Der gefährliche Traum - Claudia Frieser - E-Book

Der gefährliche Traum E-Book

Claudia Frieser

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Beschreibung

Gruselige Zeitreise im Spessart Kaum im Spessart angekommen, hat Max Ärger mit Klassenkameraden. Sie verlangen Geld von ihm, dafür würden sie ihn in Ruhe lassen. Doch Max wehrt sich und fängt eine Prügelei an. Zur Strafe brummt ihm der Lehrer ein Referat über die Geschichte des Ortes auf. So erfährt Max von der Entführung der Tochter des Barons im Jahr 1649. Fortan träumt Max jede Nacht davon und wird immer tiefer in die Vergangenheit hineingezogen, bis er Angst hat, nicht mehr zurückzufinden. Und da ist noch seine neue Freundin Fritzi, eine Nachfahrin des entführten Mädchens, und ein unheimlicher schwarzer Geisterhund, den nur Max sehen kann. Es gilt, ein Rätsel aus der Vergangenheit zu lösen und Gefahren in der Gegenwart zu bestehen. Warnung! Hoher Gruselfaktor! Zu diesem Buch finden Sie Quizfragen auf antolin.de

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Seitenzahl: 234

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Von Claudia Frieser sind bisher erschienen:

Oskar und das Geheimnis der verschwundenen Kinder

Oskar und das Geheimnis der Kinderbande

Oskar und das Geheimnis des Klosters

Oskar und das geheimnisvolle Volk

Leo und der Fluch der Mumie

Zur Erinnerung an meinen Vater, der viele sagenumwobene Plätze in den Wäldern kannte

Vor vielen Jahren, als im Spessart die Wege noch schlecht und nicht so häufig als jetzt befahren waren, zogen zwei junge Burschen durch diesen Wald. […]

Der Abend war schon heraufgekommen und die Schatten der riesigen Fichten und Buchen verfinsterten den schmalen Weg, auf dem die beiden wanderten. […]

Felix, der Goldarbeiter, sah sich ängstlich um. Wenn der Wind durch die Bäume rauschte, so war es ihm, als höre er Tritte hinter sich. Wenn das Gesträuch am Wege hin und her wankte und sich teilte, glaubte er Gesichter hinter den Büschen lauern zu sehen. […]

Man hatte ihm vom Spessart so mancherlei erzählt. Eine große Räuberbande sollte dort ihr Wesen treiben, viele Reisende waren in den letzten Wochen geplündert worden, ja, man sprach sogar von einigen gräulichen Mordgeschichten, die vor nicht langer Zeit dort vorgefallen seien. Da war ihm nun doch etwas bange für sein Leben, denn sie waren ja nur zu zweit und konnten gegen bewaffnete Räuber gar wenig ausrichten.

Wilhelm Hauff (1802–1827):

Das Wirtshaus im Spessart, 1827

Inhalt

Veränderungen

Wohnst du noch oder lebst du schon?

Die Strafarbeit

Das geheimnisvolle Buch

Das verschwundene Mädchen

Der erste Traum

Am Kalten Stein

Der zweite Traum

Das Gemälde

Der dritte Traum

Legende oder Wahrheit

Der Schwarze Hund

Der Familienstammbaum

Der vierte Traum

Das Versteck der Räuber

Der Bürgermeister

Der fünfte Traum

Was nun?

Der sechste Traum

Wo ist Fritzi?

Der Kreis beginnt sich zu schließen

Der siebte Traum

Angst um Fritzi

Die Zeit drängt

Der Brief

Der letzte Traum

Das Geschenk

Veränderungen

Wir sind da, Schatz!«, rief Max’ Vater aufgeregt seiner Frau zu, die neben ihm saß. Er bremste das Auto ab und blieb mitten auf der Straße stehen. Max’ Mutter öffnete sofort die Beifahrertür und sprang begeistert aus dem Wagen.

»Liebling, sieh nur! Ist es nicht großartig?« Mit Liebling meinte sie ihren Sohn Max, der auf der Rückbank des Autos saß und sich betont gleichgültig gab. Um dies zu unterstreichen, starrte der noch eindringlicher auf den Bildschirm seines neuen Tablets, ein Bestechungsversuch seiner Eltern.

»Ich möchte auf der Stelle meine beiden Männer neben mir haben und gemeinsam den Anblick genießen«, rief seine Mutter und stellte sich direkt vor das Auto. Um sie herum flirrte die Julihitze und ließ glitzernde Pfützen auf dem heißen Asphalt erscheinen, obwohl es keinen Tropfen Wasser weit und breit gab.

