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Gottfried-Heinrich Emanuel Hart, Spitzname Rigidus, ist kein Privatdetektiv, aber ein Spezialist für heikle Personenschutzaufgaben und Ermittlungen. Er wird von dem Bauunternehmer Otto Heumacher engagiert, der erpresst und von der Deponiemafia bedroht wird. Bevor Hart die genauen Umstände der Bedrohung kennt, wird sein Auftraggeber ermordet. Hauptkommissar Behrends, Chef der Mordkommission, schätzt die Fähigkeiten Harts und arbeitet eng mit ihm bei der Aufklärung des Verbrechens zusammen. Als nach dem Tod des Bauunternehmers dessen Frau mit der gleichen Geldsumme erpresst wird, konzentrieren sich die Ermittlungen auf den Erpresser. Viele Indizien deuten darauf hin, dass Erpresser und Mörder identisch sind, aber es fehlen Beweise. Hart ist mit seinen Ermittlungen der Polizei immer ein Stück voraus, und es gelingt ihm, den Erpresser zu identifizieren. Ein raffinierter und wahnsinniger Plan des Erpressers, der mit einem riesigen Bluff die Polizei irreführt, bringt nicht nur Hart in Lebensgefahr, sondern löst eine Verfolgungsjagd aus, die Hart bis nach Amsterdam führt.
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Seitenzahl: 322
Veröffentlichungsjahr: 2019
K.-D. HIERONYMUS
***
DER FREITAG HAT NOCH FÜNF MINUTEN
Kriminalroman
© 2019 K.-D. Hieronymus
Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7482-5226-9
Hardcover:
978-3-7482-5227-6
e-Book:
978-3-7482-5228-3
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Personen
G.H. Emanuel Hart:
Spitzname Rigidus, intelligent, ausgezeichnete Beobachtungs- und Kombinationsgabe, 1,92 m groß, sportlich, 90 kg Kampfgewicht, abgebrochenes Jurastudium, ist kein Privatdetektiv, aber meistens schneller, als die Polizei erlaubt.
Walther Behrends:
Hauptkommissar bei der Mordkommission, 19 Jahre erfolgreich bei der Kripo und ein passionierter Bridgespieler.
Bernd Schubert:
Kommissar bei der Mordkommission, mit 1,87 m Körpergröße, 110 kg Lebendgewicht und schrecklich hoher Fistelstimme ist er der engste Mitarbeiter des Hauptkommissars.
Otto Heumacher:
Erfolgreicher Bauunternehmer mit dem Charme des ungebildeten Emporkömmlings, wird erpresst, engagiert Hart und wird Opfer eigener Überheblichkeit.
Anna Heumacher:
Ehefrau von Otto, verfügt theoretisch über das Firmenvermögen und ist auch sonst eine interessante Frau.
Alfred Simbach:
Genialer Elektroingenieur, erst gutgläubig, dann pleite und schließlich verrückt.
Claudia Dohrmann:
Abgebrochenes Medizinstudium, ist mit 29 Jahren noch unverheiratet und unsterblich in Hart verliebt.
1. Kapitel
Der schwarze Mercedes, S-Klasse, rollte langsam auf den Parkplatz mit dem Hinweisschild Geschäftsleitung. Otto Heumacher öffnete die Wagentür auf der Fahrerseite bis zum Anschlag und wälzte seine 130 Kilogramm Fleisch- und Muskelmasse aus dem Auto. Dass die Tür an dem auf dem Nachbarparkplatz abgestellten Firmenwagen dabei eine empfindliche Beule in das Karosserieblech drückte, nahm er mit einem abfälligen Grunzen zur Kenntnis. Dem Schaden schenkte er weiter keine Beachtung, warf mit kräftigem Schwung die Fahrertür zu und entnahm dem Kofferraum einen flachen, schwarzen Aktenkoffer. Der Mann trug weder Mantel noch Kopfbedeckung, obwohl der nasskalte Novemberwind eisige Hagelkörner vor sich hertrieb. Empfindlich prickelnd trafen sie sein grobschlächtiges und durch viel Alkoholgenuss aufgeschwemmtes Gesicht.
Laut Wetterbericht waren das die letzten Ausläufer des Tiefs „Sieglinde“. Es sollte wärmer werden.
Als er die Eingangsstufen zu dem Bürogebäude erreicht hatte, zeigte sein hellblaues Hemd dunkle Wasserflecken an der Brust. Der knallrote Binder, durch den Wind hatte er sich über die Schulter gelegt, war nur halb zugezogen und der oberste Hemdknopf geöffnet. Er fühlte sich eingeengt bei geschlossenem Hemdkragen und ärgerte sich, wenn seine Frau ihn deshalb tadelte. Sein dunkelblauer, einreihiger Anzug zeigte ebenfalls Wasserflecken an der Vorderseite und auf den Schultern.
Die großzügige Windfanganlage öffnete und schloss sich per Bewegungsmelder, so dass er beim Betreten des Gebäudes mit der freien Hand, die nicht aufgetauten Eiskörner aus dem Haar und vom Revers streifen konnte.
Durch seinen massigen Körper mit dem Stiernacken und den prankenartigen Händen wirkte der Mann bullig und brutal. Eher wie ein Berufscatcher, nicht wie ein erfolgreicher Geschäftsmann. Dieser Eindruck täuschte, denn Otto Heumacher entpuppte sich in schwierigen Geschäftsabschlüssen stets als ein außerordentlich geschickter und einfühlsamer Verhandlungspartner, der mit Witz und dem unnachahmlichen Charme eines ungebildeten Emporkömmlings meistens den Erfolg für sich verbuchen konnte.
Rücksichtslos konnte er allerdings sein, wenn es um seinen persönlichen Vorteil ging. Diejenigen, die sich ihm bei seiner steilen Karriere als erfolgreicher Bauunternehmer in den Weg stellen wollten, bereuten dies meistens schnell. Auch gegenüber den Mitarbeitern war er nicht zimperlich, wenn es darum ging, Leistungen einzufordern. Anderseits arbeiteten sie alle gerne für ihren Chef, denn irgendwie war er einer von ihnen geblieben. Er zahlte gute Löhne und Gehälter. Heumacher wusste aus eigener Erfahrung, wie wichtig Motivation und Loyalität der Mitarbeiter für ein leistungsstarkes Unternehmen sind.
