Der Gebote-Killer - Dieter Aurass - E-Book

Der Gebote-Killer E-Book

Dieter Aurass

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Beschreibung

Bereits beim Fund der ersten nackten Leiche vor einer Koblenzer Kirche besteht die Vermutung, dass es der Auftakt einer Mordserie sein könnte. Die Leiche wurde mit einer verschlüsselten Botschaft beschriftet. Die zweite am folgenden Tag – ebenfalls mit einer kryptischen Aufschrift –, ruft einen Profiler des Landeskriminalamtes auf den Plan, der gegen den Willen der Mordkommission unterstützen soll. Als die dritte Leiche vor einer Kirche gefunden wird, schaltet sich auch noch die katholische Kirche, in der Person eines Sonderbeauftragten des Vatikans, ein. Aber trotz aller Unterstützung findet die Mordkommission um Hauptkommissar Auer keine Verdächtigen und bald gibt es Anhaltspunkte, dass man noch wesentlich mehr Tote finden wird.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dieses Buch ist all den Atheisten gewidmet, die dank ihrem humanistischen, moralischen Kompass so leben, dass die Kirche es vermutlich als „gottgefällig“ bezeichnen würde.

Die Geschehnisse, sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025dotbooks GmbH, Max-Joseph-Straße 7, 80333 Mü[email protected]/dotbooks/CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comSatz: CW Niemeyer Buchverlage GmbHEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8737-6

Dieter AurassDer Gebote-Killer

Keine Religion macht an und für sich selig, sondern alleine die Tugend. (Karl Julius Weber, deutscher Schriftsteller, 1767–1832)Verbindet man Religion nicht mit Moralität, so wird Religion nur zur Gunstbewerbung. (Immanuel Kant, deutscher Philosoph, 1724–1804)Alle Religionen sind schön, die uns zu guten Menschen machen.(Berthold Auerbach, deutscher Schriftsteller, 1812–1882)Der Glaube einer gottesdienstlichen Religion ist ein Fron- und Lohnglaube und kann nicht für seligmachend angesehen werden, weil er nicht moralisch ist. Dieser muss ein freier, auf lauter Herzensgesinnungen gegründeter Glaube sein.(Immanuel Kant, deutscher Philosoph, 1724–1804)

Prolog

Der Taxifahrer wirkte gruselig, und unter anderen Umständen hätte Ephraim Keller ihn aufgefordert, den schwarzen Hoodie abzunehmen und sein Gesicht zu zeigen.

Aber er war viel zu aufgedreht und vielleicht auch schon ein wenig zu betrunken, um mehr als nur einen kurzen Gedanken daran zu verlieren, was für ein seltsamer Typ das wohl war. Zu viel Sekt, einige Schnäpse und zusätzlich die Trunkenheit des Erfolges, den sie in der Firma ausgiebig gefeiert hatten. Die Folge war leider gewesen, dass er seinen Porsche hatte stehen lassen müssen und sich ein Taxi bestellt hatte.

Es war eine dieser modernen Taxen, wie man sie bisweilen auch in amerikanischen Filmen sah, mit einer Trennscheibe zwischen dem vorderen Bereich und dem Passagier-Bereich, vermutlich, um Angriffe auf den Fahrer zu verhindern.

Ephraim Keller war viel zu benebelt, um sich viele Gedanken darüber zu machen, dass die hinteren Sitze mit einer Art Plastikfolie überzogen waren.

Vermutlich haben ihm schon zu viele Passagiere auf die Sitze gekotzt.

In der Scheibe vor ihm war ein kleines Schiebefenster eingelassen, das er nun zur Seite schob, um dem Fahrer die Adresse zu nennen, an die er ihn bringen sollte.

„Fahren Sie mich …“, hatte er gerade begonnen, mit schwerer Zunge sein Ziel zu nennen, als der Fahrer einen kleinen Gegenstand durch die Öffnung nach hinten warf, der neben Keller auf dem Sitz landete.

Verwundert unterbrach Keller seine Ansage und blickte auf den kleinen, silbrigen Gegenstand. Er hatte etwa die Größe eines dicken Füllfederhalters oder einer etwas zu kurz geratenen Zigarrenhülle. Noch während Keller den Gegenstand betrachtete, begann an einem Ende Rauch daraus hervorzuströmen.

„Ey, was soll der Scheiß? Was haben Sie …“, konnte er noch rufen, bevor er das erste Mal etwas von dem Rauch einatmete und von heftigem Husten geschüttelt wurde. Er bemerkte, dass ihm sofort seltsam mulmig und schwindelig wurde. Dennoch bekam er noch mit, dass das Taxi sich in Bewegung setzte, obwohl er doch noch gar nicht gesagt hatte, wohin es gehen sollte.

Aber ihm blieb keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn bereits beim zweiten Atemzug verstärkte sich das Schwindelgefühl, und er war nicht mehr in der Lage, seinen Blick auf irgendetwas zu fokussieren. Da er sich noch nicht angeschnallt hatte, fiel er nur zehn Sekunden später, ohne noch einen Laut von sich gegeben zu haben, seitlich auf den Rücksitz.

***

Ihm war nicht bekannt, dass man in der Dichtung die Zeit kurz vor Sonnenaufgang, also die beginnende Morgendämmerung, aufgrund des bei gutem Wetter sich in immer hellerem Blau färbenden Himmels als die Zeit der melancholischen Gefühle beschrieb.

Ihm war nicht einmal bewusst, dass es um diese Jahreszeit die Zeit von 04:30 bis 05:30 Uhr war, denn er besaß keine Uhr. Seine Zeit richtete sich nach dem Grad seiner Alkoholisierung, nach dem jeweils verfügbaren Schlafplatz oder danach wann er die Kälte durch Bewegung aus seinem Körper vertreiben musste. Seine Zeit richtete sich nach den Öffnungszeiten von Supermärkten, wo er sich billigen Fusel kaufen konnte, und nach der Essensausgabe in der Mission am Hauptbahnhof.

Während er den Einkaufswagen, der mit seinen wenigen Habseligkeiten gefüllt war, langsam vor sich herschob, warf er nur selten einen Blick nach rechts oder links. Trotz der dämmrigen Lichtverhältnisse nahm er aus dem Augenwinkel den hellen Fleck in der ansonsten dunklen Umgebung auf dem Vorplatz der Kastor-Kirche wahr.

Als er den Kopf in diese Richtung drehte, weiteten sich seine Augen in plötzlichem Erschrecken. Das, was dort lag, war ein Körper … ein menschlicher Körper … und er war nackt.

Nach anfänglichem Zögern näherte er sich langsam dem Menschen, der dort lag.

