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Mit dem Haus im Grünen hat sich Thierry einen Traum erfüllt. Zusammen mit Élisabeth genießt er die Ruhe und Abgeschiedenheit des Wohnens nahe einem Wald. Im einzigen Haus nebenan leben Guy und Chantal. In den vier Jahren ihrer Nachbarschaft haben sich die Paare angefreundet. Die Männer pflegen gemeinsame Interessen, gehen angeln, züchten Insekten. Die Frauen tauschen Rezepte, immer wieder verbringen sie zusammen gemütliche Abende. Eines Morgens werden die Häuser von der Polizei umstellt. Bewaffnete Spezialeinheiten stürmen das Nachbargebäude, akribisch werden die Gärten und der nahe gelegene Wald durchkämmt. Thierry und Élisabeth erfahren, dass der freundliche Nachbar seit Jahren als Serienmörder gesucht wurde. Eine Welt bricht für sie zusammen, ihr gemeinsames Leben zerfällt. Von seiner Frau verlassen, sieht Thierry sich gezwungen, sich seiner eigenen verdrängten Lebensgeschichte zu stellen. Wie konnte er in seinem besten Freund nicht das Böse erkennen? In Guy widerspiegelt sich seine eigene Vergangenheit.
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Seitenzahl: 261
Veröffentlichungsjahr: 2024
Mit dem Haus im Grünen hat sich Thierry einen Traum erfüllt. Zusammen mit Élisabeth geniesst er die Ruhe und Abgeschiedenheit des Wohnens nahe einem Wald. Im einzigen Haus nebenan leben Guy und Chantal.
In den vier Jahren ihrer Nachbarschaft haben sich die Paare angefreundet. Die Männer pflegen gemeinsame Interessen, gehen angeln, züchten Schmetterlinge. Die Frauen tauschen Rezepte, immer wieder verbringen sie zusammen gemütliche Abende.
Eines Morgens werden die Häuser von der Polizei umstellt. Bewaffnete Spezialeinheiten stürmen das Nachbargebäude, akribisch werden die Gärten und der nahe gelegene Wald durchkämmt. Thierry und Élisabeth erfahren, dass der freundliche Nachbar seit Jahren als Serienmörder gesucht wurde. Eine Welt bricht für sie zusammen, ihr gemeinsames Leben zerfällt.
Von seiner Frau verlassen, sieht Thierry sich gezwungen, sich seiner eigenen verdrängten Lebensgeschichte zu stellen. Wie konnte er in seinem besten Freund nicht das Böse erkennen? In Guy widerspiegelt sich seine eigene Vergangenheit.
Tiffany Tavernier, geboren 1967 als Tochter der Drehbuchautorin Colo Tavernier und des Regisseurs Bertrand Tavernier, hat Romane und Drehbücher verfasst. Ihr erster Roman, Dans la nuit aussi le ciel (1999), beschreibt ihre Erfahrungen, die sie als Achtzehnjährige in den Sterbehäusern von Kalkutta machte. Seitdem hat sie die Welt bereist, insbesondere die Arktis, wo sie ihren nächsten Roman, L’Homme blanc (2000), ansiedelte. Danach schrieb sie acht weitere Romane, zuletzt En vérité, Alice (2024). Mit L’Ami (2021) war sie u. a. Finalistin beim Grand Prix RTL-Lire, beim Prix des Libraires und beim Prix du Livre Inter.
Tiffany Tavernier
Roman
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Lenos Verlag
Die Übersetzerin
Anne Thomas wurde 1988 in Karl-Marx-Stadt/Chemnitz geboren und wuchs in Flensburg auf, nachdem sie 1989 mit ihrer Familie aus der DDR geflohen war. Seit 2013 ist sie als freiberufliche literarische Übersetzerin tätig (u. a. Colin Niel, Éric Plamondon, Dimitri Rouchon-Borie). Sie lebt hauptsächlich in Paris. Regelmässige Arbeitsaufenthalte in Berlin und London. Anne Thomas organisiert und leitet Übersetzungsworkshops in Schulen in Deutschland und Frankreich und ist als Dolmetscherin bei literarischen und kulturellen Veranstaltungen tätig.
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des Institut français.