Als einfacher Maurer hatte er begonnen, sich hochgearbeitet zum Polier und irgendwann erkannt, dass man mehr Geld verdienen konnte, wenn man andere für sich arbeiten ließ. Die ersten Gerätschaften, die er für seine Selbstständigkeit brauchte, hatte er nach und nach von den Großbaustellen, auf denen er arbeitete, mitgehen lassen. Kontrollsysteme über Gerät und Material auf den Baustellen gab es so gut wie nie. Damals wurde im Baugewerbe noch viel Geld verdient.
Aber Otto Heumacher lebte nach dem Grundsatz: Man soll aus den Fehlern anderer lernen, denn kein Mensch hat so viel Zeit, sie alle selbst zu machen.
In seinem Unternehmen wurden deshalb jede Schubkarre, jeder Mischer, jede Schaufel, überhaupt alles an beweglichen Kleingeräten von einem Zentralmagazin verwaltet. Es wurde dort registriert, gepflegt und ausgeliefert und nach Beendigung der Baumaßnahme wieder eingelagert. Defekte Gerätschaften mussten genauso abgeliefert werden wie die unbeschädigten. Nichts durfte über die Baustellen entsorgt werden. Damit war sichergestellt, dass keiner von den Arbeitern auch nur einen einfachen Besenstiel oder eine Flechterzange mitgehen lassen konnte. Was nicht wieder abgeliefert wurde, zog er rücksichtslos dem Polier von dessen Baustellenprämie ab.
„Guten Morgen, Herr Heumacher.“
Den freundlichen Gruß der Dame an dem runden Empfangstresen in der Eingangshalle erwiderte er nicht, sondern knurrte mit befehlsgewohnter Stimme. „Sagen Sie dem Hausmeister er soll die Eingangsstufen eisfrei halten. Ich will nicht, dass sich jemand da noch den Arsch bricht und mir das in Rechnung stellt.“
An seine Fäkaliensprache und seine schlechte Laune am Montag hatten sich längst alle gewöhnt. In der Baubranche war dieser Umgangston zwar nicht mehr üblich, aber jeder kannte die Biografie des Chefs, und irgendwie erwartete man nichts anderes.
Ohne stehen zu bleiben oder eine Antwort abzuwarten, verschwand Otto Heumacher in sein Büro. Es war ein schlicht eingerichteter Raum. Ein großer Schreibtisch aus Mahagoniholz, schmale Schränke links und rechts neben der Tür, ein riesiger, ovaler Besprechungstisch, den er hatte extra anfertigen lassen und an dem zwölf Personen bequem auf einfachen Schwingsesseln Platz nehmen konnten. An den Wänden gab es keine Bilder, aber viele Metallschienen, an denen mit Magneten Zeichnungen aufgehängt wurden.
Otto Heumacher stellte den flachen Lederkoffer auf den Besprechungstisch und ließ sich ächzend hinter seinem Schreibtisch auf den bequemen Chefsessel nieder.
Die riesige Papierunterlage auf seinem Schreibtisch war vollgekritzelt mit Zahlen, Notizen und mit überwiegend treppenartig gezeichneten Rechtecken, die er fein säuberlich mit roten und blauen Strichen ausgemalt hatte. Eine Fundgrube für jeden Psychologen.
Zwei Unterschriftenmappen verdeckten das Meiste davon. Die eine Mappe war für die ausgehende Post bestimmt, in der anderen lagen Überweisungen, die er unterschreiben musste. Er zog die Postmappe näher zu sich heran und begann mit dem Lesen der Schriftstücke. Bevor er den letzten Brief unterzeichnete, trat nach kurzem Klopfzeichen seine Sekretärin mit der am Wochenende eingegangenen Post ein.
„Guten Morgen, Herr Heumacher. Die Post.“ Sie legte ihm den Stapel ungeöffneter Briefe auf den Schreibtisch. Er behielt es sich vor, sämtliche Briefposteingänge selbst zu öffnen.
„Denken Sie bitte daran, dass Sie um 11.30 Uhr einen Termin bei der Deutschen Bank haben. Möchten Sie jetzt eine Tasse Kaffee?“
„Nein. Aber Sie können mir einen schwarzen Tee mit einem Schuss Rum bringen.“
Es war nichts Ungewöhnliches, dass er am frühen Morgen Alkohol trank. Bei seiner Körpermasse zeigten diese geringen Mengen auch keinerlei Wirkung.
Er stand auf, zog sein Jackett aus und hielt es seiner Sekretärin hin. „Hängen Sie das zum Trocknen auf. – Ich möchte nur wissen, wann dieses Scheißwetter endlich aufhört. Haben schon Baustellen Schlechtwetter gemeldet?“ Er setzte sich wieder und sah seine Sekretärin fragend an.
„Bis auf den Bauleiter der neuen Ganztagsschule hat bisher keiner angerufen. Auf den anderen Baustellen scheint es zurzeit noch trocken zu sein.“ Sie ging mit dem Jackett ihres Chefs zu dem kleinen Garderobenschrank gleich neben der Tür und hängte das Kleidungsstück auf einen Bügel. „Wollen Sie jetzt diktieren, Herr Heumacher, oder soll ich mich um Ihren Tee kümmern?“
„Bringen Sie mir den Tee. Ich sehe erst die Post durch.“ Damit wandte er sich dem Stapel Briefpost zu.
Mit seinem Taschenmesser begann er die Briefe aufzuschlitzen. Den edlen Brieföffner mit dem Elfenbeingriff, ein Geschenk seiner Mitarbeiter, benutzte er nicht. Brieföffner waren ihm verhasst, weil sie stumpf waren und er damit den Umschlag meistens nur so aufbekam, dass auch der Inhalt aufgeschlitzt oder eingerissen wurde.
Als er einen Brief ohne Absender und mit dem Vermerk persönlich, vertraulich öffnete traute er seinen Augen nicht. Er hielt das Schreiben gegen das Licht und wusste selber nicht warum. Vielleicht hoffte er irgendetwas an dem Papier oder an dem Wasserzeichen im Papier zu entdecken, das einen Rückschluss auf den Absender zuließ. Dann las er noch einmal ganz langsam den Inhalt des Schreibens, das ohne Datum und ohne Unterschrift kursiv in Times New Roman mit einem Computer geschrieben war.
Ich fordere von Ihnen Diamanten im Wert von € 226.000, -. Die Übergabe erfolgt am Dienstag, d. 16. November. Genaue Angaben folgen in Kürze. Beschaffen Sie sich bis dahin die Diamanten und benachrichtigen Sie nicht die Polizei. Zum Beweis, dass dies kein Scherz ist, wird es auf einer Baustelle heute eine entsprechende Demonstration geben.
