Der flüsternde Abgrund - Veronica Lando - E-Book

Der flüsternde Abgrund E-Book

Veronica Lando

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Beschreibung

Der Psychothriller-Hit aus Australien

Dreißig Jahre nach einem Unfall, der sein Leben erschüttert hat, kehrt Callum Haffenden in seine Heimatstadt Granite Creek zurück. Dorthin, wo der australische Regenwald auf ein zerklüftetes Felsenmeer trifft und ein unheimliches Flüstern Kinder dazu verlockt, in den Abgrund zu springen – das jedenfalls glauben die Leute hier.

Wieder ist eine Leiche aufgetaucht. Bei dem Toten scheint es sich um Callums Sohn zu handeln. Hat er das Flüstern gehört, oder steckt doch etwas anderes dahinter? Callum will Antworten. Seine Ermittlungen wirbeln ganz schön Staub auf und bringen ein jahrzehntealtes Geheimnis wieder ans Tageslicht. Das aber gefällt nur den wenigsten in Granite Creek …

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Seitenzahl: 422

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Cover

Titel

Veronica Lando

Der flüsternde Abgrund

Thriller

Aus dem australischen Englisch von Karen Witthuhn

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5366.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023Copyright © Veronica Lando 2022

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: ZERO Media, München, unter Verwendung des Originalumschlags von HarperCollins Publishers Australia

eISBN 978-3-518-77768-8

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Tito.

Lesezeichendieb, Lektürenkomplize und Ratgeber.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

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Epilog

Danksagungen

Informationen zum Buch

Der flüsternde Abgrund

Prolog

Das Kind drohte abzustürzen.

Es stand zu dicht an der Kante, eine Ferse rutschte auf den Abgrund zu. Es regnete in Strömen, das Wasser weichte den Abhang auf. Der Boden war glatt.

Das Kind warf einen Blick über seine Schulter, schaute panisch in die Tiefe. Dort lagen große Geröllbrocken aus Granit, die bis zum Horizont reichten, wie das Meer. Zwischen den Felsen klafften riesige Spalten, zahnlos grinsende Münder. Dunkel. Still. Lauernd.

Das Kind blinzelte und blickte wieder geradeaus, in den Regenwald hinein, der einer grünen Wand glich.

Der Wind nahm zu und erzeugte ein Pfeifen. Das Kind drückte sich die Hände auf die Ohren. Der alte Reim tanzte durch die Luft, ein Flüstern des Winds, und bahnte sich den Weg zwischen den verkrampften Fingern hindurch.

Der wispernde Wind nimmt dir dein Kind, sobald du wendest den Blick.Hört es den Laut, vorm Sturz ihm graut, denn dann gibt es kein Zurück.Der Wind aus den Steinen holt es zu den Seinen und bricht ihm das schmale Genick.

Tränen und Tropfen vermischten sich, und nach einem letzten Blick auf die undurchdringliche grüne Wand fiel das Kind rückwärts über die Kante und wurde von dem Meer aus Steinen verschluckt.

1

Die Klimaanlage rauschte, die Scheibenwischer fegten von links nach rechts. Callum versuchte, sie schneller zu stellen, aber sie waren am Limit. Das Quietschen der Wischblätter auf dem Glas war unter dem prasselnden Regen auf dem Autodach kaum zu hören.

Seine Handflächen waren mit einem dünnen Schweißfilm überzogen. Er beugte sich weiter über das abgenutzte Lenkrad und spähte durch die regennasse Scheibe. Vor ihm lag eine dunkelgrüne Wand.

Warum um alles in der Welt kam er hierher zurück?

Grün, nichts als Grün. Etwas anderes war im Regen kaum zu erkennen. Er nahm den Fuß vom Gaspedal und warf einen langen Blick in den Rückspiegel, sah die Landstraße, die ihn hierhergebracht hatte.

Ich könnte einfach wieder umdrehen.

Er zwang sich, nach vorne zu schauen. Als er von der Straße auf einen Schotterweg abbog, verkrampfte sich sein Magen. Der linke Vorderreifen des Mietwagens rumpelte durch ein Schlagloch, stechender Schmerz durchfuhr sein Bein.

Die Suche lief noch keine vierundzwanzig Stunden, trotzdem stand bereits eine lange Autoschlange auf dem Seitenstreifen des Kingfisher Way, der eine Schneise durch den dichten Regenwald schnitt. Die Bäume auf beiden Seiten bildeten in der Mitte ein Dach und versperrten den Blick auf die grauen Wolken. Versperrten den Blick auf die Außenwelt. Callum bemühte sich, ruhig zu atmen und die Schultern zu entspannen, aber der Regenwald schien ihn zu erdrücken.

Die Straße endete auf einem großen Parkplatz, von der Polizei mit Absperrband abgeriegelt, das im Wind flatterte. Direkt davor standen mehrere Vans von regionalen Nachrichtensendern, wie ein Rudel Hunde, die eine gute Story witterten.

Callum sah sich um und parkte schließlich in zweiter Reihe neben einem verbeulten Hilux. Sobald der Motor aus war, wurde es warm im Auto, die Außenluft kroch durch alle Ritzen. Er blieb zögernd sitzen, bis ihn sein schmerzendes Bein zwang, die Tür aufzustoßen.

Feuchtigkeit rollte wie eine Welle über ihn hinweg, der Wind bog seinen Hemdkragen nach oben, der Regen prasselte seitwärts auf ihn ein. Seine Brille beschlug, auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Der schwere, erdige Geruch der Tropen war nach dem Gestank von nassem Hund im Mietwagen eine willkommene Abwechslung.

Callum stützte sich an der Tür ab und hievte sich aus dem Sitz. Der Kleinwagen war für einen Mann seiner Größe nicht gemacht, aber so kurzfristig hatte er keinen anderen bekommen. Er verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein und beugte und streckte ein paarmal das linke Knie, bevor er vorsichtig mit dem Fuß auftrat. Zwei Flüge von Hobart nach Cairns, gefolgt von einer fast zweistündigen Autofahrt nach Nordwesten hatten seinem Bein nicht gutgetan. Er schaute nach unten und seufzte: Mit dem linken Fuß stand er mitten in einer Pfütze. Bestimmt war sein Schuh vollgesogen.

Etwas Gelbes flitzte am Himmel vorbei, er schaute hoch. Ein kurzer Blick, dann war der Vogel hinter den hohen Bäumen verschwunden, der Flügelschlag zu schnell, um ganz sicher zu sein.

Amblyornis newtonianus: Säulengärtner.

Vielleicht.

Er ging auf das Absperrband und den einsamen Polizisten zu, der wohl den Kürzeren gezogen hatte und hier die Stellung halten musste.

Der Officer beäugte seine braune Baumwollhose und das zugeknöpfte Hemd. »Presse?«

Verdammt, ich hätte mich ordentlich anziehen sollen.

»Nein.« Die Lüge ging ihm leicht über die Lippen. »Freund der Familie.«

Der Officer, der aussah wie frisch aus der Schule, betrachtete Callums hochgewachsene Gestalt, nickte dann und hob das Flatterband an.

Dahinter herrschte ein Gedränge, als hätte sich ganz North Queensland hier versammelt. Zum Schutz vor dem Regen waren ein halbes Dutzend Partyzelte aufgestellt worden, neben einem stand ein Kaffeetisch, vor dem sich Menschen drängten, aus Styroporbechern tranken und leise miteinander sprachen. Ein Stück weiter parkten drei Polizeiautos und ein Krankenwagen.

Callum hielt auf den Kaffeestand zu und hoffte, dort das Neuste über die Suche in Erfahrung bringen zu können. Er hatte die spärlichen Informationen in den Nachrichten verfolgt, aber ein dreißigjähriger Mann, der im Regenwald des Nordens verschollen war, war anscheinend kein überregionales Schlagzeilenthema.

Vor gut zehn Stunden hatte er zum ersten Mal davon gelesen. Der Ortsname Granite Creek hatte ihn aus seinem iPad heraus angesprungen und sich wie eine Ohrfeige angefühlt.

