schachtel Fliegen in die Brusttaschen seines Hemds, holte dann die Fünfer Winston-Rute aus dem Truck und baute sie zusammen. Seine Watstiefel hatte er zum Trocknen auf die Rückbank gelegt. Er zog Wollsocken an, schnürte die Stiefel und hängte sich die Schnur um den Hals, an der Scheren, Vorfachschnur, Zangen und Fliegenfett baumelten. Es war gerade noch warm genug und er war am liebsten ohne Anglerhosen unterwegs. Das Wasser würde eiskalt sein, aber er war allein und würde nicht stundenlang neben einem Gast stehen müssen, während der die Angel auswarf. Er würde schnell vorankommen.

Und das tat er. Er startete bei dem großen, dunklen Becken unterhalb der Hütte und arbeitete sich dann flussaufwärts vor. Maifliegen stiegen aus dem trägen Wasser am Ufer auf, grün mit blauen Flügeln. Er liebte es, wenn sie aus einem Strudel im dunkelsten Schatten emporkamen wie wirbelnde Schneeflocken, zur Sonne flogen und sich in funkelndem Dunst auflösten. Am Ufer ging er in die Hocke und drehte einen ziegelgroßen Stein im Flachwasser um, die schlammige Unterseite war bedeckt mit Köcherfliegenpuppen, fast sahen sie wie getrocknete Nelken aus. Eine Steinfliege kroch über den Kies, auf einmal aus der Luft gelandet. Immer schön sorgfältig. Er hatte sein Leben lang in den Bergen von Colorado geangelt und wusste, wo er welche Insekten vorfinden würde. Er band eine Trockenfliege und einen Springer fest, einen fransigen Stimulator aus Elchhaar oben und eine fasanene Goldkopfnymphe unten. Die Kunden liebten es, mit dieser Ausrüstung zu fischen – und er genauso.

Er trat ins eisige Wasser und holte tief Luft, als ihn die Kälte traf. Dann watete er bis zu den Knien hinein und warf die Angel aus.

~~~

Der Rhythmus ließ ihn jedes Mal ganz ruhig werden: Die Leine direkt übers dunkle Wasser auswerfen, das Eintauchen des beschwerten Springers, danach die Trockenfliege direkt nach dem …

Das Elchhaarbüschel hatte kaum die Wasseroberfläche berührt, da riss diese auf. Mit einer sanften Bewegung setzte er den Haken, die Rute bog sich und zitterte und eine riesige Bachforelle sprang aus dem Wasser in die sonnenglitzernde Gischt. Unglaublich. Sie platschte ins Wasser, schwamm stromaufwärts und er ließ den Fisch die Schnur spannen, hörte das Surren der Fliegenrolle und stürmte ihr nach. Spritzend rannte er durchs flache Wasser, rutschte aus, stolperte, landete halb im Nass, doch es war ihm egal, wenn er den ganzen Teich aufmischte. Irgendwie schaffte er es, die Bremse an der Rolle beim Laufen leicht nach unten zu drücken. Der Fisch war unheimlich glatt und braun, pure Muskeln, ein goldener Blitz in der Luft, kostbarer als jeder Schatz! Er rannte und kämpfte mit dem Fisch, waren es zehn Minuten, zwanzig? Wer wusste das schon. Er verlor jegliches Zeitgefühl und sich selbst. Vergaß, dass er es war, Jack, der da fischte, dessen Beine und Hände ohne zu denken agierten. Er vergaß seinen Namen, oder dass er überhaupt einen hatte, und zum ersten Mal seit vielen Monaten war er nahe dran, so etwas wie Freude zu empfinden.

Er war fast unter der Brücke angelangt, als er die Rute nach oben zog und die erschöpfte Forelle die letzten paar Meter heranholte. Er nahm den Kescher von seinem Gürtel, schob ihn unter den wunderschönen Fisch und bettete ihn ins Netz. Ein solches Schmuckstück hatte noch kein Juwelier gesehen – satt, dunkel, mit einer ganzen Palette an Goldtönen, die so viel Tiefe hatten wie Wasser. Die ganze Zeit sprach er mit ihr, Alles gut, alles gut, danke, du Schöne, fast wie er in der Hütte mit sich selbst geredet hatte. Er benetzte die linke Hand, fasste die Forelle sanft am Bauch, löste den glatten Haken aus ihrer Lippe und holte den Kescher ein.

Er kauerte sich bis zur Hüfte ins Eiswasser und hielt sie ruhig in den Strom, bis sein halber Körper taub war. Hielt sie nur, wer weiß wie lange, und sah ihren Kiemen beim Arbeiten zu, und sie trieb fast frei zwischen seinen führenden Fingern, er spürte ihre Flanken pulsieren, wenn sie den Schwanz bewegte und dahintrieb. Dann wand sie sich heftig, schoss davon und ihr Körper verschmolz mit den grünen Schatten der Steine.

Danke, sagte er noch einmal, zum Abschied, aber er sprach es weniger, als dass er einem Gefühl freien Lauf ließ – freigelassen wie der Fisch ins Universum. Dann richtete er sich auf. Er stand fast direkt unter der Holzbretterbrücke, sah nach oben und entdeckte die Kamera.

