Der gefrorene Urknall - Mike Gorden - E-Book

Der gefrorene Urknall E-Book

Mike Gorden

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Beschreibung

Ein unbekannter Toter im Pariser Drogenmilieu. Der Markt wird mit billigem Heroin überschwemmt. Für Maurice Belloumi und seinen Kommissar eine neue Herausforderung.
Am Genfer CERN befindet sich seit einiger Zeit eine Pforte in ein Paralleluniversum aus Antimaterie. Ist sie noch geschlossen? Die Institutsleitung sagt ja, doch rätselhafte Störungen im Umkreis sprechen eine andere Sprache.
Wer steckt hinter diesen und anderen nur scheinbar unzusammenhängenden Ereignissen? Die Fäden laufen in Paris bei Belloumis Freund Mike Peters zusammen. Die beiden müssen all ihre Beziehungen spielen lassen, um der Rätsel Lösung zu finden.
 
Mikes und Maurices Verhältnis hat sich nach der stürmischen Affaire im ersten Band abgekühlt. Die neuen Ereignisse bringen sie aber wieder zusammen. Mike kümmert sich um Maurice, als dieser schwer verletzt von einem Einsatz in den Banlieues zurückkommt. Die Rätsel, die die neuen Ereignisse aufwerfen, können sie nur gemeinsam lösen. Als Mike das Tagebuch des Ermordeten entdeckt, kommt Bewegung in die Ermittlungen und Maurice zeigt am Ende, daß selbst er über seinen Schatten springen kann.
 
Der Autor verwendet alte Rechtschreibung.

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Mike Gorden

Der gefrorene Urknall

Der zweite Band des Moíra-Zyklus

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Titelei

Mike Gorden

Der gefrorene Urknall

Mystery-Thriller

2. Auflage

Erstauflage © 03.2020 by Mike Gorden

 

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

© Cover & Satz: Endless Creative – Verlags- & Agenturdienstleistungen, Leipzig

 

 

Herstellung und Verlag: HML Verlag, Inhaber D. Moller, Neukirchstraße 18, 28215 Bremen, Deutschland

www.hml-verlag.de

Prolog (30.09.2016)

Sah man sich das CERN auf dem Stadtplan an, so erschien es wie ein eigener Stadtteil von Genf. Die Route de Meyrin teilte das Gelände in zwei unterschiedlich große Teile. Auf dem kleineren Teil befanden sich die Gebäude des ATLAS Experiments. Unter ihnen, in 100 m Tiefe, verlief ein Teil des 27 km langen Ringes, in dem Atomteilchen auf beinahe Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wurden. In einer großen Halle zeichneten dort unzählige Detektoren akribisch die Myriaden von Zerfallsereignissen auf, deren sie habhaft werden konnten. Es gab mehrere dieser Experimente, die über den Verlauf des Beschleunigerrings verstreut lagen. Insgesamt arbeiteten mehrere tausend Personen hier im Grenzbereich zwischen der Schweiz und Frankreich.

Stefano Magnone beging heute seinen letzten Arbeitstag. Die Ereignisse dieses Jahres hatten ihm zugesetzt. Ein fehlgeschlagenes Experiment schlug unabsichtlich eine kleine Pforte in ein Paralleluniversum, in dem alles aus Antimaterie bestand. Dieses Loch im Universum verursachte einen schrecklichen Unfall. Seine Folgen konnte man auch heute spüren, denn der Forschungsbetrieb in der Anlage lief immer noch nicht wieder in normalen Bahnen.

Sein Körper zeigte ihm mittlerweile deutlich, daß er ihn nicht mehr so belasten konnte wie früher. Der Streß in der Zeit, als sie noch einen neuen Antimaterieausbruch befürchten mußten, führte bei ihm zu einer permanenten Magenreizung, die er nur durch intensive ärztliche Behandlung im Griff behielt. So nahm er nach einigem Zögern das Angebot des Instituts an, sich frühverrenten zu lassen. Zudem bot man ihm für sein Ausscheiden eine überraschend hohe Abfindung.

Ein wenig wunderte er sich, wo das CERN so viel Geld hernahm, aber letzten Endes konnte ihm das auch egal sein. Er hatte Freunde und eine Familie, die ihn viel zu selten sahen und die geradezu begeistert waren, daß er ab nächster Woche zu Hause bleiben durfte. Außerdem lief die Zusammenarbeit mit Doktor Lies, der mittlerweile vom Leiter der Anlage zum Institutsdirektor aufgestiegen war, nach wie vor nicht sonderlich gut. Er behandelte ihn zwar meistens ausgesucht höflich. Unter der Oberfläche blieb er aber das gleiche Ekel, als das er sich nach dem Ausfall der Institutsleiterin vor einigen Monaten erwiesen hatte. Stefanos Albträume verschwanden mit dem Erlöschen der Aktivität der Anomalie im Detektor wieder, aber wer wußte schon, wie lange das anhielt, sobald Lies das Arbeitstempo wieder anzog.

Nur seine Mitarbeiter taten ihm leid. Er hatte ihnen durch seine unangreifbare Position das Leben etwas leichter machen können. Das fiel jetzt weg. Zum Glück hatte sich ausgerechnet Aurel Favre in den letzten Monaten sehr positiv entwickelt. Er würde nach ihm den Posten des technischen Leiters einnehmen und Stefano konnte sich keine bessere Besetzung vorstellen. Die Erlebnisse, die zu Favres Zusammenbruch geführt hatten, waren vergessen. Er kam jetzt mit allen gut aus, auch mit Doktor Lies, und sein sensationelles Gespür für die Befindlichkeiten des Maschinenparks, der hier unten in der Detektorkammer lief, hatte sich nicht geändert.

Ihm gegenüber saßen gerade Urs, Francine und Jacques. Sie vier waren seit Jahren ein gut eingespieltes Team und verstanden sich auch ohne viele Worte. Sie tranken schweigend ihren Kaffee. Auf dem Tisch stand ein Käsekuchen, den Francine gebacken hatte. Daneben befanden sich ein kleiner Stapel Teller und ein Becher mit Kuchengabeln.

»Wo bleibt Aurel?«, brach Jacques das Schweigen. »Ich habe mir extra das Mittagessen verkniffen, als ich gehört habe, daß Du Käsekuchen mitbringst. Jetzt habe ich Hunger.«

»Halte durch«, sagte Francine und fügte mit einem Blick auf sein deutlich spannendes Jackett hinzu: »Du wirst schon bis dahin nicht verhungern.«

Favre kam nach wenigen Minuten mit einem Schreibblock unter dem Arm an, entschuldigte sich fahrig für die Verspätung und setzte sich zu den anderen. Francine schnitt Stücke von ihrem Kuchen ab und verteilte sie in der Runde, bis jeder einen gefüllten Teller vor sich stehen hatte.

»Laßt es euch schmecken«, sagte sie schließlich. »Ich finde es jammerschade, daß Du in Rente gehst, Stefano, aber ich wüßte auch niemanden, der es mehr verdient hätte als Du.« Die anderen nickten und langten zu.

»Danke euch allen«, antwortete der geschmeichelt. »Ich werde das hier vermissen. Auch wenn ich mich zu Hause sicher keine Minute langweilen werde. Wir haben noch viel vor. Eine längere Reise beispielsweise.«

»Ich kann Dir gar nicht sagen, wie ich euch beneide«, sagte Favre.

»Und ich erst«, ergänzte Francine. »Sag mal, Aurel, ist etwas nicht in Ordnung mit Dir? Du hast seit einigen Tagen rote Augen. Eine Allergie?«

»Es ist nichts. Ich habe schlecht geschlafen. Du hast sicher auch schon die große Einkaufsliste für nächsten Monat bekommen?« Francine nickte.

»Bin ich froh, daß ich mich damit nicht mehr befassen muß«, sagte Stefano. »Mein Internist meinte letzten Monat, daß ich kurz vor einem Magengeschwür stünde und in Zukunft unbedingt ruhiger leben muß. Ich will gar nicht mehr wissen, was Doktor Lies für die nächste Zeit alles plant.«

»Doktor Lies plant in der Tat einiges«, klang es von der Zimmertüre. »Aber es stimmt, daß Sie sich damit nicht mehr belasten müssen, Doktor Magnone. Die Meßwerte im Detektor sind wieder normal und wir können endlich auch im ATLAS neue Experimente durchführen. Natürlich unter Berücksichtigung der Ereignisse des Frühjahrs und mit aller gebührenden Vorsicht.«

Lies trat ein und trug eine Magnumflasche Champagner mit sich, die er mit einem Schwung auf den Tisch stellte, daß die Löffel auf den Untertassen leise klirrten.

»Wir haben doch sicher Gläser hier?«, fragte er in die Runde. »Heute wollen wir unseren Monsieur Magnone noch einmal hochleben lassen.«

Urs stand auf und holte sechs Gläser aus der benachbarten Küche. Lies öffnete die Magnum und füllte die Gläser mit ungeahnter Professionalität, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten.

»Zum Wohl«, sagte er, nachdem sie alle angestoßen hatten, »auf unseren lieben Doktor Magnone, der uns leider verlassen muß. Heute ist Ihr Tag. Genießen Sie ihn!«

Kaum hatten sie angestoßen, hatte er es aber auch schon wieder eilig. »Ich würde gerne noch ein wenig hierbleiben, aber ich muß jetzt zu einer Telefonkonferenz mit einer Investorengruppe. Sie verstehen das doch sicher«, sagte er augenzwinkernd in die Runde und verschwand so lautlos, wie er gekommen war.

Alle saßen verblüfft und wortlos zusammen, bis Francine das Wort ergriff: »Kann es sein, daß er sich wirklich geändert hat?«

»So fröhlich und aufgeräumt wie heute habe ich ihn noch nie gesehen«, fügte Jacques hinzu.