Titel der französischen Originalausgabe:
L’Ami
Copyright © Sabine Wespieser éditeur, 2021
E-Book-Ausgabe 2024
Copyright © der deutschen Übersetzung
2024 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Coverfoto: Madeleine Imhof
eISBN 978 3 03925 717 1
www.lenos.ch
Teil I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Teil II
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Teil III
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Epilog
Dank
Es ist ein Samstag wie jeder andere. Ich ziehe mich im Halbdunkel an, damit Élisabeth nicht aufwacht. Unten an der Treppe keine Jules. Sonst empfing sie mich immer mit freudigem Gebell. In der Küche schalte ich die Kaffeemaschine an, nehme eine Tasse aus dem Schrank. Draussen dämmert der Morgen herauf, das Laub der Eichen rauscht. Drüben schlafen alle noch. Die Stille ist allgegenwärtig. Als Jules starb, hat Élisabeth darauf bestanden, dass sie auf einem Hundefriedhof beerdigt wird, den Grabstein hat sie auch ausgesucht. Weiss. Es war eine schöne Trauerfeier. Sogar Élisabeths Schwestern sind gekommen. An dem Abend haben wir so viel getrunken, dass alle bei uns übernachtet haben, ausser Guy und Chantal natürlich. Hat mir viel bedeutet, dass sie gekommen sind. Vor allem Guy. Chantals Depression ist wirklich zum Kotzen. Ja, Kotzen ist das richtige Wort. Wir hören sie manchmal streiten, bis spätabends, dann ist Ruhe, es geht vorbei. Die Sache mit Nelly, ihrer Hündin, ist jetzt ein Jahr her. Das war wirklich Pech, wo hier so wenig Verkehr ist. Das Schwein, das sie überfahren hat, hat sich natürlich hübsch aus dem Staub gemacht, er wurde nie gefunden. Die Hündin schon. Was von ihr übrig war, jedenfalls: ein blutiger Haufen Fleisch, den Guy und ich noch am selben Abend begraben haben. Mit Hacke und Schaufel, in ihrem Garten. Eine schreckliche Nacht, wie man sie nicht erleben möchte. Guy weinte still vor sich hin, ich grub. Vielleicht wollte Élisabeth deshalb Jules’ Beerdigung im grossen Stil begehen. Um das Unglück wettzumachen.
Auf dem Küchentisch reibt eine Musca domestica die Beine aneinander, leicht zu erkennen an den grossen roten Augen und dem grauen Thorax. Ich frage mich, ob es in Vietnam welche gibt. Wenn Marc sich das nächste Mal meldet, frage ich ihn. Sieht ganz so aus, als ob es ihm dort prima gefällt. Auf seinen Instagram-Fotos lächelt er immer, was Élisabeth beruhigend findet. Ich nicht. Was musste er sich ausgerechnet dieses Land aussuchen? Meinem Vater hätte das garantiert nicht gefallen. Und dann dieser Job in dem grossen Hotel. Behandeln die ihn wenigstens gut?
Draussen färbt der Himmel sich allmählich hellrosa. Ich bin nicht viel herumgekommen. Einmal, mit zweiundzwanzig, war ich ein paar Tage in Spanien, ein anderes Mal in Schweden, mit Élisabeth. Dann kam Marc. Auf Reisen hatten wir dann gar keine Lust mehr, höchstens ans Meer, im Sommer, mit dem Kleinen. Manchmal finde ich es ganz komisch, ihn so weit weg zu wissen. Brutal kommt der Schmerz wieder hoch. Und geht vorbei, wie die Streitereien von Guy und Chantal. Dabei wohnt er seit Jahren nicht mehr zu Hause, aber gut, die Uni war nur eine Autofahrt entfernt. Jetzt leben wir nicht einmal mehr in derselben Zeitzone, und auch wenn wir skypen, je länger das so geht, desto weniger haben wir uns zu sagen.
Die Fliege hebt vom Tisch ab und setzt sich auf die Fensterscheibe. Die Stunden, in denen alles noch ruhig ist, sind mir das Liebste. Keine Autos, kein Telefonklingeln. Lediglich das langsame Heraufdämmern des Tages, das Knacken der Äste im Wind. Ich trinke meinen Kaffee in einem Zug. Danach mache ich meinen Spaziergang an der Aune. Um diese Uhrzeit bin ich dort noch nie jemandem begegnet, ausser einmal Chantal. Die Sonne war gerade aufgegangen. Da sah ich sie am Flussufer sitzen, sie starrte ins Leere. Wie sie sich erschreckt hat, als ich aufgetaucht bin. Sie hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan und gehofft, ein wenig frische Luft tue ihr gut. Ich habe gefragt, ob sie auf einen Kaffee mit reinkommen möchte. Sie hat mich merkwürdig angestarrt, dann ist sie mit einem Mal aufgesprungen und weggelaufen. Élisabeth sagt, es sei wegen ihrer Medikamente. So starkes Zeug, dass es manchmal Monate dauert, bis man richtig eingestellt ist.