~~~

Eine schwarze Fischaugenlinse, befestigt am Hauptbalken, eine Halbkugel von drei Zentimetern Durchmesser. Gläsern, wie nichts sonst hier, unbelebt und stumm. Beobachtete ihn jemand? Und sollte ihn das beunruhigen? Das tat es jedenfalls. Kurt hatte keine Kameras erwähnt. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und sah noch Mal nach oben. War sie bedrohlich? Es war nur eine Kamera. Trotzdem fühlte er sich hintergangen. Weil er sich so hingegeben hatte – dem Fluss, dem Fisch, diesem Nachmittag an einem neuen Gewässer –, weil er sich, vielleicht das erste einmal, seit sein Freund Wynn gestorben war, erlaubt hatte, einen Anflug von Frieden zu verspüren. Er war wütend, dass er sich vollkommen allein gefühlt hatte und dabei vielleicht die ganze Zeit von jemandem beobachtet worden war.

Scheiß drauf. Er hob die Hand, um der Kamera den Mittelfinger zu zeigen, hielt dann aber inne. Wer auch immer am anderen Ende saß, diese Befriedigung gönnte er ihm nicht. Er watete zurück ans gegenüberliegende Ufer, duckte sich unter der Brücke durch und fischte weiter. Ein Eisvogel ließ sich von einem Ast über ihm fallen, visierte im Sturzflug die nächste Sitzgelegenheit flussaufwärts an und begleitete ihn. Und auch ohne sich umzudrehen, wusste er, dass auf der anderen Seite der Brücke eine weitere Kamera hing.

~~~

Er angelte, ganz ohne Eile jetzt. Es war ihm egal, ob er rechtzeitig zurück war, um sich mit den Gästen zu unterhalten oder den anderen Guide und die Mitarbeiter kennenzulernen. Er angelte, die Abendsonne im Rücken, und um die enge Biegung herum, Richtung Süden, in den Schatten. Scheiß auf die. Vielleicht nicht die beste Einstellung für einen neuen Job.

Aber das Angeln war etwas Eigenes; der sprudelnde Fluss und die Nachmittagsbrise ließen sich nicht beschmutzen. Zumindest nicht von denen. Hinter der Biegung lag eine weitere langgezogene Stromschnelle mit zahlreichen Felsblöcken und niedrigen Felsvorsprüngen, die das schäumende Wasser in glatte, schwarze Tümpel leiteten. Er konnte nachvollziehen, dass die Angler hier durchdrehten. Es würde noch ein paar Stunden hell sein, und er musste sich dazu zwingen umzukehren.