Max rührte sich nicht vom Fleck, auch wenn er vor Neugierde fast umkam. Aber zugeben würde er es niemals. Schließlich wollte er seine Eltern nicht so schnell vergessen lassen, dass er mit ihrer Entscheidung nicht einverstanden gewesen war, Tablet hin oder her. Keine zehn Pferde würden Max aus dem klimatisierten Auto bringen.

Sein Vater war bereits dem Ruf seiner Frau gefolgt und stand nun neben ihr. Sie umarmten sich und starrten gemeinsam auf das Ergebnis ihres Glücks. Max steckte sich den Finger in den Mund und tat so, als würde er sich übergeben.

Max’ Mutter ignorierte es gelassen. »Nun komm schon! Von da drinnen kannst du es doch gar nicht sehen.«

Sein Vater scherzte jetzt sogar, so gut gelaunt hatte ihn der Anblick gemacht. »Du weißt doch, was dein grüner Freund Yoda sagen würde? Aussteigen du musst. Genug Macht du hast.« Er lachte über den gelungenen Witz.

Max aber fand ihn nicht lustig. Sicher war er in der Grundschule ein großer Star-Wars-Fan gewesen, aber jetzt? Mein Gott! Er war in der sechsten Klasse. Und warum musste seine Mutter so übertrieben begeistert sein? Das war sie doch nur, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, weil sie ihn aus Hamburg weggezerrt hatte. Jetzt tat sie so, als wäre das hier der Hauptgewinn. In solchen Situationen wünschte sich Max Geschwister, Verbündete im gemeinsamen Kampf gegen die Eltern. Stattdessen musste er alle Schlachten alleine austragen. Chancen hatte er nur, wenn sich seine Eltern nicht einig waren. Aber das war heute eindeutig nicht der Fall. Deshalb, und weil er auch ein wenig neugierig war, ergab sich Max seinem Schicksal und stieg aus, wenn auch betont langsam. Ungeduldig griff seine Mutter nach seinem Arm und zog Max zu sich.

Jetzt standen sie zu dritt mitten auf der Straße und schauten auf das, was ab heute ihr Zuhause sein sollte. Ein in die Jahre, oder besser gesagt, in die Jahrhunderte gekommenes Schloss!

Noch in Hamburg, seinem eigentlichen Zuhause, hatten ihn seine Freunde damit aufgezogen und ihn andauernd Prinzchen genannt. In Wirklichkeit aber wollten sie genauso wenig wie Max, dass er ging. Der Abschied war allen schwergefallen. Nun fühlte sich Max einsam. Er kannte doch niemanden in diesem trostlosen Ort namens Hohenstein. Und was hätte es ihm auch gebracht? Seine neue Lebenswirklichkeit war noch viel schlimmer. In einem Kaff gab es wenigstens andere Jungen in seinem Alter. Schloss Hohenstein aber lag abgesondert von jeglicher menschlichen Ansiedlung, umgeben von Wiesen und Wäldern.

»Liegt Schloss Hohenstein nicht romantisch?«, seufzte seine Mutter.

»Auf jeden Fall einsam«, knurrte Max und sah sich um. Hinter ihnen erhob sich der undurchdringliche Spessartwald mit seinen alten Eichen, Buchen und Fichten. Vor ihnen führte eine schmale Straße bergauf an grünen Wiesen vorbei direkt auf das Schloss zu. Die Sonne ließ das Orangerot der Mauern fröhlich leuchten. Das Schloss schien sie tatsächlich willkommen zu heißen. Es wirkte weder abweisend noch trutzig. Kein Schauer jagte über Max’ Rücken, so wie er es sich in seiner Fantasie vorgestellt hatte. Kein Schlossgespenst schien mit rostigen Ketten zu rasseln. Es war kein verfluchter Ort. Im Gegenteil, alles sah lieblich und heiter aus.

»Willkommen daheim!«, rief seine Mutter überschwänglich. »Lasst uns ganz schnell einsteigen und weiterfahren. Ich kann es gar nicht erwarten, das Schloss von innen zu sehen.«

»Wir wohnen doch gar nicht im Schloss«, versuchte Max der übertriebenen Begeisterung seiner Mutter einen Dämpfer zu verpassen. »Wir wohnen in einer Dienstbotenwohnung irgendwo auf dem Gelände, womöglich im ehemaligen Pferdestall.«

»Na und?«, entgegnete seine Mutter fröhlich.

Gemächlich fuhr Max’ Vater die schmale Straße entlang, die rechts und links von alten Alleebäumen flankiert wurde.

»Früher sind hier die Kutschen und Ritter auf ihren edlen Rössern entlanggekommen!«, gluckste seine Mutter entzückt.