»Vielleicht hat er eingesehen, daß man ein Institut nicht als Alleinherrscher führen kann und gibt sich Mühe.«

»Vielleicht hat er auch nur Kreide gefressen«, sagte Urs.

Der Champagner schmeckte allen. Lies hatte sich nicht lumpen lassen und so hielt die Flasche nicht lange vor. Stefano konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er zuletzt im Institut so fröhlich gewesen war.

Leicht angeheitert löste sich die Runde nach einer Weile auf. »Leute, ihr wißt, daß ihr viel mehr für mich seid als nur Teamkollegen. Ihr seid über die Jahre meine Freunde geworden. Du auch, Aurel!«, sagte er einem sichtlich überraschten Favre. »Darum fällt es mir auch wirklich schwer, zu gehen. Aber es muß sein. Es war eine schöne Zeit mit euch, aber ich habe jetzt einen neuen Lebensabschnitt vor mir, auf den ich mich freue. Ich hoffe, daß wir uns bald einmal wiedersehen.«

Beifälliges Nicken in der Runde zeigte ihm, daß er allen aus der Seele gesprochen hatte. Stefano umarmte jeden einzelnen zum Abschied herzlich und verließ danach beschwingt den Raum. Er fuhr zum letzten Mal mit dem Aufzug nach oben, spazierte durch die Halle, nickte den Wachmännern zu und ging über den Parkplatz zu seinem Wagen.

»Francine, meinst Du, ich darf noch ein Stückchen von Deinem Käsekuchen essen?«, fragte Jacques unten.

 

Kapitel 1 - Mike (01.01.2017)

Mike Peters stand vor einem Abzug, in dem sein Experiment lief. Die Vorbereitungen dafür kosteten ihn den ganzen Vormittag und so hatten sie bereits Nachmittag, als er den Temperaturregler des Heizpilzes endlich hochdrehen konnte. Er kochte einen Grignard und wartete, daß der ansprang. Aber die Magnesiumspäne glänzten und glitzerten nur im Schein des Halogenstrahlers und machten keine Anstalten, sich mit dem Reagenz zu verbinden. Mike schwitzte. Etwas stimmte mit der Klimaanlage nicht. Er schob in Gedanken seine Schutzbrille nach oben, damit sie nicht von innen beschlug und stellte den Magnetrührer eine Stufe höher. Die einzelnen Späne konnte er jetzt kaum noch erkennen. Die ganze Flüssigkeit glänzte, als handele es sich um Quecksilber. Der Rotationstrichter in der Mitte des Kolbens vertiefte sich. Kein Erfolg. Mike erinnerte sich an eine Aphorismensammlung, die im Fachbereich kursierte. Ein kleines Büchlein mit Sprüchen der Professoren, die ein Assistent zusammengetragen hatte und die für jeden Problemfall Aufmunterung versprachen. 'Ob ein Grignard anspringt oder nicht, das hängt gelegentlich auch vom Stand der Gestirne ab.' stand dort zu seinem Problem geschrieben. 'Vielleicht stehen die Gestirne heute ja falsch', dachte Mike sich und drehte den Temperaturregler des Heizpilzes weiter nach oben.

»Schon wieder ohne Schutzbrille?«, erklang eine spöttische Stimme hinter ihm. Mike fuhr zusammen und erblickte Lies, einen der Postdocs, die das Drittsemesterpraktikum im Auftrag eines Organik-Professors durchführten. »Arbeite doch wenigstens hinter der Schutzscheibe!«, sagte er, und zog eine in den Abzug eingebaute Plexiglasscheibe nach unten, bis sie sich zwischen Mike und seinem Experiment befand. »So geht das!«

Mike zog die Brille schuldbewußt wieder ins Gesicht. »Wenn Du weiter so herumschleichst und Leute erschreckst, passiert eines Tages wirklich genau der Unfall, den Du mit Deiner Warnung vermeiden willst.«

»Ich bin hier bald weg. Ich habe gerade eine Zusage bekommen. Nächsten Monat fahre ich in die Schweiz. Du aber befindest Dich erst am Anfang Deines Studiums und wenn Du nicht lernst, die Regeln zu befolgen, wirst Du nicht weit kommen.«

Mike hörte ein leise Zischen und konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Grignard. Leider zu spät, denn der war nun doch noch angesprungen. Aufgrund der höheren Temperatur allerdings viel zu schnell. Die Reaktionsflüssigkeit hing zusammen mit einigen, verbliebenen Magnesiumspänen in den Schlangen des Rückflußkühlers und in der Vorlage, in der sich eigentlich nur das spätere Reaktionsprodukt hätte sammeln sollen. Er hatte heute also umsonst gearbeitet. Morgen würde er einen neuen Ansatz starten müssen, um das Praktikum erfolgreich zu absolvieren. Vorher mußte er alles putzen und trocknen. Sorgfältig und lange.

»Danke!«, sagte er frustriert und drehte sich wieder um. Lies hatte sich aber schon wieder entfernt. Genauso lautlos, wie er plötzlich hinter ihm gestanden hatte.

Mike erwachte und rieb sich die Augen. Ein matschiger Lichtbrei drang durch die dicht geschlossenen Vorhänge. Draußen mußte bereits heller Tag sein. Es dauerte ein wenig, bis er erkannte, daß er zu Hause in seinem Bett lag. Gelegentlich suchten ihn immer noch diese Erinnerungsschübe heim. Es handelte sich dabei um Nachwirkungen eines nicht dreidimensionalen Panoramas, das er sich vor gut einem halben Jahr angesehen hatte und dessen verstörenden Anblick seine Gehirnzellen nur mittelgut vertragen hatten. Von Zeit zu Zeit rächten sie sich bei ihm und schickten ihm Erinnerungen an unangenehme Situationen, von denen er gehofft hatte, sie niemals wieder erleben zu müssen.

In den letzten Monaten kamen diese Schübe seltener, so daß ihn dieser jetzt kalt erwischt hatte. Bestimmt war die Silvesterparty im Cox am vergangenen Abend schuld. Es ging hoch her und sie alle hatten den Abend über einiges getrunken. Der Mitternachtschampagner aufs Haus vertrug sich nicht gut mit den Bieren, die Mike bis dahin trank.

Danach zogen sie um die Häuser. Er erinnerte sich, daß er sehr eng mit einer Dragqueen tanzte, die ihn auf ihren Highheels um gut einen Kopf überragte, obwohl er wirklich nicht klein war. Hatte er Martin und Marie wirklich Hand in Hand an der Tanzfläche gesehen? Er bedauerte, daß Maurice sich von dieser Art Veranstaltungen immer fernhielt. Er tanzte viel lieber mit ihm.

Mehrere Nummern später ertönten die ersten Klänge von 'Salma Ya Salama' und einige arabisch kostümierte Go-Go-Tänzer stürmten die Bühne über der Tanzfläche. Die Stimmung im Club war am Überkochen und Mike verausgabte sich beim Tanz völlig.

Dann stand plötzlich dieser zartgliedrige, verhuschte Junge vor ihm. Mike erinnerte sich gut. Es handelte sich bei Gilles eigentlich um einen Bekannten von Maurice. Er arbeitete in der IT der Polizei und sie kannten sich vom Sehen. Offiziell bekam er erst mit ihm zu tun, als er Sébastien Girouds Notebook aus der Forensik abgeholt hatte.

Bei Sébastien hatte es sich um seinen engsten und eigentlich einzigen Freund gehandelt. Sie kannten sich aus ihrer Studienzeit. Er wurde im vergangenen Jahr ermordet und sein Tod nahm Mike sehr mit. Im Zuge der polizeilichen Untersuchungen geriet er kurzzeitig ins Visier der Ermittler und lernte dabei Maurice kennen. Sébastien hatte Mike als Vollstrecker seines digitalen Testaments eingesetzt, so daß er nach Abschluß der Morduntersuchung sein persönliches Notebook erhielt. Mike flirtete beim Abholen des Geräts ein wenig mit Gilles und der hatte ihm daraufhin seine Handynummer zugesteckt. Danach telefonierten sie einige Male. Eigentlich fand Mike ihn zu schüchtern und eher ein bißchen langweilig. Gestern abend war Gilles aber wie ausgewechselt, redete wie ein Wasserfall und wich ihm nicht von der Seite.

Und jetzt hatten sie Neujahr und er konnte ausschlafen. Sie konnten ausschlafen. Mike drehte sich noch einmal im Bett um und umarmte den Körper, der neben ihm schlief. »Guten Morgen Gilles«, sagte er zärtlich. »ein frohes Neues Jahr!«

 

Kapitel 2 - Martin (02.01.2017)

Die Dunkelheit draußen begann gerade, einem kraftlosen Grau zu weichen, das die Umgebung mehr zukleisterte als erhellte. Martin Moser ging durch die Redaktion des 'Magazine de la Science', einer populärwissenschaftlichen Monatszeitschrift, und leerte die kleinen Papierkörbe an den Arbeitsplätzen in einen großen Müllsack. Die Putzkolonne hatte es in der Nacht wohl besonders eilig gehabt. Als ausgesprochener Morgenmensch entfaltete er seine größte Produktivität, wenn er allein war. Deshalb begann er seinen Tag gerne vor allen anderen. Er hatte unlängst eine halbe Stelle bekommen und arbeitete jetzt als Schnittstelle zwischen dem 'Magazine' und einer Reihe von Forschern. Klotho Papantoniou, die Leiterin einer geheimen Organisation von Wissenschaftlern mit dem erklärten Ziel, die Menschheit vor sich selbst zu schützen, löste damit ein Versprechen ein, das sie im letzten Jahr Mike Peters, seinem Chef gegeben hatte. Sein Team und Moíra, so hieß die Organisation, hatten mit vereinten Kräften einen katastrophalen Unfall am Large Hadron Collider im CERN verhindern können. Mike Peters hatte dadurch eine Art Vertrauensstatus für diese Organisation erlangt und erhielt von Zeit zu Zeit Informationen über sensible Forschungen.