~~~

Um fünf nach sechs war er zurück an der Hütte, nahm eine heiße Dusche, zog Jeans, Stiefel und ein Hemd mit Druckknöpfen an und rollte eine Viertelstunde später auf dem türkisen Rad zum Hauptgebäude. Die Wolken hatten sich verzogen, es würde eine kalte Nacht werden, im steinernen Ofen brannte bereits ein knisterndes Feuer. Man kanns auch übertreiben, dachte Jack, draußen waren es locker noch fünfzehn Grad. Links von der Feuerstelle stand ein halbes Dutzend Tische, vier davon waren fürs Abendessen eingedeckt. Eine Pendeltür mit einem kleinen Fenster führte vom Essbereich in die Küche. Rechts neben dem Kaminfeuer fand sich eine U-förmige Theke aus Mahagoni, an der fünf Leute auf Barhockern saßen. Hinter der Bar hatte sich eine breitschultrige Britin mit wirrem, blondem Haar aufgebaut. Das musste die unerbittliche Ginnie sein, die einem nur zwei Getränke ausschenkte. Ihr britischer Akzent hatte sie verraten, als sie rief: »Ah, komm rein, willkommen. Wir haben dich erwartet. Du kommst gerade noch rechtzeitig …« Und damit öffnete sie ein zischendes Bier, an dem das Kondenswasser perlte, und stellte es auf eine Serviette vor ihm auf die Theke, Cutthroat Ale. »Komm rein, sei doch nicht so schüchtern. Hört mal her, das ist Jack. Jack, das sind alle. Setz dich.« Die Unterhaltung verstummte und alle drehten von ihren Hockern aus ihm zu.

»Komm mal ran, Süßer«, sagte Ginnie und holte hinter der Theke ein Fieberthermometer für die Stirn hervor.

~~~

Auf einmal kam ihm zu Hause zu bleiben und mit einem wortkargen Vater den Hof zu beackern so viel erstrebenswerter vor. Nun schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden erwischte es ihn kalt. Ginnie war überschwänglich, hielt sich nicht mit höflichem Vorgeplänkel auf, ließ keinen Raum für Bedenken. Alles klar, verstanden. Das machte sie zur perfekten Barchefin für diesen rustikalen Zufluchtsort der Reichen und Berühmten. Hatten sich die Gäste erst einmal an ihren Dorfkneipen-Ton gewöhnt, war es für sie vermutlich auf eine erfrischende Art entspannend. Ginnie hatte nichts übrig für Angeberei, es war ihr so was von egal, wie dein Portfolio aussah, oder wie viele Goldene Schallplatten jemand hatte. Lief es gut beim Angeln? Hat es trotzdem Spaß gemacht? Hast du den kahlen Adler in der großen Espe beim Forellenteich gesehen? Wusstest du, dass er unsere kostbaren Zuchtforellen futtert wie Popcorn? Und dass man dieses Drecksvieh nicht schießen darf, weil es unter Artenschutz steht? Ich wünschte, ich würde unter Artenschutz stehen. Das wär doch was. Her mit euren hohen Rechnungen und bis morgen! Ha! Gut, gut, sie war also ein schräger Vogel, wusste aber auch genau, wann ein bisschen mehr Zurückhaltung angebracht war. Sie musste sein Unbehagen bemerkt haben, als er sich einen Barhocker heranzog, denn sie bot ihm den Ellbogen zum Gruß an, und es klang gelassen und vertrauensvoll, als sie sagte: »Ich bin Ginnie. Schön, dass du da bist.« Dann lächelte sie ein echtes, fast schüchternes Lächeln. »Mein Ruf eilt mir voraus, ich weiß. Aber so streng bin ich gar nicht. Kurt meint es nur gut. Also erzähl mal, wo kommst du her, Süßer?«

Indem sie ihn in ein Gespräch verwickelte, schirmte sie ihn etwas ab, so musste er nicht alle Gäste auf einmal kennenlernen, und sie stellte ihm ein Glas mit langen Trockenfleischstreifen hin – das gute Zeug, wahrscheinlich Lendenstücke, mit Pfefferkruste. Sie sagte: »Iss so viele du willst, aber lass noch etwas Platz für Gionnos berühmtes Elchfilet.«

Wenige Minuten später hatte er sich ausreichend akklimatisiert, um sich den anderen vorzustellen – darunter auch Alison K, Anfang dreißig, die Prominente, um deren Augen sanfte Fältchen lagen. Sie wirkte wie eine, die immer nach der Wahrheit sucht. Neben ihr saß ein großer, stämmiger Kerl, dunkles, nach hinten gekämmtes Haar, blaues Sakko und Ring am kleinen Finger. Er musterte Jack einmal von oben bis unten und nickte ihm mürrisch zu, bat ihm weder die Faust zum Gruß, noch nannte er seinen Namen. Einen Platz weiter saß ein Mann namens Will, der eine Weste mit silbernen Knöpfen und Straußenlederstiefel trug. Er war vielleicht sechzig, offensichtlich gut betucht und war mit seiner (?) Frau Neave da. Sie mochte um die vierzig sein, trug Türkisohrringe, und das wunderbare schwarze Haar floss ihr über die Schultern. Außerdem war da noch ein jüngeres Paar Ende zwanzig mit Outdoor-Fleecejacken und Mokassins, die Jack als erfahrene Angler einschätzte. Sie hatten bestimmt schon auf jedem Kontinent ihre Fliegen ausgeworfen. Und natürlich Cody, der andere Guide, ein schlanker, über 1,80 großer Typ mit Dreitagebart, hohen Wangenknochen und weit auseinander stehenden Augen wie bei einem Wolf. Er saß zu weit weg, als dass sie hätten Händeschütteln können, aber als eine Glocke das Abendessen ankündigte und sie allesamt aufstanden, trafen er und Cody am Kaminfeuer aufeinander und gaben sich – Scheiß auf Covid – die Hand. Jack sah seine Packer Boots und in dem eisernen Griff der schwieligen Finger spürte er, dass er es mit einer verwandten Farmer-Seele zu tun hatte. Codys Blick war weder freundlich noch unfreundlich, nur wachsam. So weit, so gut.