»Mum, du nervst!«

»Stell dir das doch mal vor, Max!«

»Jaja! Ich sehe sie direkt vor mir, die edlen Ritter, hoch zu Ross, und ihre Prinzessinnen in der rosa Kürbiskutsche.« Max war eindeutig nicht bereit, sich der romantischen Stimmung seiner Mutter anzuschließen. Zumindest gab er es nicht zu. In Wirklichkeit konnte auch er sich dem magischen Bann nicht entziehen. Und je näher sie dem Schloss kamen, umso stärker kribbelte es in seinem Bauch. Eindrucksvoll erhoben sich nun dessen umgebende Mauern. Als würden sie einen kostbaren und zugleich sehr vergänglichen Schatz vor der einfachen Außenwelt beschützen.

Kurz vor der Schlosseinfahrt empfing sie ein großes Hinweisschild.

Herzlich willkommen auf

Schloss Hohenstein

Öffnungszeiten Anfang April bis Ende Oktober:

Dienstag bis Sonntag von 10.00–17.00

Führungen stets zur vollen Stunde

Schlossgaststätte täglich von 11.00 – 23.00 geöffnet

Daneben konnte man sich auf einer Schautafel über die Geschichte des Schlosses und seine Bauphasen schlaumachen. Ein weiteres Schild schickte die Besucher nach rechts auf einen öffentlichen Parkplatz vor dem Schloss.

Max’ Vater blieb unschlüssig stehen. »Sollen wir auf den Besucherparkplatz fahren?«

»Wir sind doch keine Besucher, sondern Bewohner«, erklärte Max’ Mutter gut gelaunt. »Fahr einfach hinein.«

In Max’ Bauch war die Party nun auf dem Höhepunkt. Direkt vor ihm lag sein neues Zuhause, ein echtes, jahrhundertealtes Schloss, das zu betreten ein wahres Privileg darstellte. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, hier zu wohnen. Beinahe spürte Max so etwas wie Stolz aufkeimen.

»Lasst uns aussteigen!«, schlug er von hinten vor. »Ich möchte lieber zu Fuß gehen.« Fast hätte er gesagt »um den ersten Anblick zu genießen«, konnte es sich aber gerade noch rechtzeitig verkneifen.

Seinem Vater schien Max’ Vorschlag besser zu gefallen als der seiner Frau. Ohne zu zögern, bog er auf den Besucherparkplatz ein.

Als sie gemeinsam durch die Schlosseinfahrt schritten, umfing sie sofort eine angenehme Ruhe. Nur das Scharren unzähliger kleiner Kieselsteinchen unter ihren Fußsohlen war zu hören. Vermutlich würde für Max dieses Geräusch für immer mit einem mulmigen Bauchkribbeln verbunden sein. Vor ihnen erstreckte sich ein großer mit Kies geschotterter Innenhof, der rechts und links von Wirtschaftsgebäuden eingesäumt war. Eines davon war das Restaurant, das auf dem Schild bereits angekündigt worden war. Davor standen Tische und Stühle. Familien mit Kindern und Paare saßen friedlich unter den Sonnenschirmen und ließen es sich gut gehen. Links von ihnen lagen weitere Gebäude, deren Nutzen Max nicht erkennen konnte. In der Mitte des Hofes stand ein großer Springbrunnen, aus dem sich zwei Wasser speiende Fische erhoben, die mit vereinten Kräften eine große Muschelschale trugen. Dieser wiederum entstieg eine Nixe, die Wasser aus einem Krug in das Brunnenbecken goss. Dahinter aber erhob sich mächtig das eigentliche Schlossgebäude. Hunderte von Fenstern gliederten die Front. Eine breite Treppe führte hinauf zum Eingang. Alles um sie herum strahlte Ruhe und Erhabenheit aus. Zum ersten Mal konnte sich Max vorstellen, hier zu leben.

Doch kaum war er mit seinen Eltern und seinem neuen Leben im Reinen, wurde sein gerade erst gewonnenes und daher sehr zerbrechliches Wohlgefühl durch eine frisch eingetroffene Reisegruppe gestört. Lauthals schnatternd wackelte eine Schar älterer Damen auf die ausgeschilderten Toiletten zu, während ihre Männer sehnsüchtig Richtung Gaststätte blickten. Max konnte förmlich die kühlen Biere sehen, die sich die Herren herbeiwünschten. Doch dafür war jetzt offenkundig keine Zeit. Eine Reiseleiterin führte mit einem hoch erhobenen Fähnchen und durchdringender schriller Stimme die restliche Gruppe sofort auf den Eingang mit der Kasse zu.

