Der gefangene Sommer - Christoph Steckelbruck - E-Book

Der gefangene Sommer E-Book

Christoph Steckelbruck

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Beschreibung

Als im April 1974 die zwölfjährige Anneliese verschwindet, nimmt sie den Sommer mit sich. Das Jahr wird als eines der kältesten in die Geschichte eingehen. Für den dreizehnjährigen Anton ist es eine Zeit der Veränderung. Er findet neue Freunde und tritt aus dem behüteten Umfeld der Familie hinaus in die Welt. So lernt er den rätselhaften Archivar Lindhorst kennen, der als Einsiedler im Wald lebt und unter den Jugendlichen nur als Affenmann verspottet wird. Auf der Suche nach dem verschwundenen Mädchen gerät Anton auf bedrohliche Pfade. Die Ungeheuer der Kindheit verlassen ihren Platz unter dem Bett und nehmen Gestalt an. Christoph Steckelbruck hat einen Entwicklungsroman geschrieben, so poetisch wie realistisch, eine lichtvolle Erinnerung an die Romantik – und an die Musik von Pink Floyd.

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Für meine Mutter.

Inhalt
Cover
Christoph Steckelbruck – Der gefangene Sommer
Widmung
»Fat old sun«
Tante Tutta
Anton
März
Das verschwundene Mädchen
Kirmes
Manu
Anneliese
Die Königin
Hier leben Drachen
Der Herr Ruprecht
Der Affe
Fiebertraum
Anselmus
Tod der Königin
Der Kuss
Unterm Fischernetz
Schweben
Der Komplize
Unterm Bäumchen
Monster
Dittermann und Bulkowski
Durch den Kessel
Der gefangene Sommer
»Fat old sun«
Epilog
Der Autor
Impressum

When the fat old sun in the sky is fallingSummer evenin’ birds are callingSummer’s thunder time of yearThe sound of music in my earsDistant bells, new mown grass Smells so sweet By the river holding handsRoll me up and lay me down

Pink Floyd, Fat old sun

Tante Tutta

Tante Gertrud kam am Dreikönigstag des Jahres 1908 als erste von drei Töchtern auf die Welt. Ihre drei Jahre später geborene Schwester Anna konnte, als sie noch klein war, den Namen Gertrud nicht aussprechen und machte Tutta daraus. So kam Tante Tutta zu dem bis zu ihrem Tod und darüber hinaus gültigen Namen. Der Vater, ein stämmiger Bierfahrer mit Herz, doch ohne Verstand, machte sich im allgemeinen Hurra-Geschrei auf in den Ersten Weltkrieg und kam nicht wieder. Eine Wolke Chlorgas, die ein Trupp in einigen hundert Metern Entfernung auf die Reise geschickt hatte, kam postwendend mit drehendem Wind zurück und erwischte ihn und zwölf Mann gerade beim Frühstück. Tutta als Älteste musste die Erziehung der beiden jüngeren Geschwister übernehmen, während die Mutter in einer Fabrik für Soldatenbekleidung den Lebensunterhalt verdiente. Später, nach dem Krieg, als Soldatenkleidung nicht mehr gefragt war, nähten Töchter und Mutter in Heimarbeit Herrenwesten zum Stücklohn von zwanzig Pfennigen und kamen so gerade über die Runden.

Obwohl Tutta im Gegensatz zu ihren Schwestern keine Schönheit war, traten doch hin und wieder interessierte Burschen auf. Doch so oft geschniegelte Kerle mit Blumen und Pralinen vorstellig wurden, wimmelte die Mutter sie ab und erstickte ihre Hoffnungen im Keim. Da der Mann im Haus fehlte, sollte es das Schicksal der Ältesten sein, die Mutter bis zu ihrem Tod zu versorgen. Und da Tutta nie etwas von den interessierten Herren erfuhr und sich selbst für ein hässliches Trampeltier hielt, darin von Mutter und Schwestern bestärkt und schon mit einem passend albernen Namen versehen, sah sie in dieser vorbestimmten Zukunft auch für sich einen sicheren Hafen und verbuchte die List der Mutter als Gnade. So nahm sie den Posten des Aschenputtels dankbar hin. Bald heirateten die Schwestern und verließen das elterliche Haus. Und wenn sie dann einmal zu Besuch kamen, war das jedes Mal ein großes Hallo und wie lieb die Kinder doch waren. Nur Tutta, die den ganzen Laden schmiss, die kochte und putzte, wusch und bügelte und nebenher in jetzt echter Meisterschaft zuschnitt und nähte, die kranke Mutter aufopfernd pflegte, erntete keinen Dank, kein Lob und erst recht keinen Lohn, sah man einmal von dem in Aussicht gestellten himmlischen ab.

Einmal aber war auch Tutta verliebt. Um 1940 herum quartierten sich drei Soldaten aus dem fernen Bayern im Haus ein. Die warteten auf ihren Einsatz an der Westfront und zeigten sich recht lustig und fidel. Vor allem der Rudolf besaß bajuwarischen Charme und trug das Herz am rechten Fleck. Er machte Tutta echte Avancen. Die Mutter sah es nicht gern, hatte aber Respekt vor der Uniform der Landser und konnte sie auch schlecht fortschicken, da sie ja schon im Haus wohnten. So kam es, dass Tutta eines Morgens ein solch seliges Lächeln vor sich her trug, dass der Mutter Angst und Bange wurde. Der Rudolf aber zog in den Krieg und kam zu ihrer Erleichterung nicht wieder.

Als die Mutter kurz vor dem Ende des Krieges starb, erbte die Anna das Haus. Die hatte bereits zwei Kinder und einen Mann. Was sollte Tutta, die ohnehin nie einen abbekommen würde, denn mit einem Haus anfangen? Die andere Schwester verschwand schon vor dem Krieg, brannte durch, ohne Scheidung von ihrem Willy, mit einem halbseidenen Menschen mit möglicherweise jüdischen Wurzeln und hielt sich angeblich in Amerika auf. Man wusste aber nichts Genaues. Tutta erhielt immerhin ein lebenslanges Wohnrecht hinten im Anbau, wo ihr Nähzimmer lag. Anna zog ein mit Mann und zwei Kindern und Tutta putzte, kochte und nähte weiter wie zuvor.

Als der Krieg zu Ende war, da nähte Tutta für das ganze Karree und darüber hinaus. Sie versorgte das halbe Viertel mit billigen, aber feingenähten Hemden, Hosen, Mänteln für die Damen und Jacken für die Herren. Man brachte ihr Fallschirmseide und alte Wehrmachtsmäntel und sie zauberte Besonderes daraus.