Kapitel 1

Tag 1 Dienstag, 23.07.2024, 13:00 UhrPolizeipräsidium Koblenz, Büro der MK

Die vergangenen zwei Wochen waren erstaunlich ruhig gewesen, und Ulf Auer, der Leiter der Mordkommission Koblenz, hatte sich gegen die ersten Versuche wehren müssen, Personal seiner Mordkommission für andere Einheiten abzustellen.

Es hatte in diesen zwei Wochen lediglich zwei Selbsttötungen gegeben: ein Landwirt, der sich in seiner Scheune in Koblenz-Rübenach erhängt hatte, und ein Schüler, der sich aus Liebeskummer im Hauptbahnhof Koblenz vor einen durchfahrenden Güterzug geworfen hatte. Gerade der letzte Suizid war zwar äußerst tragisch und auch sehr unschön gewesen, dank der Videoaufzeichnungen am Bahnhof aber sehr schnell vom Tisch, da Fremdverschulden noch am gleichen Tag mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden konnte.

Also hatten er und sein Team viel Zeit, liegen gebliebene Arbeiten zu erledigen, endlich mal wieder zum Schießtraining zu gehen oder sogar Dienstsport zu betreiben.

Einzig Fisch, also Oberkommissar Klaus Saibling, der seinen Spitznamen stolz immer dem Umstand zuschob, dass er bedeutete, dass er sich aus allen Schwierigkeiten herauswinden konnte wie ein glitschiger Fisch, war von Sport nicht wirklich begeistert. Er hatte sich erfolgreich gedrückt, indem er vorgab, dringende Wartungsarbeiten an den Computern der Mordkommission durchführen zu müssen.

Fisch war ein Computergenie, der es allerdings mit Vorschriften und Regeln nicht wirklich genau nahm und der Mordkommission mit seinen illegalen Hacks von Datenbanken schon viele Ermittlungserfolge beschert hatte. Dabei machte er auch vor Netzwerken keinen Halt, in denen er absolut nichts verloren hatte. Er hackte Personalverwaltungen, Banken, Versicherungen und sogar staatliche Organisationen, wenn die Ermittlungen es erforderten … oder er es für erforderlich hielt, weil der offizielle Weg für seine Begriffe viel zu lange gedauert hätte.

Am heutigen Vormittag waren sie alle gemeinsam im Schießkino gewesen, und Ulf hatte schmerzlich feststellen müssen, dass ihm seine wesentlich jüngeren Kolleginnen und Kollegen in allen Disziplinen haushoch überlegen waren. Mit seinen 47 Jahren fühlte er sich noch nicht im Mindesten alt, und der zweitälteste Kollege, sein Freund Gerd Duben, war zwar nur sieben Jahre jünger, aber schon immer ein ausgezeichneter Schütze gewesen.

Die beiden jungen Kolleginnen, Kriminaloberkommissarin Selma Lakatos, die von allen nur Sally genannt werden wollte und gerade mal 30 Jahre war, wie auch das mit 27 Jahren jüngste Mitglied der Mordkommission, die frischgebackene Oberkommissarin Corinna „Coco“ Crott, stellten sich mit ihren Waffen wesentlich besser an als er.

Lediglich Fisch war trotz seiner 35 Jahre ein nur minimal besserer Schütze als er, der die Anforderungen der Polizei an die erforderliche Anzahl von Treffern nur mit Mühe und manchmal auch erst im zweiten Versuch erfüllen konnte.

Nach dem Schießen waren sie gemeinsam zum Essen gegangen und erst vor wenigen Minuten in ihr Großraumbüro im Untergeschoss des Polizeipräsidiums zurückgekehrt. Dort hatte jeder sich an seinen Arbeitsplatz begeben und zunächst überprüft, ob inzwischen neue Mails eingegangen waren.

Als sein Telefon klingelte, war sein erster Gedanke, ob es nicht wieder eine Anfrage zur Freistellung eines Teils seines Personals sein könnte, und er wappnete sich mit den schon lange gedanklich vorbereiteten Argumenten gegen eine solche Anforderung.

Kein Mensch käme auf die absurde Idee, bei der Feuerwehr Personal abzubauen, nur weil es zwei Wochen lang mal nicht gebrannt hat. Einfach lächerlich.

„Auer?“, meldete er sich, da er auf dem Display erkennen konnte, dass es sich um einen internen Anruf aus dem Netz des Polizeipräsidiums handelte.

„Ja … äh …“, erklang eine ihm unbekannte Stimme. „Hier spricht Kommissar Jahn, also … ich bin neu im Dauerdienst und habe den Auftrag bekommen, die Mordkommission zu verständigen. Sind Sie Hauptkommissar Auer?“

Ulf verdrehte die Augen, seufzte und stöhnte kurz auf.

„Ja, Kollege Jahn, ich bin Ulf Auer, aber ich würde dich bitten, mich zu duzen, wie es allgemein üblich ist unter Kollegen. Du bist offensichtlich noch nicht lange von der FH zurück, sonst wüsstest du das.“

„Ich bin erst seit gestern hier, Herr … äh …“

„Ulf“, half er dem stotternden Jüngling aus.

„Äh … ja … also Ulf … ich soll Sie … dich verständigen, dass es einen Leichenfund vor der Kastor-Kirche gegeben hat und es sich vermutlich um ein Tötungsdelikt handelt. Da scheint wohl irgendwas schiefgelaufen zu sein.“

„Bei der Tötung?“, fragte Ulf verblüfft nach.

„Nein, nein … äh … ich meine, es wurde gesagt, dass man wohl erst sehr spät festgestellt hat, dass die Leiche getötet wurde.“

Ulf sparte sich den Hinweis, dass eine Leiche nicht getötet werden konnte.

„Wer hat euch verständigt?“

„Das war ein gewisser Hauptkommissar Krings, ich glaube, das ist der Leiter der Spurensicherung.“

„Da hast du erstmals recht, Junge. Und wann hat Kalle Krings dich verständigt?“

„Vor etwa einer halben Stunde.“

Ulf riss die Augen vor Verblüffung auf. „Und da rufst du erst jetzt an?“, rief er lauter ins Telefon als beabsichtigt.