»Am besten, wir folgen ihnen«, schlug Max’ Mutter vor. »An der Kasse sagen wir einfach, wer wir sind. Ich bin sicher, sie werden den Schlossherrn informieren.«

Da keiner einen besseren Vorschlag hatte, marschierten sie einfach der Reisegruppe hinterher.

An der Kasse saß eine ältere Dame, die nur widerwillig ihr Strickzeug zur Seite legte.

Vorwurfsvoll musterte sie über den Rand ihrer Brille hinweg das Grüppchen. »Die nächste Führung beginnt erst in einer Dreiviertelstunde. Solange müssen Sie im Hof warten«, erklärte sie unfreundlich.

Während die Herren der Reisegruppe ohne Umschweife auf die Gaststätte zumarschierten und ihre Frauen ihnen gemächlicheren Schrittes folgten, blieb Max’ Vater zum Missfallen der Kassiererin stehen.

»Das Gleiche gilt für Sie!«, blaffte sie und griff nach ihrem Strickzeug.

»Mein Name ist Dr. Anton Schwarz. Ich werde hier ab morgen als Archivar arbeiten. Herr von Hohenstein erwartet mich bereits.« Max’ Vater lächelte freundlich. »Wenn Sie bitte so freundlich wären, ihn über meine Ankunft zu informieren.«

Die Frau beäugte ihn argwöhnisch, griff aber nach kurzem Zögern doch zum Telefon.

»Herr von Hohenstein, hier ist Henriette Kohlbecher«, meldete sie sich. »Vor mir steht ein Herr. Angeblich ist er der neue Archivar.« Ihr Blick wanderte kritisch über Max’ Vater, als hätten Archivare anders auszusehen. Offenbar bekam sie eine Antwort, denn sie hob verwundert die rechte Augenbraue, nickte und meinte abschließend: »Sehr wohl, Herr von Hohenstein.«

Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, wandte sie sich wieder Max’ Vater zu. »Der Herr wird gleich kommen und Ihnen alles zeigen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm die Frau wieder ihre Stricksachen zur Hand. Von nun an fühlte sie sich nicht mehr für Max und seine Familie zuständig.

Es dauerte nicht lange und ein sportlich gekleideter Mann mittleren Alters betrat die Eingangshalle.

»Mein lieber Herr Schwarz, schön Sie wiederzusehen. Ich freue mich, Sie und ihre Familie auf Hohenstein begrüßen zu dürfen. Verzeihen Sie meine Aufmachung, aber heute ist mein freier Tag.« Der Schlossbesitzer schüttelte Max’ Vater freundlich die Hand und wandte sich dann Max’ Mutter zu. »Bitte verzeihen Sie mein schlechtes Benehmen. Frauen sollten immer zuerst begrüßt werden. Ich nehme an, dass Sie die bessere Hälfte dieses Herrn sind. Meine Frau kann es gar nicht erwarten, Sie kennenzulernen. Sie findet das Leben hier auf dem Schloss etwas zu einsam. Und du musst Max sein. Dein Vater hat mir schon von dir erzählt. Fritzi wird sich freuen, endlich jemanden zum Spielen zu haben. Wie ich gehört habe, seid ihr gleich alt. Ich glaube, ihr besucht sogar dieselbe Klasse.«

Zum ersten Mal an diesem Tag strahlte Max. Und es machte ihm nichts aus, dass seine Eltern es sahen. Hier gab es tatsächlich einen Jungen in seinem Alter. Warum hatte sein Vater ihm nichts davon gesagt? Das war wieder typisch. Er hatte eben nur seine alten Bücher im Kopf.

Nachdem sich die Erwachsenen über die Anreise, den Umzug (der Umzugswagen wurde gegen Abend erwartet) und den ersten Arbeitstag unterhalten hatten, führte sie Herr von Hohenstein zu ihrem neuen Zuhause. Wie sich herausstellte, war es nicht nur eine Wohnung wie in Hamburg, sondern gleich ein ganzes Häuschen. Es lag etwas abgelegen auf der Rückseite des Schlosses, am Rande des Parks, und war ursprünglich das Gärtnerhaus gewesen.