Der Name Lachlan Wyatt hatte ihn noch härter getroffen.

Ein Schlag in die Magengrube.

Er stellte sich unter das vor Feuchtigkeit triefende Zeltdach. Wieder beschlug seine Brille, er nahm sie ab und wollte sie an seinem Hemd abwischen, aber das war völlig durchgeweicht.

Verdammte Tropen.

Er setzte die Brille wieder auf und reihte sich hinter zwei robust wirkenden Männern mit schlammbespritzten Hosen und an der Stirn klebenden Haaren in die Kaffeeschlange ein.

»War damals ’ne schlimme Sache.« Der ältere der beiden kippte löffelweise Zucker in seinen Kaffee, sein Ton war unheilvoll. »Sie hatte von vorneherein keine Chance, armes kleines Ding.« Seine Stimme klang vertraut. Eine vage Erinnerung an einen Sommer, in dem Callum, damals noch Teenager, Bananen für ihn gepflückt hatte. Er müsste sich an den Namen eigentlich erinnern können.

»Ja, aber Lachie ist kein Kind. Er kennt sich im Busch aus. Er wird schon wieder auftauchen.«

»Nicht, wenn er das Flüstern gehört hat.«

Die beiden Männer schmunzelten kurz, dann wurden ihre Gesichter wieder ernst. Als sie gingen, sah Callum ihnen nach, sah das satte Grün der Bäume hinter ihnen.

»Cal?«

Er drehte sich um. Die Frau hinter dem Kaffeetisch grinste ihn an.

»Callum Haffenden? Hab ich doch richtig gesehen.«

Er betrachtete das verwuschelte kastanienbraune Haar und die rosigen Wangen der Frau und zermarterte sich das Hirn. Sie hatte braune Augen, und wenn sie lächelte, erschien auf ihrer linken Wange ein Grübchen.

Eine schwache Erinnerung an einen Kuss auf dem Friedhof beim Flaschendrehen, in der zehnten Klasse. Sie hatte nach Wodka und Mangolippenstift geschmeckt. Die Frau, die vor ihm stand, hatte nur noch wenig von dem jungen Mädchen aus seiner Erinnerung, das dicken Eyeliner und schwarzen Nagellack getragen hatte. Ihr dunkelblaues Trägerhemd enthüllte muskulöse Arme, und ihre hoch taillierten Shorts saßen eng auf den Hüften und waren etwas kürzer, als die meisten Frauen Mitte vierzig es sich trauen würden. Zugegeben, sie sah etwa fünfzehn Jahre jünger aus, als sie Callums Rechnung nach sein musste.

»Steph? Steph Pemlington?«

»Ich dachte schon, du erkennst mich nicht mehr.«

»Ich musste zweimal hinsehen. Du siehst toll aus.« Die Worte rutschten ihm raus. Er wischte sich die Haare aus dem Gesicht und sah sie erröten. »Das muss fast dreißig Jahre her sein.«

»So in etwa. Ich hab dich nicht mehr gesehen seit deinem …« Ihr Blick huschte in Richtung seines Beins.

Er wartete.

Sie räusperte sich und sah ihn an. »Was um alles in der Welt bringt dich hierher zurück? Du kannst Lachie nicht gekannt haben.«

»Ich wollte nur sehen, ob ich irgendwie helfen kann.«

»Ganz schön weite Anreise. Wohnst du nicht in Brisbane?«

»Hobart.«

Sie lächelte. »Also noch weiter weg.«

Er zuckte die Achseln und erwiderte ihr Lächeln.

Ihr Mund wurde zu einem festen Strich, das Grübchen verschwand. »Wir sind alle ziemlich geschockt. Einheimische verschwinden hier eigentlich nicht. Es sein denn …« Ihre Augen wurden glasig, Callum bemühte sich, das Kribbeln in seinem Bein zu ignorieren. Ein Windstoß warf einen Styroporbecherturm um, sie blinzelte.

»Hast du ihn gut gekannt?«, fragte er.

»Lachie?« Die Frage schien sie zu überraschen. »Nicht wirklich. Er war ein ganzes Stück jünger als ich. Aber in Granite kennt ja jeder jeden.« Sie kam um den Tisch herum, sammelte die Becher auf, füllte einen mit heißem Wasser und lächelte. Ihre Finger berührten sich, als sie ihm den Becher gab, die Wärme, die durch das Styropor drang, brannte auf seiner verschwitzten Haut. Steph, die ihm gerade bis zum Kinn reichte, hob die Hand und nahm ihm die Brille von der Nase, wischte die Gläser mit einer Papierserviette ab und setzte ihm die Brille wieder auf.

»Da.« Wieder das Lächeln. »So ist’s besser.«

Hinter ihm hatte sich eine Schlange gebildet, ein schon älterer freiwilliger Helfer beugte sich vor, um an den Heißwasserspender zu gelangen, stieß Callum dabei an und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Ein heftiger Stich durchfuhr sein linkes Bein direkt unter dem Knie. Steph packte ihn am Oberarm.

»Danke.« Er lächelte kurz. »Und, hat die Suche schon was gebracht?«

»Nur einen Haufen nasser, hungriger Freiwilliger. Aber du solltest deinen Freund da fragen.« Sie drückte seinen Arm und nickte in Richtung eines anderen Zeltes.

Callum blinzelte durch den Regen, bis die untersetzte Gestalt und die hängenden Schultern eines dort stehenden Mannes Konturen annahmen.

»Das gibt’s doch nicht.« Auf einmal war ihm leicht ums Herz. »Danke für den Kaffee, Steph.«

Er beugte sich schützend über seinen Becher und ging platschend auf das andere Zelt zu, wo ein Mann in blauer Polizeiuniform mit einer Gruppe von Freiwilligen des State Emergency Service sprach. Vor ihnen lag eine große Landkarte auf einem Biertisch, die Ecken waren mit Wasserflaschen und Sanitätskästen beschwert. Eddy Quade strich mit der Hand über den Rand der Karte, schaute auf und deutete auf den Regenwald. Die Freiwilligen brachen auf, einige schlugen ihm im Vorbeigehen auf die Schulter.

Callum wartete einen Atemzug lang, bevor er Eddys Namen rief.

Eddy wandte sich um. Die Erschöpfung in seinem Gesicht verwandelte sich in Verwirrung und dann in Wiedererkennen, aus Überraschung wurde Freude. Mit wenigen Schritten war er bei Callum und umarmte ihn. Nach einem kurzen Moment trat er zurück, hielt Callum an den Schultern fest und betrachtete ihn eingehend. »Cal? Herrgott, was um alles in der Welt machst du denn hier?«

»Das wollte ich dich auch gerade fragen.«

Eddys dunkle Koteletten waren von grauen Sprenkeln durchsetzt, zwischen seinen Augenbrauen verlief eine senkrechte Furche, die es bei ihrer letzten Begegnung noch nicht gegeben hatte. Aber die Lachfältchen um seine Augen hatten sich in den letzten drei Jahrzehnten nicht verändert.

Eddy ließ ihn los. »Ich muss mich um diesen verdammten Albtraum kümmern.«

»Seit wann bist du wieder in Granite?«

»Seit Sonntag.«

Vier Tage.

»Und ich bin echt in der Scheiße gelandet.« Eddy ließ die Schultern hängen. Regentropfen glitzerten auf den drei weißen Pfeilen an seinen Schulterstücken – die auch Callums Vater einst getragen hatte.