Erste Sonnenstrahlen fallen in die Küche. Bald können wir auf der neuen Hochterrasse frühstücken. Was für eine Plackerei das war, die Fläche auszuheben. Aber jetzt ist es so weit, die Pfosten sind in der Erde, ich muss nur noch die Dielen verlegen. Wir könnten eine Hollywoodschaukel aufstellen, wie in den amerikanischen Filmen. Untendrunter werde ich Brennholz lagern, und für Regentage will ich auch noch eine Überdachung bauen. Von hier aus hat man einen herrlichen Blick. Bäume, nichts als Bäume. Das hat mir am meisten gefallen, als wir zufällig dieses Haus entdeckten. Die unberührte Natur rundherum. Élisabeth nicht. Der Gedanke, so abgelegen zu wohnen, machte ihr Angst. Das Angebot war sehr günstig, ich habe sie angefleht, es sich noch mal zu überlegen. Nicht nur, dass es spottbillig zu haben war und Potential für jede Menge Ausbaumöglichkeiten bot, von hier aus waren es auch nur zehn Kilometer bis zu der Fabrik, in der ich arbeite, und nicht mal acht Kilometer bis P., dem Städtchen, in dem Élisabeth als Krankenschwester sehnlichst erwartet wurde. Eine Wohnung in der Stadt würde pro Tag Dutzende zusätzliche Kilometer und viel weniger Wohnfläche bedeuten. Trotzdem war Élisabeth unschlüssig, und ich wollte schon aufgeben, da brachte ihre Mutter den Gedanken ins Spiel, uns einen Hund zuzulegen. Das war wie Zauberei. Mit einem Hund – aber ein richtiger Wachhund, ja? –, dann, ja, dann konnte Élisabeth sich vorstellen, hier zu leben.
In den Tagen nach unserem Umzug war ich so aufgeregt, dass ich mich direkt ans Renovieren machte: unser Schlafzimmer, das Kinderzimmer des Kleinen, das Bad, dann im Erdgeschoss Wohnzimmer, Küche und Garage.
Heute haben wir all das und sogar ein drittes Schlafzimmer, das Élisabeth vor zwei Jahren in Ermangelung weiterer Kinder zum Atelier umfunktioniert hat. Sie verbringt dort mehr und mehr Zeit und malt ihre »Erleuchtungen«: Anhäufungen von Formen und Farben, mit denen ich nichts anfangen kann. Aber was soll’s, ihr tut es gut, und bei dem, was sie auf Arbeit alles aushält … In einer Ecke steht noch das Bett; ihre Schwestern übernachten manchmal darin. Mein Bruder nie. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ich werfe einen Blick auf die zweite Uhr. In Hanoi ist es fast Mittag, in den Strassen wimmelt es von Menschen. Hier ist das Gras noch taunass, und die Libellen schlafen. Im frühen Morgenlicht funkelt alles, selbst die Felsen. Mit ein bisschen Glück fange ich ein paar Flusskrebse, und wenn das Wasser nicht zu kalt ist, kann ich dort, wo die Aune ein bisschen tiefer ist, unter dem Blätterdach baden. Heute wird es schön. Der Himmel ist wolkenlos. Vielleicht kann ich nachmittags mal die grosse Leiter rausholen und nachschauen, wo am Dach es hereinregnet. Ob Guy mir wohl beim Tragen hilft? Heute Nacht habe ich seinen Lieferwagen sehr spät zurückkommen hören. Wenn es mit Chantal zu hitzig wird, fährt er stundenlang durch die Gegend, um sich zu beruhigen. Die Morgen danach sind nicht leicht. Ausgerechnet, wo ich endlich einmal keine Rufbereitschaft habe. Ich werde trotzdem mein Glück versuchen, aber nicht vor Mittag. Morgens hat Guy üble Laune. Allmählich kenne ich ihn, nach all der Zeit.
Ich ziehe die Gummistiefel an und nehme mir vor, Lisa nachher das Frühstück ans Bett zu bringen. Und noch einmal zu ihr unter die Decke zu schlüpfen. Erst würde sie schimpfen, weil ich dann nach Schlick stinke, mir am Ende aber verzeihen, weil ich an die Marmelade gedacht habe. Wir haben wirklich Glück, dass wir uns nach all den Jahren noch immer so sehr lieben. Und dass wir so ein geruhsames Leben führen, obwohl sie täglich geschaffter ist, wegen der Überlastung auf Arbeit, und ich selbst komme immer schwerer aus dem Bett, wenn ich mitten in der Nacht in die Fabrik gerufen werde, um dringend eine kaputte Maschine zu reparieren. Dennoch, kein Vergleich zu dem Leben meines Bruders, immer im Krieg, zumindest habe ich mir sein Leben in diesen fernen Ländern stets so vorgestellt. Wenn wir, was selten genug vorkommt, miteinander sprechen, traue ich mich nie, ihn danach zu fragen, und von sich aus erzählt er nichts. Noch nicht mal eine Frau oder ein Kind hat er.
Ich schnappe mir die Jacke, bin im Begriff, die Tür aufzumachen. Nanu, Motorengeräusche, und zwar von mehr als einem Auto. Dabei gibt es hier nur unsere beiden Häuser. Was kann das bloss sein? Ich öffne die Tür, sehe sprachlos zu, wie eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Polizeiautos und ein Krankenwagen mit Höchstgeschwindigkeit angerauscht kommen. Gleichzeitig rennen etwa zwanzig behelmte Männer, wahrscheinlich GIGN*, mit heruntergelassenem Visier, kugelsicherer Weste und Waffe in der Hand aus dem Wald. Die Szene ist dermassen surreal, dass ich mich frage, ob ich mir das nicht einbilde. In einer Staubwolke kommen die Autos vor Guys und Chantals Haus zum Stehen.