»Es ist leider etwas renovierungsbedürftig, aber das trifft auf so ziemlich jedes Gebäude innerhalb des Schlossareals zu. Modernen Komfort finden Sie erst wieder unten im Ort. Schlösser werden weitervererbt, ganz nach dem Motto ›Die nächste Generation wird es schon reparieren‹.« Der Schlossherr lachte. »Keine Angst, ganz so schlimm ist es nicht, auch wenn das Häuschen schon länger nicht mehr bewohnt wurde. Die Frau des Gärtners wollte lieber ein modernes Reihenhaus in einem Neubaugebiet ihr Eigen nennen. Mein Hausmeister hat mir aber versichert, dass alles in einem einwandfreien Zustand ist.«

»Ich finde das Haus von außen entzückend«, versicherte Max’ Mutter rasch. »Ich bin mir sicher, dass wir es uns gemütlich einrichten können.«

»Sie ahnen gar nicht, wie dankbar wir Ihnen sind, dass Sie uns dieses Häuschen anbieten. Auf die Schnelle hätten wir sowieso nichts gefunden.« Max’ Vater hatte recht. Das Jobangebot war für alle sehr überraschend gekommen, auch wenn ein Umzug vorher immer mal wieder in Erwägung gezogen wurde. Max’ Vater war nämlich schon seit einem halben Jahr arbeitslos und verzweifelt auf der Suche nach einem neuen Job gewesen. Seit er die Zusage für die neue Arbeit als Schlossarchivar bekommen hatte, schwebte er im siebten Himmel. Immer wieder hatte sein Vater erklärt, wie toll es sein werde, für die Familie Hohenstein zu arbeiten.

»Nur noch wenige Schlossherren können oder wollen sich heutzutage jemanden leisten, der sich um die Hunderte von Urkunden, Briefe und Bücher ihrer Vorfahren kümmert. Aber Herr von Hohenstein ist anscheinend sehr an seiner Familiengeschichte interessiert. Aus der Lokalzeitung weiß ich, dass er immer wieder für historische und zeitgenössische Projekte Geld lockermacht.«

Auf die Frage seines Sohnes, woher er so viel Geld habe, hatte sein Vater nur mit der Schulter gezuckt: »Alter Geldadel und sehr viel Wald.«

Also waren sie kurzerhand umgezogen. Seine Mutter war als freie Journalistin für eine Zeitschrift flexibel und konnte dank Internet überall arbeiten.

Und so standen sie nun zusammen mit dem Schlossherrn vor ihrem neuen Zuhause.

Max betrachtete es, anders als seine Eltern, mit eher gemischten Gefühlen. Sicher, sie hatten jetzt mehr Platz als vorher und ein Garten hinter dem Haus gehörte offenbar auch dazu. Aber an vielen Stellen an der Fassade blätterte bereits der Verputz ab, die Fensterläden hingen etwas schief und die Fenster machten einen nicht ganz winddichten Eindruck.

Der Schlossherr riss Familie Schwarz aus ihren Gedanken. »Am besten überreiche ich Ihnen die Schlüssel. Dann können Sie sich alleine in Ruhe umsehen. Es gibt im Haus ein paar Möbel, die Sie gerne nutzen dürfen. Wenn sie Ihnen nicht zusagen, stellen Sie sie einfach vor die Tür. Der Hausmeister wird dafür sorgen, dass sie wegräumt werden. Sollten Sie noch Fragen haben, melden Sie sich bei mir.« Und mit den Worten: »Scheuen Sie sich nicht, es zu sagen, wenn Sie doch etwas Moderneres vorziehen«, ging er Richtung Schloss davon.

Wohnst du noch oder lebst du schon?

Kaum hatte Max das Häuschen betreten, schlug ihm ein unverwechselbarer Geruch entgegen. Es war eine Mischung aus altem Gemäuer und Feuchtigkeit, muffigen Vorhängen und Teppichen, Staub vergangener Jahrhunderte und Aromen der unterschiedlichsten Pflege- und Putzmittel für antike Holzmöbel, Treppen und Parkettböden. Auf dem steinernen Boden in der kleinen Eingangshalle lag ein roter kratziger Kokosteppich, dessen Widerstandsfähigkeit schon von mehreren Generationen erprobt worden war. An den Wänden hingen alte Ölgemälde mit Landschaften und Jagdtrophäen. Auch sie sonderten einen eigenartigen Geruch ab. Wenigstens waren die Wände in der Eingangshalle vor nicht allzu langer Zeit frisch getüncht worden. Alte Blumentapeten hätten Max nämlich den Rest gegeben.

Während Max noch im Eingang stand, hatten sich seine Eltern schon auf eine Besichtigungstour begeben. Seine Mutter war offenbar in der Küche, denn sie tat kund, dass sich darin eine äußerst brauchbare Einbauküche befand. Ihre eigene hatte sie in Hamburg zurücklassen müssen.

»Da sparen wir eine Menge Geld!«, freute sie sich.