»Ein Einheimischer ist in den Regenwald gewandert und bisher nicht wieder rausgekommen. Erschien gestern Morgen nicht zur Arbeit. Am Nachmittag ging der Alarm raus. Der Sohn von Brett Wyatt, ausgerechnet.« Eddy sah Callum an. »Und jetzt muss ich mich drum kümmern. Frau und Kind sind total aufgelöst.«

»Weiß man schon was?«

»Nicht viel. Sein Wagen steht da drüben.« Eddy zeigte auf einen weißen Pritschenwagen, der am anderen Ende des Parkplatzes stand, mit Flatterband abgesperrt. »Sein Zeug lag auf dem Campingplatz. Sonst keine Spur.« Er blickte mit zusammengezogenen Augenbrauen in Richtung Regenwald und trat weiter unter das Zeltdach. Callum folgte ihm. »Aber wir können nicht mehr lange weitermachen. Das Wetter soll noch schlimmer werden. Angeblich braut sich vor der Küste ein verdammter Wirbelsturm zusammen.«

Callum nickte. Keine guten Aussichten. Eher beschissene. Er biss sich auf die Unterlippe. »Habt ihr das Geröllfeld im Nordwesten überprüft?«

»Ein Hubschrauber sucht die Gegend ab, aber es ist unwahrscheinlich, dass er irgendwas findet. Lachie ist von hier, und soweit ich gehört habe, kein Idiot.« Eddy sah ihn von der Seite an. »Tut mir leid.«

Ein Ruck in Callums Inneren. Er nickte, und Eddy fuhr fort.

»Na ja, die Einheimischen wissen heutzutage, dass sie da besser nicht rausgehen. Vor allem nicht bei solchem Wetter. Außerdem liegt der Campingplatz auf dieser Seite des Flusses. Um zum Geröllfeld zu gelangen, hätte er den also überqueren müssen. Und der rauscht im Moment wie eine Waschmaschine. Bisher haben wir die Suche auf das südliche Flussufer beschränkt.« Er stieß einen langen Atemzug aus und senkte den Blick auf die Landkarte.

Sie zeigte den Regenwald nördlich der Stadt. Der Fluss, nach dem der Ort benannt war, schlängelte sich durch die grüne Wildnis, in einem Winkel von fast fünfundvierzig Grad vom unteren linken bis zum oberen rechten Ende der Karte. Von Südwesten nach Nordosten. Die grüne Fläche südlich des Flusses war keilförmig und wurde nach Osten hin immer breiter.

Das Suchgebiet war riesig. Callum strich mit dem Finger über die Karte.

»Etwa hundertzwanzig Quadratkilometer«, sagte Eddy. »Damit haben wir’s zu tun.«

»Herrje.«

Callums Blick wurde von grauen Umrissen in der oberen linken Ecke der Karte angezogen: das Geröllfeld.

Eddys Schultern sackten noch tiefer. »Bitte sag nicht, dass du beruflich hier bist?«

»Nein. Nur ein besorgter Bürger.«

Eddy zog eine Augenbraue hoch, hakte nicht nach. »Wie geht’s Milly?«

»Gut.« Das Wort lag ihm sauer im Mund. »Na ja, sie spricht im Moment nicht mit mir. Ein normaler Teenager eben.« Ein Gewissensbiss, als er an den Streit mit seiner Tochter von heute Morgen dachte. Er zog sein Handy hervor, das plötzlich schwer in seiner Tasche lag.

Nichts. Keine Nachrichten. Kein Empfang.

Ein junger Constable, die blaue Uniform völlig durchnässt, kam angelaufen, blieb ein paar Meter vor ihnen stehen, trat von einem Fuß auf den anderen und wartete darauf, dass Eddy ihn ansah. »Sarge, die wollen den Campingplatz abbauen, bevor der Wind das übernimmt.«

Eddys Gesicht glättete sich. »Ich halte da lieber mal ein Auge drauf. Hoffentlich finden wir bald irgendeine Spur. Ich habe keine Lust, den verdammten Brett Wyatt im Nacken zu haben.« Er machte ein paar große Schritte, hielt an, drehte sich um. »Komm nachher bei mir vorbei. Wenn ich es schaffe, werde ich gegen acht nach Dad sehen. Er würde mir bei lebendigem Leib die Haut abziehen, wenn er wüsste, dass du in der Stadt bist und ich dich nicht eingeladen habe.« Er rannte los, ohne die Antwort abzuwarten.

Callum trat an den Rand des Zeltes. Über ihm verschwand ein Helikopter in Nebelschwaden, das Flappen der Rotoren war unter dem Prasseln des Regens auf dem Stoffdach fast nicht zu hören. Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere und wiegte sich wie die Bäume im Wind. Sein Hemd klebte an ihm, die Luft wurde immer dichter und stickiger. Seine Haut kribbelte. Der Regenwald war lebendig. Beobachtete ihn. Wartete.

Bleib hier. Geh da nicht rein.

Aber etwas zerrte an ihm. Zog ihn. Sein Fuß hob sich aus dem nassen Schlamm. Ein Schritt aus dem Schutz des Zeltdaches heraus. Und noch einer.

Eine innere Stimme schrie ihn an, umzukehren, aber seine Füße trugen ihn vorwärts.

Der Regenwald rief.

2

Warum zur Hölle war er in den Regenwald gegangen? So war es nicht geplant gewesen.

Vor ihm bahnte sich eine Gestalt in einer schlammbespritzten neongelben Hose einen Weg durch das satte Grün und gedämpfte Braun. Weiter vorne waren die orangen Overalls der SES-Freiwilligen zu erkennen. Callum hatte Mühe, mit dem Suchtrupp, dem er in den Wald gefolgt war, mitzuhalten. Der Campingplatz lag nicht weit vom Parkplatz entfernt, nicht einmal einen Kilometer. Für die meisten zu Fuß in zehn Minuten zu erreichen, er würde eher fünfzehn oder zwanzig brauchen.

Verlier die anderen nicht aus den Augen.

Er biss die Zähne zusammen und marschierte weiter.

Es war gespenstisch still, das Blätterdach dämpfte sogar die Geräusche des Regens. Callums Ohren brauchten einen Moment, um sich umzugewöhnen, dann schlichen sich die Klänge des Waldes an ihn heran, krochen in seinen Kopf, erstickten den Protest seiner inneren Stimme.

Ein schriller, scharfer Schrei.

Tanysiptera sylvia: Blaukappen-Paradiesliest.

Callum sah suchend nach oben, aber es waren weder blaue Flügel noch ein gelber Bauch unter dem Blätterdach zu sehen. Nichts.

Er stapfte weiter.

Die freiwilligen Helfer hatten Lampen in die Bäume gehängt. Callum näherte sich dem Ende des ersten Lichtkegels. Die Dunkelheit kroch heran, berührte seine Zehen und zog ihn weiter. Eine Pause. Der Kegel der nächsten Lampe begann nur wenige Meter weiter. Dazwischen lag der Boden in geheimnisvollem Dunkel. Callum blinzelte durch seine immer noch beschlagene Brille.

Keine Kontaktlinsen. Keine kurzen Ärmel. Miserabel vorbereitet.

Dreißig Jahre war er nicht mehr in den Tropen gewesen und hatte anscheinend vergessen, dass Baumwollhosen und Hemden nicht die geeignete Ausstattung waren.

Er schob den rechten Fuß versuchsweise in die Dunkelheit hinein. Die Gestalt in der gelben Neonhose war weit vor ihm. Ein panischer Atemzug, dann ein Schritt. Noch einer, dann stand er im Schein der nächsten Lampe, atmete aus und hob den Blick vom Boden. Die Gestalt vor ihm hatte angehalten. Eine Frau. Sie schlug sich mit der Hand in den Nacken. Mücken.

Als er sie mit großen Schritten einzuholen versuchte, rutschte auf dem nassen, moosbewachsenen Untergrund sein linker Fuß weg, und er setzte beschissene Schuhwahl auf die Liste der miserablen Vorbereitung.

Die Frau ging weiter.

Callum folgte ihr. Die Stimmen der weiter vorne gehenden Freiwilligen waren durch das Trommeln des Regens auf dem Blätterdach leise zu hören.