Die Gegenleistung bestand zumeist in Naturalien, Kohlen und Feuerholz, Mehl, Speck, Gemüse und Schnaps. Gerne teilte sie diese Schätze mit Schwester und Schwager, behielt eigentlich nichts davon für sich und war zufrieden, ihren Teil beizutragen. Das war ihre große Zeit. Da war sie jemand, von allen hofiert und geachtet. Als dann aber die Kaufhäuser wieder aufgebaut waren und voller Kleidung lagen, da ging Tuttas große Zeit zu Ende und sie versank hinten im Anbau, der ganz früher einmal ein Hühnerstall gewesen, zwischen all den Stoffresten, der großen Singer-Nähmaschine, dem Bügelbrett, dem Nordmende Röhrenradio Parsifal 59, dem ewig tickenden Regulator, dem unvermeidlichen Holz-Jesus an der Wand über der Tür, geschmückt mit staubig vertrockneten Palmwedeln, Hosianna, unglaubhaft dargestellt von Buchsbaumzweiglein.

So lernte Anton sie kennen. Sie lebte in seiner Erinnerung als Bohnen entfädelnde, Kartoffel schälende und Möhren reibende, kittelbeschürzte Person, mit Knoten im Haar und Brillengläsern, die ihre Augen um ein Vielfaches vergrößerten. In ihrem rechten Auge wohnte ein sporadisches Zucken und Zwinkern. Tante Tutta sah aus wie Leonid Breschnew und besaß auch sonst den russisch schweren, sehnsuchtsvollen Charakter einer alten Bärin von der Halbinsel Kamtschatka. Ihre Stimme brummte tief und ein nicht zu verleugnender Bartwuchs zierte Hängewangen und Oberlippe. Sie roch nach Kartoffelkeller und Erde. Eine dicke Warze neben dem rechten Nasenflügel verlieh dem Bild seine Vollständigkeit, die ihm nach all den Jahren zustand.

Inzwischen war Tante Tutta ganz dem katholischen Glauben zugetan. Er gab ihr Trost in einer für sie trostlosen Welt. Seine gewaltige Bildhaftigkeit war ihr Stecken und Stab. Ihr schmales Einkommen verdiente sie mit der Näherei, aber ihr Seelenheil erwarb sie mit dem Dienst an ihrem Herrgott. Daher wankte sie jeden ersten Donnerstag im Monat durch die Gemeinde und verteilte ein christliches Organ namens Werk Gottes. Sie schwankte wirklich wie ein großes Schiff langsam von einer Seite auf die andere. Dabei zog sie einen kleinen, aber schwer mit Zeitschriften beladenen, kunstlederroten Trolley hinter sich her, und immer auch Anton im Schlepptau. Es gab viel zu verteilen, denn der Vertreter dieses erbaulichen Blattes hatte es verstanden, der ganzen Gemeinde es als edel und gut zu verkaufen, diese Stimme des Christentums zu abonnieren. Die paar Mark konnte man ja wohl erübrigen und zwanzig Pfennige gingen ja auch ans Missionswerk zu den armen Negern. Tante Tutta hatte etwa sechzig Adressen abzulaufen. Auch musste sie einmal im Quartal das Geld kassieren, und zwar im Voraus. Oft wurde dann die Tür nicht gerne geöffnet, so dass mehrere Anläufe nötig waren, bis die Münzen im Beutel klingelten. Und das alles für Gottes Lohn und nicht mal für einen feuchten Händedruck.

Anton erzählte sie gerne von den Wunderdingen dieser Welt, ihrer Welt, die der Keimzelle des Nähzimmers entsprang. Am liebsten von der Hölle und dem Teufel, diesem unheimlichen Spaßmacher. Mit ihrer tiefen Stimme malte sie ihm viele seltsame Geschichten aus. So lebte in der alten Regulatoruhr angeblich ein kleiner Mann, der zu voller und halber Stunde die Glocke schlug. Und manchmal, wenn ein Mondenstrahl die alte Uhr traf, trat der kleine Mann hervor und flog auf dem Silberstrahl zum Fenster hinaus. Denn immer bei Vollmond genoss er seinen freien Abend und die Uhr schlug dann auch wahrhaftig nicht. Ihre riesigen gläsernen Augen duldeten keinen Zweifel und Anton glaubte alles offenen Mundes.

Da war der Mond, der ihnen immer hinterherlief. Der Mond sei ja in Wirklichkeit ein großes Guckloch aus dem Himmel. Da schaue dann der Herr auf das Menschengewimmel herab und beobachte die Sünder bei ihrem Tun. Und wenn der hinter einem herliefe, der Mond, dann könne man sicher sein, gerade in diesem Moment ganz genau unter die Lupe genommen zu werden. Sehr plausibel erschien es Anton auch, dass der Mond so hell scheine, weil das Himmelslicht daraus hervorleuchte.

Auch Kirchtürme und Industriekamine am Horizont begleiteten ihren Gang wie ferne Riesen und Antons bemächtigte sich ein mulmiges Gefühl. Denn kehrten sie einmal um, so änderten auch die dunklen Lulatsche ihre Richtung.

Wenn hinter dem Wald ein lautes Tuten erklang, so kam es von dem großen Himmelsdampfer, der die guten Seelen von den Friedhöfen aufsammelte, damit sie zur Rechten des Herrn sitzen konnten. Wer genau hinhörte, vernahm die Gesänge der Erlösten und das bittere Geheul jener, deren Seelen von den vielen Sünden zu schwer wogen für den Transport in den Himmel. Anton wusste zwar, dass hinter dem Friedhof der Güterbahnhof lag und das Tuten von den Lokomotiven kam, aber er hatte kein Problem damit, beide Versionen der Wirklichkeit unter einen Hut zu bringen.

Und da gab es die Geschichte vom gefangenen Sommer.