Max’ Vater hatte währenddessen das Arbeitszimmer gefunden. »Hier gibt es jede Menge Regale und einen antiken Schreibtisch. Der ist viel schöner als meiner. Ich glaub, ich lass den Hausmeister unsere Möbel in einen Speicher räumen.«

Die Entdeckerlust der Eltern war ansteckend. Auch Max wollte nun etwas Tolles ausfindig machen. Schnell, bevor seine Eltern zurückkamen, lief er in den Raum rechts der Halle. Das Wohnzimmer war groß und hell und an einer-Seite befand sich ein alter Kamin. In der Mitte des Zimmers standen ein Sofa und zwei Sessel, die mit weißen Bettlaken abgedeckt waren. An der Wand aber entdeckte Max die gefürchtete Blümchentapete mit blassgrünem Hintergrund und zierlichen rosa Röschen. Inzwischen hatte sich seine Mutter zu ihm gesellt. Im Gegensatz zu ihrem Sohn war sie begeistert. »Weißt du was? Ab sofort ist das unser ›Grüner Salon‹. Was hältst du davon?« Die Frage war eher rhetorisch gemeint und verlangte keine Antwort.

Ernüchtert und ohne allzu große Hoffnung flitzte Max die knarrende Treppe hinauf in den ersten Stock.

»Damit ihr’s gleich wisst! Das größte Zimmer gehört mir!«, rief er seinen Eltern zu.

Auch hier oben war der Boden mit rotem Kokosläufer ausgelegt und an den Wänden hingen alte Ölschinken und Geweihe von Rehböcken. Er hasste die Dinger und betete inständig, dass seine Eltern sie abhängen würden. Wenn nicht, würde er an jedes Geweih eine andere Baseballkappe aus seiner Sammlung hängen.

Insgesamt zählte Max fünf Türen, also jede Menge Zimmer zum Aussuchen, was ihn wieder versöhnlich stimmte. Mit ein wenig Überzeugungskunst könnte man ein Zimmer als modernes Spielzimmer einrichten, mit Wii, Großbildfernseher, Tischtennisplatte und Kicker. Max’ Zukunft sah auf einen Schlag wieder rosiger aus. Rasch lief er von einem Zimmer ins nächste. Eines entpuppte sich als Bad, alle übrigen als Schlafzimmer. Im Vergleich zum Erdgeschoss war der Geruch in den oberen Zimmern noch intensiver. Als seien seine Bewohner aus dem 18. oder 19. Jahrhundert nur mal kurz verschwunden. Die Möbel aus dieser Zeit sprachen auch dafür. In jedem Schlafzimmer standen ein altes mit einem Laken abgedecktes Bett und ein dazu passendes Nachtkästchen, ein Tisch mit zwei Stühlen, eine Spiegelkommode und ein Kleiderschrank. Die dunklen, massiven Möbel waren alles andere als Max’ Geschmack. Und was bitte sollte er mit einer Spiegelkommode? Den Höhepunkt bildeten auch hier die Tapeten an den Wänden. In einem Zimmer waren sie gelb, in den anderen hellblau, hellviolett und sogar rosa. Und auf allen befanden sich süße kleine Röschen. Hoffentlich stehen die nicht unter Denkmalschutz, dachte Max entsetzt. Er wollte nicht eine Nacht inner halb dieser Rosenwände schlafen. Da kam man sich ja vor wie in Dornröschens Schloss! Gefangen für hundert Jahre! Hoffentlich kam der Umzugswagen bald. Dann würde er aus seinem Zimmer, natürlich dem blauen, alle Möbel beseitigen und durch seine modernen ersetzen. Bei diesem Gedanken fiel ihm der Werbeslogan eines bekannten Einrichtungshauses ein, von dem auch seine Familie die meisten Möbel kaufte. Und zum ersten Mal machte dieser Spruch für ihn wirklich Sinn. Er lautete: Wohnst du noch oder lebst du schon?

»Wann kommt eigentlich die Umzugsfirma?«, rief er nach unten zu seinen Eltern. »Wir räumen doch noch heute die Möbel ein, oder?«

Wie auf Kommando klingelte das Handy seiner Mutter. Max verstand nicht alles, aber was er hörte, klang nicht sehr erfreulich. Neugierig ging er die Treppe hinunter.

»Was ist los?«, fragte er.

Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Manchmal steckt der Teufel im Detail. Das war soeben die Umzugsfirma. Der LKW hatte wohl auf halber Strecke einen Unfall. Er wird heute nicht mehr kommen. Sie können uns auch nicht versprechen, dass der LKW bis morgen repariert werden kann. Und wie es immer so ist, haben sie zurzeit auch keinen anderen frei.«

Max und sein Vater sahen sie entgeistert an.