»… keine Salzwasserkrokodile, nicht so weit oben zumindest. Aber jede Menge Frischwasserkrokos. Und man muss auf die Helmkasuare aufpassen.« Ein großer Mann mit struppigem rotem Bart und geröteten Pausbacken drehte sich halb nach hinten um und sprach mit der Frau. Er sah aus wie ein überdimensionierter Gartenzwerg. Das helle Orange des SES-Anzugs ließ ihn noch fröhlicher wirken. »Die rennen mit fünfzig Stundenkilometer durchs Gestrüpp und weiden einen aus wie einen Barramundi-Fisch.«

Die Frau schaute nach links, betrachtete die Bäume.

»Und passen Sie auf die Gympie-Gympies auf.« Der Rotbärtige richtete einen dicken Finger auf ein etwa einen Meter hohes Gewächs am Rand des Pfads. Kleine rosa und lila Blüten setzten sich von herzförmigen Blättern ab.

»Hübsch«, sagte sie.

»Verdammt schmerzhaft, richtig übel sind die. Überall mit Brennhaaren besetzt. Wenn Sie die anfassen, leiden Sie wochenlang Höllenqualen. Die gefährlichste Pflanze der Welt.«

Sie machte einen weiten Bogen darum herum.

»Aber das ist noch nicht das Schlimmste hier draußen.«

Sie schnaubte. »Schlimmer als Killerbrennnesseln und prähistorische Vögel, die mich ausweiden wollen?«

»Ich sage nicht, dass sie Sie umbringen würden. Viele haben überlebt und konnten von Begegnungen mit Kasuaren und Giftpflanzen berichten.«

»Was meinen Sie dann? Sowas wie einen Ivan Milat der Tropen oder irgendeinen anderen Serienmörder?«

Achselzucken. »Ich sage nur, dass in diesem Regenwald etwas sehr Seltsames vor sich geht.«

»Als da wäre?«

Wieder ein Achselzucken. »Leute verschwinden. Kinder …« Der Mann klang dumpf, seine Stimme verlor sich in der feuchten Luft. »… Regenwald ruft … anlocken …«

Noch ein Schnauben. »Anlocken.« Sie schüttelte den Kopf.

»Ich denke mir den Kram nicht aus.« Der Mann stoppte und schob den schlanken Stamm eines jungen Baums aus dem Weg, der quer über den Pfad wuchs. Er wollte gerade loslassen, als er Callum bemerkte und auch ihn durchließ. Callum bedankte sich mit einem Nicken. Der Mann bildete jetzt das Schlusslicht ihrer kleinen Gruppe.

»Das ist ein Mythos.« Der Mann sprach mit lauter Stimme, damit die Frau ihn hören konnte. Callum war Teil ihres Gesprächs.

»Klingt nach einem Haufen Unsinn«, sagte sie.

Der Mann hielt inne. »Glauben Sie, was Sie wollen, aber das erklärt nicht, warum hier Menschen verschwinden.«

»Wir sind im Regenwald. Wer so blöd ist, da einfach reinzulaufen, muss damit rechnen zu verschwinden.« Sie drehte sich dabei nicht um, ihr schwarzer Pferdeschwanz wippte vor Callum hin und her. »Das gilt auch für Kinder.«

Das Trio marschierte weiter, ab und zu war hinter Callum ein Schnaufen zu hören. Wenigstens war er nicht der Einzige, der mit dem unebenen, schlammigen Untergrund Probleme hatte.

Die Frau wurde langsamer. Callum bemühte sich, schneller zu gehen.

»Und wie soll das mit dem Anlocken angeblich funktionieren?«, fragte sie.

Callum kribbelte die Antwort auf den Lippen. Er erwartete, dass der andere Mann etwas sagen würde, aber der war stehen geblieben und zupfte sich Stechwindenblüten aus dem Bart. Callum und die Frau warteten im Lichtkegel einer Lampe auf ihn.

»Man nennt es das Flüstern.« Die Worte rutschten Callum aus dem Mund.

»Das Flüstern.«

»Ja. Es … flüstert einem zu.« Er hob den Kopf, betrachtete die junge Frau. Sie war höchstens zwanzig.

Sie feixte. »Flüstert?«

Er zuckte die Achseln. »Angeblich.«

Sie ließ den Blick über sein nicht mehr weißes Hemd und die verdreckte Hose gleiten. Als sie bei den Schnürschuhen ankam, zog sie eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts.

Der Mann hatte seinen Bart befreit und holte sie ein, seine Wangen glühten vor Anstrengung. »Während der Kolonisierung durch die Weißen wurden hier draußen mehrere indigene Clans getötet. Männer, Frauen, Kinder. Ganze Familien. Und die Leichen ins Geröllfeld geschmissen.«

Callum spannte den Kiefer an. Die Geschichte von Granite Creek war kein Geheimnis. Das ganze Land teilte diese blutige Vergangenheit. Schwer zu schlucken, aber oft unter den Teppich gekehrt. Seine Gedanken ratterten, bis die Stimme des Mannes sie durchdrang.

»Das Flüstern soll von den getöteten Kindern stammen, die nach Spielkameraden rufen. Und sie in die Felsen locken.«

Callum rieb sich die nassen Handflächen an der Hose ab, die so feucht war, dass sie nichts mehr trocknen konnte.

Er schluckte den Kloß im Hals herunter und fand seine Stimme wieder. »Das ist bloß der Wind. In Wirklichkeit ein geologisches Phänomen. Wenn der Wind auffrischt, oft vor Wirbelstürmen, weht er durch die Felsen nördlich des Flusses. Dabei entsteht ein Pfeifen, das durch das Tal bis in den Regenwald getragen wird. Jeder hier hat das schon mal gehört. Das ist ganz normal.« Seine Worte fühlten sich in seinem Mund wie Sandpapier an.

»Und wieso hören wir es jetzt nicht?«, fragte die Frau. »Es ist verdammt windig.«

»Der Regen übertönt es.« Und alles andere auch. »Die Kinder im Ort erzählen sich die Geschichte, um sich gegenseitig Angst einzujagen, oder Eltern erzählen ihren Kindern davon, damit sie nicht in den Regenwald rennen und sich verlaufen.« Oder umkommen.

Callum mühte sich über einen umgefallenen Baumstamm, der quer auf dem Pfad lag, und landete mit dem linken Fuß in einer Schlammpfütze. Beim Herausziehen erklang ein lautes Schmatzgeräusch, und er spürte ein starkes Ziehen unter dem Knie. Mit mulmigem Gefühl im Magen lief er weiter. Er verdrängte es.

»Tja, ein dreißigjähriger Mann ist dann ja nicht das typische Opfer«, sagte die Frau über die Schulter hinweg und umrundete eine dunkle Pfütze. Eine Sekunde später trug eine Windbö ihre gemurmelten Worte heran: »Wahrscheinlich hat sich der Idiot einfach verlaufen.«

Callums Blick huschte zu dem dichten Gebüsch auf beiden Seiten des Trampelpfads. Er dachte an die warnenden Worte seines Vaters aus seiner Kindheit.

Verlass niemals den Pfad.

Der Mann hinter ihm gab ein unbestimmtes Geräusch von sich. »Ich bin nicht von hier, Lachie schon. Der kennt sich hier besser aus als in seiner Westentasche.«

Die Frau schnaubte und sagte leise etwas, das Callum nur mit Mühe verstehen konnte. »Ganz offenbar nicht gut genug, sonst würden wir uns hier nicht durch den Matsch wühlen. Hat sich wahrscheinlich für superschlau gehalten.«

»Und soweit ich weiß, nehmen die Einheimischen den Regenwald ernst.« Der Mann hinter ihm zog Rotz hoch und spuckte ihn aus. »In jeder Trockenzeit geht mindestens ein Tourist verloren. Meistens wird er schnell gefunden. Bisschen verknittert, mit angeschlagenem Ego und frischem Respekt für den Busch. Aber hin und wieder auch jemand von hier. Wahrscheinlich von den Felsen verschluckt. Die Lücken zwischen den Dingern sind teilweise groß genug, um einen Campervan verschwinden zu lassen.«

»Aber ein erwachsener Feuerwehrmann, der hier aufgewachsen ist?«, sagte die Frau.