»Monsieur, Sie können nicht hierbleiben.«
Ich mache einen Satz nach hinten, starre den Mann an, der sich vor mir aufgebaut hat.
»Capitaine Bretan, Gendarmerie nationale.«
Hinter ihm umzingelt die Spezialeinheit Guys und Chantals Haus, kniend, die Waffen im Anschlag. Was zum …
»Monsieur?«
In meinem Kopf herrscht unbeschreibliches Chaos. Seine klare, freie Stirn.
»Wie viele Personen befinden sich derzeit in Ihrem Haus?«
Verwirrt starre ich ihn an.
»Monsieur, bitte.«
Worte finden. Raum für Worte. Die richtige Reihenfolge.
»Das … nur ich und meine Frau im oberen Stock, aber … was ist denn los?«
Er wirft einen Blick hoch zum Schlafzimmerfenster, schätzt im Bruchteil einer Sekunde die Entfernung zwischen den beiden Häusern.
»Keine Sorge, wir müssen nur sicherstellen, dass Ihnen während des Einsatzes nichts passiert.«
»Was für ein Einsatz? Was soll denn dieses …«
»Monsieur, dafür ist jetzt keine Zeit.«
Hinter ihm rennen vier Spezialeinsatzkräfte auf Guys und Chantals Haus zu …
»Betrifft es unsere Nachbarn? Weil, wir sind befreundet, wir kennen uns schon eine ganze Weile …«
Fast hätte ich Lust, die Sache mit dem kaputten Dach zu erzählen, von der grossen Leiter, die ich allein nicht tragen kann. Seine Fassungslosigkeit bringt mich abrupt zum Schweigen.
»Befreundet?«
Na ja, klar, befreundet, Rasenmäher, Kartenspiele, Sonnenschirm, Grillabend, was liegt näher, kein anderes Haus weit und breit, warum also guckt er so betroffen, plötzlich möchte ich ihn schütteln, was ist mit den beiden? Nur wollen die Worte nicht heraus. Und jetzt starrt er mich so sonderbar an. Als wäre er mir böse … Als wäre es zu spät …
»Ja, na klar, mit Guy und Chantal halt.«
Seine Stimme wird sanfter.
»Also gut, Sie holen jetzt Ihre Frau nach unten, und bis auf weiteres verlassen Sie bitte nicht das Haus und halten sich von den Fenstern fern, verstanden?«
* Spezialeinheit der französischen Gendarmerie. (Alle Anmerkungen von der Übersetzerin)
Élisabeth starrt mich verständnislos an. Ich flüstere ihr zu, dass die Polizei da ist, überall Polizei, dass es ernst sein muss, sehr ernst sogar, und dass sie ruck, zuck aufstehen soll. Sie springt aus dem Bett, wirft den Morgenmantel über, kommt mit zerzausten Haaren hinter mir her. Stocksteif bleibt sie an der Treppe stehen, als sie den Typ von der Spezialeinheit sieht. Mir fuhr vorhin genau der gleiche Schreck durch die Glieder. Die beiden Häuser in unserer ruhigen Gegend … Bei Guy und Chantal muss wirklich etwas Furchtbares passiert sein, dass eine solche Armee anrückt. Am liebsten wäre ich geflüchtet. Stattdessen bin ich wie versteinert in der Tür stehen geblieben und hab, so gut es ging, versucht, mich zu beruhigen. Mein Herz vor allem. Das Pochen. Eine wahre Explosion. Als wüsste es bereits, was genau vorgefallen war. Etwas Schreckliches, das ich mir nicht vorstellen konnte oder wollte.
Und nun hastet Élisabeth neben mir die Treppe hinunter. Sie, die sonst immer so fröhlich ist. So viele Männer für so ein kleines Haus. Ob sie umgebracht wurden?
Unten deutet der Typ vom GIGN, kugelsichere Weste, hochgeklapptes Visier, zum Wohnzimmer. »Flach auf den Boden legen!«
Bloss ist Élisabeth noch nicht richtig wach. Die Information kommt zu schnell. »Auf den Boden, aber wieso denn?«
»Keine Sorge, Madame, eine reine Vorsichtsmassnahme, falls es drüben brenzlig wird.«
»Wie, drüben?« Sie hat es fast geschrien.
Er erwidert, mehr könne er ihr nicht sagen.
Sie dreht sich zu mir. »Sind die bei Guy und Chantal?«
Ich nicke und sehe, wie ihre Pupillen sich weiten.
Der Beamte erhält über den Helm einen Befehl. »Legen Sie sich jetzt hin!«
Ich würde ihn gern fragen, ob das wegen der Kugeln ist, die er bald abschiessen wird, oder wegen denen, die als Querschläger von drüben kommen könnten, ob er schon ähnliche Situationen erlebt hat, ob er weiss, ob Guy und Chantal noch leben, ob …
»Monsieur, kooperieren Sie bitte!«
Alles kommt mir so absurd vor, schon allein er; er könnte mein Sohn sein, was hat ihn veranlasst, einen solchen Beruf zu wählen; dann wir beide, völlig perplex, dabei sind wir doch zu Hause. Zu Hause. Und ich, wo ich sonst bei grösseren Gefahren – einer Maschine kurz vorm Explodieren, zum Beispiel – stets die Ruhe bewahre, warum dann diese Ahnung einer Katastrophe, als wüsste ich, dass die Schlacht von vorneherein verloren war.