Sie entstand an einem klaren Tag Ende Oktober. Etwa um halb sechs schob sich die Tag-Nacht-Grenze wie eine mit dem Lineal gezogene graublaue Wolkenfront von Osten kommend über den Horizont, während die Sonne dem westlichen Rand der Welt entgegensinkend nicht einmal rot wurde. So klar war die Luft. Tante Tutta wankte voraus, Anton zog mit gleicher Krängung hinterher. Wie jedes Mal näherten sie sich einem kleinen Waldstück und dem Ende ihrer Tour. Hier stand, umgeben von einer übermannshohen Hecke, einsam das ehemalige Försterhaus, das nun, unsichtbar in dunkelgrüner Tiefe hinter einem schmiedeeisernen Tor verborgen, von einem Zauberer bewohnt wurde. So jedenfalls behauptete Tutta. Dieser gehöre aber ganz sicher zu den guten Zauberern, wie sie jedes Mal bekräftigte. Sie gingen ein Stück morastigen Weges in den Wald hinein, steckten ihre Ware in einen dafür vorgesehenen Metallzylinder, auf dem Zeitschriften stand, und machten sich wieder auf den Rückweg. Die Sonne versteckte sich bereits hinter einer Häuserreihe und schickte ihre letzten Strahlen gegen die graue, jetzt fast schwarze Front des Abends und entzündete gelbrotes Feuer an ihrem Rand. Die noch voll belaubten Baumkronen erstrahlten in warmem Orange. Zwischen den Baumstämmen aber sammelte sich schon die Schwärze wie eine Flüssigkeit und sog sich so schnell an den Stämmen hinauf wie schwarze Tinte auf Löschpapier. Plötzlich sah Anton ein Licht tief im Wald, ein rötliches Schimmern, das, je finsterer es wurde, immer stärker aufflackerte. Die unteren Blätter der Bäume flimmerten in seltsamer Beleuchtung, in Rot und Gelb. Die Stämme schienen zu glühen, als hätte jemand dort ein kleines Feuer entzündet. Tante Tutta sah es auch und hatte natürlich auch dafür eine wundersame Geschichte parat: Wenn der Herbst kommt und der Winter nah ist, dann zieht sich der Sommer in den Wald zurück, um dort zu schlafen. Der Sommer ist nämlich sehr müde und erschöpft. So viel Leben und Frucht hat er hervorgebracht, dass er sich nun erholen muss. Der Sommer ist dann alt und sieht aus wie ein Großmütterchen. Es legt sich in ein Bett aus trockenem Laub und schläft ein. Und bald erscheinen die Wintergeister, um den Schlaf des Sommers zu bewachen. Sie bringen auch die Kälte und den Schnee mit und lieben es, die Welt im Frost erstarren zu lassen. Und sie treiben es oft zu toll, während der Sommer sich wieder in eine wunderschöne Jungfrau mit grasgrünen Augen und goldenem Weizenhaar verwandelt. Die Wintergeister sind nicht böse, aber sie sind wie Kinder, die ein begonnenes Spiel nicht aufgeben wollen. Darum lassen sie den Sommer nicht frei und halten ihn gefangen. Erst im Frühling ist der Sommer stark genug, die Wintergeister zu vertreiben. Außerdem kommt zu Ostern der Jesus auf die Welt zurück, und vor dem haben die Wintergeister Angst.

Wer reinen Herzens ist, kann manchmal zur Dämmerzeit ein Leuchten im Wald sehen. Das ist die Stelle, wo der Sommer gefangen liegt.

Jedes Mal, wenn sie ihre Runde im Dienst an der Mutter Kirche beendeten, machten sie Halt vor Frau Kowaleks Büdchen. Das war für Anton der Höhepunkt ihrer donnerstäglichen Wanderung, die, weil sie im Kreis ging, jeglichen Sinnes entbehren würde, stünde am Ende des Weges nicht dieser winzige Kiosk als Zielpunkt, der nichts anderes war als eine hohle Litfaßsäule, die vorne ein Fensterchen und hinten ein Türchen besaß, obenauf gedeckelt von einem flachen, runden Kuppelchen, das, weil es ein wenig überstand, die ganze Konstruktion wie einen hohen Pilz aussehen ließ. In dem kleinen Fensterrahmen pflegte Frau Kowalek zu sitzen, den gewaltigen Busen vor sich auf dem schmalen Tresen liegend. Hinter diesem Gebirge stand wie der Mond ein winziges, apfelbäckiges Rundköpfchen, das immer ein freundliches Lächeln zur Schau trug unter dem spitzigen Näschen und den überaus großen, braunen Augen. Frau Kowalek, die für Anton nur aus Busen und Kopf zu bestehen und mit ihrem Kiosk ganz verwachsen schien, wie eine Schnecke mit ihrem Gehäuse, stellte in seiner Vorstellung eine Gestaltwerdung all der Dinge dar, die sein kindliches Herz damals mit dem verband, was es für das Gute in der Welt hielt. Sie war für ihn eine dieser Personen, von denen es im Märchen hieß, dass ihnen ein gutes und reines Herz in der Brust schlüge. Auch Tante Tutta bekräftigte immer wieder, dass Frau Kowalek, die eigentlich einmal Kowalecki geheißen hatte und aus dem allertiefsten Osten stammte, wenn vielleicht nicht gerade ein Engel, so doch sicher eine Art guter Fee oder freundlicher Hexe sei. Außerdem beinhaltete ihr röhrenförmiges Pilzhaus viele Dinge, die Anton liebte und begehrte. Sie saß da, neben den Sachen für die Erwachsenen wie Zigaretten, Schnaps oder Zeitungen, in einer von bunten Regalen gesäumten Welt, die alle Arten von Süßigkeiten, Spielkram und Comicheften lagerten. Und jedes Mal überreichte sie Anton mit ihren winzigen, roten Händen einen dieser Schätze.

Frau Kowalek, das wusste Tante Tutta zu erzählen, kam nach dem Krieg ohne Mann, den nämlich der Russ erschossen habe, aber mit einem dicken Bauch in die Stadt. Anton verstand, was das bedeutete: Frau Kowalek hatte ein Kind im Bauch getragen, das kurz darauf in Gestalt eines kleinen Jungen das Licht der Welt erblicken sollte. Frau Kowalek sah inmitten der Trümmer den verlassenen Kiosk und erkannte ihre künftige Aufgabe in dieser Gemeinde. Bald schon bot sie die üblichen Waren wie Tabak und Zeitschriften feil, aber auch Dinge des täglichen Gebrauchs und Nahrungsmittel, die ansonsten schwer zu bekommen waren. Wie es schien, besaß die junge Mutter Beziehungen. Mit der Zeit schossen aus den anliegenden Trümmergrundstücken zuerst das Fernmeldeamt, dann eine Realschule und schließlich die Höhere Handelsschule. Das brachte neue Kundschaft und langsam, aber sicher raunten die Leute, dass sich Frau Kowalek bald ihren großen, dem Busen in nichts nachstehenden Hintern vergolden lassen könne. Mit Respekt und auch Neid sprach man ihr Geschäftstüchtigkeit zu. Und, wie es so Sitte ist, wenn es bei einem gut läuft, dichtet das neidische Volk gerne etwas Ungutes hinzu. Es ging mit der Zeit das Gerücht, dass Frau Kowaleks Söhnchen nicht ganz gesund sei, auf jeden Fall etwas seltsam geraten, vielleicht sogar geistig behindert. Dieses fand Stützung in der Tatsache, dass man Frau Kowalek niemals von ihrem Nachwuchs reden hörte, geschweige denn ihn einmal zu Gesicht bekam. Eine für dieses Kaff typische Häme klang bei dieser Geschichte durch die mitleidlich vorgetragenen Vermutungen, und die Gerechtigkeit der Welt erhielt ihre Bestätigung durch den Umstand, dass die vom Erfolg verwöhnte Frau Kowalek auch etwas abzudienen habe.