~~~

Zusammen setzten sie sich an einen Tisch in der hinteren Ecke, an ein Fenster mit Blick über den Fluss. Sie schwiegen hauptsächlich, aßen mit großem Hunger. Zweimal gab Cody Kellnerin Shay per Handzeichen Bescheid, und sie nahm seinen Teller und brachte ihn mit einer neuen Ladung Elchfilet mit Soße und Kartoffelpüree zurück.

»Das geht?«, fragte Jack. »Man kriegt Nachschlag, auch zweimal?«

»Iss so viel du willst.«

»Oh Mann!«

»Du wirst dich dran gewöhnen.« Das hatte er heute schon einmal gehört.

Beim Essen sah Jack durch die Terrassentüren zu, wie die Schatten den Fluss fluteten und die tiefstehende Sonne die Wipfel der hohen Kiefern vergoldete.

»Du warst also angeln?«, fragte Cody.

»Hm? Tschuldigung …«

Shay stellte zwei Desserts vor ihnen ab, Panna cotta mit frischen Blaubeeren, und schnellte dann zurück, wie bei einer Raubtierfütterung. »Drei, zwei, eins, los!«, sagte sie. »Es gibt keinen Nachschlag, aber ich hab noch tonnenweise Eis.« Jack meinte, bei ihr einen Carolina-Akzent herauszuhören. Sie trug enge Jeans, dazu ein leichtes Karohemd, das den Blick auf ein kleines Anker-Tattoo am Handgelenk preisgab – vielleicht selbstgemacht.

Da lächelte Cody doch tatsächlich – zum ersten Mal heute. »Ich beiße schon nicht«, sagte er zu Shay.

»Das werden wir noch sehen«, sagte sie und verschwand wieder durch die Schwingtür.

Jack sagte: »Tschuldigung, was hast du gerade gesagt?«

»Hattest du vorm Essen Zeit zu angeln?«

»Ja, hatte ich.«

Cody stieß seinen Löffel in die Panna cotta, er sah nicht auf, als er fragte: »Welche Richtung?«

»Stromaufwärts.«

»Beim Becken unter der Brücke.«

»Genau.«

»Bist du bis zum Pfosten gekommen?«

»Hab die Wiese gesehen und bin umgekehrt.«

Cody sagte nichts weiter. Er aß seinen Nachtisch und nickte Shay zu, die gerade mit einer silbernen Kaffeekanne durch die Tür trat. »Ernsthaft?«, fragte sie im Vorbeigehen. »Eis? Wer hätte das gedacht. Du auch, Jack?« Er schüttelte den Kopf.