Otto Heumacher seufzte tief, als er sich zurücklehnte und mit geschlossenen Augen, die Prankenhände über seinem massigen Bauch gefaltet, darüber nachdachte, wer wohl dieser Idiot war, der glaubte ihn erpressen zu können. Der Kerl musste völlig verrückt sein. Diamanten im Wert von 226.000, - Euro! Und warum so eine krumme Summe? Er öffnete die Augen und drehte den Kopf in Richtung Wandkalender. Heute war Montag, der 8. November. Der 16. November war schon der nächste Dienstag.
Er nahm den Briefumschlag und musterte ihn nochmals von allen Seiten. Nichts Besonderes erkennbar. Ein schlichter, weißer, nicht gefütterter Briefumschlag. Er musste in den Hausbriefkasten geworfen worden sein, denn eine Briefmarke gab es nicht. Die Anschrift lautete: Herrn Otto Heumacher und darunter persönlich, vertraulich.
Abrupt wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als seine Sekretärin ohne anzuklopfen ins Zimmer stürmte. „Auf der Baustelle Postweg ist eben eine Materialbude in die Luft geflogen, Herr Heumacher! Der Polier ruft gerade an und fragt, ob Sie rauskommen können.“ Sie rang vor Aufregung nach Luft, als ob sie gerade einen Hundertmetersprint hinter sich hätte.
„Verbinden Sie mich mit Hansen.“
Trotz der Größe des Unternehmens kannte Heumacher jeden der Bauleiter und Poliere und wusste genau, auf welchen Baustellen sie eingesetzt waren.
Die Sekretärin hetzte zu ihrem Telefon im Vorzimmer und stellte die Verbindung her.
„Was ist los, Hansen?“, brüllte Heumacher ins Telefon.
„In einer Zementbude ist ein alter Feuerlöscher in die Luft geflogen. Hat ’n mächtigen Knall gegeben, Chef. Das Dach hat richtig abgehoben und die Tür ist rausgeflogen.“
„Wurde jemand verletzt?“
„Nein. War gerade Frühstück.“
„Was hat denn der Feuerlöscher in der Zementbude zu suchen?“
„Weiß ich auch nicht. Keiner hier weiß, wie das Ding da reingekommen ist. Ich werde es aber noch rauskriegen. Zum Glück ist nichts in Brand geraten.“
„Halten Sie Neugierige von der Baustelle und möglichst auch die Polizei, falls die von einem der Nachbarn angerufen wurde. Ich bin in zehn Minuten da.“ Er legte den Hörer auf und rief laut nach seiner Sekretärin. „Frau Richter!“
„Ja?“
„Ich fahre in den Postweg. Sagen Sie den Termin bei der Deutschen Bank ab. Den Rest der Unterschriften erledige ich heute Nachmittag.“ Sorgfältig steckte er den Erpresserbrief wieder zurück in den Umschlag und verstaute ihn in seiner Gesäßtasche.
***
Er hatte schon gehofft, die ganze Geschichte hätte sich erledigt, weil nach Eingang des Erpresserschreibens eine Woche vergangen war, ohne dass die angekündigten Anweisungen eingetroffen wären. Aber nun, einen Tag vor dem Übergabetermin, hielt er eine kleine Blechdose in der Hand, die vor wenigen Minuten durch einen Boten beim Empfang abgegeben worden war. Wieder stand auf dem Umschlag: Herrn Otto Heumacher, persönlich, vertraulich.
Die zum Glück harmlos abgelaufene Explosion auf der Baustelle im Postweg hatte ihm gezeigt, dass er es mit einem ernst zu nehmenden Gegner zu tun hatte. Ihm war klar, dass der Erpresser dahintersteckte. Das Ganze hätte auch schlimmer ausgehen können. Der Zeitpunkt war geschickt gewählt worden. Alle Arbeiter machten weit ab von der Zementbude in den Mannschaftscontainern Frühstückspause. Das Risiko, dass Personen verletzt werden würden, war also gering.
Eindeutig eine Warnung. Und wenn der Täter beweisen wollte, wie kontrolliert er vorzugehen vermochte, dann war das mit dieser Demonstration eindrucksvoll gelungen. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, eine Frau könnte sich mit ihm anlegen und ihn erpressen.
Tagelang hatte er gegrübelt, wer dahinterstecken könnte. Auch über die Möglichkeit, dass es sich um mehrere Täter, um eine Erpresserbande handeln könnte, hatte nachgedacht. Instinktiv erfasste er, dass es irgendwie mit seinen Geschäften, jedenfalls mit der Firma zusammenhing. Privates schloss er aus. Ein Mann wie er hatte kaum private Freunde oder Feinde. Nur Geschäftspartner oder Zweckfreundschaften, Personen an den Schaltstellen in der Politik beziehungsweise bei den Behörden, denen er großzügig nicht nur zu Weihnachten etwas zukommen ließ. Natürlich schloss er gedanklich auch verschiedene Mitbewerber in der Baubranche nicht aus. Aber das war schon ziemlich unwahrscheinlich.
Und die Deponiemafia? Wohl kaum, die würden nicht mit so einer geringen Geldsumme Erpressungsversuche unternehmen. Und warum sollten die Diamanten anstelle von Bargeld fordern? Nein, die würden ihn eiskalt in die Insolvenz treiben, falls er wirklich durch den Zuschlag in Stockholm in deren Focus geraten war. Oder ihn umbringen. – Aber er würde sich schon mit denen arrangieren, um es nicht soweit kommen zu lassen. – Es musste, verdammt noch mal, jemand sein, der ihn und den Betrieb genau kannte.
Ein Handfeuerlöscher, der nicht zum Inventar der Baustelle gehörte, musste präpariert und von jemand Fremden in der Zementbude versteckt worden sein. Soviel war klar. Denn überall hatten Teile des zerborstenen Feuerlöschers herumgelegen. Wie das Ding zur Explosion gebracht worden war, blieb unklar, denn polizeiliche Ermittlungen, die dies geklärt hätten, wollte er nicht. Die hätten mit ihren kriminaltechnischen Untersuchungen stundenlang die Bauarbeiten behindert. Außerdem hätten sie Fragen gestellt. Otto Heumacher war jemand, der seine Angelegenheiten lieber selber in die Hand nahm und in Ordnung brachte.
Er las zum wiederholten Mal das zweite Erpresserschreiben.