An diesem späten, früh erdunkelten Nachmittag drängte es Anton, ganz erfüllt von der seltsam wunderbaren Erscheinung, der Frau Kowalek von dem Leuchten im Wald zu erzählen. Tutta bedachte ihn mit einem stolzen Seitenblick, wie er die Geschichte vom gefangenen Sommer in allen Details und bunter Sprache darbot, als hätte er sie selbst erfunden. Und Frau Kowalek zeigte sich so beeindruckt, dass sie ganz entgegen einer sonst festen Regel einmal ihren Sohn ins Gespräch brachte. Das sei ja eine ganz tolle Geschichte, die werde auch ihrem Söhnchen Ralf gefallen, wo der doch Märchen so liebe. Im gleichen Augenblick verstummte sie fast erschrocken. Schnell griff sie hinter sich und zückte eine weiß-rote Zuckerstange, reichte sie Anton als Lohn für seine dolle Jeschichte.

Frau Kowalek verschwand mit ihrem Kiosk von einem Tag auf den anderen. Die prallgefüllte Litfaßsäule fiel der Planierraupe ebenso zum Opfer wie die drei alten Kastanien auf dem kleinen Plätzchen. Es entstand im Zeichen moderner Zeiten eine Tankstelle der Firma Fina an dieser Stelle, dem Durst der nun an Zahl zunehmenden Personenkraftwagen Genüge zu tun. Es hieß, sie sei zurück in ihre alte Heimat Polen gezogen, um dort mit dem vielen Geld, dass ihr die Goldgrube eingebracht hatte, wie eine Königin, Königin von Saba, wie Antons Mutter sagte, zu leben.

Kurz darauf, im Winter 66, holte der Himmelsdampfer Tante Tutta ab. Ihr gar nicht so altes Herz blieb einfach stehen, als sie im Nähzimmer saß und im Radio Franz Schuberts Lindenbaum durch Rudolf Schock zu Gehör gebracht wurde. Damit endete die Ära der donnerstäglichen Runden und Anton ging nie mehr zu dem Waldstück, bis zu dem Tag, von dem noch die Rede sein soll.

Anton

Seine Mutter pflegte eine Vorliebe für Erich Kästner. Weniger für die Bücher, denn sie las kaum etwas anderes als Illustrierte, sondern für deren Verfilmungen. 1953 verfilmt, machte Pünktchen und Anton einen sogroßen Eindruck auf sie, dass seitdem feststand, dass ihr mehr als acht Jahre später geborene Sohn wie der Junge aus dem Film heißen sollte. Er musste deshalb als Anton durch die Welt gehen, auch weil der Erstgeborene schon den wesentlich nobleren Namen Fabian für sich zu reklamieren wusste. Einen Anton wollte der Vater nicht als Erstgeborenen, als seinen Stammhalter. Beim Zweiten interessierte es ihn nicht sehr. Anton war ja auch ein blöder Name, schlug in dieser Gegend oft nach Tünn oder Tünnes um, aber immerhin besser als Emil. Wer findet seinen eigenen Namen als Kind nicht blöd? Immerhin konnte er sich in dem Zusammenhang beglückwünschen, nicht als Mädchen in diese Welt getreten zu sein, das sein Dasein als Lottchen vielleicht, oder gar als Pünktchen fristen müsste.

Wer ihn sieht, schaut auf einen etwas dicklichen, etwas zu kleinen, etwas zu rothaarigen Jungen mit etwas zu fleischigen Lippen. Sein Bruder sagt immer Schlauchboot zu ihm. Der Betrachter bemerkt ein Übermaß an Sommersprossen und eine dicke Brille mit Kassengestell, braun gefasste Vierecke, Aquarien für die Augen. Umrahmt wird das breite Gesicht durch etwa schulterlanges, rotes Haar, seitlich gescheitelt und leicht fettig gewellt. Oft kneift er die Augen fest zu und legt die großen Schneidezähne des Oberkiefers frei, indem er die Nase kraus und die Oberlippe hochzieht. Daran erkennt der Beobachter entweder, dass Anton in die Sonne schaut oder angestrengt nachdenkt, oder, was am häufigsten vorkommt, lautstark Rotz hochzieht, der eigentlich gar nicht vorhanden ist. Diese Unsitte, wie seine Mutter es nennt (»Du bist ein ganz gewöhnlicher Europäer«, sagt sie dann), hat er sich von einem Klassenkameraden abgeschaut, den er insgeheim bewundert, obwohl er ein Arschlochist, oder gerade deshalb. Das Bild wird vervollständigt, denkt man sich einen gelb-blau-grün geringelten, zu engen Pullunder und darunter ein giftgrünes Hemd mit gewaltigem Kragen, dazu die dunkelblaue Jeans mit weitem Schlag und braune Hush Puppies oder Sioux-Schuhe mit Fransen und nicht zuletzt die Jeansjacke, die auf dem linken Arm einen kreisrunden Aufnäher mit der Aufschrift The Monster und einem Frankensteinkopf, auf dem rechten Ärmel den poppigen Schriftzug Deep Purple in Gold auf purpurnem Grund trägt. Auf der linken Wange, fast unter dem Ohr, sitzt ein bräunliches Muttermal wie Mutter Spinne, das er hegt und pflegt, weil es die Heimat seiner bisher einzigen Barthaare ist. Anton bemüht sich um eine tiefere Stimmlage, kann aber nur schwer verbergen, dass der Stimmbruch kaum eingesetzt hat. Sein Vater sagt, das komme alles noch, er sei ja erst dreizehn, und er solle sich mal die Hexenwarze rasieren.

Anton weiß: Er wird es schwer haben mit diesen Voraussetzungen. Deshalb verachtet er seinen Vater, der ganz genau die gleichen Merkmale besitzt und sehr dominant nur auf ihn, nicht aber auf seinen gutaussehenden Bruder Fabian übertragen hat.

Die wohlgeratenen Vorfahren mütterlicherseits lebten ursprünglich in Frankreich, gehörten sogar zum minderen Adel und sahen sich daher genötigt, zur Zeit der Französischen Revolution der Fürsorglichkeit des Wohlfahrtsausschusses zu entgehen, fanden schließlich über die Niederlande ins preußische Rheinland und ließen sich in dieser kleinen Stadt nieder. Die anderen, die väterlichen, denen Anton sein breites Gesicht schuldete, kamen aus dem tiefen slawischen Osten über Thüringen nach dem Zweiten Weltkrieg mit Pferd und Leiterwagen als Flüchtlinge ebenfalls in dieses platte Land.

Nebenan wurden sie einquartiert im Kartoffelkeller, bezeichnet als Souterrain, übernahmen aber bald das Haus von der alten Witwe, die zuvor da gehaust hatte mit ihren sieben Katzen und einem zwar freundlichen, aber aus dem Maul stinkenden alten Dackel. Sie starb, als sie über eines der Katzenviecher stolperte und den folgenden Treppensturz mit einem Genickbruch bezahlte. Dieser Umstand führte dazu, dass die Familie, die Antons Vater hervorgebracht hatte, Einzug in die oberen Geschosse hielt und sich sesshaft machte.