Auf dem Rückweg goss Shay ihnen Kaffee ein, sie tranken ihn beide schwarz. »Was hat es mit den Kameras auf sich?«, fragte Jack schließlich.

Cody ordnete seine Blaubeeren mit dem Löffel an, die Zunge im Mundwinkel, als würde er eine Matheaufgabe lösen. Er blickte auf: »Kameras?«

»Ja, an der Brücke.«

»Von diesem Typen, Mr. Den. Er lebt den Großteil des Jahres in England. Schaut sich gern die Forellen unter der Brücke an, die Lachswanderung.«

»Aha. Und er schaut bestimmt auch gerne, wer da so angelt.«

Cody zuckte mit den Schultern. »Er weiß, wie du aussiehst. Wusste es schon, bevor du hergekommen bist. Kein Grund zur Sorge.«

»Gibt’s noch mehr Kameras? Also am Fluss.«

Cody gab auf, er kippte den Teller an, ließ sich die Blaubeeren auf die Hand kullern und aß sie alle auf einmal. Seine Wolfsaugen gaben nie etwas preis, blitzten weder auf, noch verdunkelten sie sich, da war nur diese unterschwellige Wachsamkeit. »Nicht, dass ich wüsste. Aber Kreutzer hat wahrscheinlich Kameras. Ich würde auf keinen Fall auch nur einen Schritt auf sein Gelände machen. Letzten Sommer hat er auf mich geschossen, ohne Scheiß. Keine Ahnung, ob es daneben ging, oder ob er einfach ein extrem guter Schütze ist.«

»Übel.«

»Nicht ganz ungefährlich hier. Und stromabwärts, hinterm Zaun? Ellery schießt nicht. Der hat nur Hunde.«

»Hunde? Hat Mr. Jensen gar nicht erwähnt.«

»Warum sollte er. Er will dich wohl erst nach und nach einweihen. Erstmal dafür sorgen, dass du dir keine Kugel einfängst. Dann kommen wir zu den Hunden.«

»Übel, was sind das denn für Hunde?«

»Mastiffs, Jagdhunde. Vielleicht so fünf. Und ein paar Schäferhunde, die jagen Wild. Ab und an erwischen sie was und schleifen es davon. Sowas hast du noch nicht gesehen.«

»Wow.«

»Im Juni haben sie einen Angler angegriffen, er ist fast draufgegangen.«

»Hat man sie dann nicht eingeschläfert?«

»Der Typ hatte eine Glock in der Weste. Ellery hat ihn als bewaffneten Eindringling dargestellt, aber es war Notwehr. So hat’s dann auch der Staatsanwalt gesehen. Keine Ahnung, warum der Typ die Waffe nicht schneller am Start hatte.«

Jack wusste, wieso. Mastiffs pirschten sich, im Gegensatz zu den meisten anderen Hunden, manchmal lautlos an ihre Beute an. Vermutlich hatten sie den armen Kerl angesprungen wie ein Löwe.

»Oh Mann«, sagte Jack, »Das Angeln hier ist echt ein Risikosport.«

Cody hustete mehr, als dass er lachte, kurz und freudlos.

Jack schlürfte seinen Kaffee. Cody hielt die Tasse mit beiden Händen, als würde er in einer kalten Nacht am Feuer sitzen. Er war auf jeden Fall Jäger, kam wahrscheinlich auch von einer Ranch. Jack sagte: »Habt ihr Kühe? Du und deine Eltern?«

Nun verfinsterte sich Codys Blick zum ersten Mal. »Meine Eltern sind tot.«

»Tut mir leid.« Jack war drauf und dran, zu sagen, dass auch er seine Mutter vor vielen Jahren verloren hatte, aber er hielt sich zurück.