Die Diamantenübergabe erfolgt morgen, am Di., d. 16. November, im Bürgerpark. Stecken Sie die Diamanten in den Behälter und legen diesen genau um 23.00 Uhr im Bürgerpark auf den Weg vor dem Gerdes-Pavillon. Ihr Auto parken Sie an der Parkallee und gehen danach dorthin zurück. Sollten Sie diese Anweisungen nicht ganz genau befolgen, wird in einer Ihrer Wohnanlagen um 00.00 Uhr eine Bombe gezündet.
Er hielt es für unmöglich seine drei Wohnanlagen mit jeweils 115 Wohnungen vor einem Attentat zu bewahren. Wie sollte das gehen? 345 Wohnungen beziehungsweise über 1000 Menschen müssten kontrolliert und bewacht werden. Und wie lange? Wer sagte denn, dass nach Ablauf der Frist nicht eine neue gesetzt werden würde? Außerdem hatte er registriert, dass vor der Zeitangabe 00.00 Uhr kein Datum angegeben war. War das nicht sogar ein Hinweis darauf, dass der Erpresser damit rechnete, beim ersten Übergabetermin nicht erfolgreich zu sein? Ohne Gesichtsverlust könnte er die nächste Drohung dann mit Datumsangabe wiederholen.
Logisch für ihn war, dass der Erpresser nur ein Ziel hatte: Geld beziehungsweise die Diamanten. Das mit den Diamenten fand er schon schlau. Der Weg der Diamanten würde von den Ermittlungsbehörden nur schwer oder überhaupt nicht verfolgt werden können. Bei Lösegeld sah das anders aus. Der Erpresser musste davon ausgehen, dass die Nummern der Geldscheine der Polizei bekannt waren.
Nein, er würde das Problem auf seine Art lösen. Und er wusste auch schon, wie. Erst einmal würde er zum Schein auf die Erpressung eingehen und Glasperlen anstelle der Diamanten in den Behälter tun. Vielleicht gelang es ihm bei der Übergabe, den Erpresser zu Gesicht zu bekommen. Möglich sogar, dass es ein Bekannter war. Ganz sicher aber würde der Kerl wieder mit ihm Kontakt aufnehmen, wenn er den Schwindel gemerkt hatte. Dann bekam er eine zweite Chance. Und dann würde ihm schon etwas einfallen, wie er sich den Burschen schnappen konnte.
Damit war für Otto Heumacher erst einmal die Welt wieder in Ordnung. Allerdings überlegte er noch, ob er nicht einen Personenschutz anheuern sollte. Immerhin könnte der Erpresser sich nach der ersten Enttäuschung auch direkt an ihm rächen wollen.
Er griff zum Telefon und wählte die Nummer seines Architekten.
„Büro Trautmann!?“
„Heumacher hier. Geben Sie mir Trautmann.“
„Herr Trautmann ist nicht im Büro, Herr Heumacher. Vielleicht erreichen Sie ihn zu Hause.“
Er legte grußlos den Hörer auf. Derartige Telefonate hielt er immer kurz und knapp.
Die Privatnummer von Viktor Trautmann wusste er auswendig.
„Trautmann!?“
„Heumacher. Viktor, du hast doch so einen Freund, der dich mal aus der Scheiße geholt hat. Hast du noch Kontakt zu ihm?“
„Du meinst meinen Freund Rigidus Hart. Ja, der wohnt sogar noch bei mir. Was ist mit ihm?“ Viktor Trautmann kannte seinen besten Kunden sehr gut und verkniff sich eine Bemerkung über dessen Ausdrucksweise.
„Ich brauch ihn mal vorübergehend. Hätte er Zeit?“
„Das musst du ihn schon selber fragen, Otto. Ich weiß es nicht. Soll ich mal nachsehen, wo er steckt?“
„Dauert jetzt zu lange. Sag ihm, er soll mich heute Abend zu Hause anrufen. Bis dann.“
Otto Heumacher hatte sich gerade wieder den Angebotsunterlagen für die Großdeponie in Schweden zugewandt, als das Telefon klingelte. Seine Sekretärin meldete das Gespräch einer Firma an, die Alarm- und Sicherheitsanlagen überprüft.
„Heumacher. Worum geht’s? Ich habe wenig Zeit“, meldete er sich schroff.
„Mein Name ist Hauser. Firma Home-Securitas. Wir sind neu am Markt, Herr Heumacher, und bieten eine Überprüfung sämtlicher Sicherheitseinrichtungen wie z.B. Alarmanlagen und Bewegungsmelder von Außenbeleuchtungen usw. zu einem besonders günstigen Einführungspreis an. Egal wie umfangreich die Einrichtungen sind, rechnen wir unsere Leistungen mit einer Pauschale von 120,- Euro je Anwesen ab. Das ist ausgesprochen günstig, wenn Sie bedenken, dass ein Monteur mindestens zwei bis zweieinhalb Stunden ohne Anfahrt mit der Überprüfung und dem Ausstellen eines Testats zu tun hat.“
Heumacher lehnte sich zurück und dachte scharf nach. Das Angebot kam nicht ungelegen. Eine Überprüfung der Sicherheitseinrichtungen seines Wohnhauses in dieser Situation, wo er sich mit einem Erpresser anlegen würde, schien zweckmäßig und angebracht.
„Wie kommen Sie gerade auf mich?“ fragte er misstrauisch.
„Sie gehören in dieser Stadt zu den bekannten Persönlichkeiten, Herr Heumacher. Wie ich schon sagte, wir sind verhältnismäßig neu am Markt und möchten gern möglichst kurzfristig entsprechende Referenzen vorzeigen können. Unser Firmensitz ist in Hamburg; rufen Sie doch einfach zurück.“
„Das werde ich auch. Bis wann könnten Sie die Arbeiten durchführen?“
Heute war Montag und morgen sollte die Diamantenübergabe stattfinden.