Der Grünschnabel lässt nicht locker. »Monsieur …«
Weiss er wenigstens, wie lange wir so liegen bleiben müssen?
Mit bemüht fester Stimme erwidert er, nein, das wisse er nicht, zeigt dann erneut auf den Teppich, auf dem schon Élisabeth liegt. »Würden Sie sich jetzt bitte zu Ihrer Frau legen?«
Ich gehorche.
»Ich muss Sie allein lassen, stehen Sie unter keinen Umständen auf, und verhalten Sie sich ruhig, bis wir zu Ihnen kommen.«
Ich liege dicht neben Élisabeth und erzähle ihr flüsternd, wie die Autos, der Krankenwagen angerauscht kamen, wie bewaffnete Männer aus dem Wald aufgetaucht sind. Ich lasse aus, wie verunsichert der Capitaine war, als ich ihm eröffnet habe, dass wir Guy und Chantal nahestehen, und was für eine böse Vorahnung mir seitdem im Kopf herumgeistert. Sie meint, es könnte ein Einbruch gewesen sein, der gewaltig schiefgegangen ist. Das kann ich mir kaum vorstellen. Wegen ein paar Einbrechern fährt man nicht so schwere Geschütze auf.
»Dann vielleicht ein Irrer, der sie bedroht?«
Ein Irrer in dieser gottverlassenen Gegend?
»Und wenn es Bankräuber sind? Vielleicht haben sie einen Coup versemmelt und sind dann bei den beiden untergetaucht?«
Wenn sie doch nur still wäre. Und alles wieder echt, wie vorhin in der Küche.
»Thierry, ich hab’s, Ausbrecher aus dem Gefängnis.«
Aus dem Gefängnis, das könnte sein, das würde die Spezialeinheit erklären.
Sie wird blass. »Nein, Terroristen!«
Diese Angst in ihr. Aufstehen, aus dem Haus raus, in die Lüfte aufsteigen, über den Dingen schweben.
»Terroristen, die mitten in der Nacht und zu Fuss bei uns aufkreuzen?«
»Ja, kann doch sein!«
Nicht darauf eingehen. Die Vorhänge anstarren, das Lichtspiel in den Vorhängen und hoffen, dass sie endlich still ist. Aber ihre Gedanken wirbeln durcheinander, alles gerät ins Schleudern. Mit sich überschlagender Stimme denkt sie laut darüber nach, wie viele Bomben die Terroristen wohl dabeihaben, ob sie als letzten Ausweg womöglich beschliessen, alles hochgehen zu lassen, ob es in dem Fall nicht besser wäre, den Befehlen zuwiderzuhandeln, wie damals die wenigen Überlebenden aus den Twin Towers, die die Anweisungen ignoriert und das Gebäude verlassen haben! Ich entgegne, dass draussen über zwanzig Scharfschützen positioniert sind, die, ohne zu zögern, auf sie schiessen würden. Sie beisst sich auf die Lippen, dann redet sie von Chantal, die sich davon nie mehr erholen wird; dass sie Jules’ Geruch vermisst; dass sie mal muss; dass sie ihre Schwestern gern bei sich hätte; redet von Marc, der noch nichts von all dem weiss, was gerade passiert, aber was denn eigentlich? Marc, wir müssen ihn anrufen und ihn … Die Worte bleiben ihr im Halse stecken. Ersterben. Sie so kopflos zu erleben erschüttert mich noch mehr. Nur dreissig Meter weiter, und es hätte uns getroffen letzte Nacht, jenes »es«, das da geschehen ist.
Sie drückt sich an mich. »Man hört gar nichts, findest du das normal?«
Genau wie sie hatte ich eine Salve an Befehlen erwartet, Schüsse, Einschläge. Worauf warten die? Hier im Wohnzimmer kann ich sie fast mit Händen greifen, die Gewalt. Ein Tornado, der von Wand zu Wand fegt. Ich umfasse Élisabeth, richte meine Aufmerksamkeit auf die Wand hinter dem Fernseher, wo die Sonne unzählige irrlichternde Flecken zaubert, sie tauchen auf und verschwinden wieder, ein unaufhörlicher Tanz. Wie wird das enden? Ich bin sechs Jahre alt. Auf Zehenspitzen stosse ich die Tür zum Schlafzimmer auf, wo der Vater meiner Mutter liegt. Ganz vorsichtig schleiche ich näher, frage mich, warum die Vorhänge zu und alle Möbel mit schwarzem Flor verhangen sind. Ich beuge mich vor, spreche ihn an. Seine Lippen bewegen sich nicht. Ich hebe ein Augenlid an, ein weisses Auge. Grossvater? In mir öffnet sich irgendetwas. Ein Schlund, der mich packt und in vernichtendem Tempo in die Tiefe zieht. Ich mache einen Satz rückwärts, werfe eine Vase um. Ich renne, bis mir die Puste ausgeht.