»Wir hatten Vieh«, sagte Cody. »Auf der Flying W-Ranch. Mein Dad hatte da einen kleinen Landstreifen.«

»Wo?«

»In Hotchkiss.«

Jack nickte, die Gegend kannte er. Zusammen mit Pop und Onkel Lloyd war er vor ein paar Jahren in den West Elks jagen gewesen, um mal was anderes zu sehen.

Das Gespräch war damit anscheinend beendet. Shay brachte einen Kelch mit drei Kugeln Schokoladeneis, Cody löffelte es in sich hinein. »War ein langer Tag«, sagte Jack, »Ich mach mal los.«

Er kam am Tisch vorbei, an dem Alison K zusammen mit dem Mann im Jackett saß, sie sah auf und lächelte: »Wir sehen uns morgen in alter Frische.«

»Wird gemacht.« Er berührte den Schirm seines Baseballcaps und schob die schwere Tür auf, raus in die kalte Nacht.

~~~

Der Himmel war sternübersät, am Fluss roch es schon nach Herbst. Vielleicht würde es über Nacht sogar Frost geben. Er schob das Rad vom Ständer und dann den ebenen Weg hinauf. Dort auf dem Hügel wuchsen Espen, deren Blätter knisterten und aufraschelten, als eine Brise durch den Hain fuhr. Er würde versuchen, mit Alison K morgen so lange wie möglich beim Kaffee zu sitzen. Vielleicht konnten sie auf der sonnigen Terrasse über Larven, Fliegen und Strategien sprechen, während sie warteten, bis sich das Wasser etwas aufwärmte. Viele Angler setzten darauf, so früh wie möglich loszuziehen, am besten im Morgengrauen. Vielleicht galt das fürs Salzwasser, fürs Meer. Aber in den Bergen zeigten sich die Insekten erst, wenn der Tag wärmer wurde. Außerdem waren Forellen ein bisschen wie Menschen, sie brauchten eine Weile, um wach zu werden, bevor sie frühstückten.

~~~

In der Nacht kam er nicht zur Ruhe. Er öffnete die Fenster, schaltete das schwarze Thermostat an der Wand aus und machte Feuer im Holzofen – weniger der Wärme als dem Tanz der Flammen und dem knackenden Espenholz wegen. Das Feuer leistete ihm Gesellschaft. Er zerrte den Schlafsack aus seiner Hülle und breitete ihn über die Decken. War da ein beengendes Gefühl in ihm? Das konnte nicht sein. Durch die offenen Fenster hörte er das unablässige Rauschen des Flusses, fast wie Atmen. Seine liebste Art von Fluss, ein Gebirgsbach, der sich seinen Weg zwischen den Felsen bahnte, Schotterbänke an die Seiten schob und Sturmholz durchfloss. Perfekt geeignet, um hindurchzuwaten, und dabei die Angel auszuwerfen. Und dann führte dieser Bach auch noch durch ein so schönes Fleckchen Erde, durch diese von Kiefern, Fichten und ein paar Espen gesäumte Schlucht, von Sandsteinfelsen gekrönt. Über den Felsenzacken sah man nichts außer noch mehr Berge, die Beckwiths und die Raggeds.

Darüber spannte sich der dunkle Teppich der Nacht, endlos, sternübersät. Gab es etwas Besseres? Dieses Mantra wiederholte er immer wieder, hatte es sich den ganzen Tag über aufgesagt, versuchte, alles klar zu sehen, für alles offen zu sein. Und wenn schon nicht offen, dann zumindest stark, stark im Geiste. Gibt es was Besseres?

Trotzdem fühlte er sich eingesperrt. Er kannte das Gefühl von seinen ersten Wochen am College in New Hampshire – unbarmherzige Wälder, Privatgelände, überall Zäune, ein eingeschränkter Blick auf den Himmel. Er hatte damals eine Weile gebraucht, um die besondere Schönheit des nördlichen New England zu erkennen, die Intimität, die durch die weniger weitläufige Landschaft entstand, seine Fleckchen unberührter Natur.