„Bis wann brauchen Sie denn die Überprüfung, Herr Heumacher?“
„Morgen. Bis morgen Mittag.“
„Oh, das wird knapp, Herr Heumacher. Ginge es nicht auch am Donnerstag?“
„Nein. Bis morgen Mittag oder gar nicht. Sie wollen doch einen Auftrag. Also tun Sie was dafür und setzen Sie den Arsch Ihres Monteurs in Bewegung.“
„Okay. Ich werde es einrichten. Bestätigen Sie mir den Auftrag noch schriftlich?“
„Ja. Geben Sie meiner Sekretärin Ihre Telefon- und Faxnummer, dann haben Sie ihn in zehn Minuten. Wie heißt der Monteur, den Sie schicken werden?“
„Ich werde selber kommen, weil kein Monteur so kurzfristig frei ist. Mein Name ist Hauser. Unser Faxgerät wird gerade erneuert, Schicken Sie den Auftrag per Post. Ich komme trotzdem schon morgen“ Die heisere, deshalb kaum zu verstehende Stimme machte eine kurze Pause. „Vielen Dank für den Auftrag.“
Otto Heumacher stellte ohne weiteren Kommentar die Verbindung zurück zu Frau Richter und beauftragte sie die Firma in Hamburg vor Auftragserteilung anzurufen und die Adresse zu notieren. Er schrieb den Namen Hauser auf die Schreibtischunterlage und malte ein Kästchen darum. Er durfte nicht vergessen, seiner Frau Bescheid zu geben.
***
Anna Heumacher hörte die Haustürklingel nicht, weil das Radio sehr laut eingestellt war und ihre ganze Konzentration dem rechten Fuß galt, zwischen dessen Zehen sie kleine Wattebäuschchen geklemmt hatte und gerade anfing, die Fußnägel mit einem knallroten Nagellack zu überziehen.
Sie saß im Badezimmer auf einem flauschig überzogenen Hocker und hatte den rechten Fuß gegen die Badewanne abgestützt. Der Linke stand zum Trocknen des Nagellacks auf einem weißen Frottiertuch. Sie ging zwar regelmäßig zur Maniküre, aber die Pflege ihrer Füße übernahm sie gern allein. Obwohl es jetzt zum Winter hin eigentlich egal war, ob die Fußnägel lackiert waren.
Anna Heumacher war das, was man eine attraktive Frau nannte. Ihre makellose Figur wurde nur unvollständig von dem seidenen Morgenrock, der jetzt, durch die nach vorn geneigte Haltung, weit auseinander fiel, umhüllt. Sie war so attraktiv, dass viele ihrer Bekannten für die nun schon 18 Jahre andauernde Ehe mit dem ungehobelten Klotz Otto Heumacher nur eine Erklärung hatten: Sucht nach Luxus.
Er schien sie wirklich zu lieben, ja ihr geradezu verfallen zu sein, während über sie einige Gerüchte in Umlauf waren, die einer Lady Chatterley zur Ehre gereicht hätten. Niemand wusste Genaues, aber jeder verbreitete diese Gerüchte, stets angereichert mit der eigenen Fantasie.
Das Klingeln des schnurlosen Telefons war nicht zu überhören. Das Handy lag direkt neben ihr auf dem Teppichboden des Badezimmers.
„Anna Heumacher?“, meldete sie sich mit wohlklingender Altstimme.
„Hier spricht Hauser von der Home-Securitas. Frau Heumacher, Ihr Mann hat mich mit der Überprüfung der Sicherheitseinrichtungen Ihres Hauses beauftragt. Ich stehe hier vor der Haustür. Anscheinend haben Sie das Klingeln nicht gehört. Würden Sie mich bitte hineinlassen?“
Anna Heumacher erinnerte sich, dass ihr Mann gestern davon gesprochen hatte, ein Monteur Hauser würde am Dienstagvormittag die Alarmanlage und die über Bewegungsmelder gesteuerte Außenbeleuchtung überprüfen.
„Warten Sie einen Augenblick.“
Sie verschloss die Flasche Nagellack, raffte den Morgenrock nachlässig vorn zusammen und ging barfuß, immer darauf bedacht, die Wattebäusche zwischen den Zehen nicht zu verlieren, zur Haustür.
Der Mann in dem verwaschenen, dunkelblauen Monteuranzug hielt seine abgegriffene speckige Mütze mit beiden Händen fest, als fürchtete er, sie könnte ihm im nächsten Augenblick von jemanden entrissen werden, und schaute verlegen zu Boden. Einen großen metallenen Koffer hatte er neben sich gestellt.
„Kommen Sie rein und putzen Sie bitte vorher Ihre Schuhe sauber. Ins Bad müssen Sie doch hoffentlich nicht, oder?“
Der Monteur schüttelte verlegen den Kopf, ohne sie anzusehen. Sie mochte solche Typen nicht und zog instinktiv den Morgenrock über ihren üppigen Brüsten fester zusammen. Dann trat sie einen Schritt zurück und ließ den Mann, der den großen Metallkoffer aufgenommen hatte, eintreten. „Ich hoffe, Sie finden sich allein zurecht. Der Kasten mit den Sicherungen und die Alarmanlage befinden sich dort hinter der Tür neben dem Hausarbeitsraum.“
Sie wies auf eine der kostbar verzierten und mit teuer aussehenden Messingbeschlägen versehenen Türen in der großen Diele und ging zurück ins Bad.
Als sie ihre Morgentoilette beendet hatte und in einem beigefarbenen Hosenanzug die Diele betrat, kniete der Mann im Hausarbeitsraum und fummelte an irgendwelchen Kabeln herum. Die Haustür war nur angelehnt, weil er anscheinend draußen und drinnen zu tun hatte.
„Kommen Sie klar?“, fragte sie höflich.
„Ja“, war die wortkarge Antwort.
„Wie lange brauchen Sie denn noch?“
„Bin gleich fertig.“
Sie kümmerte sich nicht weiter um den Mann und begab sich in die Küche, um ihr Frühstück vorzubereiten. Einen Augenblick lang war sie sich unschlüssig, ob sie dem Monteur nicht einen Kaffee anbieten müsste. Otto achtete immer sehr darauf, Handwerker nach so etwas zu fragen. Aber sie hatte nicht die geringste Lust, diesen einsilbigen Arbeiter zu bedienen, der ja auch gleich fertig sein würde.
Ein Glas Grapefruit, eine Tasse Tee, ein Toast mit Kirschmarmelade und eine Scheibe Schwarzbrot ohne Butter, mit Käse belegt, waren ihr tägliches Frühstück. Das Geheimnis ihrer guten Figur lag aber nicht nur an dem kargen Frühstück und dem Weglassen des Mittagessens. Sie ging regelmäßig schwimmen, joggte und spielte Tennis und Golf. Ihr Mann frühstückte morgens allein. Er war Frühaufsteher und von klein auf deftige Mahlzeiten zu allen Tageszeiten gewöhnt. Zu seinem Frühstück gehörten zwei gekochte Eier und vier Scheiben Schwarzbrot, die er fingerdick mit Leberwurst, Schinken oder Käse belegte. Für Sport begeisterte er sich nur am Fernseher. Die sportlichen Aktivitäten seiner Frau gefielen ihm allerdings. Sie nahmen ihm die Last, sich um ihre Unterhaltung sorgen zu müssen, und weil er morgens in Ruhe die Zeitung lesen wollte, zeigte er auch Verständnis dafür, dass sie länger schlief und er die Frühstückseier selbst kochen musste, alles andere stand vorbereitet auf dem Tisch.