Nicht alle dieser Forschungen führten auch zu Artikeln, die es bis in die Printversion schafften. Einigen Stoff hielt man für zu komplex für die Leser des 'Magazine', und plazierte ihn in speziellen Fachmagazinen. Andere Themen erwiesen sich als zu brisant, um sie gleich zu veröffentlichen. Unterm Strich konnten sie aber genügend publizieren, um die Verlagsleitung bei Laune und seinen Arbeitsplatz sicher zu halten.

Martin hatte die Aufgabe, diese Kontakte zu koordinieren. Viele dieser Wissenschaftler lebten in Ländern, die die Freiheit der Forschung einschränkten. Wenn sie sich am wissenschaftlichen Diskurs in ihren Fachgebieten beteiligen wollten, konnten sie das nicht auf öffentlichen Wegen tun. Martin schrieb viele Mails, warb um Vertrauen, stellte anonyme Postfächer bereit, organisierte verschlüsselten Speicherplatz auf den Servern von Moíra, auf dem die Forscher ihre Arbeiten ablegen und sich austauschen konnten und hielt Mike über die Ergebnisse auf dem Laufenden.

Er hatte jetzt Zeit und Geld, um ein wenig Sport zu treiben, und wirkte wesentlich reifer und erwachsener als früher. Seine Haut war reiner und man hatte ihn sogar schon einmal laut lachen gehört. Schüchtern verhielt er sich immer noch, aber innerhalb des Redaktionsteams galt er als vollwertiger Mitarbeiter und alle erkannten seine Leistungen an.

Marie Bouesnard erschien im Eingang des Großraumbüros, in dem sich ihre Arbeitsplätze befanden. Sie trug eine große Einkaufstasche und schien etwas außer Atem zu sein. Ihr sonst immer perfektes Makeup konnte selbst nach einem Tag die Spuren der Neujahrsnacht nicht ganz verdecken. Am Silvesterabend unternahmen sie alle mit Mike und einigen seiner Freunde im Marais etwas und draußen wurde es bereits hell, als er wieder nach Hause kam.

Martin und Marie kamen sich in den letzten Monaten näher. Ihr berufliches Verhältnis hatte sich zu einer engen Freundschaft gewandelt. Martin glaubte sich zu erinnern, daß sie frühmorgens sehr eng miteinander getanzt hatten. Vielleicht handelte es sich dabei aber auch um Wunschdenken, denn über die letzten Stunden der Nacht hatte der Alkohol einen Schleier des Vergessens gezogen.

»Coucou Martin!«, rief sie ihm fröhlich entgegen. »Ist sonst schon jemand da?«

»Salut Marie«, antwortete Martin im gleichen Tonfall, der ihm immer noch schwerfiel. »Wir sind die ersten. Wie immer.«

»Sehr gut. Ich habe nämlich Croissants eingekauft und möchte sie unauffällig in Mikes Büro aufbauen.«

»Eine gute Idee!«, sagte Martin erfreut und Marie verschwand im Büro.

»Bring schon mal die Kaffeemaschine zum Laufen!«, rief sie ihm durch die halb geöffnete Tür zu.

Er folgte ihrer Bitte. Den Job machte er sogar besonders gerne. Die Verlagsleitung hatte dem Büro nämlich zu Weihnachten einen Kaffeevollautomaten spendiert, der sich auf dem heutigen Stand der Technik befand und seinen Namen verdiente. Chromglänzend stand er auf der Arbeitsfläche der Büroküche und war darauf programmiert, auf Knopfdruck etwa ein Dutzend Kaffee-, Tee- und Kakaospezialitäten zuzubereiten. Kein Vergleich zu der bitteren, schwarzen Brühe, die sein vorsintflutlicher Vorgänger in Plastikbecher ausgespien hatte.

Er schaltete die Maschine ein und beobachtete fasziniert die vielen Blinklichter, die nacheinander aufleuchteten, während sich die Maschine aufheizte. Er drehte den Wasserhahn wieder auf und kontrollierte den Füllstand der Kaffeebohnen, die jetzt für jeden Becher frisch gemahlen wurden. Eigentlich wäre das Aufgabe der Praktikanten gewesen, aber Martin störte sich nicht daran.

Vor gar nicht so langer Zeit war er selbst noch einer gewesen. Daß er heute nicht wieder auf der Straße stand, wie seine damaligen Praktikumsgenossen, verdankte er nur einer Reihe von Zufällen und seinen Beziehungen zu einer Gruppe von Hackern. Nur mit ihrer Hilfe hatten sie bei der großen Krise am CERN im vergangenen Jahr in die dortigen Systeme eindringen und einen vorzeitigen Neustart des Beschleunigers unterbinden können.

Die nächsten Gesichter erschienen zwischen den Schreibtischen. Auch die anderen Bereiche der Redaktion kamen jetzt zur Arbeit, die meisten mehr oder weniger verkatert von den vergangenen Feierlichkeiten. Beatrice Rousseau aus der Archäologie trug eine überdimensionale Sonnenbrille und bemühte sich, von möglichst wenigen Leuten gesehen zu werden. Als Marie ihr ein lautes »Coucou, ma Chérie! Gehen wir heute als Elton John?« entgegenschmetterte, zuckte sie gequält zusammen und verschwand mit verblüffender Geschwindigkeit hinter ihrem Rechner.

Zwei Personen schienen neu hier zu sein. Sie standen einige Zeit unsicher im Eingangsbereich herum. Martin erkannte sie als die beiden neuen Praktikanten, die heute ihren ersten Arbeitstag hatten. Er ging auf sie zu.

»Willkommen im Team!«, begrüßte er sie. Er führte die beiden, die sich ihm als Guillaume Garçon und Emil Rotik vorstellten, zu ihren neuen Arbeitsplätzen und wies sie ein.

Guillaume wirkte ein wenig zappelig und nervös, was auch seinem hageren Körperbau und den langen Gliedmaßen geschuldet war. Martin beschäftigte sich zuerst mit ihm. Er stellte ihm beiläufig einige technische Fragen und die Antworten stellten ihn zufrieden.

»Ich will etwas mit IT studieren, habe aber in diesem Jahr keinen Studienplatz bekommen«, sagte er, als er seinen Rechner hochfuhr. Martin konnte von oben auf seinen Kopf sehen und war für einen Moment fasziniert von den blonden Haaren, die so hell aussahen, daß sie fast transparent wirkten und man meinte, durch sie hindurch auf seine Kopfhaut blicken zu können.

»Du wirst sehen, daß Du hier etwas Nützliches mit Deiner Zeit anfangen kannst«, antwortete er. »Unser Netzwerk ist nicht ganz unkompliziert und Leute, die zwischendurch auch mal ein paar Zeilen Code schreiben können sind bei uns besonders willkommen.«

Guillaume selbst stellte auch Fragen zur Struktur des Netzwerks in der Redaktion. Er wirkte auf Martin wach und interessiert und war nicht auf den Mund gefallen. Er würde sich bestimmt nützlich machen können.

Kleiner und kompakter stand Emil neben ihm. »Ich stamme aus Brno«, sagte er und rollte das 'r' dabei so, daß Martin keinerlei Zweifel an seiner tschechischen Herkunft hatte.

»Ich bin eigentlich Grafiker, auch kein schlechter, aber ich gehöre nun mal zur… wie sagt ihr… 'Generation Praktikum'?«

Da jetzt auch Mike auftauchte, nahm Martin sie gleich mit in dessen Büro. »Was auch immer ihr hört, redet ihn bitte immer mit 'Mike' an, niemals mit 'Michel', wenn euch euer Leben lieb ist«, sagte er unterwegs halb im Scherz zu den beiden. Mike redete nie darüber, warum er seinen wirklichen Vornamen nicht mochte, aber er reagierte meist ziemlich humorlos, wenn man ihn so nannte. Martin geriet vor einiger Zeit auf diese Art auch einmal in seine Schußlinie und erinnerte sich nicht gern an diesen Abend.

Mike holte aus dem kleinen Kühlschrank, den sie im letzten Jahr gekauft hatten, zwei Flaschen Champagner. Passende Gläser dafür gab es nicht und so mußten sie sich mit dem Restbestand Plastikbecher aus dem alten Kaffeeautomaten behelfen. Das störte aber niemanden.

Nachdem er den Champagner eingegossen hatte und sich alle ein frohes neues Jahr wünschten, hielt Mike eine kleine Begrüßungsansprache und bezog die beiden neuen Praktikanten gleich mit ein, die zu Beginn noch etwas verloren in einer Ecke standen.

»Ihr seid hier zunächst nur auf Zeit«, sagte er zu ihnen, »aber so lange seid ihr Teil eines Teams. Ein Team, dessen Aufgabe es ist, jeden Monat einige spannende und gut recherchierte Artikel für das 'Magazine' beizusteuern. Jeder von uns hat besondere Fähigkeiten, aber nur gemeinsam schaffen wir es, ein konstant gutes Ergebnis abzuliefern.«

Guillaume und Emil nickten. »Ihr werdet euch in den nächsten Tagen in der Gruppe umsehen. Zusammen werden wir herausfinden, wo und wie ihr euch am besten einbringen könnt. Danach werdet ihr einem von uns zugeteilt. Wenn es euch hier gefällt, wenn ihr gut seid und euch unentbehrlich macht… fragt Martin. Der hat es geschafft.«

Martin fühlte sich plötzlich unwohl. Als Vorbild fand er sich nicht sonderlich geeignet und er hätte sich jetzt am liebsten hinter seinen Rechner zurückgezogen. Aber Mike sagte die Wahrheit. Er hatte sich hier wirklich unentbehrlich gemacht und dabei gelernt, Verantwortung zu übernehmen.