Und so konnte sich Antons Mutter Brigitte, der man große Schönheit nicht nur nachsagte, Jahre später in diesen unansehnlichen Mann verlieben, weil sie genug Zeit hatte, sich an ihn zu gewöhnen. Es gab ja auch kaum noch Männer, entschuldigte sie sich später einmal unabsichtlich, aber zu Recht. Man heiratete also, wie es Brauch war, und pflanzte sich fort, wie es sich gehörte.

Diese Kette unvermeidlicher Zufälle stieß Anton ins Licht der Welt. Nicht nur, dass ihm eine Fehlgeburt vorausging und ihm freiwillig ihren Platz räumte. Auch einen Fieberanfall mit heftigen Krämpfen überlebte er nur knapp. Ein fernes Traumbild Antons nährte sich von daher: So sah er sich selbst, aus schwebender Position, als Baby mit der winzigen Faust rhythmisch gegen sein Bettchen trommeln, schnell und immer schneller. Die alte Tutta, seine treue Wache am Bettchen tagein, tagaus, konnte sich an das rasende Klopfen erinnern. Sie brachte Weihwasser, besprenkelte den ganzen Raum und betete etliche Rosenkränze. Das half.

Anton zeigte früh eine künstlerische Begabung, malte und zeichnete vor allem Comicfiguren, Fantasy- und Horrorszenen. Er las Science-Fiction-Bücher und die Gruselheftserie um den Dämonenkiller Dorian Hunter. Die Lehrer ließen nicht nach, zu behaupten, er sei zwar hochintelligent, aber auch stinkend faul. Das wurde von der Umgebung so weit akzeptiert, als es einen oft vorkommenden Typus Mensch beschrieb. In jeder Familie gab es so jemanden. Das mit der Faulheit mochte ja stimmen, aber sie entsprang keiner Unlust oder mangelndem Interesse, sondern nur und ganz einfach dem Umstand, dass er das Leben nicht verstand und niemand den Versuch unternahm, es ihm zu erklären. Und wenn jemand doch einmal den Versuch machte, beraubte er Anton dadurch aller anderen Möglichkeiten, die Welt zu verstehen. Das gefiel ihm ebenso wenig. Darum machte er nicht mit, übte Zurückhaltung und nahm lieber die Position des Beobachters ein.

Als er zum Beispiel eingeschult wurde, da drückte man ihm eine Zuckertüte in die Hand und übergab ihn kommentarlos und wie selbstverständlich seiner Klassenlehrerin Frau Schulte, die ihn Kreise und Kringel auf eine Schiefertafel malen ließ und nicht ein einziges Mal die Bedeutung dieser merkwürdigen Tätigkeit erläuterte. Er schaute dann aus dem Fenster. Da fuhren, genau auf der Linie des Horizontes entlangschwebend, Dampflokomotiven vorbei, mächtig weiße Wolken ausstoßend. Und die Kreise und Kringel wurden zu Dampfwolken, die im Takt der mächtigen Maschinen in den Himmel pufften. So strebten sie hinaus aus den vorgegebenen Linien der Tafel, wie der Dampf aus der Horizontalen, verketzerten ihren eigentlichen Sinn, nämlich den der Disziplinierung der Phantasie in eine festgeschlossene Reihe, und veranlassten Frau Schulte zunächst zu freundlich leisem, dann aber vehement drängendem Tadel.

So kam es, dass Anton meist leise in sich hineinheulend, manchmal auch zähneknirschend den Heimweg antrat und oft genug folgenlos ankündigte, nicht mehr zur Schule gehen zu wollen.

Und in gewisser Weise fordert man ihn bis zu diesen Tagen im März immer wieder auf, Kringel und Kreise zu malen und behauptet, es gäbe nur eine einzige Weise, das zu tun. Er besitzt einen Freund, einen Spielkameraden, und rennt auch manchmal mit einer ganzen Horde um die Vorgärten der Straße, immer einem Anführer, einem großmäuligen Kerl namens Burkhardt, genannt Burki (in diesem Landstrich Boaarkie ausgesprochen) hinterher. Weil man das so tut als Kind. Aber er weiß immer noch nicht genau, warum. Ja, das Warum steht ihm im Weg und er will immer das Dahinter sehen.

Als Anton vier Jahre alt war, spielte er oft im Garten der Großmutter, der sich sehr schmal und weit in die Tiefe erstreckte, seitlich begrenzt durch Hecken und durchsetzt von alten Birnbäumen. Ganz am Ende dieses Gartens, für Anton das andere Ende der Welt, befand sich eine Mauer, und darin eine metallene Tür, die stets verschlossen blieb. Die Tür bestand aus massivem, grün lackiertem Eisen, und nur ein kleines Gitterfenster hoch oben ließ einen dunstigen Lichtstrahl herein, der ein gelbes Viereck auf den kurzgeschnittenen Rasen zeichnete. Antons Bruder Fabian schaffte es unter Zuhilfenahme eines Stuhles, über den Rand des kleinen Fensters zu spähen. Und er wusste Unglaubliches zu berichten. Hier, an dieser wundersamen Gartentür, prägte sich in Anton ein Gefühl, eine Art Gewissheit ein. Obwohl er genau wusste, dass sich auf der anderen Seite ein schäbiger, von Hundescheiße verseuchter Spielplatz befand, da er oft genug mit der Großmutter um den Block gegangen und auf dem Weg zum Milchgeschäft daran vorbeigekommen war, so glaubte er trotzdem jedes Wort der phantastischen Berichte seines Bruders. Er wusste ganz genau, wenn es ihm eines Tages möglich sein sollte, diese Türe zu durchschreiten, dann würde er eben nicht auf dem schäbigen Spielplatz herauskommen, sondern in einer ganz anderen Gegend, die Elfen, Riesen und Gespenster, schöne Jungfrauen, Drachen und Ritter und alle denkbaren wunderbaren Geschöpfe beherbergte. Auch später noch, als er längst, auch durch eigenen Blick durch das Fensterchen, erkannt hatte, dass die Geschichten seines Bruders reiner Phantasie entsprungen waren, blieb doch dieses Gefühl, diese undeutliche Gewissheit bestehen. Alle Arten von verschlossenen Durchgängen, von Zäunen und Barrieren, dichten Hecken und Wäldern, ja selbst die Wand, gegen die er sich zum Einschlafen zu drehen pflegte, lösten in ihm die Empfindung aus, etwas tief in sich zu wissen, aber sich nicht daran erinnern zu können, ein Dahinter, das nicht sichtbar, aber fühlbar war. Es ging ihm über das Zwerchfell wie das Nachzittern, wenn er als kleiner Junge viel geweint hatte.

Am liebsten schläft er und träumt davon, ein anderer zu sein.