„Nein, nein, ich habe schon vor zehn Minuten und vor zwanzig Minuten angerufen, aber es war wohl niemand im Büro.“

Ulf musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu schreien. „Hat dir niemand gesagt, dass es für solche Fälle eine Alarmierungsliste im Kriminaldauerdienst gibt, in der auch alle unsere Mobilnummern verzeichnet sind?“

Die Pause am anderen Ende der Leitung dehnte sich aus. „Was ist? Hat man nicht, oder hast du’s vergessen?“

„Ich … ich … war die letzte halbe Stunde allein hier, die Kollegen sind alle zum Essen gegangen, und ich sollte die Stellung halten.“

Die Stimme hatte nun fast weinerlich geklungen, und Ulf verspürte sofort Mitleid mit dem jungen Kollegen. Er machte sich eine gedankliche Notiz, dem Leiter des KDD mitzuteilen, dass man einen Frischling nicht alleine in der Zentrale ließ, solange er nicht die wichtigsten Grundregeln kannte.

„Okay, dann kann man dir keinen Vorwurf machen. Also, wo genau liegt die Leiche?“, fragte er in einem versöhnlicheren Ton.

Das erleichterte Seufzen auf der anderen Seite war nicht zu überhören. Danach übermittelte der junge Kollege alle erforderlichen Daten.

„Vielen Dank und mach dir keinen Kopf, du hast nichts falsch gemacht.“

Mit diesen Worten legte Ulf auf und wandte sich seinen Mitarbeitern zu. „Leute, es scheint so, als hätten wir ein aktuelles Tötungsdelikt. Bis auf Fisch kommen alle mit an den Fundort. Fisch, du hältst die Stellung, und wir informieren dich, wenn wir mehr wissen, damit du schon mal Hintergrundrecherchen anstellen kannst.“

Er stand auf, schnappte sich die Schlüssel eines der beiden Dienstfahrzeuge der Mordkommission und warf sie Coco zu.

„Coco, du fährst!“

Kapitel 2

Koblenz, Vorplatz der Kastor-Kirche, 13:30 Uhr

„Na, ihr seid ja lustig“, begrüßte sie ein schlecht gelaunter Leiter der Spurensicherung. „Ist ja wirklich eine Leistung, dass ihr endlich auch mal an den Fundort eines Mordopfers kommt.“

Coco hatte Kalle Krings noch nie so griesgrämig und verärgert erlebt. Üblicherweise war er der Typ für beißende Ironie, freche Kommentare und lustige Sprüche. Aber heute schien er frustriert und unzufrieden zu sein.

„Was ist los, Kalle? Was genau ist denn passiert?“, fragte Ulf und schien nicht zu verstehen, was genau vorgefallen war.

„Okay, Leute“, erwiderte Kalle Krings zwischen zusammengepressten Zähnen, „dann will ich euch mal in Kenntnis setzen, wie diese Katastrophe hier abgelaufen ist.“

Er war von einem Bereich, der mit Sichtschutzplanen vor den Augen der Gaffer und herumstehenden Schaulustigen abgesperrt war, ein wenig zur Seite getreten, und die Mitglieder der Mordkommission waren ihm gefolgt. Coco war gespannt darauf, was ihm die Laune so verdorben hatte.

„Heute Morgen, so gegen 05:00 Uhr“, fuhr Kalle Krings fort, wobei er ständig den Kopf ungläubig schüttelte, „hat ein Obdachloser hier eine unbekleidete männliche Leiche gefunden. De Kerl hatte wohl noch so viel Restalkohol, dass er die Leiche lediglich ein paar Mal mit dem Fuß angestupst und dann seinen Weg fortgesetzt hat. Als er eine halbe Stunde später in der Bahnhofsmission am Hauptbahnhof angekommen ist, hat er nicht Besseres zu tun gehabt, als zuerst mal in Ruhe zu frühstücken. Erst danach hat er den Nonnen dort erzählt, dass auf dem Vorplatz der Kastor-Kirche ein nackter Mann liegen würde. Und was haben die Damen von der Mission gemacht?“

Wieder schüttelte er den Kopf.

„Sie haben nicht etwa die Polizei verständigt, nein, sie haben erst mal eine junge Nonne dorthin gehen lassen, um nachzuschauen, ob dieser blöde Penner nicht vielleicht halluziniert hat. Sie hat natürlich die Leiche gefunden. Wusstet ihr übrigens, dass Nonnen nicht ständig ein Handy mit sich rumschleppen?“

Das einhellige Kopfschütteln der Mitglieder der Mordkommission schien er gar nicht zu bemerken und fuhr fort: „Und was hat diese … diese … ach, egal, also was hat sie gemacht? Sie hat nicht etwa einen Passanten gebeten, die Polizei zu rufen, sondern ist erst zur Mission zurückgelaufen, und von dort haben sie dann die Polizei verständigt. Und um … jetzt passt auf … 08:30 Uhr, war die Streife vor Ort, könnt ihr euch das vorstellen?“

Er sah die verblüfften Blicke der Kollegen und nickte.

„Und was haben die Herren gemacht? Die Weicheier waren wohl zu zart besaitet, als dass sie sich die Leiche mal näher angesehen haben, und sind davon ausgegangen, dass es sich um einen erfrorenen Obdachlosen handelt, ha! Hat man so was schon mal gehört? Ein nackter erfrorener Obdachloser im Juli! Unglaublich. Also haben sie einen Notarztwagen angefordert, der schließlich um 09:00 Uhr vor Ort war. Die waren geistig wohl etwas fitter und haben festgestellt, dass der Mann schon seit mindestens zwei Tagen tot war. Und was haben die Herren Wachtmeister getan? Ihr glaubt es nicht. Die Heinis haben in der Zentrale angerufen und gefragt, was sie jetzt tun sollen. Ist das zu fassen?“

Kalles Stimmung schien sich langsam trotz seiner Aufregung über die Vorgänge zu bessern. Er grinste die ihn verblüfft anschauenden und nun ebenfalls ungläubig den Kopf schüttelnden Mitglieder der Mordkommission an.

„Um 09:30 Uhr hat die Zentrale dann die Spurensicherung beauftragt, aber weil wir mit einem Team bei einer Geldautomatensprengung und mit dem anderen Team bei einem Wohnungseinbruch in Lahnstein waren, hat es bis 11:30 Uhr gedauert, bis wir endlich vor Ort waren. Das waren dann insgesamt schon sechseinhalb Stunden, bis wir mal da waren.“

Coco sah, dass Ulf nachdenklich die Stirn runzelte, und auch Kalle schien es aufzufallen.