»Sieht so aus, als hättest Du die beiden in den nächsten Tagen an der Backe«, neckte ihn Marie, als sie wahrnahm, daß die beiden Neuen ihre Aufmerksamkeit nun auf ihn fokussierten.

»Keine Sorge, wir lassen Dich nicht hängen«, sagte Mike freundlich. »Finde einfach heraus, was die Jungs können und reiche sie dann einem von uns weiter. Martha, unsere Bildredakteurin«, Mike blickte dabei auf eine rundliche, farbige Dame, die in der Runde saß, »beklagt sich beispielsweise seit Monaten, daß ihr die Bildrecherche zu viel wird, seit unsere Produktivität im letzten Jahr so gestiegen ist.«

Martha nickte eifrig. »So, und nun langt zu. Marie, Du hast uns einen prima Start ins neue Jahr verschafft. Das werden wir Dir nicht vergessen!«

»Ich werde Dich dran erinnern, wenn ich hier das nächste Mal am Wochenende auflaufen muß, mon cher Michel«, kicherte Marie und Mike seufzte.

»Also ich finde, Michel ist ein schöner Name«, sagte Guillaume. »Meine Maman war ja so fantasielos!« Er stockte abrupt, als ihm das eisige Schweigen in der Gruppe auffiel. Dann schlug er sich dramatisch die Hände vors Gesicht. »Oh, mon dieu! Ich muß mal eben … für kleine Königstiger«, hörten sie noch. Dann klappte die Bürotür hinter ihm.

»Ich habe das Gefühl, hier sind Homosexuelle im Saal.« Mit dieser Bemerkung rettete Marie die Situation und alles löste sich in fröhlichem Gelächter auf.

»Womit das geklärt wäre.« Selbst Mike mußte lachen.

»War ich damals auch so leicht zu durchschauen?«, fragte er später im Gedanken an seinen eigenen ersten Tag in dieser Gruppe.

»Viel leichter.« Marie legte verschwörerisch einen Finger über ihre Lippen.

»Ich muß an mir arbeiten.«

»Mußt Du nicht!«

 

Kapitel 3 - Maurice (02.01.2017)

Maurice saß in einer Shishabar in Saint Denis und trank einen gewürzten Tee. Die Bar lag nur einige Straßen entfernt von dem Viertel, in dem er aufgewachsen war. Draußen gingen gerade die Laternen an. Der Barmann hatte das Licht gedimmt, so daß man trotz des Dunstes im Laden durch die großen Fensterfronten die Straße beobachten konnte.

Die Straßenlaternen offenbarten ihm ein ödes Panorama. Nur wenige Leute – meist handelte es sich um Männer – trauten sich bei Dunkelheit noch auf die Straße. Bei den Hochhausblöcken auf der anderen Straßenseite hatte es sich früher einmal um zeitgemäße und moderne Wohnanlagen gehandelt. Nach einigen Jahrzehnten ohne jegliche Renovierung verströmten die Plattenbauten mit ihren winzigen Appartementzellen aber einen eher morbiden Charme. Die meisten trugen auf ihrem Balkon eine Satellitenschüssel, so daß im Halbdunkel der Laternen und der Lichter in den Fenstern der Eindruck entstand, als wären die ganzen Blöcke über und über von einem monströsen Pilz überwuchert.

Maurice besuchte diesen Laden heute nicht wegen des Ausblicks. Ihm gegenüber saß Tahir Habib, ein Bekannter aus den Jahren, in denen er hier noch gelebt hatte. Tahir sah auch heute noch gut aus. Er lachte viel und seine Augen strahlten dabei, so daß sich jeder in seiner Gegenwart wohl fühlte. Maurice erinnerte sich, daß er ihn für kurze Zeit sogar geil gefunden hatte, als sie im selben Studio trainiert hatten. Mittlerweile hatte aber ein geregeltes Eheleben seine Spuren hinterlassen. Sein Leib und auch seine Gesichtszüge bekamen Fülle und er bewegte sich gemächlicher als früher. Dennoch – wenn er einen seiner Witze riß und ihn dabei frech angrinste – fühlte Maurice sich um viele Jahre zurückversetzt in die Zeiten, in denen sie an jedem Wochenende zusammen um die Häuser zogen.

»Du solltest uns mal wieder besuchen, Rice«, sagte Tahir gerade zu ihm. »Nadine würde Dich gern kennenlernen. Ich habe ihr viel von unseren gemeinsamen Zeiten erzählt.«

Maurice zuckte zusammen, als er den Spitznamen hörte, mit dem man ihn damals immer gerufen hatte. »Ja, unsere Zeiten waren echt die besten. Du und ich im Sportstudio. Ich mußte Deine Gewichte halten. Ich habe mich echt zu lange in Paris verkrochen. Wird Zeit, daß sich das ändert. Ich habe das hier vermißt.«

»Ich Dich auch. Das Sportstudio hatte ich verdrängt. Aber es hat immer Spaß gemacht, mit Dir auf die Piste zu gehn, als Du Deine erste eigene Bude hattest. Wo wohnste jetzt eigentlich?«

»Der Name Nadine klingt aber nicht, als hätte Dein Vater die Frau für Dich ausgesucht.« Maurice tat so, als hätte er die Frage nicht gehört.

»Natürlich nicht. Du hättest seinen Blick sehen sollen, als ich sie ihm vorgestellt habe. Aber ich bin rechtzeitig bei ihm ausgezogen. Ich habe nen Job gefunden in nem Callcenter. Für eine kleine Wohnung hier reichts und Nadine verdient auch noch was dazu.«

Tahir sprach manche Worte noch wie ein Banlieusard, ein Akzent, den auch Maurice mit der Muttermilch aufgesogen hatte. Seit er im Marais arbeitete, hörte er ihn nur noch selten.

»Guter Mann!«, sagte er anerkennend zu Tahir. »Ich finde auch, daß Ehe was mit Liebe zu tun haben sollte, und nicht mit religiösen Vorschriften, die seit Jahrhunderten keiner mehr versteht.«

Maurice lehnte sich mit dieser Bemerkung ziemlich weit aus dem Fenster. Immerhin war Tahir sicherlich Moslem und erwartete das auch von ihm. Er tippte aber darauf, daß sein Gegenüber eine eher liberale Einstellung dazu hatte, wenn er schon seiner Frau wegen einen Bruch mit dem Elternhaus riskierte. Außerdem hatte ihre Unterhaltung sowieso nur dann Sinn, wenn er mit ihm einigermaßen offen reden konnte.

Tahir lachte nur kurz auf. »Recht haste. Du mußtest Dich im letzten Sommer auch Deiner Haut wehren, habe ich gehört. Dein Vater hatte doch nen richtig großes Ding mit Dir geplant, als Du im Krankenhaus lagst. Das hat hier ordentlich Wellen geschlagen, als er unverrichteter Dinge wieder abziehn mußte.«

Damit hatte Maurice die Klippe umschifft. Er hakte diesen Punkt innerlich ab und lächelte dann gequält, bevor er Tahir antwortete: »Das war verflixt knapp. Gut, daß ich Freunde habe, die mir damals geholfen haben, sie abzuwimmeln. Außerdem steh ich nicht so auf Frauen.«

»Das habe ich mir früher schon gedacht. Du warst zu schüchtern mit den Mädels. Was haste seinerzeit eigentlich genau mit Marlon angestellt? Der hat mich regelmäßig abgezogen und weil er mich mit etwas erpreßt hat, konnte ich mich auch nicht richtig wehren gegen ihn. Von einem auf den andern Tag hat er mich in Ruh gelassen und ich hatte immer den Verdacht, daß Du Deine Finger im Spiel hattest.«

»Das willste nicht wissen. Glaub mir. Womit hat er Dich denn erpreßt?«

»Ach, es war nix. Dein Vater ist jedenfalls stocksauer wegen der abgesagten Hochzeit. Du solltest Dich dort besser nicht mehr sehen lassen. Ich habe mitbekommen, daß Deine Brüder Dich suchen und zur Rede stellen wollen.«

»Meine Brüder können mich mal.«

»Nimm das nicht auf die leichte Schulter, Rice!« Tahir blickte plötzlich sehr ernst. »Ich seh Dir an, daß Du Dich Deiner Haut wehren kannst. Aber gegen nen Messer im Dunkeln bist auch Du machtlos. Treib Dich lieber nicht zu oft hier in den Vorstädten rum. «

Maurice wußte aus eigener Erfahrung, wie machtlos er gegen einen Messerstich war, der unerwartet kam. »Ich sehe mich schon vor. Wollte auch nur ein bißchen über alte Zeiten reden. Ist lange her, daß ich zuletzt hier war. Was machen eigentlich Omar und seine Gang? Dealen die immer noch mit allem, das sich nicht wehrt?«

»Omar ist eine ziemliche Nummer geworden in den letzten Jahren.« Tahir schien der Themenwechsel eher unangenehm zu sein. »Der kontrolliert den Handel in einigen Straßen hier und einige Mädels hat er auch laufen. Hier in Saint-Denis und im Achtzehnten am Boulevard Barbès. Noch einer, vor dem Du Dich vorsehen mußt. Omar ist nachtragend und hat nicht vergessen, was Du damals mit Marlon gemacht hast. Was immer es war. Der war nämlich in seiner Gang. Außerdem biste jetzt Pariser. Damit haste sowieso nen schweren Stand.«

»Omar hat keine Beweise, daß ich es war. Schon gar nicht jetzt, wo die Sau sitzt.«

»Beweise haben Omar immer herzlich wenig interessiert. Ich warne Dich: Laß Dich nicht mit ihm ein!«

»Und die andern Jungs aus unserer Schulzeit, was haben die gemacht?«

»Die meisten sind in Omars Gang. Ein, zwei Streber sind nach Paris gegangen. So wie Du.« Dabei zwinkerte Tahir ihm zu und Maurice grinste linkisch zurück. »Fast alle Mädchen haben geheiratet und stehen jetzt irgendwo in den umliegenden Wohnblöcken hinterm Herd. Nur zwei sind nicht mehr hier, aber die waren auch häßlich wie die Nacht. Wahrscheinlich waren sie gefrustet, weil sie keiner wollte.«

Maurice war unangenehm berührt, entschloß sich aber, nichts draus zu machen. »Weißte, wo man Omar jetzt finden kann?«, fragte er Tahir noch.