März

Die Welt entgrenzte sich. Im März 74 fanden sie sich, wie Jugendliche und Kinder sich finden. Von den Eltern zum Kirchgang geschickt, weil, wie Fabian vermutete, Pimpernella angesagtsei. Die Eltern waren schon am Vorabend in die Messe gegangen, wie sie das immer taten. Anton und Fabian mussten den sogenannten Kindergottesdienst besuchen, obwohl sie sich beide dafür schon zu alt vorkamen. Da ging es zuerst in den Pfarrsaal. Dort zeigte der ehemalige Grundschulrektor Herr Clausenberg fromme Dias von Jesus und seinen Wunden und Wundern. Anton fand die Bilder blöd. Der Zeichner wusste keine Hände und Füße darzustellen. Die sahen aus wie Flossen, von denen jeweils nur ein Finger oder der dicke Zeh einzeln abstanden. Der Rest bestand immer aus einem Stück. Mit den Flappen, meinte Fabian, war Jesus über das Wasser des Sees Genezareth gegangen, und zwar wie Flipper auf seiner Flosse. Einmal erzählte Clausenberg, der wegen eines angeborenen Hüftschadens schwer humpelte, aber einen umwerfenden Humor besaß und mit Ohren und Kopfhaut gleichzeitig wackeln konnte, wie der kleine Jesus einen toten Sperling in seine Händchen nahm und ihm neues Leben einhauchte. Jeden Sonntag gab es eine neue Geschichte über die Wirkmächtigkeit göttlichen Handelns. Gerade geboren, tat das Kind ein Wunder, als die Heiligen Drei Könige mit Myrrhe, Gold und Weihrauch zu Besuch kamen. Wobei Anton sich jedes Mal fragte, was wohl Maria und Josef mit dem ganzen Geld angefangen haben mochten. Da war der Mohrenkönig Balthasar. Der war traurig, weil der liebe Gott ihn so schwarz gemacht hatte. Und das Jesuskind hatte ein Einsehen gehabt und machte, dass von nun an alle Mohren wenigstens weiße Handflächen und Fußsohlen bekamen, und so auch als Gottes Kinder gekennzeichnet wurden. Jeder von ihnen, der schon einmal einen Neger gesehen hatte, wusste, dass das genau so zutraf. Gerne hörten sie auch die ganzen Märtyrergeschichten, wo Christenmenschen von den Römern den Löwen vorgeworfen, am Spieß gebraten oder in siedendes Öl getaucht wurden und dabei Halleluja sangen. Diese Grausamkeiten besaßen die anziehende Eigenschaft, dass sie die dunkle Seite der Phantasie bedienten und gleichzeitig erbaulich den Charakter formten. Nach dieser Veranstaltung zogen sie zu den Erwachsenen in die Kirche ein, um an der Kommunion teilzunehmen. Die Hostien schmeckten wie Esspapier. Der Pastor roch nach feuchtem Keller und Rotwein. Schuppige Haut bröselte von seiner geröteten Nase und sein Mundgeruch war Legende. So gestaltete sich der übliche Ablauf.

In dem besagten Pfarrsaal fanden sich an diesem Tag Anfang März auch ein paar Mädchen ein, die ebenso alt wie Anton, demonstrativ Kaugummi kauend und kindisch bunt, in Antons Augen betörend hübsch, geschminkt, ganz offensichtlich gelangweilt auf den unbequemen Flötottostühlen herumrutschten. Diese Stühle besaßen die Eigenschaft, nur ganz gerade sitzenden Personen als Halt und Stütze zu dienen. Die geringste Abweichung davon leitete zunächst kaum merklich, dann schneebrettartig einen beschleunigten Rutschvorgang ein. Einmal an diesem bestimmten Tag schaute das hübsche, blonde Jeansmädchen mit den großen Zähnen zufällig zu Anton herüber. Und als sich ihre Blicke trafen, blieben sie ganz kurz aneinander hängen. Anton fühlte sich von einem sehr angenehmen Blitz getroffen, der sogleich eine Hitze erzeugte, die ihm nicht nur in die Wangen fuhr, sondern auch in Magen, Darm und weiter unten sich wunderbar ausbreitete, wie heißer Kakao an einem kalten Wintertag. Die übliche schüchterne Reaktion, nämlich den Blick zu senken und sich unglaublich blöd vorzukommen, blieb diesmal aus, weil das Mädchen eine für Anton erkennbare Frage in den Blick legte, die in etwa das Gleiche bedeutete wie die Worte aus Sandkastenzeiten. »Willste mitspielen?«Anton wusste bis dahin nicht, dass eine Kontaktaufnahme in solch natürlicher Einfachheit, zu einem Mädchen außerdem, überhaupt möglich war. Es schien fast, als kenne man sich schon lange, vielleicht aus den erwähnten Sandkastenzeiten. Sie lächelte kurz und verdrehte die Augen über die ganze beknackte Heiligkeit da vorne im Saal. Sie erkannten sich wie die Außerirdischen aus Invasion von der Wega, die alle den gleichen verkrüppelten kleinen Finger besaßen. Wie zur Bestätigung nickten sie sich kurz zu und wandten dann wieder den Blick auf den Flossenjesus. Sie hatten sich gefunden und erkannt. Anton holte tief Atem, hörte jetzt ein Rauschen in den Ohren, als zöge ein neuer Wind durch seinen Kopf. Ein wenig erschrak er.

Antons Bruder witterte das Geschehen und glotztedumm. »Bist doch eh schwul, Schlauchboot! Die willste wohl ficken, was? Mit deinemZwergenpimmel!«, sagte er und lachte gehässig. Der dumme Ausdruck in seinem Gesicht aber blieb, was Anton sehr befriedigte. Nach dem Gottesdienst ging es nur noch um Formalitäten.

»Ich bin die Gabi. Wer bistn du?«

»Anton.«

»Schöner Name, jedenfalls besser als Gabi … Gabriääääle! So heißt nämlich meine Patentante. Kommste mit?«

»Wohin?«

»Der Spielplatz hinter der Heinrich-Heine-Grundschule! Da hängen wir immer rum.«

»Klar!«

»Mit dir sind wir dann schon sieben«, stellte sie fest, als besäße diese Zahl eine tiefere Bedeutung. »Einer davon ist übrigens ein Hund.«

So riss es ihn hinweg wie eine überraschende Welle an einem windstillen Tag. Zwar kannte er den Spielplatz hinter seiner alten Grundschule, hätte aber nie gewagt, ihn zu betreten. Er war das Refugium der Großen. Die sahen gefährlich aus, rauchten und rotzten professionell, prahlten mit dem ersten Schimmer von Männlichkeit in Gesicht und Stimme und sahen mit nachsichtiger Ignoranz auf die Grundschulzwerge herab wie Götter auf das Menschengewimmel. Obwohl der Spielplatz eigentlich für die Grundschüler eingerichtet worden war, existierte ein unausgesprochenes Tabu, das ihnen den Zutritt verbot. Selbst Hausmeister Brotlaib maulte zwar hin und wieder über den Zaun und drohte mit der Polizei, rüttelte aber nicht wirklich an dieser Regel. Zwar verfälschten die Halbwüchsigen den eigentlichen Zweck der Anlage, hielten aber durch ihre Inbesitznahme die anderen, noch unerwünschteren auf Distanz. Denn die geopolitische Lage des Platzes sprach gegen eine Nutzung durch wirkliche Kinder. Er lag im Niemandsland zwischen der gutbürgerlichen Zivilisation und dem Kessel. Und da schickte man seine Kinder nicht hin. Da gab es zu viele Berührungspunkte mit den Asozialen aus der sogenannten Kesselsiedlung. Und die betraten den Spielplatz aus genau umgekehrten Gründen ebenfalls nicht. So entstand eine Enklave, die Freiraum bot für Desperados.