„Ich bin fertig, Frau Heumacher.“ Der Monteur mit der seltsam heiseren Stimme stand in der Diele, hatte die Mütze tief ins Gesicht gezogen und den großen Metallkoffer in der Hand.
„Ist alles soweit in Ordnung. Den Prüfbericht schicke ich Ihrem Mann zu. Auf Wiedersehen.“
Durch die offenstehende Küchentür sah sie, wie der Mann, ohne eine Antwort abzuwarten, das Haus verließ. Komischer Kauz, dachte sie und widmete sich wieder der Anzeige des Park Hotels, in der eine Vitamin-C-Gesichtsbehandlung, 120 Minuten lang, für nur 78 Euro angeboten wurde.
***
In sieben Stunden sollte die Übergabe der Diamanten sein. Otto Heumacher saß an seinem Schreibtisch und hatte die kleine Blechdose, die wie eine Tabaksdose aussah, geöffnet vor sich. Früher hatten Bauarbeiter solche Dosen in der Tasche, als noch viel Pfeife geraucht wurde. Sie war rund und der Deckel sprang auf, wenn man sie seitlich anfasste und etwas zusammendrückte.
Die Glasperlen hatte er in einem Kaufhaus erstanden. Noch nie hatte er sich Gedanken über Glasperlen gemacht und war erstaunt, in welcher Auswahl an Größe, Form und Farbe so etwas angeboten wurde. Er hatte sich für eine bunte Mischung entschieden. Damit wollte er den Erpresser wütend machen. Wer wütend war, beging vielleicht eher Fehler.
Sorgfältig schüttete er die etwa erbsengroßen Perlen aus der Tüte in die Blechdose. Er machte den Deckel drauf, lehnte sich in seinem bequemen Chefsessel zurück und schloss die Augen. Die innere Anspannung, die ihn bereits seit dem Mittag befallen hatte, wollte nicht weichen. Im Gegenteil, je näher der Übergabetermin kam, desto unruhiger wurde er.
Es machte ihm nichts aus, sich mit allen möglichen Menschen anzulegen. Aber ein unbekannter Gegner setzte ihm doch irgendwie zu.
Wieder las er die beiden Erpresserschreiben.
Dann leerte er wütend den Doseninhalt auf seine Schreibtischunterlage und riss einen Zettel aus dem Notizblock.
In seiner etwas ungelenken Handschrift schrieb er: Wenn du Arschloch denkst, mich erpressen zu können, musst du früher aufstehen.
Er faltete den Zettel zusammen und drückte ihn zuunterst in die Tabaksdose. Dann sammelte er die Glasperlen wieder ein und legte sie darauf. Sorgfältig verschloss er die Dose mit dem Deckel und verstaute sie in seiner Hosentasche. Die beiden Erpresserbriefe steckte er achtlos in die rechte Gesäßtasche, bevor er zufrieden das Büro verließ.
***
„Hast du heute Abend noch was vor?“ Anna Heumacher saß mit angezogenen Beinen auf dem lindgrünen Ledersofa und schob die Schale mit gesalzenen Erdnüssen näher zu ihrem Mann, während sie ihn fragend ansah. Sie selber verzichtete diszipliniert auf jegliche Art von Nüssen, Salzgebäck oder Süßigkeiten und gönnte sich abends beim Fernsehen lediglich ab und an ein Glas Rotwein.
Heute wurde sie von heftigen Kopfschmerzen geplagt, hatte sie ihm gerade mit gequältem Gesichtsausdruck erzählt. Am Nachmittag hatte es ganz plötzlich damit angefangen, und trotz eingenommener Tablette hielten die Schmerzen unvermindert an. Ihr Mann nahm es gelassen, dass kein Abendbrot für ihn vorbereitet war. Er war in dieser Hinsicht pflegeleicht und versorgte sich in solchen Fällen allein, ohne ihr Vorhaltungen zu machen.
„Ja, aber erst später. Du wirst schon schlafen, wenn ich wiederkomme. Was machen deine Kopfschmerzen?“
„Immer noch nicht besser. Ich werde gleich nach den Nachrichten zu Bett gehen.“
Es waren die 20-Uhr-Nachrichten, die sich beide im Fernsehen anschauten. Er saß hemdsärmelig in seinem ledernen Relaxsessel, der sich farblich durch ein dunkleres Grün von den anderen Sitzmöbeln unterschied, und hatte gegen seine sonstige Gewohnheit Schuhe und Krawatte nicht abgelegt.
Seine Augen verfolgten zwar die Geschehnisse auf dem Bildschirm, aber den Inhalt der Nachrichten nahm er nicht richtig wahr, weil seine Gedanken um die Übergabe der falschen Diamanten kreisten. Um 23.00 Uhr sollte es soweit sein. Vielleicht wäre es ganz gut, doch schon früher dort sein und sich zu verstecken, um den Erpresser bei möglichen Vorbereitungen zu beobachten, ging es ihm durch den Kopf.
Er wusste genau wo der Gerdes-Pavillon im Bürgerpark war. Ganz in der Nähe der alten Meierei. Bis zur Meierei konnte man mit dem Auto fahren. Von dort aus war es fußläufig nicht weit bis zum Pavillon, der etwas abseits vom Hauptweg, durch Buschwerk und Bäume zum Parkplatz abgeschirmt, am Rande der Meierei-Weide stand. Man konnte vom Pavillon in alle Richtungen schnell flüchten – zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Wenn der Erpresser ein Fahrrad benutzen würde, hätte Heumacher keine Chance ihn zu stellen. Es gab zu viele Möglichkeiten unerkannt zu entkommen. Der Übergabeort war geschickt gewählt.