2

Nachts träumte er von Wynn. Sie angelten an einem Bach, der etwas Verwunschenes hatte, ein silbernes Band, das zwei Länder voneinander trennte: das eine mit verbrannter, tiefschwarzer Erde, über der die Aschewirbel tanzten; schwarze, rauchende Stümpfe, zu Dolchen verkohlt, das andere voller satter, grüner Spätsommerwälder, die Ufer gesäumt von hohem Gras und rosa leuchtenden Weidenröschen, die Fichten wiegten sich im Vogelgesang. Schimmernd lag der Bach zwischen ihnen, und sie angelten zusammen. Es war alles wie immer, er watete weiter hinein in das unberührte Wasser und warf dabei die Angel aus, Wynn folgte ihm mit etwas Abstand, ließ sich Zeit, ging von Becken zu Becken und erwischte dabei genauso viele Forellen, obwohl Jack das Gebiet schon durchkämmt hatte. Sie waren zu weit voneinander entfernt, um zu reden, aber immer in Rufweite.

Das verbrannte Land lag in seinem Traum auf der rechten Seite, er arbeitete sich stromaufwärts vor, kalt und belebend spielte der Fluss um seine nackten Beine, der Wind strich ihm kühl um die Ohren. Einmal, als er sich umdrehte, sah er, wie Wynn die Angel auswarf, seinen großen Körper etwas nach vorn lehnte, um ihn herum überall das Grün der Bäume. Wie er sich bewegte, sein Rückschwung im sicheren Rhythmus eines Metronomos, mühelos. Die Schnur straffte sich und Jack wusste, dass Wynn gleich einen Fisch an der Angel haben würde. Also wandte er sich taktvoll ab, um seinem Freund die Privatsphäre zu geben, ohne Publikum zu fischen. Er watete weiter zur nächsten Stromschnelle und angelte dort weiter.

Er warf die Trockenfliege in der Nähe des anderen Ufers aus, um einen Käfer zu imitieren, der von einem Grashalm fiel, da tauchte ein großer Fisch auf. Noch bevor er den starken Zug der Schnur spürte, drehte er sich für den Bruchteil einer Sekunde zu Wynn, um mit ihm gemeinsam zu jubeln. Aber Wynn war fort. Eine Aschewolke wurde von einer Böe stromaufwärts über das Becken gepeitscht, aber Wynn tauchte nicht daraus auf. Die Angel erzitterte in Jacks Hand, die Schnur rollte sich ab, und Jack warf die Rute fort und stürmte auf die grobkörnige Staubwolke zu. Doch da wusste er bereits, dass er Wynn, der für ihn wie ein Bruder war, nie wieder sehen würde. Er wusste, dass er im eiskalten Wasser zurückbleiben und sich ein schwarzer Aschefilm darauf legen würde, dass er immer wieder nach Wynn rufen würde, ohne eine Antwort zu erhalten. Er würde in diesem großen, geteilten Land alleine sein.

Mitten in der Nacht wachte er auf, sein Kissen war nass, und er wusste sofort, dass diese Szene keineswegs eine Fantasie war. Es gab diesen Fluss, weit im Norden, und auch jetzt, in dieser Nacht, floss er zwischen ätzender Kohle und raschelnden Wäldern hindurch. Vielleicht war Wynns Geist auch immer noch dort, wo Jack drei Jahre zuvor versucht hatte, seine Blutung zu stillen.

~~~

Jack spritzte sich am Waschbecken Wasser ins Gesicht und trat in Boxershorts auf die Veranda. Die Nacht war kalt, fast eisig. Am Himmel über den Baumwipfeln standen überall Sterne, wie die Gänsehaut, die sich über seinen Körper zog. Trauer konnte man nicht abschütteln. Oder betäuben, indem man im August halbnackt an diesem Fluss stand. Das ist mein Päckchen, murmelte er, das Päckchen, das ich zu tragen habe.

Der Verlust von Wynn hallte nach und vermischte sich mit dem allgegenwärtigen Verlust seiner Mutter, so wie das Rauschen des Stroms nach oben stieg und dann vom Wind in die Kiefern getragen wurde. Wie damit klarkommen? Das fragte er sich immer wieder. Er fühlte sich für beide Tode schuldig, und manchmal fragte er sich, ob er ihnen nicht nachfolgen sollte.

~~~