Es schien für Anton wie der Eintritt in eine andere Welt, als Gabi ihn, den Adepten, in diese Zone des Zwielichts führte. Erstaunt noch über die Kürze seines alten Schulweges, den er jetzt mit doppelt so langen Beinen durchmessen hatte, spürte er ein leises Herzklopfen, als er die Schwelle überschritt und den Spielplatz betrat. Noch von der Besonderheit des Augenblicks gefangen, schoss im nächsten Augenblick ein schwarzer Pudelmischling auf Anton zu, stieg an ihm hoch, umarmte sein linkes Knie mit den Vorderläufen und fing an, sein Hinterteil unter wildem Schwanzwedeln und überquellenden Augen sehr rhythmisch vor und zurück zu bewegen. Wenige Meter rechts von Anton erklang ein gurgelndes Lachen. Dann ein Befehl: »Allesficker! Bei Fuß!« Mit großem Bedauern in seinen Hundeaugen ließ Allesficker ab von Anton und trollte sich zu seinem Herrn, einem sehr großen und dicken Jungen, der, wie Anton sogleich erfahren sollte, Friedhelm gerufen wurde. Offensichtlich hatte er erst kürzlich einen Wachstumsschub durchgemacht, einen Schuss in den Himmel, wie Antons Mutter es nannte. Sein Körper quoll drängend aus allen sich bietenden Öffnungen der Kleidung hervor wie ein gehender Hefeteig und präsentierte eine schon jetzt stark blond behaarte Haut, die farblos weiß einer illustren Gesellschaft von Pickeln Gelegenheit zu kontrastreichem Auftritt bot. Dennoch wirkte er eher kräftig als fett, da sich die Massen unter sehr breiten Schultern durchaus wohlproportioniert verteilten. Nur jetzt, in sitzender Haltung, bildeten sich schwabbelige Verwerfungen. Arme und Beine ragten weit aus ihren Hülsen hervor und mündeten in schaufelartige Hände, deren innere Flächen wie wund glühten, und in Füße, die mindestens der Schuhgröße 47 bedurften. Ganz obenauf, sozusagen auf dem Gipfel dieses Fleischberges, stand, ebenso rosa wie die Handflächen, ein großer Kopf, der schweißig glänzend auf dem Gesicht ein breitlippiges Grinsen über dem klotzigen Kinn zur Schau stellte. Die Augen, blau wie kaltes Wasser, befanden sich immer in weit geöffneter Bereitschaft, alle sich darbietenden Wunder einzusaugen. Ein dauerndes Erstaunen, bezeugt auch durch permanent hochgerissene Brauen, lag in ihnen.

»Ich bin der Friedhelm!«,gurgelte er, als habe er zu viel Spucke im Hals und staunte Anton mit seinen großen Augen an. »Und das ist Allesficker, mein Hund, der so heißt, weil er alles fickt! Genau wie die Königin!«, fügte er hinzu und zeigte auf ein Mädchen mit kupferroten Haaren, das sofort mit »Blödes Arschloch, fick dich doch selber!« zu verstehen gab, was es von dieser Äußerung hielt. Sie war nicht besonders schön, aber auf eine grobe Weise attraktiv. Der Junge, den sie mit ihrem Körper gegen ein Klettergerüst drückte und der seinerseits die Hände sowohl auf ihrer linken Brust als auch auf ihrem Hintern abgelegt hatte, steckte, nachdem sie ihrem Unmut Ausdruck verliehen hatte, wieder die Zunge in ihren Mund und ließ sie um ihren in Gegenrichtung rotierenden Muskel kreisen. Zuvor hob er noch kurz und lässig zwei Finger zum Gruß von ihrer Hinterbacke. Er stellte das genaue Gegenstück zu Friedhelm dar. Sein schulterlanges Blondhaar wölbte sich in hohen Bögen zu einem M aus dem Mittelscheitel heraus und umrahmte ein gutaussehendes, fast schon männliches Gesicht, wie Anton feststellen konnte, wenn sich das knutschende Pärchen kurz zu der notwendigen Aufnahme von Sauerstoff trennte. Kein einziger Pickel bewohnte die makellose Haut. Und als Gabi »Das ist der Benni« sagte, schwang unüberhörbar die Form von Bewunderung mit, die Anton niemals bei einem Mädchen würde erzeugen können, so sehr er sich auch anstrengen mochte. Er spürte einen Anflug von Neid.

Ein leises Quietschen zog seine Aufmerksamkeit von dem für ihn faszinierenden Anblick der Zungenakrobaten los. Auf einem kleinen Karussell, das eigentlich dem Kleinkinderbereich des Spielplatzes zuzurechnen war, saß, ihm noch den Rücken zugewandt, ein Mädchen mit langem, leicht gewelltem, braunem Haar, dem ein Schimmer von Rot auflag wie eine Lichtaura. Seitlich, und dieser Aspekt fand Antons ganz besonderes Interesse, ragten aus dem Haar zwei im Gegenlicht rot durchleuchtete Ohren senkrecht stehend auf dem Kopf wie Radarantennen hervor. Anton verstand nicht, warum ihn dieser Anblick so beglückend erregte. Aber das hier schien ihm das schönste Paar Segelohren unter der Sonne. Leise quietschend und ohne jegliches Zutun der Karussellfahrerin bewegte sich das Drehgestell weiter und schob ganz langsam zuerst ihr Profil, dann ihr schönes Gesicht in Antons Blickfeld. Ebenso wie bei der Königin fiel es Anton schwer, den Ursprung ihrer Schönheit dingfest zu machen. Das, was bei dieser grob und marktschreierisch zu Tage trat, äußerte sich bei jener durch Feinstofflichkeit und Verborgenheit. Ihre äußere Gestalt befand sich noch in einem halb kindlichen Stadium. Sehr schlank und kaum von herausragenden Attributen gekennzeichnet, zeigte ihr Körper dennoch eine Haltung, die erwachsener wirkte als die ausgereiften Formen der Königin, die jene, bewusst oder unbewusst, durch eine entsprechende Choreografie ihrer Bewegungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen wusste. Diese Art von Reklame hatte Manuela, kurz Manu, wie Gabi sie vorstellte, nicht nötig. Als ihr Gesicht zuerst dunkel im Gegenlicht der noch tiefstehenden Sonne lag und dann langsam in die sichtbare Wirklichkeit hervortrat, als das Licht wechselte, weil eine schnelle Wolke vorübertrieb, da sah Anton in ihren Augen das kurze Blitzen einer Selbstgewissheit, die, ganz frei von Arroganz, von Stolz und Stärke und auch von Sanftheit kündete.