»Ja, normalerweise sind die Einheimischen, die verschwinden, ein bisschen jünger.« Der Mann hielt inne, grunzte. Ein Ast brach, das Geräusch durchbrach die Stille. »Kinder. Die vom Campingplatz weglaufen, so was.«

Grüne Augen mit goldenen Flecken huschten durch Callums Erinnerungen. Er dachte an seine Tochter. Schüttelte die Gedanken ab. Sie war weit weg. In Sicherheit.

»Ah, das Flüstern.« Die Frau nickte, in ihren Worten schwang Sarkasmus mit.

Das Trio bahnte sich den Weg an ein paar letzten Ästen vorbei und erreichte eine Lichtung. Das Blätterdach öffnete sich und gab den Blick frei auf den grau verhangenen Himmel, aus dem stetiger Regen fiel. Die Lichtung war eine einzige Schlammlache. Überall waren Fußabdrücke auf dem nassen Rasen und zwischen den Pfützen verteilt.

Auf einem verwitterten, halb verfaulten Holzschild stand in verblichenen gelben Buchstaben »Granite Creek Campingplatz«.

An einigen Stellen am Rand des Campingplatzes standen orange Markierungskegel. Dort verschwanden immer wieder Gestalten in Neonanzügen im dichten Gebüsch. Die Eingänge in den Wald.

Auf der anderen Seite stand ein in sich zusammengesacktes Zelt.

Schlaff. Nass. Verlassen.

Direkt dahinter begann ein weiterer Pfad. Die Lücke zwischen den Bäumen war hier so groß, dass die Suchenden sich frei bewegen konnten. Callum wusste, wohin er führte, er hatte die heißen Sommer seiner Kindheit am und im kühlen Wasser des Flusses verbracht, der dort lag. Wenn in der Trockenzeit die Temperaturen sanken, war das Wasser eiskalt. Dann kam kaum noch jemand hierher, der Pfad überwucherte, der Wald verwischte seine Spuren. Vom Campingplatz aus führten Steine, nicht groß genug, um als Felsen zu gelten, bis zum Flussufer und wiesen den Weg wie ausgelegte Brotkrumen.

Auf der anderen Seite des Flusses ging es genauso weiter, bis zum Geröllfeld.

Callum schüttelte den Kopf und schloss die Augen.

In der Luft verschob sich etwas, drückte gegen ihn.

Er riss die Augen auf. Der Regen hatte aufgehört, seine Ohren nahmen die plötzliche Stille wahr wie einen Schrei. Er lauschte angestrengt, horchte auf die normalen Geräusche des Regenwaldes: das Summen der Zikaden, das Rascheln der Blätter, den abfallenden Ruf des Buschkuckucks.

Nichts.

Er sah sich um. Alle Aktivitäten waren eingestellt worden, alle Blicke auf die Wand aus Bäumen am anderen Ende der Lichtung gerichtet. Wartend. Gespannt.

Eine Pause, dann erhob sich ein Vogelschwarm aus dem Blätterdach und flatterte über die Lichtung. Das Schlagen der Flügel hallte von den Bäumen wider.

Als sie verschwunden waren, legte sich wieder erdrückende Stille über die Lichtung.

Dann kam es. Erst eine sanfte, geflüsterte Melodie, dann ein Pfeifen, das lauter wurde, sich über das Blätterdach erhob und von den Felsen zurückgeworfen wurde.

Eine Welle der Dunkelheit erfasste Callum, und es gelang ihm nur mit Mühe, beide Füße fest auf dem Boden stehen zu lassen.

3

Callum hinkte durch die Schlammpfützen auf dem Kingfisher Way zurück zu seinem Wagen. Ringsherum Grün, nichts als Grün.

Es regnete wieder, wenn auch nicht mehr ganz so stark, und das durchdringende Pfeifen der Eisvögel in den hohen Feigenbäumen schrillte durch die Feuchtigkeit.

Er ging schneller.

Seine Schuhe saugten sich im Matsch fest, der linke Fuß fand nur mit Mühe Halt. Wenn er gekonnt hätte, wäre er gerannt, aber die in den Wasserlachen versunkenen Grassoden hätten ihn zum Stolpern gebracht.

Mit jedem Schritt, den er sich weiter von den großen Bäumen entfernte, schlug sein Herz etwas langsamer. Bald atmete er wieder normal, trotzdem blieb das Gefühl, dass die Felsen ihn rufen würden.

Warum zur Hölle war er nach Granite Creek zurückgekehrt?

Sein Blick blieb an einem blauweißen Klumpen hängen, der sich deutlich vom bräunlichen Schlamm abhob. Er hielt an, zögerte. Machte einen Schritt darauf zu. Noch einen.

Der kleine Klumpen lag dicht neben einem Autoreifen. Weicher runder Bauch, weiß, und ein langer blauer Schwanz, der nach oben zeigte. Ein hellblauer Kopf und leere Augen, die in den Wald hineinblickten.

Schmerz in Callums Brust.

Malurus amabilis: Schmuckstaffelschwanz.

Reglos. Vollkommen. Leblos.

Ihn überkam das dringende Bedürfnis, den winzigen Vogel aufzuheben und weit weg zu bringen.

Er stützte sich mit den Händen auf den vor ihm stehenden Wagen. Die Welt verschwamm, franste aus. Er blinzelte ein paarmal, es blitzte blau auf, wahrscheinlich der leblose Vogel zu seinen Füßen. Nein, nicht der Vogel. Blauweiß kariertes Absperrband flatterte im Wind, peitschte gegen seine Finger und verfing sich im Dachgepäckträger. Er riss die Hände weg, taumelte rückwärts.

Lachies Pritschenwagen.

An einem Kotflügel war Polizeiband befestigt, das der Wind auf der anderen Seite wild zum Flattern brachte. Sein Mietwagen stand nur fünfzig Meter weiter.

Er trat an den Pritschenwagen heran. Der Himmel hatte sich verdunkelt, es war mehr Nacht als Tag.

Er wischte das Fenster auf der Fahrerseite ab und spähte hindurch. Dunkel. Erst nach einigen Augenblicken nahm das Wageninnere Kontur an. Ein Saustall. Auf der Rückbank lagen Neonkleidung und Campingausrüstungsgegenstände verstreut, im Fußraum vor dem Beifahrersitz häuften sich Take-away-Verpackungen und leere Bierdosen.

»Haffenden.«

Er erstarrte. Die barsche Stimme bohrte sich in seinen Kopf. Er hätte weitergehen, wegfahren sollen. Gar nicht erst herkommen sollen, verdammt.

»Ich hab gesagt, Haffenden.«

Er trat vom Pritschenwagen zurück und drehte sich um. Obwohl selbst über eins achtzig groß, musste er den Kopf heben, um dem Mann, der auf ihn zutrat, in die kühlen blauen Augen sehen zu können. »Brett.«

Brett Wyatt war eine imposante Erscheinung. Auch wenn die raspelkurzen Haare jetzt grau statt schmutzig blond waren und die Hose etwas strammer saß, strahlte Brett nach dreißig Jahren noch die Art von Präsenz aus, bei der man weglaufen oder sich in die Hose machen wollte.

Callum dachte unwillkürlich an Pip, Bretts Frau, Lachies Mutter. Er stellte sich aufrecht hin und verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein, der Fuß stand fest auf dem matschigen Boden.

Bretts Gesicht zuckte. Auf den Wangen waren kurze und längere Kratzer zu sehen, die Haut rot und entzündet. Von der Hüfte abwärts war er schlammverschmiert. »Du hast kein Recht, hier zu sein.«

»Ich habe jedes Recht, hier zu sein.«

»Hoffst wohl auf eine gute Story, wie?«

»Ich bin nicht beruflich hier.«

»Wieso dann? Wegen ihr? Pip?« Er spie den Namen aus.