»Rede mit mir, Thierry, bleib bei mir.«
Ich zeige ihr den immer grösser werdenden Haarriss an der Decke, frage mich, ob es daran liegt, dass sich der Boden abgesenkt hat, stelle mir ganz kurz vor, dass das Haus in der Mitte gespalten ist. Sie drückt sich noch fester an mich, gesteht, dass sie gern beten würde, nicht mehr weiss, wie das geht. Ob sie nach alldem die Terrasse noch will? Und Guy, die grosse Leiter? Wenn ich daran denke, dass ich letzte Nacht beinahe aufgestanden wäre, als ich ihn kommen gehört habe. Dann hätten die Kerle vielleicht Angst bekommen und … Ich sehe wieder Abdanes Leiche vor mir, die von Jules.
»Hast du das gehört?«
Ja, genau wie sie habe ich eine Autotür zuschlagen hören, jetzt eine zweite und eine dritte, gefolgt von einem Blitzstart. Kann das sein, dass alles so schnell ging? Ich richte mich halb auf. Am Ende des Zufahrtsweges, in der Kurve, überdeckt Reifenknirschen für einen Moment das Heulen einer Sirene.
»So, Sie können wieder aufstehen.«
Er ist völlig lautlos hereingekommen, nimmt langsam den Helm ab, nassgeschwitztes blondes Haar kommt zum Vorschein.
»Jegliche Gefahr ist ausgeschaltet, Sie haben nichts mehr zu befürchten.«
»Aber … unsere Nachbarn?«
»Warten Sie kurz, Capitaine Bretan kommt und unterrichtet Sie über den Stand der Dinge.«
»Festgenommen?!«
Der Capitaine antwortet nicht gleich, und ich denke, dass ich mich verhört haben muss.
Élisabeth bekommt einen zittrigen Lachanfall. »Die beiden, nein … Vor allem Chantal, in ihrer Verfassung …«
Fast ist mir ebenfalls nach Lachen zumute. Der Blick, den der Capitaine mir zuwirft, lässt mich abrupt innehalten.
»Sie stehen verständlicherweise unter Schock, Sie sind ja befreundet.«
Wie er das Wort »befreundet« betont. Dumpfe Wut steigt in mir auf. Élisabeth beginnt zu weinen. Ich nehme ihre Hand, fordere sie leise auf, sich zusammenzureissen. Verloren schaut sie mich an.
»Aber Guy … Chantal … nein, das kann nicht sein, und überhaupt, was haben sie denn gemacht?«
Dieses abfällige Funkeln im Blick des Capitaine. Im echten Leben, einem mit Arbeit und Samstagen am Aune-Ufer, würde ich ihn hinauswerfen, aber jetzt sind wir in ein Woanders gekippt, und ich brauche ihn.
Er rückt uns einen Stuhl zurecht. »Seit wann kennen Sie die beiden?«
So, wie Élisabeth die Hände ringt, beschliesse ich, an ihrer Stelle zu antworten. Sie bricht sonst zusammen.
»Seit sie die Ruine gegenüber gekauft und renoviert haben. Vor gut vier Jahren.«
Er wendet sich an sie. »Madame, wenn Sie bei irgendetwas anderer Meinung sind oder etwas hinzufügen wollen, machen Sie das einfach.«
Sie haucht ein kaum wahrnehmbares Ja, und ich weiss nicht, was mich zurückhält, warum ich ihm nicht sage, wie sensibel sie ist, meine Lisa, da reicht schon ein Schuss im Fernsehen, die geringste Verletzung, sogar bei kleinen Tieren, auf Arbeit dagegen nie, als ob ihr Schwesternkittel sie beschützt, und genauso ist es, wenn bei jemandem Erste Hilfe geleistet werden muss, beim Schulfest letzte Woche, dem Kind spritzte das Blut nur so aus dem Finger, da war sie einfach sagenhaft, doch hier, zu Hause, wie ein kleines Mädchen, aber erklären Sie das mal einem Polizisten, besonders diesem hier, einem Streber, das habe ich gleich gesehen, und was Besseres noch dazu, so selbstgefällig.
»Ist Ihnen, seit Sie die beiden kennen, je etwas Merkwürdiges aufgefallen? An ihrem Verhalten, zum Beispiel.«
»Nein, nicht wirklich, das heisst, doch, Chantal ging es immer schlechter … und sie haben sich auch immer öfter gestritten.«
»Sonst nichts?«
Die Mischung aus Angst und Wut bändigen, die mich überkommt. »Sie sind zurückhaltend, und Guy ist stets hilfsbereit.«
»Ihnen ist nichts Ungewöhnliches an ihrem Verhalten aufgefallen?«
Er schreibt nichts auf, zeichnet nichts auf, nimmt noch die winzigste Reaktion von mir auseinander.