»Er hat nen Club draußen in Val-d'oise.« Tahir nannte eine Adresse. »Da hängt er meist rum. Aber ich habe Dich gewarnt. Das ist eine ganz eigene Welt. Nicht mal die Flics trauen sich dorthin!«

»Ich habe schon gehört, daß man sich von der Gegend besser fernhält. Und auch im Achtzehnten gehen komische Dinge vor. Haben da nicht am Wochenende wieder Autos gebrannt bei Stalingrad, nachdem die Flics dort Leute verhaftet hatten?«

»Genau. Und man sagt, daß Omar dabei seine Finger im Spiel hatte. Wie bei fast allem, was da an Scheiße passiert. Der, den sie tot in einem der Autos gefunden haben… wer weiß, wer weiß.«

Maurice horchte auf. »Weißt Du mehr darüber?«

»Nein, nein. Ich habe eh grad zuviel gesagt. Über sowas redet man nicht an Plätzen, wo die Wände Ohren haben.«

Maurice zahlte seinen Tee. »Ich habe verstanden und werde mich vorsehen. Danke, Tahir. Du bist nen echten Freund. Ich freue mich, daß wir uns wieder getroffen haben. Und grüß Nadine von mir. Unbekannterweise.«

»Mache ich«, antwortete Tahir und umarmte Maurice herzlich. »und melde Dich mal wieder, Rice. Wie es Dir ergangen ist und so. Meine Einladung steht!«

»Ich versuchs.«

Maurice verließ die Bar. Tahir sah ihm noch eine Weile nach. Als er um die nächste Ecke verschwunden war, zog er sein Handy und wählte eine Nummer. »Rice ist wieder im Lande«, sagte er, als die Leitung stand. »Genau, der Rice.«

Kapitel 4 - Walter (02.-03.01.2017)

Walter lehnte sich zufrieden zurück. Seinen Artikel für die 'Astrophysical Reviews' hatte er beinahe fertig und erstmals nahm er dabei direkt Bezug auf die Forschungen des vergangenen Jahres. Er skizzierte seine Theorie eines zweigeteilten Universums, das aus einer Welt aus Materie und einer aus Antimaterie bestand. Zwei unmittelbar benachbarte Teilwelten, die eine Dimensionsbarriere trennte und die nur über die Schwerkraft miteinander wechselwirkten. Zwei Welten, die im vergangenen Jahr durch einen schrecklichen Unfall am CERN beinahe miteinander verbunden worden wären, um sich gegenseitig auszulöschen.

Morgen würde er alles noch einmal gegenlesen, ehe er es an den Verlag schickte. Der lange Tag hatte ihn erschöpft und er freute sich auf ein Glas Rotwein. Den durfte er jetzt wieder trinken, denn die experimentelle Behandlung, mit der ihm die Wissenschaftler der Gruppe Moíra sein Leben zurückgegeben hatten, war mittlerweile beendet.

Seinerzeit bekam er Zugriff auf neue Satellitendaten der NASA in nie gekannter Auflösung. Er entdeckte in diesen Aufnahmen unbekannte Signale. Sein Student Martin O’Connor schrieb ihm eine Auswertungssoftware. Sie errechnete daraus ein Panorama, das einen Blick über die Grenzen unseres Universums ermöglichte. Dieses 'O’Connor-Panorama' zeigte aber keine dreidimensionale Umgebung, sondern nur den dreidimensionalen Aspekt von etwas Höherdimensionalem. Das menschliche Gehirn kann solche Daten nicht verarbeiten. Deshalb rief es mentale Störungen verschiedenster Art bei allen Leuten hervor, die es zu betrachten und zu verstehen versuchten.

Bei Walter äußerte sich dies in Form von abnormen Träumen, die ihm durch ihre Intensität zeitweilig ein normales Leben unmöglich machten. Erst unter der Behandlung ließen sie langsam nach und wandelten seine Erinnerungen an das O’Connor Panorama in etwas um, das sein dreidimensionaler Verstand verarbeiten konnte. Letztlich hatten ihm diese Träume sogar geholfen, seinen Artikel fertigzustellen. Sie gaben ihm Fingerzeige, anhand derer er seine Theorie verfeinern konnte. Mittlerweile belästigten sie ihn kaum noch.

Draußen senkte sich die Abenddämmerung über die Stadt und die Straßenlaterne vor seinem Fenster schaltete sich ein. Der Bildschirm des Notebooks schimmerte bläulich durch den Raum. Schließlich begannen die Buchstaben, vor seinen Augen zu verschwimmen. Er klappte den Laptop zu und gähnte, ohne daß er etwas dagegen tun konnte. Zufrieden ging er zu Bett, nachdem er sein Glas geleert hatte, und schlief tief und traumlos bis zum nächsten Morgen durch.

Hatte er wirklich nichts geträumt? Ganz sicher war er sich nach dem Aufwachen nicht. Er fühlte sich aber gut erholt und beschloß aus einer Laune heraus, den Artikel heute noch nicht abzuschicken, sondern den Tag stattdessen am CNRS zu verbringen, um seine nächsten Schritte zu planen. Er wollte nach der Veröffentlichung einen Beitrag für den YouTube-Kanal des Instituts herauszubringen, der sich mit den allgemeinverständlichen Aspekten seiner Forschung beschäftigte. Durch seine regelmäßigen Unterhaltungen mit Mike Peters wußte er mittlerweile noch besser, wie weit er seine Zuschauer fordern durfte und was er besser unterschlug.

Jetzt nach den Feiertagen blieb es in der Fakultät noch sehr ruhig. Walter betrat sein Büro, ohne von mehr als einer Handvoll Leuten gesehen worden zu sein. Post hatte er über den Jahreswechsel keine erhalten. Nur ein Brief lag vor seinen Füßen, als er die Tür aufschloß. Er hob ihn auf, öffnete ihn und fand ein formloses und unpassend kurzes Schreiben eines Mitarbeiters. Der hatte sich in den letzten Monaten anscheinend bei verschiedenen Firmen beworben und zwischen den Jahren eine Zusage bekommen. Jetzt teilte er ihm mit, daß er seine Forschungen bei ihm abbrechen würde.

Walter seufzte leise. So ging das leider viel zu oft. Die meisten Doktoranden und Postdocs, die mit ihm zusammenarbeiteten, sahen die Forschung oft nur als Sprungbrett zu einer besser bezahlten Stelle in der Industrie. Walter besaß einen untadeligen akademischen Ruf und eine gewisse Zeit in seiner Arbeitsgruppe machte sich gut in jedem Lebenslauf. Er haderte mit der Unmöglichkeit, zu dieser Art Mitarbeiter eine persönliche Beziehung aufzubauen, wenn sie nach sechs bis zwölf Monaten schon wieder verschwanden. Von einer Kontinuität in seiner eigenen Forschungsarbeit ganz zu schweigen.

Er legte das Schreiben beiseite, klappte seinen Rechner auf und sah als erstes in die Mails. Kaum hatte er damit begonnen, klopfte es aber schon leise an der Tür.

»Entrez!«, rief er. Er bemühte sich in diesem Punkt, Professor Ludwig von Oertzen nachzueifern, seinem Doktorvater in Cambridge, dessen Tür seinen Studenten immer offenstand. Bisweilen hielt ihn das von seiner Arbeit ab. Die Meisten dankten es ihm aber mit großer Zuneigung und nutzten seine offene Tür nicht ungebührlich aus.

Herein kam eine junge Dame. »Bonjour Professeur! Ich hoffe, ich störe Sie nicht«, begrüßte sie ihn.

Ihr leichter Akzent und etwas in ihren Gesichtszügen kamen Walter vertraut vor. Daher betrachtete er sie genauer. Wache, wasserblaue Augen und eine Stupsnase wirkten sympathisch. Die lockigen, roten Haare hielt ein Band im Nacken zusammen. Die blasse, sommersprossige Haut verriet, daß sie ihre Haare nicht gefärbt hatte.