»Soll das heißen, wir müssen heute Nacht in diesen alten Betten schlafen?«, rief Max entsetzt. »Das kommt gar nicht infrage! Wer weiß, wie viele Leute darin schon gestorben sind.«

Max’ Mutter zuckte nur mit den Schultern. »Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl.«

»Jaja! Diesen Spruch habe ich schon hundertmal gehört. Wir hatten keine andere Wahl, als diese Arbeit anzunehmen. Wir hatten keine andere Wahl und mussten umziehen. Und jetzt haben wir keine andere Wahl und müssen in dieser Bruchbude hausen und in alten modrigen Betten schlafen. Ich hasse das alles!« Und mit diesem Wutausbruch ließ Max seine Eltern stehen und rannte hinaus.

Wohin, wusste er selbst nicht genau. Was auch egal war. Hauptsache, erst mal weg. Max war klar, dass sein Verhalten kindisch und ungerecht war. Niemand konnte etwas für die Situation. Er sollte sich stattdessen lieber mit seinem Vater freuen. Nicht jeder hatte das Glück, einen guten Arbeitsplatz zu bekommen. Und der hier war anscheinend ideal. Er wusste außerdem, dass seine Mutter das Häuschen gemütlich einrichten würde, auch sein Zimmer. Was war schon so schlimm daran, eine Nacht in einem alten Bett zu verbringen? Und die paar Tage mit der Röschentapete würde er auch überleben. Am besten drehte er erst mal ein paar Runden. Beim Skateboardfahren bekam er immer einen freien Kopf. Nur wo war eine geteerte Straße? Um dieses Haus herum und im Schlosshof gab es nur Kieswege. Vielleicht hatte sich ja inzwischen der Parkplatz geleert.

Max hatte Glück. Da es bereits später Nachmittag war, hatten alle Besucher die Heimfahrt angetreten. Der Parkplatz war bis auf das Auto seiner Eltern leer. Max lief hinüber und holte das Board aus dem Kofferraum. Gekonnt stellte er es ab, sprang mit einem Bein auf und schob mit dem anderen kraftvoll an. Als er genügend Geschwindigkeit hatte, ließ er das Skateboard rollen. Der Fahrtwind wehte ihm die Haare aus dem Gesicht. Die Welt begann, sich gleich besser anzufühlen.

»He! Der Parkplatz ist Privatgelände!«, rief plötzlich jemand hinter ihm. Max hielt an und drehte sich um. Ein Mädchen mit langen blonden Haaren, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, stand da und blickte ihn herausfordernd an. Sie trug eine abgewetzte Jeans und ein schwarzes T-Shirt, auf dem ein giftgrüner Yoda aus Star Wars prangte. Darüber stand in gleicher Farbe: »Grammatik gelernt bei Yoda du hast«. Normalerweise würde ihm der Spruch gefallen, aber heute hatte er schon genug Weisheiten von Yoda gehört.

»Du darfst hier nicht einfach herumfahren. Das ist kein öffentliches Gelände«, ermahnte das Mädchen Max.

»Ich darf das sehr wohl«, erwiderte Max trotzig. »Ich wohne nämlich hier.«

»Ach ja? Und ich bin die Kaiserin von China! Mein Vater ist der Besitzer dieses Schlosses und aller Ländereien darum herum. Ich wüsste wohl davon.«

Jetzt war Max sprachlos. Offensichtlich hatte der Schlossherr auch eine Tochter. »Sag bloß, du bist die Schwester von diesem Fritz?«

Das Mädchen wirkte zunächst verwirrt, begann dann aber heftig zu lachen. Jedes Mal, wenn sie Max ansah, prustete sie erneut los.

Ohne zu wissen, was der Grund für diesen Lachanfall war, lief Max rot an. Es musste irgendwie an ihm selbst liegen. Vielleicht hing ihm ja etwas im Gesicht, womöglich ein ekliger Popel. Mit der Hand wischte er sich schnell darüber.

»Warum lachst du so blöd?«, wollte Max wissen, doch das Mädchen hatte sich noch immer nicht beruhigt. Er konnte kein Wort von dem verstehen, was sie vor sich hin kicherte. Typisch Mädchen! Mit ihnen konnte er noch nie viel anfangen. Entweder redeten sie ohne Punkt und Komma über langweilige Dinge wie Kleidung, Frisuren und Schminke oder kicherten albern. Und diese dumme Kuh war offenbar keinen Deut besser.

Noch immer kichernd, drehte sich das Mädchen um und ging. »Du hast mir soeben den Tag versüßt!«, rief sie ihm zu. »Bis zu diesem Augenblick hatte ich nichts zu lachen. Ich erlaube dir dafür, hier weiter deine einsamen Runden zu drehen.«

Max stand sprachlos da. Er wusste nicht, was er von diesem Mädchen halten sollte. Und er wusste auch nicht, was er so Witziges gesagt oder getan hatte.