„Du musst gar nicht so nachdenklich schauen, Ulf. Wir hatten erst mal alle Hände voll zu tun, um den Fundort abzusichern, Sichtschutz aufzustellen und Verstärkung anzufordern, um die Schaulustigen fernzuhalten. Du kannst dir nicht vorstellen, was hier los war. Jede Menge Jugendliche, die teilweise sogar Selfies mit der Leiche gemacht haben, ohne dass jemand sie davon abhalten konnte.“

Nicht nur Coco war entsetzt, sondern auch Sally und Ulf, während Duben seinem Temperament entsprechend laut zu schimpfen anfing: „Was waren denn das für Dilettanten, die hier zuerst am Tatort waren, wenn ich die Namen …“

„Fundort, nicht Tatort“, unterbrach Kalle ihn, „und vielleicht lasst ihr mich mal die Story zu Ende erzählen, dann erfahrt ihr auch noch, was wir bisher herausgefunden haben.“

Duben grummelte leise etwas vor sich hin, und Coco war sich sicher, dass er die unprofessionelle Vorgehensweise der Beamten nicht auf sich beruhen lassen würde. Zumindest würde er mit ihnen ein paar ernste Worte reden.

„Also“, nahm Kalle den Faden wieder auf, „nachdem wir den Fundort gesichert hatten und ich einen ersten kurzen Blick auf die Leiche geworfen habe, habe ich kurz vor 12:00 Uhr beim KDD angerufen und veranlasst, dass man euch verständigt. Warum hat das dann noch so lange gedauert?“

Ulf zuckte mit den Schultern und sagte entschuldigend: „Mittagspause und ein Frischling beim KDD, den man alleine gelassen hatte und der die Alarmierungsliste noch nicht kannte.“

Damit war alles gesagt. Kalle nickte verstehend und begann sofort, seine Erkenntnisse preiszugeben.

„Also … wir haben hier eine männliche Leiche, unbekleidet, auch im Umfeld keine persönliche Habe, also noch nicht identifiziert. Nach dem Zustand der Leiche ist der Mann tatsächlich schon mindestens zwei Tage tot. Und bevor ihr nachfragt: Fundort ist auf keinen Fall Tatort, denn erstens wäre die Leiche in zwei Tagen wohl doch jemandem aufgefallen, und zweitens ist sie völlig blutleer, also ausgeblutet, aber wir konnten keinerlei Blutspuren in der näheren Umgebung finden. Dafür habe ich schon bei der groben äußeren Betrachtung des Opfers an der Innenseite der Oberschenkel zwei Einschnitte gefunden, durch die er vermutlich ausgeblutet ist. Ob das zu Lebzeiten oder nach seiner Tötung auf eine mir noch unbekannte Weise passiert ist, wird euch sicher die Rechtsmedizin sagen können.“

Coco war entsetzt, aber diesmal nicht von der Unprofessionalität irgendwelcher Beamter, sondern von dem, was sie aus Kalles Schilderung an Rückschlüssen zog.

Schon wieder eine Tötung, die auf einen Plan schließen lässt, und nicht etwa aus Affekt.

„War’s das, oder gibt es sonst noch was Interessantes für uns?“, fragte Ulf, der noch immer geschockt wirkte.

Das Grinsen auf Kalles Gesicht wurde breiter, bevor er sich zur Seite wandte und den MK-Mitgliedern signalisierte, ihm zu folgen.

„Kommt mit, das Beste habe ich mir für den Schluss aufgespart. Schaut euch die Leiche mal an, und dann sagt mir, was euch auffällt.“

Er führte sie durch die Absperrung hin zu dem Mann, der flach auf dem Rücken lag, die Arme seitlich weggestreckt, die Füße an den Knöcheln übereinandergelegt.

Die Leiche lag vor dem Kastor-Brunnen auf der der Kirche zugewandten Seite, auf der auch die Inschrift des im Volksmund ‚Napoleon-Brunnen‘ genannten kuriosen Denkmals angebracht war. Bei einer Stadtführung hatte Coco erfahren, dass der Brunnen 1812 vom damaligen französischen Präfekten errichtet worden war … zu Ehren von Napoleon für dessen vermeintlich erfolgreichen Russland-Feldzug. Der endete aber bekanntlich in einem Desaster, und als 1814 die Russen Koblenz ohne Gegenwehr der Franzosen einnahmen, ließ der russische Befehlshaber in einem Anflug von Humor unter der Napoleon lobenden Inschrift der Franzosen eine zweite Inschrift anbringen:

„Gesehen und genehmigt durch uns, russischer Kommandant der Stadt Koblenz, am 1. Januar 1814“

Eine Geschichte, die Touristen bei Führungen immer wieder zum Lachen brachte. Nun aber war Coco gerade nicht zum Lachen zumute, und sie musste sich auf die Ausführungen des Leiters der Spurensicherung konzentrieren.

„So haben wir ihn vorgefunden, natürlich alles fotografiert, und dann habe ich die Beine gespreizt, sonst hätte ich ja die Schnitte an der Innenseite der Schenkel nicht sehen können. Ich habe ihn aber wieder in die Ursprungslage gebracht, damit ihr den Effekt einmal im Original sehen könnt.“

Das ist eine typische Kreuzigungshaltung, dachte Coco und stellte sich sofort die sich ergebende Frage: Was will der Täter oder der, der die Leiche hier abgelegt hat, damit sagen?

Sowohl sie als auch Duben und Ulf traten näher an die Leiche heran. Lediglich Sally, die selbst nach einem Jahr bei der Mordkommission noch immer leichte Probleme mit Leichen hatte, die sie sich in natura anschauen musste, hielt sich dezent im Hintergrund.

Coco sah sofort, was Kalle sich für das furiose Finale aufgespart hatte, und auch die anderen beiden beugten sich nach vorne, um das zu sehen, was in schwarzen Lettern auf die Brust des Mannes geschrieben worden war.

VON ... 3N21-18

Coco lief ein eisiger Schauer über den Rücken, und ihre Gedanken schlugen die wildesten Kapriolen. Aber sie hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte.

Kapitel 3

Polizeipräsidium, Büro der MK, 14:00 Uhr

Ulf hatte noch vor Ort Duben und Sally beauftragt, zu versuchen, den Obdachlosen ausfindig zu machen, der die Leiche gefunden hatte. Anschließend sollten sie, sofern bis dahin etwas über die Identität des Opfers und den Wohnort bekannt sei, mit der Spurensicherung zusammen dort nach Hinweisen für den Grund der Tat forschen.

Danach hatte er veranlasst, dass die Leiche in die Rechtsmedizin nach Mainz transportiert wurde. Noch bevor das Bestattungsunternehmen, das den Transport nach Mainz durchführen würde, die Leiche in einen Zinksarg gelegt hatte, hatte Sally mit ihrem Smartphone Bilder vom Gesicht des Toten aus verschiedenen Blickwinkeln gemacht und diese an Fisch gesandt.