»Bonjour Mademoiselle, was kann ich für Sie tun?«

»Ich verfolge Ihre Forschung seit Jahren und habe gehört, daß es in Ihrer Arbeitsgruppe bald einen freien Platz gibt. Ich habe meinen Master Recherche in Mathematik beendet und strebe mittelfristig ein Doctorat an. Ich würde mich dabei gerne auf ein Thema bewerben, das aus Ihrem Arbeitsbereich kommt.«

Walter bemühte sich, seine Verblüffung nicht offen zu zeigen. Immerhin wußte er selbst erst seit einigen Minuten von dem Weggang eines Mitarbeiters. »Warum gerade bei mir? Für junge Mathematiker gibt es in Paris doch sicherlich geeignetere Stellen, Mademoiselle…«

»O’Connor, Marian O’Connor. Mein Onkel hat für Sie gearbeitet und er hätte mir von Ihnen vorgeschwärmt, wenn er in seiner Art offener gewesen wäre. Ich möchte gerne in seine… wie sagt man… Fußstapfen treten?«

»Martin O’Connor war Ihr Onkel? Nehmen Sie es mir nicht übel, Mademoiselle… O’Connor, aber Sie scheinen mir mindestens ebenso alt zu sein wie er.«

»Ich bin sogar ein Jahr älter. Unsere Großeltern haben wohl nicht mehr mit Nachwuchs gerechnet, als er kam. Wir beide sind im Prinzip wie Geschwister aufgewachsen und er hielt sich später öfter bei uns auf als bei seinen Eltern. Vor allem, als es klar wurde, daß er… anders war als die Jungs in seinem Alter. Meine Großeltern gaben sich die Schuld und er hat sich von ihnen zurückgezogen. Ich bin… ich war wohl seine einzige Bezugsperson in der Familie.«

Marian redete ohne Punkt und Komma und Walter fiel es schwer, einzuhaken. Daß er plötzlich einem Familienmitglied von Martin O’Connor gegenübersaß, traf ihn unvorbereitet. Jetzt erkannte er auch, warum ihn der leichte Akzent, in dem Marian sprach, so bekannt vorkam. Er ähnelte dem Tonfall Martin O’Connors.

»Verstehe ich Sie richtig, daß Sie gerne an seine Arbeiten anknüpfen würden?«, brachte er es schließlich fertig, sie zu unterbrechen. »An die Zusammenarbeit mit Martin O’Connor werde ich nicht gerne erinnert, wie Sie sich denken können.«

»Ich weiß.« Marian schüttelte ihren Kopf so energisch, daß sich das Haarband öffnete und ihre roten Locken wild umherwirbelten. »Ich habe nicht verstanden, was damals passiert ist. Er hat in den letzten Wochen mit niemandem gesprochen, auch mit mir nicht. Ich weiß, daß er mich nach Schmerzmitteln gefragt hat. Er hat aber nicht erzählt, wozu er die brauchte. Ich will mich auch gar nicht mit ihm vergleichen. Wir sind unterschiedliche Charaktere und Temperamente. Was uns verbunden hat, ist die Mathematik. Martin hat mir schon vor Jahren gesagt, daß Mathematik mir liegt. Sonst wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, ausgerechnet dieses Fach zu studieren. Es schien ihn oft zu überraschen, daß ich seinen Gedankengängen folgen konnte. Na los, testen Sie mich!«, forderte sie Walter auf.

Walter hatte heute gute Laune. Normalerweise hätte er Marian wohl aus seinem Büro hinauskomplimentiert. Er empfand ihr Eindringen schon als grenzwertig frech. Andererseits fühlte er sich ihrer Gegenwart wohl. Deswegen ließ er sich auf eine Diskussion ein und begann, ihr einige Fragen zu stellen.

Einfache, mathematische Grundzusammenhänge zunächst. Logarithmen und Kurvendiskussionen, Integralrechnung, Algebra, Primzahlfaktoren, Symmetriepunktgruppen und analytische, mehrdimensionale Geometrie. Marian hielt mühelos mit. Anscheinend hatte sie in der Schule und auch im Studium aufgepaßt. So wurde ihr Gespräch zunehmend komplizierter. Ein normal Sterblicher hätte ihnen schon bald nicht mehr folgen können. Über Wahrscheinlichkeitstheorie leitete Walter zur Astroinformatik über, Martins Spezialgebiet. Marian besaß weniger Hintergrundwissen als Martin und ihre Gedankengänge erschienen nicht so genial intuitiv. Walter erkannte aber schnell, daß Martin mit ihr über seine Forschungen in Walters Arbeitsgruppe gesprochen hatte und daß sie einige Teile davon erfaßt und verstanden hatte. Ihre Kenntnisse genügten völlig für eine Zusammenarbeit. Vor allem wäre sie wohl als Einzige in der Lage, dort anzusetzen, wo Martins Gedanken so abrupt endeten.

Dennoch ging ihm das zu schnell und erschien ihm zu leicht. Er mußte zunächst in Ruhe darüber nachdenken, ehe er eine Entscheidung fällte. Vor allem durfte er sie nicht mit Martin O’Connor vergleichen. Sie besaß eine ganz eigene Persönlichkeit und verhielt sich wesentlich kommunikativer als Martin in seinen besten Tagen. Vielleicht sogar zu kommunikativ, denn ihr Redefluß war gerade wieder schwer zu stoppen.

»Schluß!«, sagte er schließlich so energisch, daß er Marian aus ihrem Redefluß riß und sie ihn besorgt ansah. »Mademoiselle O’Connor, Sie haben es geschafft, mich auf Sie aufmerksam zu machen. Dabei sollten wir es aber für heute belassen. Lassen Sie mir bitte Ihre Kontaktdaten hier, oder was immer Sie für mich vorbereitet haben. Ich werde mich damit auseinandersetzen und mich dann bei Ihnen melden.«

Marian nickte und wollte zu einem weiteren Redeschwall ansetzen. Walter unterbrach sie aber mit der Bemerkung, daß er jetzt noch anderes zu erledigen hätte.

»Ein Gespräch mit Ihnen stand heute nicht auf meinem Plan«, sagte er lächelnd zu ihr. Marian nickte und überreichte ihn einen dicken Umschlag. Danach bedankte sie sich und verließ das Zimmer. Ihre roten Locken verschwanden aus Walters Büro, wippten aber noch eine Weile durch sein Bewußtsein, während er nachdenklich auf seinem Stuhl saß.

 

Kapitel 5 - Team Lefebvre (03.01.2017)

Die Morgensonne strahlte durch das Fenster. Kommissar Georges Lefebvre trank Kaffee in seinem Büro. Ihm gegenüber saß Maurice Belloumi, seit einem halben Jahr Teil von Lefebvres Team. Vor dem Aktenschrank stand Chefbrigadier Marc Moreau. Der schüttere, graue Haarkranz und der kleine Bauch ließen ihn älter erscheinen als Lefebvre. Bereits vor dessen Beförderung zum Kommissar arbeiteten die beiden zusammen und gelegentlich unternahmen sie auch privat etwas gemeinsam.

Als ruhiger Typ bildete Moreau in der Gruppe den Gegenpol zu Lefebvre. Er hätte ebenfalls einen guten Kommissar abgegeben. Ihm fehlte aber der Ehrgeiz, sich für den gehobenen Dienst zu bewerben. »Noch einmal eine Ausbildung und jede Menge Prüfungen stehen meine Nerven nicht durch«, hatte er seinerzeit nach einigen Bieren in einer Bar zu Lefebvre gesagt. »Nicht für die paar Euro, die Du dann mehr verdienst. Ich stehe immer hinter Dir. Neben Dir ist mir aber zu anstrengend.«

Damit war das Thema für ihn erledigt und die beiden redeten nie wieder darüber. Lefebvre wurde Kommissar und holte Moreau zu sich. Bei den Ereignissen im vergangenen Frühjahr lag er nach einem Bandscheibenvorfall im Krankenhaus. Seit seiner Genesung tat er aber wieder seinen Job, als wäre er nie fort gewesen.

Wenn mit Maurice oder Lefebvre das Temperament durchging und sie sich übellaunig anschwiegen, bildete er das Bindeglied, das das Gespräch am Laufen hielt, bis sich einer der beiden wieder beruhigte. Selbst Gabriel Clement respektierte ihn und bildete mit seinen gelegentlichen Anfällen von Professionalität das vierte Rad am Wagen dieser heterogenen Gruppe.

»Was haben wir bis jetzt an Informationen?«, fragte Lefebvre in die kleine Runde.

»Nicht viel«, antwortete Maurice, »zumindest nicht über das Opfer. Die Leiche ist noch in der Gerichtsmedizin und der vorläufige Obduktionsbericht sieht mager aus. Es war ja auch nicht viel übrig nach dem Feuer.«

»Zumindest befand er sich nicht freiwillig in diesem Auto, denn das Loch in seinem Schädel hat sich bestimmt nicht von selbst gemacht. Unter einer Bodenplatte im Fußraum lag übrigens ein Beutel mit einer weißen Substanz«, ergänzte Moreau. »Sie hat irgendwie das Feuer überstanden. Der Beamte, der den Beutel gefunden hat, tippt auf Heroin oder Kokain.«

»Das muß die Analyse zeigen«, sagte Lefebvre knapp. »Hoffentlich stehen wir nicht vor neuen Problemen. Ein Mord in der Nähe des Place de Stalingrad ist kein gutes Omen. Denkt an die Unruhen im letzten Jahr.«

»Wird schon nicht so schlimm werden«, sagte Maurice.