Etwas regte sich in ihm. »Ja, wegen Pi-«

»Wag es nicht, ihren Namen in den Mund zu nehmen.«

Callums Bein pochte. Er brauchte Ruhe. Taktikwechsel. »Hör zu, ich wollte nur sehen, ob ich irgendwas tun kann.« Er öffnete seine Hände. »Irgendwie helfen kann.«

Bretts Blick senkte sich auf Callums Bein, der Ärger verschwand aus seinem Gesicht. Etwas anderes durchzuckte seine Züge, verschwand, bevor Callum sicher war, es gesehen zu haben. Er nahm nur die tiefe Falte zwischen Bretts Augenbrauen und den verkniffenen Mund wahr. Die Wut.

»Halt dich da raus.« Brett machte einen Schritt auf ihn zu, und Callum fühlte sich um dreißig Jahre zurückversetzt. Sein Herz schlug schneller, er atmete flach.

»Das ist meine Familie. Mein Sohn«, sagte Brett. »Und sie braucht dich nicht mehr.«

Zorn flackerte in Callum auf. Er bemühte sich, ihn zu unterdrücken. »Ich …«

»Du gar nichts. Steck deine Journalistennase da nicht rein und verpiss dich in die Stadt zurück.« Wieder ein Zucken in Bretts Gesicht. Dann drehte er sich um und ging, die Schultern hochgezogen, die Augen zusammengekniffen, den Kopf gesenkt.

Obwohl sein Bein vor Schmerz schrie, blieb Callum stehen, bis sich sein Atem beruhigte und sein Herz wieder so gleichmäßig schlug, dass in seinen Ohren nur noch das Geräusch des trommelnden Regens auf dem Autodach und das Echo von Pips Namen nachklangen.

*

Als Callum vor dem einzigen Motel der Stadt hielt, hatte der Regen so weit nachgelassen, dass die Scheibenwischer auf unterster Stufe laufen konnten. Der einst weiße Putz und die roten Großbuchstaben, mit denen die Gäste im Rainforest Inn begrüßt wurden, ließen das niedrige Gebäude fast wie eine Klinik erscheinen. Der riesige grüne Plastiklaubfrosch und der überlaufende Swimmingpool im Vordergarten zerstreuten den Eindruck gleich wieder.

Ein paar Gestalten rannten über die Einfahrt, als würde es wie aus Eimern schütten.

Auswärtige: Denn Einheimische rannten nie.

Nach der Begegnung mit Brett hatte sich Callum erst Minuten später wieder beruhigen können. Auf seine Atmung konzentriert hatte er sich bemüht, alle Gedanken an Granitfelsen und pure, betäubende Angst zu verdrängen. Als er schließlich zu seinem Wagen gehinkt war, fühlte sich alles in ihm schwer an, und er musste gegen den Drang ankämpfen, Granite Creek sofort zu verlassen und niemals wiederzukommen.

Er hatte auf sein Handy geschaut. Immer noch nichts.

Das Motel war U-förmig angelegt. In der Mitte lag der Parkplatz, um den herum sich die Zimmer verteilten. Callum fand den letzten freien Parkplatz zwischen zwei Fließhecklimousinen, die genauso wenig für das unebene Gelände und die regenglatten Straßen des hohen Nordens gerüstet waren wie sein eigener Wagen. Alle Autos auf dem Parkplatz gehörten eindeutig Touristen.

Nein, nicht Touristen. Freiwilligen Helfern. Anpacken und Lachie Wyatt die Daumen drücken.

Callum holte sein Gepäck aus dem Kofferraum, hängte sich die Schultertasche um, griff zu den beiden Unterarmstützen und legte sie auf die Tasche. Dann hinkte er an einer verschlossenen Tür nach der anderen vorbei.

An der Tür der Rezeption hing ein handgeschriebener Zettel: »Ausgebucht«. Bevor Callum die Tür aufschob, fiel sein Blick auf die Cane Cutters’ Tavern – die einzige Kneipe des Ortes – auf der anderen Straßenseite. Zumindest würde er in Humpelweite Essen finden können.

Als er die angenehm kühle Rezeption betrat, kribbelte seine feuchte Haut. Der Gestank von billigem Lufterfrischer und Terpentin mischte sich mit dem erdigen Geruch von draußen, und das Paar mittleren Alters, das gerade mit dem Mann am Empfang sprach, quetschte sich an den Tresen, um Platz für Callum und sein Gepäck zu machen.

Fast geschafft.

Er sah sich nach einem Stuhl um, aber der winzige Raum war leer. Als er sein Gewicht verlagerte, trafen die Enden seiner Krücken die Frau am Arm. Sie zuckte zusammen. Er lächelte entschuldigend.

Beiß die Zähne zusammen.

An einer pfirsichfarbenen Wand hing ein Plastikregal mit verschiedenen Tourismusbroschüren, allesamt verblichen und zerknittert. Tauchen am Great Barrier Reef. Krokodiltour auf dem Daintree River. In Granite Creek selbst wurde nichts geboten.

Auf einer der Broschüren leuchtete ein kleiner gelber Vogel. Langer Schwanz, kurzer Schnabel.

Amblyornis newtonianus: Säulengärtner.

Ganz sicher.

Er wandte den Blick ab.

Hinter dem Empfang hing ein beeindruckender Stadtplan an der Wand. Die Hauptstraße teilte den Ort fast mittig in eine Nord- und eine Südhälfte. Zuckerrohrfelder umgaben ihn, und südlich der Stadtgrenze lagen die Hügel, die die einzige Zufahrtsstraße in Form zwangen. Sie wand und schlängelte sich bis an den Rand der Karte. Irgendwo würde sie eine Kurve nach Osten machen und bis in den Daintree Rainforest, nach Cape Tribulation und schließlich ans Meer führen.

Der nördliche Teil der Karte bildete den ausgedehnten Regenwald ab. In der nordwestlichen Ecke einige gebogene graue Linien. Sie sahen harmlos aus.

Callums Haut prickelte, er wischte sich die Hände an der Hose ab.

Die Felsen.

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das Gespräch zwischen dem Paar und dem Mann am Empfang.

»… was für eine Tragödie. Nach all dem, was die Familie schon durchmachen musste.« Die Frau schüttelte den Kopf und rieb sich die Stelle an ihrem Arm, an der sie Callums Krücken getroffen hatten. »Daryl hat mit Lachie und seinem Vater zusammengearbeitet, wie heißt er noch gleich?«

»Brett.« Der Mann am Empfang schaute nicht auf, das Wort war kaum mehr als ein Grunzen. Eine große Vase mit verstaubten Plastikblumen stand auf dem Tresen.

»Ja, Brett«, fuhr sie fort. »Nachdem der letzte Wirbelsturm hier durchgefegt war. Hat sich eine Woche freigenommen und ist hier raufgefahren, um mit anzupacken, nicht wahr, Schatz?«

Der Mann nickte. »War ’n totales Chaos hier.«

»Du hast gut mit ihm zusammengearbeitet, mit diesem Lachie, stimmt’s, Schatz?« Sie sah ihren Mann an. »Ein guter Typ, hast du gesagt.«

Er nickte. »Ein guter Typ.«

»Du bist schon ein paarmal hier gewesen in den letzten Jahren, stimmt’s, Schatz?«, fuhr sie fort. »Immer wenn irgendwer verschwunden war. Am schlimmsten war das mit dem kleinen –«

»Fertig.« Der Mann am Empfang fischte einen Schlüssel aus einem Schuhkarton und klatschte ihn mitten im Satz der Frau auf den Tresen. Ein geschmackloser Schlüsselanhänger in Froschform mit Glubschaugen glotzte sie an.

Das Paar nahm den Schlüssel und verzog sich; als sie die Tür öffneten, drückte sich eine Wand aus feuchter Luft in den Raum. Callum trat an den Tresen.

Der Mann dahinter – Mike, wie kann ich Ihnen helfen? – fuhr sich mit den Fingern durch das schlaffe braune Haar, das unter dem Kinn endete und in der Mitte gescheitelt war wie ein Vorhang, gerade weit genug geöffnet, um einen Blick auf das Geschehen dahinter zuzulassen. Er kaute an seiner Unterlippe herum. Durch seinen Überbiss sah er einem Frettchen nicht unähnlich.