Da es am Fundort der Leiche nichts mehr für ihn zu tun gab, war Ulf mit Coco auf die Dienststelle zurückgekehrt. Dort hatte sie ein vor Eifer glühender Fisch erwartet.

„Na endlich!“, hatte er ausgerufen, kaum dass Ulf und Coco das Büro betreten hatten. „Ich habe Neuigkeiten zu unserem Toten.“

„Und?“, hatte Ulf gesagt, und Coco hatte den Eindruck, dass er bei Weitem nicht so interessiert klang, wie sie es war.

Vermutlich macht er sich ebenfalls Gedanken über das, was auf die Leiche geschrieben worden war.

„Also“, verkündete Fisch mit dem ihm eigenen Stolz über seinen Ermittlungserfolg, „ich habe selbstverständlich das Opfer inzwischen anhand der Bilder, die Sally mir geschickt hat, identifiziert. Der Mann wurde vor zwei Tagen von seinem Arbeitgeber als vermisst gemeldet. Ist doch mal was Neues, oder? Na ja, er hat keine Frau, Freundin oder Freund, und der Arbeitgeber scheint ihn tatsächlich zu vermissen. Muss wohl eine Art Star-Verkäufer oder so was gewesen sein.“

„Und wie heißt er und wo wohnt er?“, fragte Ulf, dem Coco deutlich anmerken konnte, wie genervt er war.

„Ach so, ja, als er heißt Ephraim Keller, wurde am 02.08.1980 in Mainz geboren und wohnte … Moment …“, Fisch rief eine Seite auf seinem Computer auf, „… in Kaltenengers, in der Obermark 13. Ich hab mir das mal auf Google-Maps angesehen, und das scheint eine richtige Villa zu sein.“

„Aha“, war alles, was Ulf antwortete, und nun war es an Fisch, einen unzufriedenen Eindruck zu machen.

„Sei so gut und sende Gerd die Adresse, damit er und Sally dort auch noch hinfahren und die Spurensicherung unterstützen. Und was ist das für eine Firma, bei der er Starverkäufer war?“, hakte Ulf nach.

„Ach so, ja, das ist eine Immobilien-Makler-Firma. Die heißt MacImmo GmbH & Co. KG, also nichts wirklich sehr Vertrauenswürdiges, wenn ihr mich fragt.“

„Gut, dann werden Coco und ich uns mal auf den Weg zu der Firma machen. Du, Fisch, verständigst die Spurensicherung, dass sie schon mal in die Wohnung oder das Haus des Opfers fahren, Coco und ich kommen dann direkt nach der Firma dorthin. Schick mir die Adresse der Firma auf mein Handy, wir machen uns sofort auf den Weg. In der Zwischenzeit versuchst du, alles über diesen Typen herauszufinden, was das Internet hergibt, okay?“

„Na sicher, Chef, wird sofort erledigt.“

Coco hatte den Eindruck, dass Fisch ein Lob über seine Arbeit erwartet hatte und nun etwas missgelaunt war. Ulf schien ihr tatsächlich ein wenig abwesend oder abgelenkt, denn das war sonst nicht seine Art. Er hatte eigentlich immer ein positives Wort für seine Kollegen und Mitarbeiter übrig, wenn sie eine Arbeit erfolgreich erledigt hatten.

Irgendwas stimmt nicht. Er macht sich über etwas Sorgen, aber was könnte das sein?

Als sie zehn Minuten später auf dem Weg ins zehn Kilometer entfernte Mülheim-Kärlich waren, wo die Immobilienmakler-Firma ihren Sitz in einem zum Büro umfunktionierten Ladengeschäft im Stadtzentrum hatte, hielt sie es nicht mehr aus.

„Was ist mit dir, Ulf? So nachdenklich und bedrückt habe ich dich selten gesehen. Hat es etwas mit dem Fall zu tun, oder hast du private Sorgen?“

Sie erntete ein müdes Lächeln von Ulf, der sich zwar aufs Fahren konzentrierte, aber immer noch in der Lage war, sich zu unterhalten. Nach einer ungewöhnlich langen Pause seufzte er schwer.

„Merkt man mir das so deutlich an? Na ja, du kennst mich einfach zu gut, und du hattest schon immer die Gabe, kleine Veränderungen im Verhalten deiner Mitmenschen zu bemerken.“

Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: „Ja und ja, also … es ist beides. Zum einen dieser Fall und zum anderen der Zeitpunkt, zu dem er uns auf den Tisch gekommen ist. Der könnte nicht schlechter sein. Ich wollte es eigentlich noch eine Weile geheim halten, aber ich denke, ich sollte mich wenigstens dir anvertrauen.“

Für einen Moment poppte in Coco die Furcht nach oben, dass Ulf sich vielleicht beruflich verändern und die Mordkommission verlassen wollte. Aber bereits seine nächsten Worte belehrten sie eines Besseren.

„Sandra und ich planen, unsere Beziehung auf eine neue Ebene zu heben. Wir wollen heiraten.“

Coco war so überrascht, dass sie eine Zeit lang nicht wusste, wie sie auf diese Ankündigung reagieren sollte. Sandra Hartung war bereits seit vier Jahren Ulfs Freundin. Die ehemalige Oberstaatsanwältin hatte einige Zeit ein durch die berufliche Verbindung belastetes Verhältnis mit Ulf geführt, aber ihr Wechsel von Koblenz ins Justizministerium in Mainz, wo sie als Abteilungsleiterin nun für alle Staatsanwaltschaften in Rheinland-Pfalz verantwortlich war, hatte der Beziehung gutgetan, und Coco wusste, dass Ulf bereits seit drei Monaten gemeinsam mit Sandra in deren Wohnung lebte. Aber dass Ulf und Sandra tatsächlich über diesen weiteren Schritt nachdachten, war für sie eine völlige Überraschung. Als sie sich wieder gefasst hatte, sagte sie das, was sie tatsächlich empfand: „Aber das ist doch toll. Es freut mich für dich, wirklich … oder genauer gesagt, für euch. Was für eine schöne Nachricht.“

Coco freute sich so für Ulf und Sandra, dass sie im ersten Moment nicht realisierte, dass er alles andere als glücklich wirkte. Erst dann ging ihr auf, dass er doppelt bejaht hatte.

„Du wirkst nicht wirklich glücklich, und du hast gesagt, dass deine Bedrückung auch etwas mit dem Fall zu tun hat. Wieso?“

Ulf nickte, bevor er antwortete.

„Weil ich befürchte, dass dieser Fall uns in der nächsten Zeit mehr beschäftigen wird, als uns lieb ist. Darunter werden auch meine Hochzeitspläne mit Sandra leiden.“

Noch mehr als die Frage, wie kurz diese Hochzeit wohl bevorstand, interessierte Coco nun aber, was es mit seiner Sorge bezüglich des Falls auf sich hatte.