»Nein, höchstens, dass Guy in den letzten Wochen angespannter war, aber bei Chantals Zustand … Ihre Depression war bedrückend, verstehen Sie?«
Nein, er versteht es nicht, und vielleicht schert es ihn auch gar nicht, oder er will es nicht verstehen.
»Wann haben Sie die beiden zum letzten Mal gesehen?«
»Guy vorgestern Abend, als ich von der Arbeit kam. Er war in der Garage und hat den Lieferwagen repariert, ich habe angeboten, ihm zu helfen, er meinte, das sei nicht nötig.«
»Und Sie, Madame?«
Schlagartig kommen ihr die Tränen. Sie drängt sie zurück, wendet den Blick ab.
»Ihn am Mittwoch … Ich bin zur Arbeit gefahren, er war im Garten und hat gegrüsst.«
Er wendet sich wieder mir zu. »Und Chantal?«
Liegt es an seiner Kaltschnäuzigkeit oder an meiner Angst, dass ich ihn widerlich finde?
»Das war vor zwei Tagen, sie hat bei uns geklopft, weil sie keinen Zucker mehr hatte, sie wollte einen Kuchen backen.«
»Einen Kuchen?! Was für einen Kuchen und für wie viele Personen?«
Verblüfft starre ich ihn an. Will der uns auf den Arm nehmen?
»Ähm, keine Ahnung, was meinst du, Élisabeth?«
»Äh … ich glaube, sie hat etwas von Schokolade gesagt … und für wie viele … hundertfünfzig Gramm Zucker … ein Kuchen für vier Personen, würde ich sagen …«
Offenbar denkt er blitzschnell nach. »Hatten die beiden oft Besuch?«
»Ja, uns manchmal.«
»Nur Sie?«
Es trifft mich wie der Blitz. Ich suche Élisabeths Blick, um mich zu vergewissern, sehe, dass sie genau wie ich begriffen hat.
»Ähm … ja.«
Scheisse, wie konnten wir das bloss übersehen? Sicher, Chantal ging es nicht gut, aber Guy, seine Maklerkollegen, seine Freunde. Warum haben wir die nie kennengelernt? Gut kochen konnte er auch. Ein richtiger Sternekoch …
»Und gestern?«
Ich zucke zusammen. »Was, gestern?«
»Ist Ihnen da nichts Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Wir haben Ihnen doch gesagt, dass wir sie gestern gar nicht gesehen haben.«
»Irgendwelche verdächtigen Geräusche?«
Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. Was denn für Geräusche? Von einer Gelddruckmaschine? Die Motoren gestohlener Autos? Dreissig Mann, um sie festzunehmen! In was für eine Scheisse haben die beiden sich da bloss hineinmanövriert?
Er kommt noch näher. »Letzte Nacht, zum Beispiel?«
Ich schüttele den Kopf. »Letzte Nacht habe ich bloss gehört, wie Guy mit dem Lieferwagen nach Hause gekommen ist.«
»Können Sie mir sagen, wann das war?«
»Nein, aber es war spät, sehr spät sogar.«
»Prima, das wäre im Moment alles.«
Ich schaue ihn sprachlos an. Er wird uns doch wohl nicht einfach hier sitzenlassen, ohne irgendwas zu erklären. Und überhaupt, das Werkzeug, was soll ich damit machen?
Er sieht mich verständnislos an. »Was für Werkzeug?«
»Das aus seiner Hütte, Guy hat es mir anvertraut.«
Seine Augen werden gross. »Was für eine Hütte?«
»Na … die im Wald.«
Kalte Panik bricht über ihn herein. Dabei ist der doch recht abgebrüht, was zum …
»Wissen Sie, wo die Hütte liegt?«
»Ja, natürlich.«
»Können Sie sie mir auf der Karte zeigen?« Er redet plötzlich so schnell.
Seine Angst steckt mich an. »Na ja, also … da bräuchten wir wirklich eine sehr genaue Karte …«
Diese Anspannung in seinem Gesicht.
»Können Sie mich hinleiten?«
»Kommt drauf an, zu Fuss oder mit dem Auto?«
Er wirft mir einen bitterbösen Blick zu. »Mit dem Auto natürlich!«
Die Fassung bewahren, an etwas anderes denken. An Hanoi. An die Strassen von Hanoi. An die leuchtend roten Flügeldecken eines Lycidae.
»Es sind gute fünf Minuten, aber man muss trotzdem ein Stück zu Fuss …«
»Okay, ich nehme Sie mit, aber Sie bleiben im Auto.«
Die Bäume draussen triefen vor Licht. Ich bleibe einen Moment auf der Schwelle stehen und starre sie an, wobei ich, so gut es geht, den Polizisten dort hinten ausblende, der Haus und Grundstück der beiden mit Absperrband sichert. Es ist also alles echt. Bretan bemerkt meine Verstörung. Er bedeutet mir mitzukommen. Ich Trottel. Nie im Leben hätte ich herauskommen sollen. Mit dem Öffnen der Tür habe ich dem Unglück seinen Lauf gelassen.