Als der Wetterbericht, der einen ungewöhnlichen Temperaturanstieg für die nächsten Tage angekündigt hatte, beendet war, fasste er einen Entschluss und trank mit einem glucksenden Geräusch die Bierflasche leer. Ohne den missbilligenden Blick seiner Frau zu beachten, stemmte er seine 130 kg aus dem Sessel und marschierte in die Diele. Er vergewisserte sich, dass die Tabaksdose, die er zum Abendbrot aus der Hosentasche genommen hatte, noch in der Seitentasche seiner Jacke steckte, und nahm von der Garderobe die kleine Taschenlampe an sich, die dort als Notbeleuchtung immer griffbereit stand.
„Ich fahr jetzt schon. Gute Besserung!“, rief er seiner Frau ins Wohnzimmer zu und verließ das Haus.
Der kalte Wind war immer noch kräftig und unangenehm, als Otto Heumacher auf dem Parkplatz vor der alten Meierei aus dem Auto stieg. Ab und zu wurde die Wolkendecke aufgerissen, und der Bürgerpark erschien im hellen Vollmondlicht.
Das Erste, was ihm auffiel, war, dass in der Meierei kein Licht brannte. Auch der Parkplatz war leer. Nicht ein einziges abgestelltes Auto war zu sehen. Die Wohnung über dem Restaurant war ebenfalls dunkel.
Otto Heumacher marschierte zur Eingangstür des Lokals und versuchte, die Öffnungszeiten auszumachen. Er nahm die Taschenlampe zur Hilfe und las, dass am heutigen Dienstag Ruhetag war. Ratlos ging er zum Wagen und setzte sich wieder ins geschützte Innere.
So dumm würde der Erpresser nicht sein, dass er im hellen Mondlicht anspaziert kam, und irgendwelche Vorbereitungen traf, um nachher unerkannt an die Diamanten zu kommen.
Jetzt ärgerte Heumacher sich doch, dass er so früh hierher gefahren war. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte, dass noch gut zwei Stunden Zeit bis zur Übergabe waren.
Er entschloss sich, sein Auto hier stehen zu lassen und zu Fuß in Richtung Park Hotel zu gehen. Vielleicht gab es irgendetwas Auffälliges unterwegs. Als er aus dem Kofferraum seine Parka-ähnliche Baustellenjacke herausnahm, überlegte er einen Moment, ob er sich mit dem großen, handfesten Brecheisen – einem Kuhfuß, den er immer im Auto mitführte, bewaffnen sollte. Er ließ den Gedanken wieder fallen und verließ sich ganz auf seine Körperkräfte.
Den Weg vor dem Gerdes-Pavillon und das kleine, laubenartige Gebäude nahm er besonders in Augenschein. Nichts Verdächtiges, nichts Auffälliges. Der Mond kam immer häufiger zum Vorschein und leuchtete die Gegend so weit aus, dass er die kleine Taschenlampe in der Jackentasche stecken lassen konnte.
Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Der Weg führte jetzt nahe an der Meierei-Weide entlang. Friedlich sah alles aus, und die zwei schwarzbunten Rinder käuten ihren Mageninhalt liegend wider, ohne den nächtlichen Besucher zu beachten. Am anderen Rand der großen Weide, etwa zweihundert bis dreihundert Meter weg, konnte er das schwach beleuchtete Tiergehege sehen.
Kurz vor dem Hermann-Löns-Stein stürmten plötzlich zwei Hunde aus dem Unterholz. Es waren große Hunde. Die Rasse konnte er in dem dämmrigen Licht nicht so schnell erkennen, aber wahrscheinlich waren es Schäferhunde, die an ihm vorbeifegten in Richtung Wassergraben. Vielleicht jagten sie ein Kaninchen.
Otto Heumacher blieb stehen und schaute sich suchend um. Vom Hundebesitzer keine Spur. Dann ertönte ein scharfer, sehr hoher Pfiff, ganz aus der Nähe, aus einer Hundepfeife, und wie an einer unsichtbaren Leine gezogen, ließen die Hunde von ihrer Verfolgung ab und stürmten unmittelbar an ihm vorbei zurück. Interessiert folgte er dem Weg zur Parkallee ein Stück, von wo der Pfiff, der sehr nahe geklungen hatte, gekommen sein musste. Aber Hunde und Besitzer schienen sich in Luft aufgelöst zu haben, denn es war von dem ganzen Spuk nichts mehr zu hören oder zu sehen.
Etwas nervös versuchte er, die Uhrzeit auf dem Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr zu erkennen. Erst eine halbe Stunde war vergangen, seit er losgegangen war. Unschlüssig blieb er stehen und überlegte, ob er seinen Weg zum Park Hotel fortsetzen oder umkehren sollte. Er entschloss sich umzukehren, den Wagen in die Parkallee zu bringen und später langsam wieder zur Meierei beziehungsweise zum Gerdes-Pavillon zu marschieren.
Der Wind hatte jetzt dunkle Wolkentürme vor den Vollmond geschoben, sodass er schon genau hinschauen musste, wohin er trat.
Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein Mann mit zwei Schäferhunden an kurzer Leine vor ihm. Heumacher hatte ihn nicht kommen sehen und nicht kommen hören, weil er sich auf den Weg konzentrieren musste. Die Hunde gaben ein leises Knurren von sich. Von dem Gesicht des Mannes konnte er so gut wie nichts erkennen, weil der seine Baseballmütze ganz tief heruntergezogen und um den hochgestellten Mantelkragen ein Schal geschlungen hatte.
Weder der Mann mit den Hunden noch Otto Heumacher gaben den Weg für den anderen frei. Sie standen sich lauernd gegenüber. In solchen Situationen kannte der frühere Bauarbeiter Heumacher immer nur einen Weg – den nach vorne.
Er machte einen Schritt auf den Mann zu, ohne sich von dem Knurren der Hunde beeindrucken zu lassen.
„Das waren doch eben Ihre Köter, die hier gewildert haben!“, schnauzte er den Mann an.
Der Fremde zog die Hundeleinen kurz an, wandte sich ohne zu antworten seitlich um und verschwand eilig im Wald.
Otto Heumacher spürte so etwas wie Triumph und ging weiter. Nach einigen Schritten stoppte er plötzlich. Er drehte auf dem Absatz um und lief die wenigen Meter zurück. Ein schlimmer Verdacht stieg in ihm auf. War das vielleicht gerade der Erpresser gewesen? Warum hatte der Kerl nichts gesagt? Hatte er Angst, sich durch seine Stimme zu verraten? Sollten die Hunde vielleicht nur seine Witterung aufnehmen und wenn er die Blechdose abgelegt hatte, ihn durch den Park hetzen? Ja, so könnte es sein, überlegte Heumacher. Der Erpresser würde in aller Ruhe die vermeintlichen Diamanten aus der Tabaksdose nehmen, während er vor den Schäferhunden flüchten musste. Die Viecher parierten auf Pfiff, wie er sich gerade hatte überzeugen können.