„Was ist an diesem Fall so besonders?“, fragte sie nach.

Ulf sah kurz von der Straße weg und ihr ins Gesicht. Sie konnte seine Besorgnis erkennen und war gespannt, was er ihr eröffnen würde.

„Du hast doch sicher auch gesehen, dass etwas auf die Brust des Toten geschrieben war. Kannst du dich noch daran erinnern, was es war?“, stellte er ihr stattdessen eine Frage.

Oh ja, und ob sie das konnte. Die Schriftzeichen hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt, und sie musste das Foto, das sie davon gemacht hatte, nicht zurate ziehen, um genau zu sagen, was dort gestanden hatte:

„‚Von‘, und danach die Buchstaben-Ziffern-Kombination ‚3N21-18‘, warum?“

„Nun ja, das ist fast korrekt, aber eben nicht ganz. Du hast das doch fotografiert, oder? Dann zieh dein Foto noch mal zurate und sag mir genau, was du darauf lesen kannst.“

Coco fischte ihr Smartphone aus der Tasche und rief das Foto auf. Dort war deutlich der Schriftzug auf der Brust des Toten zu erkennen.

VON ... 3N21-18

„Okay du hast recht. Ich habe es nicht absolut genau wiedergegeben. Nach dem ‚von‘ stehen drei Punkte, und erst danach kommt diese seltsame Kombination. Aber …“

Genau in diesem Moment ging ihr auf, was Ulf so bedrückte und was sie übersehen hatte.

„Ach du Scheiße!“, entfuhr es ihr. „Ich verstehe, was du meinst und warum es dich so bedrückt. Die drei Punkte, oder?“

Sie bemerkte, dass Ulf verlangsamte, auf dem Seitenstreifen der Bundesstraße 9 anhielt und die Warnblinkanlage einschaltete. Dann drehte er sich zu ihr und sah ihr ernst in die Augen.

„Ja, die drei Punkte. Ich habe zwar noch keine Ahnung, was diese Ziffern und Buchstaben bedeuten, aber die drei Punkte kann ich nur in einer Weise deuten.“

Coco wusste genau, was er meinte, und setzte den Satz fort:

„Das ist der Anfang von irgendwas, und das bedeutet, dass es eine Fortsetzung geben wird. Du denkst, das ist der Auftakt zu einer Serie von Taten, nicht wahr?“

Ulf nickte ernst, sagte aber nichts.

Kapitel 4

Mülheim-Kärlich, Firma MacImmo, 14:30 Uhr

Sie hatten nicht sofort einen Parkplatz finden können, denn die Straße, in der sich die Büros von vier Versicherungen befanden, war fast vollständig zugeparkt. Ulf entschied sich schließlich dafür, den Dienstwagen in einem absoluten Halteverbot abzustellen.

Er versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was sie in dieser Firma in Erfahrung bringen wollten, und schob alle anderen Gedanken in den Hintergrund. Ein Schaufenster an der Straße zeigte zahlreiche Immobilienobjekte mit Bildern, Daten und Preisen, und schon durch das Schaufenster konnte Ulf erkennen, dass im Inneren zumindest zwei der vier Schreibtische besetzt waren. Coco und er betraten das im Erdgeschoss liegende Großraumbüro, und sofort sprang ein für sein Alter etwas zu jugendlich gekleideter Mann Mitte 50 von seinem Schreibtisch auf und kam ihnen lächelnd entgegen.

„Hallo, was kann ich für Sie tun? Wenn Sie ein schönes Eigenheim für sich suchen, sind Sie hier genau richtig!“, verkündete er überlaut und für Ulfs Begriffe ein wenig zu eifrig.

Die scheinen es nötig zu haben. Wahrscheinlich laufen die Geschäfte nicht wirklich gut.

„Auer, Kripo Koblenz, und das ist meine Kollegin Crott. Nein, wir suchen kein Eigenheim, sondern sind wegen Ihrer Vermisstenanzeige gekommen.“ Dabei hielt er dem Mann seinen Dienstausweis entgegen.

Der Mann war auf halbem Weg wie angewurzelt stehen geblieben, und die Enttäuschung war ihm ins Gesicht geschrieben.

Aha, ihn interessiert weniger, was mit seinem Mitarbeiter ist, als das Geschäft, das er vielleicht hätte machen können.

„Darf ich fragen“, fuhr Ulf fort, „mit wem ich das Vergnügen habe? Sie sind …?“

„Ach so, ja, natürlich. Mein Name ist Both, und ich bin der Geschäftsführer von MacImmo. Kommen Sie, wir setzen uns dort hinten an den Besprechungstisch. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten oder ein Wasser?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging in den hinteren Bereich des Büros, wo sich ein kleiner Besprechungstisch mit vier Stühlen befand.

„Ich nehme gerne eine Tasse Kaffee“, sagte Coco in den Rücken des Mannes. „Und du, Ulf? Auch einen Kaffee?“

Ulf nickte lediglich und sah sich nach den zwei weiteren Mitarbeitern um, die an ihren Schreibtischen saßen. Beide versuchten, einen uninteressierten Eindruck zu machen, und konzentrierten sich zwanghaft auf die vor ihnen stehenden Monitore. Dass sie aber genauestens lauschten, bemerkte Ulf spätestens, als auf ein sehr leise geäußertes „Marco, machst du uns mal drei Kaffee?“ des Geschäftsführers einer der beiden Männer sofort aufsprang und zu einer Kaffeemaschine eilte.

Nachdem sie Platz genommen hatten, sah Both abwechselnd zu Ulf und Coco, als er fragte: „Und was kann ich nun für Sie tun?“

Ulf hatte vorher mit Coco vereinbart, dass er die Gesprächsführung übernehmen würde. Allerdings lief das Gespräch in einer für ihn nicht vorhersehbaren Bahn.

„Nun ja“, begann er bedächtig, „eigentlich hätte ich erwartet, dass Sie sich nach Ihrem Mitarbeiter erkundigen, den Sie als vermisst gemeldet haben. Interessiert Sie sein Schicksal auf einmal nicht mehr?“

Both blickte ihn verblüfft an,

„Ach so, Sie kommen wegen Keller. Daran habe ich jetzt gar nicht mehr gedacht.“ Er lehnte sich bequem in seinem Stuhl zurück und machte auf Ulf einen nun wesentlich entspannteren Eindruck. „Und? Haben Sie ihn gefunden? In welcher Gosse ist er denn gelandet? So besoffen, wie er am Samstagabend war, habe ich schon fast erwartet, dass er entweder eine Alkoholvergiftung hatte oder in einem Puff ausgeraubt wurde.“

Ein amüsiertes Grinsen war auf seinem Gesicht erschienen.