»Reservierung?« Seine Lippen bewegten sich kaum.

Callum nickte. »Haffenden.«

Mike machte sich am Computer zu schaffen, einem PC mit klobigem Monitor. Viel hatte sich in Granite Creek nicht verändert.

»Sie haben Glück.« Mikes Blick hing am Bildschirm. »Haben das letzte Zimmer bekommen.« Er tippte mit beiden Zeigefingern auf das Keyboard ein. Die Nägel waren völlig heruntergebissen.

»Ist denn oft ausgebucht?«

Mike schüttelte den Kopf, das Haar schwang wie im Wind. »In den letzten dreizehn Jahren nicht mehr.«

Callums Magen verkrampfte sich.

»Hier steht, Sie sind aus dem Süden?«

»Ja, ich wollte sehen, ob ich irgendwie helfen kann. Bei so einem guten Typen wie Lachie.«

Ein Grunzen. Getippe.

»Haben Sie ihn gut gekannt?«, fragte Callum.

Eine Millisekunde Blickkontakt. »Nee.«

Stephs Worte gingen Callum durch den Kopf. »Aber in so einer kleinen Stadt müsste man sich doch kennen.«

Ein Schulterzucken, gefolgt von einem unbestimmten Laut irgendwo zwischen Grunzen und Räuspern.

»Glauben Sie, er hat da draußen eine Chance?« Callum deutete mit einem Kopfnicken auf den Sturm und den Regenwald.

Mikes Finger hingen reglos über den Tasten, er starrte aus halb zusammengekniffenen Augen den Monitor an. »Klar.« Nach einer Pause tippte er weiter, sagte aber nichts.

Das Licht flackerte, ging wieder an. Draußen vor der Glastür eilte eine Frau auf hohen Absatzschuhen vorbei. Der Ausweis, den sie um den Hals trug, flatterte wild im Wind. Sie kämpfte mit einem umgestülpten Regenschirm.

Mike hob den Kopf, und Callum merkte, dass er die Frau erst einmal gründlich in Augenschein nahm, bevor er den Kopf schüttelte. »Verdammte Presse«, sagte Mike. »Gut fürs Geschäft. Schlecht für alles andere.«

Callum nickte, nahm neuen Anlauf. »Und was ist mit seinem Dad? Brett, so heißt er doch? Kennen Sie den?«

Mike wandte den Blick von der Tür ab, etwas blitzte in seinen Augen auf, dann tippte er konzentriert weiter. Er zog die Schultern bis an die gepiercten und mit Silbersteckern verzierten Ohren hoch und ließ sie wieder fallen. Er sah mehrere Jahre älter aus, als er vermutlich war. Dreißig? »Wissen Sie Bescheid über die Wyatts?«

Callum nickte. »Ich bin hier aufgewachsen.«

»Dann wissen Sie ja, dass man besser nicht zu viele Fragen stellen sollte.« Mike griff in den Schuhkarton, zog einen Schlüssel heraus und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Nach einem kurzen Moment zog er die Augenbrauen so weit hoch, dass sich auf seiner Stirn Falten bildeten.

»Haffenden, wie?« Er schob den Schlüssel über den Tresen.

Der Name hatte Gewicht. Ein abschreckendes Beispiel für die Kinder von Granite Creek, von den Eltern in warnendem Ton erzählt.

Callum steckte den Schlüssel ein – ebenfalls an einem Plastikfrosch befestigt, auf dessen Rücken eine große Acht aufgemalt war –, öffnete die Tür und trat in den Regen hinaus. Mikes Blick bohrte sich schmerzhaft in sein Bein und folgte ihm bis in sein Zimmer.

*

Callum zog die nassen, dreckigen Klamotten aus, sparte sich aber das Duschen. Er packte die kleine Reisetasche aus und legte alles, was er nachts benötigen würde, in Reichweite.

Seine Füße hatten bei jedem Schritt in dem einzigen Schuhpaar, das er mitgebracht hatte, geschmatzt. Den klatschnassen linken Socken und die wundgeriebenen Zehen hatte er ignoriert; seinen abgenutzten Schuhlöffel legte er auf das mittlere Regal des Schranks und strich mit den Fingern über die leicht erhöhten Buchstaben von Millys Namen, geschrieben mit pinkem Glitzerstift in der ungelenken Schrift einer Sechsjährigen. Das y war falsch herum. An seinen Fingerspitzen blieb Wärme zurück.

Er dachte an Hobart.

»Bist du sicher, dass du dahin zurückwillst?«, hatte sein Vater gefragt, als er Milly bei ihm abgesetzt hatte.

»Ich muss.«

Sein Vater hatte kurz genickt, die Lippen zusammengepresst.

Milly, Kopfhörer auf den Ohren, war an ihm vorbeimarschiert, ohne ihn noch einmal anzusehen. Bevor sie mit ihrem Rucksack im Haus seiner Eltern verschwand, hatte er sie noch ein paar Takte summen hören.

Er packte weiter aus, hängte drei Hemden in den Schrank, dann lag in der Tasche nur noch eine kleine dunkelgraue Metallkiste. Sie war etwa so groß wie eine Brotdose für Kinder und mit einem stabilen Vorhängeschloss gesichert. Er drückte auf das harte Metall, bis seine Fingerspitzen weiß waren und die Gelenke schmerzten. Ein Augenpaar, von Lachfältchen umgeben, tauchte vor ihm auf. Eine Oberlippe, zu einem Lächeln verzogen. Er verdrängte das Bild und versteckte die Kiste zwischen den Falten einer Extrabettdecke, die er nicht brauchen würde, im Schrank.

Bevor er die Zimmertür hinter sich zuzog, warf er noch einen letzten Blick auf den geschlossenen Schrank. Der Wind drückte mit Kraft gegen die Zimmertür, stemmte sich jeglicher Bewegung entgegen.

4

Callum betrat die Cane Cutters’ Tavern, ein Geruchsgemisch aus Bier und fettigem Essen schlug ihm entgegen. Die Kneipe war zum Bersten voll. Kleine runde Tische mit wackligen Stühlen und etwa ein halbes Dutzend Sitznischen entlang der Wände, alle bis auf den letzten Platz besetzt. Die meisten Gäste waren verschwitzt, verschmutzt und trugen immer noch Neonklamotten.

Das Stimmengewirr war laut genug, um den Wind zu übertönen, der gegen die Fenster drückte. Callum bahnte sich einen Weg zwischen freiwilligen Helfern, Rettungskräften und vereinzelten Journalisten hindurch. Bei jedem Schritt klebten seine Sohlen kurz am Boden fest.

Gesprächsfetzen drangen im Vorbeigehen an sein Ohr.

»… abblasen, der Wirbelsturm wird stärker.«

»Wieder ein verdammter Einheimischer …«

»Diesmal wenigstens kein Kind.«

Er schob sich vorbei an einem untersetzten Mann in einem schlammbespritzten orangenen SES-Overall und der Frau, die Mike und er am Empfang beim Kampf mit dem Wind beobachtet hatten. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Der Ausweis um ihren Hals, aber auch ihr Make-up und die saubere Kleidung bestätigten, dass sie Reporterin bei einem großen Nachrichtensender war. Sie drehte ihr Rotweinglas und lächelte ihm leicht zu. In diesem Meer aus Orange und Neongelb wirkte er sicher genauso fehl am Platz wie sie.

Callum nickte ihr zu und schaute sich um. Sein Blick traf den einer dunkelhaarigen jungen Frau, die das Haar in einem straffen Pferdeschwanz trug.

Die Frau vom Pfad.

Sie erkannte ihn und hob ihr Glas. Sie sah aus, als könnte sie noch zur Schule gehen. Verdammt, er wurde alt.

Er nickte ihr zu, drehte sich zur Bar um, legte seine Hände auf die Theke und zog sie sofort wieder weg. Seine Finger klebten.

Er bestellte ein Bier und zwei Pizzen zum Mitnehmen.

»Beruflich hier?«, fragte die neben ihm stehende Journalistin.