»Mein Vater ist der neue Archivar!«, rief er ihr hinterher. »Ich wohne im ehemaligen Gärtnerhaus. Ich kann hier fahren, sooft ich will. Ich brauche deine Erlaubnis nicht, Prinzesschen.«

Das letzte Wort hatte offenbar gesessen. Für einen kurzen Augenblick stockte das Mädchen und ballte ihre Hände zu Fäusten.

Der Rest des Tages verlief ohne große Aufregung. Max bekam das blaue Zimmer, seine Mutter bezog mit geliehener Bettwäsche vom Hausmeister die alten Betten, zum Essen gingen sie in die Schlossgaststätte und danach spielten sie ein paar Runden Karten, die sie in der Schublade einer alten Kommode gefunden hatten. Irgendwann beschlossen sie, sich schlafen zu legen. Am nächsten Tag musste Max früh aufstehen, da er seinen ersten Schultag hatte. Zu seinem Missfallen hatten in Bayern die Ferien noch nicht begonnen.

Und so lag Max nun in seinem neuen alten Zimmer, das bereits von Menschen bewohnt worden war, die vor langer Zeit gestorben waren. Er hoffe inständig, dass sie dies nicht in diesem Bett getan hatten oder gar Punkt Mitternacht im Haus herumgeisterten. Das Bett war außerdem ungewohnt hoch. Max musste regelrecht hineinsteigen. Wenn er sich an den Rand setzte, konnte er seine Beine baumeln lassen. Unter dem Bettlaken entdecke Max eine dreiteilige alte Rosshaarmatratze, die hart und knotig war. An manchen Stellen war der Stoff schon so dünn geworden, dass die Füllung herausquoll. Außerdem roch sie muffig. Oh Gott!, dachte Max und legte sich vorsichtig hin. Hoffentlich leben hier nicht irgendwelche Krabbeltierchen. Kaum hatte er sich ausgestreckt, spürte er jede einzelne Sprungfeder und die Ritze, wo die eine Matratze aufhörte und die andere anfing. Schon nach fünf Minuten konnte er nicht mehr liegen. Unruhig wälzte er sich mal auf die eine, mal auf die andere Seite. Überall drückte es, egal wie er sich drehte.

Zwangsläufig fiel ihm das Märchen »Prinzessin auf der Erbse« ein. In seiner Vorstellung sah die Prinzessin aus wie die Tochter des Schlossherrn. Sie litt Höllenqualen auf dem wackeligen Matratzenberg. Die Erbse, die darunter versteckt lag, war so groß wie ein Tennisball. Der Prinzessin schmerzte davon der Rücken so sehr, dass sie sich unruhig hin und her wälzte und dabei immer wieder vom Bett rutschte.

Kichernd schlief Max ein.

Die Strafarbeit

Am nächsten Morgen konnte Max sich gerade noch davor retten, dass seine Mutter ihn in die neue Schule brachte. Das hätte ihm zu seinem Glück noch gefehlt. Schon am ersten Tag als Warmduscher abgestempelt zu werden. Nein! Sein erster Auftritt musste cool sein. Und keine Mutter der Welt passte dazu.

»Ich könnte dich zumindest ins Sekretariat begleiten«, bot sie an.

»Nein danke!«

»Soll ich dich wenigstens fahren?«, hakte sie nach.

»Nein, nein und nochmals nein! Ich nehme das Skateboard. Und morgen kann ich ja mit meinem Fahrrad fahren, falls der Umzugswagen heute kommt.«

»Aber das Skateboard musst du nach Hause tragen. Du kannst damit nicht bergauf fahren«, gab seine Mutter zu bedenken.

Egal, dachte Max. Ein cooler Skateboardfahrer aus der Großstadt würde die hiesigen Landeier garantiert beeindrucken.

Zum Glück war sein Vater auf seiner Seite.

»Nun lass den Jungen doch! Er ist alt genug, das alleine zu schaffen. Er weiß ja, wo die Schule liegt. Wir sind gestern daran vorbeigefahren. Sollen seine neuen Klassenkameraden ihn gleich für ein Muttersöhnchen halten?«

Dankbar schenkte Max seinem Vater einen Abschiedskuss, schnappte sich seinen Rucksack und suchte das Weite.

Gerade als er Richtung Schlosshof schlenderte, kam auch das Mädchen von gestern aus einer Seitentür des Schlosses. Sie hatte ihn Gott sei Dank nicht bemerkt. Ohne sich zu zeigen, beobachtete er, wie sie sich ein Fahrrad aus dem Nebengebäude holte und damit lossauste. Wo wohl der Bruder war? Unterwegs drehte sich Max mehrmals um, doch hinter ihm kam niemand mehr. Vielleicht war er ja schon vor seiner Schwester aus dem Haus gegangen.