„Wissen Sie, Herr Both, das ist so eine Eigenart unseres Berufes. Wenn wir die Menschen aufsuchen, bringen wir meistens keine guten Nachrichten. Ihr anscheinend sehr geschätzter Mitarbeiter ist tot. Und er ist weder an einer Alkoholvergiftung gestorben noch eines natürlichen Todes … er wurde ermordet.“

Na, das hat ja mal gesessen, schoss ihm der zufriedene Gedanke durch den Kopf, denn Both hatte in purem Entsetzen die Augen aufgerissen, und gleich darauf war ein gehetzter Ausdruck auf seinem Gesicht erschienen. Als Zeichen dafür, dass die beiden jungen Männer sich nicht etwa auf ihre Arbeit konzentriert, sondern aufmerksam der Unterhaltung gelauscht hatten, waren beide aufgesprungen und näherten sich nun der kleinen Sitzgruppe.

„Was? Eppi ist tot? Was ist denn passiert?“, rief einer der beiden aufgebracht.

„Tja, junger Mann, genau das versuchen wir gerade herauszufinden. Vielleicht schildern Sie uns mal alle drei, wann Sie Herrn Keller das letzte Mal gesehen haben, warum er so alkoholisiert war, wie Sie, Herr Both, es gerade erwähnt haben, und was bei Ihrem letzten Treffen so alles passiert ist.“

Es dauerte einen ganzen Moment, bis sich die drei so weit gefasst hatten, dass sie antworten konnten.

„Wir haben am Samstag gefeiert, dass …“, begann der andere junge Mann, aber Both fiel ihm ins Wort.

„Wir haben einen Geschäftserfolg hier in der Firma gefeiert, und dabei ist einiges an Sekt und Schnaps geflossen. So gegen 22:00 Uhr hat Herr Keller sich ein Taxi bestellt und ist damit weggefahren. Das war das letzte Mal, dass wir ihn gesehen haben.“

„Warum haben Sie ihn als vermisst gemeldet?“, schaltete sich Coco erstmals in die Unterhaltung ein.

Wieder übernahm Both die Antwort, jedoch nicht, ohne vorher den beiden Mitarbeitern einen warnenden Blick zugeworfen zu haben, wie Ulf deutlich erkennen konnte.

„Er hat noch Unterlagen zu dem Geschäftserfolg, an die wir ohne ihn nicht rankommen. Er hat weder auf unsere Anrufe reagiert noch war jemand zu Hause, als wir bei ihm vor dem Haus standen.“

Ulf hätte zu gerne gewusst, um was für eine Art von ‚Geschäftserfolg‘ es sich handelte, aber er hielt es noch für zu früh, danach zu fragen. Dafür stellte er eine Standardfrage in vergleichbaren Fällen.

„Hatte Herr Keller irgendwelche Feinde, oder wurde er bedroht?“

Das betretene Schweigen sprach Bände, und die beiden jungen Männer blickten schweigend vor sich auf den Boden.

„Nun ja“, begann Both bedächtig, „in unserer Branche macht man sich nicht nur Freunde. Bevor wir eine Immobilie vermitteln, muss jemand anderes sie verkaufen oder verlieren. Da sind manche Leute dann schon mal schlecht auf uns zu sprechen, obwohl wir ja gar nichts dafür können. Entweder ist die Finanzierung schlecht gelaufen, Handwerker sind in Insolvenz gegangen, oder die Besitzer sind arbeitslos geworden und konnten sich die Immobilie nicht mehr leisten. Ja, und dann sind diese Leute sauer auf uns.“

Er schüttelte den Kopf, als könne er das nicht im Mindesten verstehen.

„Können Sie denn jemanden namentlich benennen, dem Sie zutrauen, dass er oder sie so sauer war, dass man deshalb einen Menschen ermorden würde?“

Both hob abwehrend beide Hände. „Um Gottes willen, nein, auf keinen Fall. Klar hat sich mal jemand beim Verkaufspreis benachteiligt gefühlt, aber das ist doch kein Grund, jemanden zu ermorden, oder?“

Ulf hätte ihm sagen können, dass Menschen aus wesentlich nichtigeren Gründen ermordet worden waren, aber er ließ es. Zum jetzigen Zeitpunkt wollte er auch nicht nachfragen, was das für ein Monsterdeal gewesen war, der ein Grund dafür sein konnte, dass man so exzessiv gefeiert hatte … zumindest nicht, bis er die Ergebnisse der Durchsuchung bei Keller zu Hause kannte.

Vielleicht haben wir dann ja Erkenntnisse, mit denen ich ihm sofort eine Lüge nachweisen kann.

Er traute diesem Mann kein bisschen und war sich sicher, dass er ihm und Coco nicht alles erzählt hatte, was er hätte erzählen können.

Kapitel 5

Büro der Mordkommission, 16:00 Uhr

Ins Büro zurückgekehrt, hatte sie ein feist grinsender Fisch empfangen, dem man auf den ersten Blick ansehen konnte, dass seine Recherchen etwas erbracht hatten, das für den Fall von Bedeutung sein konnte.

Zu Fischs Verärgerung hatte Ulf ihn keines Blickes gewürdigt, sondern war zuerst zur Kaffeemaschine und dann mit einem dampfenden Becher an seinen Schreibtisch gegangen. Coco musste innerlich lächeln, wie vorhersehbar Fischs Verhalten war, und es hatte nicht lange gedauert, bis er explodierte.

„Hat denn niemand Interesse an den Funden, die ich im Internet gemacht habe? Ich könnte euch einiges über den feinen Herrn Keller erzählen, was ein ganz neues Licht auf den Fall wirft. Und? Soll ich?“

Deutlich genervt sah Ulf von einer Mappe auf und drehte sich mit seinem Stuhl in Fischs Richtung.

„Na gut, du gibst ja eh keine Ruhe, und ehrlich gesagt interessiert es mich schon ein wenig, was du herausgefunden hast. Ich hoffe, es bringt uns in Bezug auf ein mögliches Tatmotiv ein wenig weiter.“

„Das will ich meinen“, erwiderte Fisch mit stolzgeschwellter Brust. „Ich hätte da schon ein astreines Motiv.“ Er zögerte ein wenig, bevor er fortfuhr: „Ich kann euch allerdings noch nicht sagen, wer dieses Motiv hätte.“

Sowohl Coco als auch Ulf sahen ihn fragend und etwas verwirrt an.