Eine kurze Pause, dann sah Callum sie an und schüttelte den Kopf. »Nein.«

Ein schlaksiger Mann drängte sich zwischen sie und stellte sein Bierglas auf die Theke, gefüllt mit zusammengeknüllten, soßenverschmierten Servietten, obendrauf verziert mit einem zerkauten Kaugummi. Schlamm klebte an seinem neonfarbenen Shirt, das am Ärmel einen langen Riss hatte.

Die Journalistin betrachtete Callums Hose und Hemd und legte den Kopf schief. »Na, wie ein freiwilliger Helfer sehen Sie nicht gerade aus.«

»Ich dusche gern.«

Sie nippte an ihrem Wein. »Wenigstens ist es nicht wieder ein Kind. Nach der ganzen Panik wegen des vermissten Kleinkinds vor dreizehn Jahren. Was für ein Mist.«

Er brachte keine Antwort heraus.

Sein Schweigen schien sie nicht zu stören, sie trank einen großen Schluck und sprach weiter. Sie war offensichtlich daran gewöhnt, mit Menschen zu reden. »Und davor das Mädchen. Die war erst, wie alt? Vierzehn? Fünfzehn? Und es wurde kaum gesucht. Das muss zwanzig Jahre her sein.«

»Dreißig.« Callums Stimme klang abgehackt, sein Mund fühlte sich wund an. Vor seinem inneren Auge blitzten granitgraue Steine auf. Er nahm das Gewicht von seinem linken Bein und trank einen Schluck.

Sie sah sich in der Kneipe um. »Der Stadtpolizist war damals wohl wegen eines familiären Notfalls verhindert, und sein neuer Kollege hat nur das Nötigste getan. Keine achtundvierzig Stunden hat man nach ihr gesucht.« Sie schnaubte in ihr Weinglas. »Das war richtiger Murks. Aber …« Sie lächelte. »Gab eine gute Story ab.«

Callums Brust schnürte sich zusammen, er nahm noch einen Schluck, fast wäre ihm das Glas aus der Hand gerutscht. Er wischte sich die Hände an der Hose ab.

Wo blieben die verdammten Pizzen?

Am anderen Ende der Bar übertönten laute Stimmen die Geräuschkulisse der Kneipe. Callum und die Journalistin drehten sich um. Ein Mann versuchte, von seinem Barhocker aufzustehen, schwankte und wurde von einem anderen mit beeindruckendem Walrossschnauzbart wieder auf den Hocker gedrückt.

»… die gehen dem ja immer noch nicht nach, oder etwa doch?« Der Mann stand wieder auf, wehrte die Versuche des anderen ab, ihn zu stützen, und lehnte sich schwer auf die Theke.

Gedämpftes Gemurmel vom Schnauzbart-Mann, dessen Worte in den dunklen Haaren auf der Oberlippe verschwanden.

»Die sollten sich endlich die verdammte Schule ansehen«, rief der Mann an der Theke und brachte die Kneipe zum Schweigen. »Und sich diesen Wichser Thacker vorknöpfen. Diesen Perversen, der mir schon meinen Josh genommen hat, und jetzt hat er Lachie auf dem Gewissen.«

Er hob eine Hand und stieß dabei sein Bierglas um. Sein Freund führte den Mann mit festem Griff nach draußen, die Umsitzenden vermieden jeglichen Blickkontakt. Mit dem Bier schien auch die Wut des Mannes verschüttgegangen zu sein.

»Klingt interessant.« Die Journalistin zog die Augenbrauen hoch.

»Haffenden!« Der Barmann hielt zwei Pizzakartons hoch und sah sich suchend um.

Gott sei Dank.

Callum schnappte sich die Pizzas, verlagerte sein Gewicht auf beide Beine, nickte der Frau kurz zu und schob sich in Richtung Tür, bevor sie den Mund wieder aufmachen konnte.

*

Die Pizzakartons, jetzt leer, standen neben zwei Bierflaschen und einem Glas Wasser auf dem alten Holzverandatisch der Quades. Der Geruch von Regen lag in der Luft, dicht und schwer und drückend. Callums Körper fühlte sich wohlig warm an, was allerdings eher auf die Gesellschaft als das mittelmäßige Essen zurückzuführen war.

Vor vierzig Minuten hatte Callum mit erhobener Hand vor der Holztür gestanden und sich gefragt, wann er zuletzt bei den Quades angeklopft hatte. Die Tür kannte er, das Dach war neu. Das alte aus Metall, dessen flaschengrüne Farbe schon lange abgeblättert war, war durch ein modernes graues Colorbond-Dach ersetzt worden.

Wahrscheinlich infolge des letzten Wirbelsturms.

Abgesehen von ordentlich aufgestapelten Umzugskartons im Flur sah innen alles noch genauso aus wie vor drei Jahrzehnten. Callum hatte fast das Gefühl, nach Hause zu kommen.

Bill, Eddys Vater, hatte ihn mit einem schiefen Lächeln begrüßt und sich schwer auf den rechten Arm gestützt, um sich aus einem alten Sessel zu hieven, an den sich Callum noch aus seiner Kindheit erinnerte. Bill reichte Callum kaum bis zur Brust, packte ihn aber an beiden Schultern – wie sein Sohn wenige Stunden zuvor – und drückte fest. Tabakgeruch waberte in der Luft.

Die Zeit hatte bei Bill ihre Spuren hinterlassen. Hängende Schultern und ein nach rechts gebeugter Körper, als wäre der Wind sein Leben lang von links gekommen. Wettergegerbte Haut, um einiges dunkler als die seines Sohns – Zeichen eines Lebens unter der harschen Sonne von Queensland –, und Lachfalten um den Mund, die sich wie tiefe Rinnen in die Haut gegraben hatten.

»Hast dich kaum verändert!« Bill sprach undeutlich, ein Wort klammerte sich an das andere wie an ein Rettungsboot, drängte verzweifelt danach, seinem Mund zu entweichen. Gehört zu werden.

Ein Schlaganfall hatte ihm schwer zugesetzt, Callum verspürte Gewissensbisse. Er hätte ihn besuchen sollen, als er davon erfahren hatte.

Jetzt lehnte sich Bill in seinem Gartenstuhl so weit nach hinten, dass man befürchten musste, dass er umkippen würde. Seine Augen waren geschlossen, der Gesichtsausdruck friedlich, und der Regen, der bis unter das Vordach wehte und ihm nasse Füße bescherte, schien ihn nicht zu stören. Trotzdem war sich Callum nicht sicher, ob er schlief.

»Also, was hat dich wirklich nach Granite zurückgebracht?« Eddy warf ein Stück Pizzakruste in den Pappkarton.

Callum sah ihm in die Augen, dann wieder in die Dunkelheit vor der Veranda hinein. Das Trommeln des Regens hallte in seinem Kopf nach.

Eddy schaute ihn unverwandt an. »Pip.« Es war keine Frage.

Ein Nicken. Das reichte.

»Und Milly geht’s gut?«

»Ja. Sie ist nur sauer, weil sie nicht mitkommen durfte.« Er zwang sich zu nicken. Bilder seiner Tochter tanzten durch seinen Kopf, mit roten Wangen, wunderschön. Grollend und schmollend. »Sie hat sich letzten Monat die Nase piercen lassen, ohne mir was zu sagen.«

Eddy lachte.

Einen Moment später kringelte sich Bills Mundwinkel nach oben.

»Sie ist ein tolles Mädchen.« Callum spürte die Wärme in sich. »Aber, na ja, ist nicht einfach mit einer Fünfzehnjährigen.« Ohne Mutter. Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Ich kann mich nicht erinnern, dass wir auch solche kleinen Arschlöcher waren.«

Diesmal schnaubte Bill vernehmlich, und Eddy lachte herzlich auf. Das hatte sich in dreißig Jahren nicht geändert. »Machst du Witze? Wir waren totale Arschlöcher.«

»Wir?«

Ein leises Geräusch der Zustimmung vom weiterhin reglosen Bill.