»Hast Du gestern abend etwas herausgefunden? Du wolltest doch alte Kontakte pflegen.«

Lefebvre und Maurice duzten sich mittlerweile. Der Kommissar hatte ihm vor einigen Wochen das 'Du' mit einem launigen Kommentar angeboten: »Da wir beide ohnehin immer verschiedener Meinung sind, finde ich, wir sollten uns duzen. Es sagt sich viel leichter 'Du Arsch!’ als 'Sie Arsch!'. Einverstanden?« Natürlich war Maurice einverstanden: »Worauf Du einen lassen kannst.«

»Ich habe mich mit dem Kumpel getroffen, mit dem ich früher um die Häuser gezogen bin«, berichtete Maurice jetzt. »Der kannte damals jeden im Viertel. Ich glaube, das ist auch heute noch so.«

»Wird sicher nicht schaden, da am Ball zu bleiben«, sagte Moreau. »Jede Verbindung in diese Szene ist wichtig für uns.«

»Kann sogar sein, daß er in unserem Fall etwas weiß. Dazu muß ich mich aber mal bei ihm einladen und mit ihm inoffiziell reden. Zumindest kennt er Omar.«

Moreau pfiff leise durch die Zähne. »Wow. Der und seine Leute hatten bei den letzten Morden in der Drogenszene immer ihre Finger im Spiel. Es wäre schön, wenn wir ihm endlich etwas nachweisen könnten.«

»Laßt uns zunächst abwarten, was die Gerichtsmedizin sagt«, warf Lefebvre ein. »Maurices Treffen ist schließlich nur zufällig mit diesem Mord zusammengefallen. Er sollte uns nur ein wenig ins Spiel bringen. Daß Du diesen Monsieur Habib von früher kennst, ist ein super Zufall.«

»Allzu tief werde ich da nicht eindringen können. Tahir hat mich sehr nachdrücklich vor meinen Brüdern gewarnt. Wenn meine Familie ins Spiel kommt, wird sich nicht lange geheimhalten lassen, für wen ich arbeite. Mein Vater hat den Vorfall damals im Krankenhaus persönlich genommen. Ich rieche den Ärger jetzt schon.«

»Wird schon so schlimm nicht werden. Hatten wir nicht alle Probleme mit unseren Eltern beim Erwachsenwerden?«, fragte Lefebvre.

»Den nächsten, der über die Beziehung zu meinen Eltern Witze reißt, fischt man am nächsten Tag aus der Seine!« Lefebvre und Moreau zuckten synchron zusammen, denn Maurices Blick verriet, daß er die Drohung ernst meinte.

»Man wird doch wohl noch einen Spaß machen dürfen«, versuchte Moreau die Situation zu retten.

»Ihr könnt das gern mit meinen Brüdern ausdiskutieren. Das wird ein Spaß.«

Das Telefon klingelte. Lefebvre nahm ab. »Hallo? … Oh, hallo Docteur. Okay? … Okay … verstehe. Danke. Au'voir.«

Lefebvre wandte sich wieder an Moreau und Maurice. »Docteur Monin von der Gerichtsmedizin. Es war Heroin in dem Beutel. Er läßt den Stoff aber noch genauer untersuchen. Er hat ein komisches Gefühl.« Lefebvre malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Und er nimmt uns das Loch in seinen Hosen immer noch übel, das ihm Gabriel im letzten Jahr unabsichtlich verpaßt hat. Apropos, wo ist er eigentlich?«

»Ich habe ihn vorhin gesehen«, antwortete Moreau. »Er befand sich aber auf dem Sprung. Scheinbar hat sein Spezi von der Morgenzeitung wieder irgendwelche 'heißen Details' zu unserem Mordfall für ihn.«

»Vielleicht ist es wirklich nur nen Mord im Drogenmilieu«, mutmaßte Maurice, »aber wenn Omar dahintersteckt, kriege ich ihn dafür ran!«

Da klopfte es schon und Gabriel Clement steckte den Kopf herein: »Störe ich?«

»Komm schon rein«, brummte Lefebvre. »Ich hoffe, es hat sich wenigstens gelohnt, unsere morgendliche Besprechung ausfallen zu lassen.«

»Wieso? Ihr seid doch noch hier«, sagte Clement sonnig, »und ich habe tatsächlich Neuigkeiten!«

Maurice stand auf und ging in eine Ecke des Raumes, als Clement sich mit an den Schreibtisch setzte. Den durchdringenden Körpergeruch seines Kollegen ertrug er immer noch nicht. Lefebvre roch okay und auch Moreaus Geruch war meistens in Ordnung, außer an den Tagen, an denen er Sodbrennen hatte. Nur dieser Clement stank ihm. Es war gar nicht der Schweißgeruch. Schweiß roch unterschiedlich stark, jedoch in der Grundnote immer gleich. Nicht angenehm, aber erträglich. Es war das After Shave, mit dem Clement seinen Geruch zu überdecken versuchte. Eine Kombination von schwerer Süße mit einer strengen Moschusnote. Für Maurice kaum auszuhalten.

Clement sah Maurice irritiert an, hatte aber zu viel zu erzählen, um nachzufragen. Da er das immer so hielt, bestand auch keine Gefahr, daß das Thema einmal auf den Tisch kam. Lefebvre und Moreau wußten um Maurices besondere Fähigkeit und lächelten, während sie die unfreiwillige Pantomime der beiden beobachteten.

Maurice sah seinen überscharfen Geruchssinn mehr als Fluch, denn als Segen und es fiel ihm schwer, Clements Ausführungen zu folgen.

»Es scheint einen neuen Mitspieler in der Drogenszene im Norden zu geben, sagt mein Spezi. Angeblich hat ihm das eine Quelle im Rauschgiftdezernat gesteckt.«

»Bist Du sicher, daß nicht Du die Quelle bist?«, knurrte Maurice aus seiner Ecke.

»Du bist wirklich nicht nett. Du kannst Dir wohl nicht vorstellen, daß zwei Männer so auf einer Wellenlänge sind, daß sie einander völlig vertrauen.«

Maurice setzte zu einer patzigen Antwort an, aber Lefebvre ging dazwischen: »Ein neuer Mitspieler also. Gibt es dafür irgendwelche Belege?«

»Die gibt es in der Tat. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser im Norden von Paris hatten in den letzten Wochen ungewöhnlich viele Fälle von Heroinvergiftung. Noch ist niemand gestorben, aber es scheint, als verkaufte da jemand Stoff, der nicht genügend verschnitten ist.«

»Das ist wirklich eine neue Entwicklung«, sagte Lefebvre. »Allerdings frage ich mich, warum Du dazu die Morgenzeitung bemühst und Dich nicht direkt im Dezernat erkundigst.«

Clement wußte für einen Moment keine Antwort. Moreau half ihm mit einem trockenen Kommentar:

»Das hat schon beides seine Richtigkeit, Georges. Wir kriegen diese Information natürlich im Rauschgiftdezernat. Wenn wir denn wissen, welche Fragen wir stellen müssen. Du weißt doch, daß sie manchmal auf ihren Informationen sitzen.«

Clement warf Moreau einen dankbaren Blick zu. Lefebvre schluckte kurz und lenkte dann ein: »Du hast recht, Marc. Wir müssen aber jetzt die richtigen Fragen stellen. Könnte diese Häufung von 'Unfällen' mit unserer Leiche zu tun haben? Gabriel, darum kümmerst Du Dich. Statte den Mädels und Jungs vom Rauschgift einen Besuch ab und bringe in Erfahrung, was sie genau wissen. Sie sollen uns einen zusammenfassenden Bericht schicken, was aus ihrer Sicht in der Umgebung von Stalingrad los ist. Welche Rauschgifte, welche Dealer, neue Mitspieler und so weiter. Vielleicht haben sie Details, die zu unserer Leiche passen.«

»Jawoll, Boß!«, schnappte Clement und verschwand durch die Tür, ehe Lefebvre noch aufstöhnen konnte.

»Vor allem sollten wir herausfinden, wer das Opfer ist«, warf Moreau ein. »Derzeit wissen wir ja nicht einmal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.«

»Es ist ein Mann. So viel wußte der Pathologe schon. Bis er mehr für uns hat, könnt ihr die Vermißtenmeldungen der letzten Tage durchgehen, und herausfinden, ob jemand davon zu unserer Leiche paßt. Ich bin jetzt mit dem Untersuchungsrichter verabredet.«

»Viel Spaß«, sagte Moreau und verließ zusammen mit Maurice Lefebvres Büro.

»Georges hat übrigens unrecht. Sieh Dich bitte vor bei diesem Tahir. Schulfreund hin oder her«, sagte er draußen noch zu Maurice. Der knurrte etwas Unverständliches und verschwand in Richtung des Großraumbüros, in dem ihre Rechner standen.

 

Kapitel 6 - Francine (04.01.2017)

Jetzt nach den Feiertagen gab es im CERN Institut bei Genf wieder viel zu tun. Der Beschleuniger befand sich offiziell zwar in den Winterferien. Seit Monaten liefen in der Detektorkammer des ATLAS auf Anordnung von Doktor Lies, seit kurzem Direktor des Instituts, aber aufwendige Umbauten. Das gesamte System von heliumgekühlten Magneten wurde ausgetauscht und durch stärkere Anlagen der neuesten Generation ersetzt.

Francine Aubry gehörte zum technischen Team, das das komplexe Ballett von Pumpen, Magneten, Kühlung und Detektoren am Laufen hielt. Ganz ausschalten konnten sie die Anlage trotz der Umbauten und der Winterferien nicht. Seit einem guten halben Jahr existierte nämlich mitten zwischen all der Technik eine kleine Dimensionspforte. Sie führte in ein Paralleluniversum aus Antimaterie. Ein gräßlich fehlgeschlagenes Experiment hatte sie im letzten Mai ins Universum geschlagen. Zur Zeit zeigte sie keine Aktivität. Damit das auch so blieb, hielten sie einen größeren Bereich zwischen den Detektoren sicherheitshalber unter Vakuum. Was die Antimaterie anrichten konnte, wenn sie durch die Pforte in unser Universum sickerte, hatte ihnen ein gewaltiger Strahlungsblitz gezeigt. Er forderte ein Menschenleben und niemand wollte dieses Ereignis wiederholen.

Sie hatte viel in der Detektorkammer zu tun, seit ihr Chef Aurel Favre sich zwischen den Jahren krankgemeldet hatte. De facto leitete sie jetzt die Technik der Anlage und sie fühlte sich nicht wohl dabei. Die Umbauten mußten ein Vermögen gekostet haben. Bei einem Besuch in der Verwaltung vor einigen Tagen konnte sie einige der Abschlußrechnungen einsehen. Sechs- und siebenstellige Beträge kamen selbst bei einem multinationalen Institut von der Größe des CERN nicht alle Tage vor. Doktor Lies hatte die Umbauten angeordnet, sich aber unglücklicherweise bis dato geweigert, seinen Mitarbeitern ihren Sinn zu erklären und was für Experimente sie hier künftig durchführen würden.