„Okay, okay, ich spreche mal wieder in Rätseln. Aber ich will euch ja nicht dumm sterben lassen. Also … dieser Ephraim Keller war ein ganz abgewichster Makler. Er hat wohl für seine Firma Immobilienobjekte aufgetan, die sich lukrativ verkaufen ließen, und hat dann dafür gesorgt, dass die bisherigen Bewohner das jeweilige Haus verlassen mussten. Wie genau, kann ich allerdings noch nicht sagen“, schränkte er sofort ein, um einer Frage zuvorzukommen.

„Woher weißt du das denn?“, konnte Coco sich nicht zurückhalten zu fragen.

Und wieder kehrte das Grinsen auf Fischs Gesicht zurück.

„Weil es da zum einen eine Anzeige gegen ihn gab, dann wurden Ermittlungen eingeleitet, die allerdings im Sand verlaufen sind, und letztendlich musste eine ältere Dame ihr Haus aufgeben, weil es …“, er machte mit den Fingern zweier Hände Anführungszeichen in die Luft, „darin spukte und Poltergeister ihr das Leben zur Hölle machten.“

Coco sah ihn entgeistert an. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“

„Oh doch, das ist mein Ernst, und es kommt noch viel schlimmer. Die alte Dame hat sich letzte Woche umgebracht, nachdem öffentlich wurde, dass die Immobilie für 1,8 Millionen Euro verkauft wurde. Und dreimal dürft ihr raten, wer die Provision, und das sind immerhin 126.000 Euro, eingesteckt hat? Nein, ihr müsst nicht raten, ihr wisst es schon.“

Zufrieden lehnte er sich in seinem Drehsessel zurück und beobachtete ihre Reaktionen.

Coco schüttelte ungläubig den Kopf, während sie gleichzeitig sah, dass Ulf langsam und wissend nickte.

Er hat so was vermutet, dieser Fuchs.

In diesem Moment ging die Tür des Kellerraumes auf, in dem die Mordkommission residierte, und ein schwer beladener Duben kam zusammen mit Sally herein.

„Hallo zusammen, wir haben Geschenke mitgebracht, aber bevor irgendjemand was sagt: Ich bin nicht der Weihnachtsmann!“, verkündete Duben mit einem Grinsen, und sofort richteten sich alle Blicke auf ihn und Sally.

Coco sah, dass Duben auf beiden Armen einen Laptop und darüber gestapelt mindestens acht Leitz-Ordner trug, während Sally lediglich unter jeden Arm zwei Ordner geklemmt hatte.

Immer noch ganz der Gentleman, dachte Coco amüsiert, während sie zu ihm eilte und die obersten vier Ordner von seinen Armen nahm.

Fisch, der ebenfalls herbeigeeilt kam, zog den Laptop unter dem Stapel auf Dubens Armen hervor.

„Ich geh mal davon aus, dass ihr damit nichts anfangen konntet und ich jetzt derjenige bin, der die Kartoffeln aus dem Feuer holen soll.“

„Die Kohlen, du Ignorant, die Kohlen“, warf Ulf mit einem schiefen Grinsen ein. Aber er wurde sofort wieder ernst. „Ich gehe davon aus, dass das die wesentlichen Asservate aus der Wohnung des Opfers sind, oder?“

Duben nickte. „Ja, und ich denke, wir haben darin ein ziemlich gutes Mordmotiv gefunden.“

Bevor Fisch mit seinen Heldentaten angeben konnte, begann Ulf, Duben und Sally über die Erkenntnisse aus Fischs Internetrecherche zu informieren … allerdings in einer weit weniger ausschweifenden Art als Fisch.

Die Enttäuschung war den beiden gerade von der Durchsuchung Zurückgekehrten deutlich anzusehen.

„Oh, schade …“, sagte Sally, „… und wir dachten, wir könnten euch was Neues erzählen. In den Akten sind einige interessante Vorgänge, aber ich denke mal, der Vorgang mit dieser Villa für 1,8 Millionen ist wohl der krasseste Fall. Aber wenn wir da nicht weiterkommen, dann sind da auch noch ein paar andere Fälle drin. Das war schon ein richtiger Schweinehund, dieser Keller. Für seine Provision ist der echt über Leichen gegangen.“

Coco ahnte bereits, dass es eine enorme Anstrengung bedeuten würde, diese Akten, die sich daraus ergebenden Tatmotive und die dazugehörenden Verdächtigen auszuermitteln. Überstunden, Nachtarbeit, das volle Programm.

Aber sie wusste auch, dass genau diese Ermittlungsarbeit der Alltag in einer Mordkommission war.

„Gut, Leute“, unterbrach Ulf ihre Gedanken. Das ist doch immerhin schon mal ein Ansatz. Uns steht viel Arbeit bevor, und wir werden sicherlich heute noch ein paar Stunden dranhängen müssen. Aber …“, er machte eine lange Pause, und alle sahen gespannt zu ihm, „… ich möchte zuerst mit euch allen über etwas anderes reden.“

Coco wusste genau, worauf er anspielte.

Kapitel 6

Büro der Mordkommission, 16:20 Uhr

Ulf war sich nicht sicher, wie er in das Thema einsteigen sollte, das er unbedingt noch mit seinen Kolleginnen und Kollegen besprechen wollte.

Soll ich meinen Verdacht direkt äußern oder sehen, ob sie von selbst zu dem gleichen Schluss kommen?

„Ich muss“, begann er bedächtig, „mit euch über diesen anderen Aspekt des Mordes reden. Dabei möchte ich gerne wissen, was ihr von dieser ‚Beschriftung’ der Leiche haltet. Was kommt euch dazu in den Sinn?“

Wie meist war es Fisch, der Computer-Nerd und Mann der schnellen Entschlüsse, der als Erster etwas sagte.

„Ich habe mir natürlich sofort Gedanken gemacht, als ich das Foto mit den Schriftzeichen gesehen habe. Na ja, was soll man zu ‚von’ viel sagen, aber ich habe mir Gedanken über diese Zeichenkombination ‚3N21-18‘ gemacht und im Internet recherchiert.“

Für einen kurzen Moment hatte Ulf das Gefühl, als könne Fisch nun sehr schnell Licht ins Dunkel bringen. Er war gespannt, was Fisch herausgefunden hatte.

„Also hab ich mal diese Ziffernkombination in verschiedene Suchmaschinen eingegeben und habe tatsächlich zahlreiche Treffer erhalten. Allerdings nicht für die gesamte Zeichenkombination, sondern lediglich für ‚3N21‘.“