»Kommen Sie jetzt.«
Ich gehorche mit gesenktem Kopf, ärgere mich, weil ich mich nicht traue, ihnen zu sagen, sie sollen auf die Blumen aufpassen, vor allem auf die weissen Funkien, die Kamelien und die Japanorchideen, auf die Chantal so stolz ist. Auf Höhe ihrer Zufahrt stutze ich plötzlich. Werden wir jemals wieder auf einen Aperitif bei ihnen vorbeischauen? Und das Holz, das wir immer zusammen gekauft haben? Ihr Rasenmäher, den sie uns liehen?
Weit vor mir winkt Bretan, ich soll mich beeilen. Gerade will ich zu ihm aufschliessen, da meine ich durch eins der Fenster im Erdgeschoss eine weissgekleidete Gestalt zu sehen. Mein Herz fängt an zu rasen. War das nur eine Spiegelung oder jemand von der Spurensicherung, wie in den Fernsehserien, wenn ein Verbrechen geschehen ist? Ich habe niemanden hineingehen sehen, und die beiden Fenster der Fassade bilden nun derart dunkle Oberflächen, dass ich nicht mal die Möbel im Haus erkennen kann. Beunruhigt und fragend schaue ich Bretan an, der anstelle einer Antwort fünf seiner Männer zu ihrem Einsatzwagen beordert. Warum hat von denen keiner Angst, wo doch in mir alles zittert? Ist das, weil ich es noch nicht glauben kann? Aber was denn eigentlich?
Bretan bei den Autos wird langsam ungeduldig. Ich würde ihm am liebsten sagen, wie sauer ich auf mich bin, weil ich Élisabeth zurückgelassen habe, ihm erzählen, wie wir uns kennengelernt haben und dass wir von Anfang an kleine Rituale etabliert haben, dienstags nach der Arbeit gemeinsam etwas trinken gehen, donnerstags einkaufen und samstags …
»Setzen Sie sich auf den Beifahrersitz, und schnallen Sie sich an.«
Seine Stimme dringt wie im Traum zu mir. Schweigend fährt er los, und ich frage mich, wieso uns so viele Autos folgen, was sie denn in der Hütte zu finden hoffen, klammere mich einen Augenblick an den Gedanken, dass sie sich vertan haben, deute nach links zur Landstrasse, die wir nehmen müssen, dann wieder links, auf den holperigen Feldweg, wo man wegen der vielen Schlaglöcher langsam fahren muss. Ich verzichte darauf, ihm zu berichten, wie oft wir diesbezüglich mit dem Bürgermeister von P. gestritten haben. Wie wütend Guy war, weil es nicht voranging. Ein Guy, der nach der letzten Versammlung, ich sehe es noch vor mir, mit der Faust auf die Motorhaube seines Autos gehauen hat. Berichte nicht, wie überrascht Élisabeth und ich waren, weil er sonst stets die Ruhe bewahrte, wie er über unsere Verblüffung gelächelt hat, auch nicht von dem dann folgenden Lachanfall, über den wir immer noch lachen können. Was könnte er getan haben, und wann? Gestern? Aber gestern war Chantal nicht bei ihm … Und wenn sie es nun war, die infolge einer Medikamentenüberdosis ausgerastet ist? Wenn sie nun, wie manche Irre, mit dem Auto Menschen überfahren hatte? Ich drücke das Gesicht an die Scheibe, versuche, es mir vorzustellen, nein, das ergibt keinen Sinn, aber nichts ergibt Sinn seit heute Morgen. Ich bedeute Bretan anzuhalten, zeige auf eine Eiche inmitten des Farnteppichs.
»Wenn Sie daran vorbei sind, gehen Sie nach links bis zu dem Baum, der vom Blitz getroffen wurde. Dort nach rechts, es geht ein bisschen hoch. Wenn Sie oben sind, sehen Sie weiter unten am Hang die Hütte.«
Er steigt aus, bittet mich zu warten. Am liebsten würde ich mitgehen, kann es nicht, wie damals, wenn mein Vater nach monatelanger Abwesenheit sagte, ich solle zu ihm kommen. Dabei tat er mir überhaupt nichts. Trotzdem machte mir irgendetwas an ihm Angst. Etwas, das weniger mit seiner Person als mit dem zu tun hatte, was in seinem Schweigen mitschwang: eine Durchquerung der Hölle, die ich um jeden Preis von mir fernhalten musste, wie jetzt bei diesem Capitaine, dessen überlegene und erfahrene Ausstrahlung mich nervt, erschreckt und beruhigt, alles zusammen.
Langsam steigt die Sonne höher. Sind sie schon an der Hütte? Guy hat sie immer mit einer Kette und einem Vorhängeschloss gesichert, was ich urkomisch fand. In unserer Gegend begegnete man nie irgendjemandem: Wer hätte denn die Tür aufbrechen wollen? Guy