Es kratzte wenig an diesem Bild, als Manu ganz ohne Anmut und im breitesten Berlinerisch sagte: »Wat kiekste so blöd? Biste vielleicht blöd?« Und ihr Lachen, als er ohne Absicht, schlagfertig zu sein, sagte: »Nee, ich bin der Anton!«, war so hell und schön, dass er die Jacke auszog, so warm wurde es ihm.

Alle standen jetzt um ihn herum, Gabis Mitbringsel zu bewerten. Gabi trat einige Schritte zurück, um das Urteil der Gemeinschaft abzuwarten. Einige wichtige Dinge waren noch zu klären. Zum Beispiel, ob Anton einen gewissen Dittermann kenne und mit ihm befreundet sei. Anton sagte »Nein!«und hatte Glück. Das wäre ein Ausschlusskriterium gewesen. Auch der Umstand, dass er das Humanistische Gymnasium besuchte, wog schwer zur falschen Seite, da die anderen alle auf die Hauptschule gingen und den höheren Schulformen grundsätzlich Misstrauen entgegenbrachten. Und es lag an Manu, dass dieser Punkt nicht weiter ins Gewicht fiel. »Endlich etwas Bildung in unseren Kreisen!«,sagte sie diesmal ohne ihre Berliner Wurzeln, und alle stimmten ihr zu, was sie eigentlich immer taten, wie sich im Lauf der Zeit herausstellte. Die Königin flüsterte etwas in Manus Ohr, worauf beide Mädchen anfingen zu kichern und Anton die Wärme der Röte im Gesicht zu spüren meinte. Der dicke Friedhelm gab ihm einen heftigen Klaps auf den Rücken, kramte aus den Tiefen seiner Jeans ein zerknautschtes Päckchen Lord Extra hervor, klopfte fachmännisch genau zwei Stück zur Hälfte heraus und bot Anton eine an. Der wusste ganz genau, wenn er das Angebot ablehnte, dann war die Sache gelaufen, würde er möglicherweise sogar ein paar Schläge einstecken. Also griff er zu, sah im Augenwinkel den anerkennenden Blick Manus und zog am Filter, als Friedhelm ein Streichholz hinhielt. Und obwohl es sich um Lord Extra handelte, schmeckte das Kraut grandios. Es kratzte ganz fürchterlich im Hals, nur mit Mühe unterdrückte Anton den Hustenreiz, aber da verbrannte mehr als nur getrocknete Tabakblätter. Da verglühte seine Kindheit. Manu stellte fest: »Der ist in Ordnung, der Anton!«,wobei sie seinen Namen extra betonte. Und damit waren alle Formalitäten erledigt. Anton gehörte jetzt dazu.

Bevor ihm wirklich schlecht werden konnte, zog eines der in dieser Gegend Märzbiester genannten Unwetter auf. In kürzester Zeit färbte sich der Himmel im Westen über dem Dach der Schule schwarz und Donnergrollen kündete von den Energien, die der erste Anlauf des Frühlings mit sich brachte. Eine Warmfront rüstete zum Sturm auf den schon kränkelnden Winter. Ein Teil der Horde schwang sich auf die verstreut herumliegenden Fahrräder. Benni griff sich ein edles Rennrad mit Zehngangschaltung, während Friedhelm auf einem viel zu kleinen Minirad mit goldfarbenen Rahmen schnaufend und stampfend davonsauste, Allesficker treu im Gefolge. Die Königin besaß ein riesengroßes Damenrad, das sie nur stehend fahren konnte und flog davon, wobei die gegeneinander gesetzten Bewegungen ihrer hinteren Halbkugeln bei Anton einen verwirrenden Nachklang hinterließen.

Manu, Gabi und Anton rannten durch die Maschendrahtschleuse, als die ersten dicken Tropfen im Staub zerplatzten.

»Dann bis morgen, Anton!«, rief Manu gegen den plötzlich aufheulenden Sturm an. Kurz berührte sie dabei Antons Hand und flitzte dann los. Auch Gabi rannte an der alten Schule vorbei in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Anton stand da wie elektrisiert und fühlte wie brennend die Stelle an der Hand.

Gleichzeitig machte sich über ihm ein blitzezuckendes Getöse breit. Es war ein Brausen, wie es die Jünger zu Pfingsten vernommen haben mochten. Eine dunkelgraue Wolkenwalze zog über ihn hinweg und sogleich brach ein Orkan los. Auf einmal erschien ihm das alles wie ein Traum, der sich gerade in Auflösung befand. Die neuen Freunde, verschwunden waren sie. War das die Wirklichkeit? Stand er jetzt auf der anderen Seite des Zauns? War er einer von den Großen, die ihn früher mit solchem Respekt erfüllt hatten? Der Schritt dahin ging sich so einfach, dass er es kaum glauben konnte. Unter dem tobenden Himmel stand Anton plötzlich allein und empfand eine beängstigende Einsamkeit.

Er vermisste sie jetzt schon, seine neuen Freunde. Seine Freunde!

Er zog noch einmal an der Zigarette und erkannte, dass alles stimmte. Er warf sie fort.

Anton rannte los. Eiskalte Tropfen wuschen ihn.

Das verschwundene Mädchen

Der April des Jahres 1974 kam warm und sonnig daher. Eine südliche Strömung schwappte von Spanien kommend über das Land und drängte die atlantische Kälte zurück aufs Meer. Statt nassgrauer Schauerwolken leuchtete ein blauer Himmel und die Sonne heizte nach Kräften ein. Die Menschen trugen schon sommerleichte Kleidung. Niemand ahnte, dass dieser Sommer als der kälteste seit Jahrzehnten in die Geschichte eingehen sollte.

Als das Mädchen am zwölften April verschwand, nahm es den Sommer mit sich. Die Temperaturen sackten um zehn Grad ab. Wind und Regen kamen auf und wollten nicht mehr weichen bis in den September. Ein äußerst stabiles Hoch nistete über Frankreich und sorgte dort für einen herrlichen Sommer. Den Deutschen aber schaufelte das im Uhrzeigersinn drehende Hoch polare Kaltluft und ein Tief nach dem anderen ins Land. Im Jahr darauf dichtete der niederländische Entertainer die bekannte Hymne Wann wird’s mal wieder richtig Sommer.