Otto Heumacher lief an der Stelle in den Wald, an der der Unbekannte mit seinen Hunden verschwunden war. Nichts mehr zu sehen. Kein Laut zu hören. Er sackte in einem halbausgetrockneten Graben bis zu den Knöcheln in Wasser ein und schimpfte laut. Das Wasser war empfindlich kalt, und die nassen Füße veranlassten ihn umzukehren.
Missmutig suchte er den Weg zurück zum Parkplatz. Einen Beweis, dass es der Erpresser gewesen war, hatte er nicht. Vielleicht war es ja doch nur ein harmloser, ängstlicher Mann, der seine Hunde abends ausführte und sich fürchtete, von ihm wegen der wildernden Hunde angezeigt zu werden. – Für alle Fälle würde er aber den Kuhfuß zur Verteidigung gegen die Hunde nachher mitnehmen.
Als er den Wagen von der Meierei in die Parkallee zurückgefahren hatte, ließ er den Motor weiterlaufen und stellte die Heizung auf die höchste Stufe. Es waren noch gut fünfzig Minuten bis zur Übergabe. Vielleicht bekam er Socken und Schuhe bis dahin etwas trocken.
Um 22.45 Uhr nahm er das Brecheisen aus dem Kofferraum und machte sich wieder auf den Weg zum Gerdes-Pavillon. Der Himmel zeigte große Wolkenlücken, und der Vollmond ersetzte die ausgeschaltete Straßenbeleuchtung bis zum Parkplatz der Meierei. Als er dort ankam, war das Gebäude immer noch unbeleuchtet und anscheinend menschenleer.
Er schaute auf seine Armbanduhr. 22.55 Uhr. Vorsichtig ging er in Richtung Pavillon weiter.
Genau um 23.00 Uhr legte er mitten auf dem Weg vor der Laube die Blechdose mit den Glasperlen ab. Einen Augenblick lang blieb er in der Hocke.
Nichts war zu sehen. Kein Mensch, kein Hund.
Eine Drossel, die sich gestört fühlte, flog mit Gezeter in den nächsten Busch, dann war alles wieder still. Nur der Wind sorgte für die gewohnte Geräuschkulisse in den blattlosen Baumkronen. Langsam richtete sich Otto Heumacher auf. Den Kuhfuß fest in der rechten Hand, bereit sich gegen alles, was ihn angreifen würde, zu verteidigen, ging er ebenso langsam den Weg zurück. Nach fünf Minuten erreichte er den Parkplatz der Meierei und beobachtete die Umgebung genau. Noch immer schien sich niemand um die abgelegte Dose zu kümmern. Einsehen konnte er auf die Entfernung die Stelle nicht mehr. Dafür war es zu dunkel und dazwischen standen zu viele Bäume.
Sollte er weitergehen zu seinem Auto in der Parkallee, so wie der Erpresser es gefordert hatte? Angestrengt blickte er in Richtung Pavillon. Seine Neugierde auf das, was passieren würde und die Hoffnung, den Erpresser zu Gesicht zu bekommen, waren groß. Vielleicht konnte man von der Seite vor der Meierei aus etwas erkennen. Er ging zum Haus und stellte sich unter der Balustrade eng an die Hauswand. Sehen konnte er nicht mehr als vorher, obwohl der Mond jetzt nicht von Wolken verdeckt wurde. – Aber der Standort hatte den Vorteil, dass er selber nicht sofort gesehen wurde.
Plötzlich hörte er leises Motorengeräusch. Er trat einen Schritt vor und schaute nach oben, von wo das Geräusch kam. Gegen das Licht des Vollmondes gut erkennbar, sah er einen Helikopter vom Tiergehege herkommend auf die Meierei zufliegen.
Er begriff nicht sofort, dass es sich um einen Modellhubschrauber handelte, der mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zukam. Dann drehte das ferngesteuerte Fluggerät ab, zog eine kreisende Flugbahn über dem Gerdes-Pavillon und verschwand unter den Baumkronen.
Otto Heumacher stürmte los, lief quer über den Parkplatz in den Wald Richtung Pavillon, stolperte über einen Ast und schlug lang hin. Er rappelte sich auf und rannte weiter. Gerade als er den Weg erreichte, sah er, wie der Hubschrauber etwa einen Meter über der im Mondlicht metallisch glänzenden Blechdose schwebte. Ein Band mit einem großen, runden Gewicht daran hing herunter. Plötzlich hob sich die Dose vom Boden ab, es gab ein leises, klickendes Geräusch – und sie hing an dem Gewicht. Das Flugmodell stieg auf und entfernte sich mit knatterndemMotor.
Der Rauch des verbrannten Benzingemischs hing in der Luft und reizte ihn zum Husten. Er versuchte vergeblich, die Flugbahn durch die Baumwipfel auszumachen. Vom Geräusch her zu urteilen, flog der Modellhubschrauber wieder Richtung Tiergehege. Wütend stampfte Heumacher mit dem Fuß auf und fluchte laut. Mit so einem Trick hatte er nicht gerechnet. Das große, runde Gewicht an dem Band musste ein starker Magnet gewesen sein.
Er wischte den Dreck und die nassen Blätter von der Kleidung, die bei dem Sturz hängen geblieben waren und machte sich auf die Suche nach dem Kuhfuß, den er beim Hinfallen verloren hatte. Aber der Boden war weich und mit vielen kleinen und großen Ästen sowie mit abgestorbenen Blättern übersät, die es unmöglich machten, das Eisen in der Halbdunkelheit wiederzufinden.
2. Kapitel
Der Dachboden sah unverändert aus, so wie er ihn sich das letzte Mal genau eingeprägt hatte. Nur die Luft war heute stickig warm. Seit zwei Tagen schlug das Wetter Kapriolen.
Wann hatte es das schon gegeben, dass am 18. November mit 21°C eine Temperatur wie im Sommer gemessen wurde? Die Zeitungen wetteiferten seit Mittwoch mit den verrücktesten Theorien über eine nicht mehr aufzuhaltende globale Erwärmung mit allen nur vorstellbaren Szenarien durch die Folgen der Polareisschmelze. Von einer neuen biblischen Sintflut bis zum sicheren Weltuntergang war alles dabei.