Aber heute würde sie ihn alles fragen, auch, wo er das Geld hernahm. Bei der wöchentlichen Besprechung, die er mit dem Teamleiter durchführte, mußte sie Aurel Favre vertreten. Sie suchte ihre Unterlagen zusammen und bereitete sich innerlich auf eine anstrengende Stunde vor.

In Gedanken streichelte sie noch Mona, ihren schwarzen Labrador, der tagsüber in ihrem kleinen Aufenthaltsraum hausen durfte. Aurel hatte ihr das erlaubt, weil sie seit einigen Monaten in Scheidung lebte und tagsüber nicht immer einen Hundesitter fand. Mona ging es hier unten gut und sie schlief die meiste Zeit, wenn Francine anderswo arbeitete. Auf jeden Fall tat es ihr besser, als sie den Tag über allein zu Hause zu lassen.

Mona drückte ihren Kopf gegen Francines Hand, als sie sie in der Ohrmuschel kraulte. Wäre sie eine Katze gewesen, hätte sie geschnurrt. Monas Version von Schnurren war ein tiefes Ein- und Ausatmen, das manchmal ein wenig asthmatisch klang. Francine gab ihr einige Stücke Trockenfutter, die sie gierig fraß, als hätte es wochenlang nichts gegeben. Retriever waren wundervolle Familienhunde, aber irgendwann während ihrer Zucht kam der Rasse das Gen abhanden, das ihnen sagte: 'Ich bin jetzt satt'. Sie mußte Mona also ständig auf Diät halten, damit sie sich nicht rund und dick fraß.

Francine erneuerte noch das Wasser im Hundenapf und machte sich dann auf den Weg nach oben. Doktor Lies verbrachte fast den ganzen Tag in seinem oberirdischen Büro. Nachdem man ihn zum Direktor ernannt hatte, verzichtete er überraschenderweise auf die neuen, repräsentativen Büroräume, inklusive Sekretariat, in einem der Hauptgebäude auf der anderen Seite der Route de Meyrin und behielt lieber sein altes Büro im ATLAS Gebäude.

Nicht nur Francine fand dieses Verhalten ungewöhnlich für Lies. Ihre Ruhe hatten sie in der Detektorhalle dennoch. Hier unten ließ er sich nämlich nur sehen, wenn es absolut nicht anders ging. Sie fuhr im Fahrstuhl nach oben, besah auf der Damentoilette ihre Erscheinung nochmals im Spiegel und ging dann zu seinem Büro. Sie klopfte an und trat auf das geschnarrte »Herein!« ein.

»Schön, daß Sie es möglich machen konnten«, begrüßte er sie abwesend. Er hängte gerade ein Flipchart ab, auf dem eine Rißzeichnung des Detektorbereiches zu sehen war. Ein Detail schien verändert zu sein. So schnell kam sie aber nicht dahinter, worum es sich handelte, denn schon wandte sich Lies an sie:

»Wir haben heute Grund zu feiern. Trinken Sie ein Glas Prosecco mit mir?«, fragte er und klang plötzlich wieder betont freundlich.

»Gerne!« Francine war angenehm überrascht, ihn in aufgeräumter Stimmung zu erleben. Aurel konnte man regelmäßig für den Rest des Tages nicht mehr gebrauchen, wenn er von seinen wöchentlichen Briefings zurückkam.

Lies schenkte beiden ein Glas ein und sie prosteten sich zu.

»Der ist ausgezeichnet!«, sagte Francine anerkennend. »Was gibt es denn zu feiern?«

»Gleich auf den Punkt. Das schätze ich an Ihnen. Sie werden Monsieur Favre nach seiner… plötzlichen Erkrankung… vertreten müssen. Für eine Weile. Deswegen müssen Sie alle Details zu seinen Aufgaben wissen.«

»Sie haben recht. Ich kann nur effektiv arbeiten, wenn ich verstehe, was wir jetzt machen.« Francine versuchte, entschlossen zu klingen. »Die Umbauten der letzten Monate müssen ein Vermögen gekostet haben und so ganz klar ist mir nicht, wozu sie dienen.«

Sie stellte ihr Glas wieder ab. Bevor sie nicht genau wußte, was hier lief, blieb sie lieber hochkonzentriert.

»Oh, um die Kosten machen Sie sich mal keine Sorgen.« Lies klang wieder so überheblich, wie sie ihn von früher kannte. »Ich konnte im vergangenen Jahr neue Geldgeber anwerben. Potente Geldgeber, die sich sehr für unser Institut einsetzen. Aufgrund dieses geschäftlichen Erfolges hat man mich auch zum neuen Leiter des Instituts ernannt. Nach dem Weggang von Doktor Magnone ist auch die bisherige Leiterin am Jahresende in Frührente gegangen. Sie haben ja selbst gesehen, daß es ihr nicht gut ging.«

»Meinen Glückwunsch.«

»Danke. Die Umbauten dienen ausschließlich der Sicherheit der Anlage. Es handelt sich im Wesentlichen um eine Verstärkung der Abschirmung. Solange wir diese Singularität nicht verstehen, die wir im letzten Jahr unabsichtlich geschaffen haben, müssen wir allergrößte Vorsicht walten lassen.«

Francine nickte. »Aber ihre Aktivität ist doch in den letzten Monaten gegen Null gegangen. Wenn wir so weitermachen wie bisher, können die Experimente in allen Instituten, die am LHC beteiligt sind, wieder anlaufen wie geplant. Sehen Sie da Probleme?«

»Natürlich nicht. Aber ich bin nicht nur für den Fortgang der Experimente verantwortlich. Die Unfälle im letzten Jahr waren… tragisch. Sie dürfen sich auf keinen Fall wiederholen. Deswegen – und da bin ich mir glücklicherweise mit dem Komitee der Mitgliedsstaaten und dem Konsortium… unserer neuen Geldgeber einig – steht künftig die Sicherheit an erster Stelle. Wir können schließlich nicht wissen, ob diese Anomalie nun für alle Zeit verschlossen ist. Für den Fall, daß sie das nicht bleibt, müssen wir unbedingt vorbereitet sein.«

»Das freut mich sehr, daß Sie das so sehen. Dann brauche ich mir also diesbezüglich keine Sorgen zu machen?«

»Aber nicht die geringsten.« Lies' verbindliches Lächeln beruhigte Francine. »In diesem Kontext verstehen Sie jetzt sicherlich auch die vielen Bestellungen besser, die Sie in letzter Zeit für uns managen mußten. Wir brauchen im ATLAS die neuesten Maschinen, die Menschen zu bauen imstande sind und Geld darf da keine Rolle spielen, wenn es um die Sicherheit unserer geschätzten Mitarbeiter geht.«

Freundlich lächelte Lies ihr zu und plötzlich fühlte sich auch Francine erleichtert. So viel Verantwortungsbewußtsein hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Dann gehörte er zu den Menschen, die an ihren Aufgaben wuchsen. Sie lächelte zurück und entspannte sich ein wenig. Jetzt nahm sie das Glas Prosecco wieder vom Tisch und trank einen Schluck.

»Natürlich ist es mit einer verbesserten Abschirmung allein nicht getan. Deswegen habe ich den Detektorbereich in den letzten Monaten komplett umstrukturiert. Falls in der Anlage wirklich noch einmal Antimaterie austreten sollte, müssen wir gewappnet sein und die Möglichkeit haben, sie aufzufangen, ehe sie Schaden anrichten kann. Da Monsieur Favre uns gerade nicht zur Verfügung steht, ist es jetzt besonders wichtig, daß Sie sich unverzüglich mit den Planungen vertraut machen.«

»Ich bedanke mich für Ihr Vertrauen.«

»Ich werde Ihre Sicherheitsfreigabe entsprechend erhöhen und Ihnen die nötigen Dokumente zukommen lassen, damit Sie mich künftig besser unterstützen können.«

Francine trank ihr Glas auf einen Zug aus. Sie wußte aus Erfahrung, daß der Direktor sich nicht gerne mit Details befaßte und daß diese 'Unterstützung' mehr als eigenständige Arbeit zu verstehen war, und natürlich, daß sie für eventuelle Fehler geradezustehen hatte, selbst wenn es nicht ihre eigenen waren. Da es in erster Linie um die Sicherheit der Mitarbeiter ging, fühlte sie sich dieser Herausforderung aber gewachsen und freute sich fast ein wenig auf ihren neuen, erweiterten Verantwortungsbereich. Favre käme spätestens in einigen Wochen zurück. Was sollte in der Zeit schon schiefgehen?

Mona sprang laut bellend an ihr hoch und schleckte ihr über den Mund, als sie zurückkam. Francine beugte sich nieder und ließ sich die Liebkosungen gefallen. Als Mona der Meinung zu sein schien, daß sie Francine genügend begrüßt hatte, warf sie sich auf den Rücken und wälzte sich wohlig knurrend auf dem Fußboden hin und her. Francine kniete sich nieder und kraulte Mona am Bauch, bis diese sich schließlich wieder aufrappelte und einmal kräftig schüttelte.

»Ich wünschte, über mich würde sich auch jemand so freuen«, sagte Jacques neidisch, der gerade um die Ecke kam. »Aber im Ernst. Du wirkst gerade, als hättest Du den Hauptgewinn gezogen.«

»Vielleicht habe ich das. Vielleicht haben wir das. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.«

 

Kapitel 7 - Amélie (06.01.2017)

Amélie lebte eigentlich in Cambridge. Wenn sie nicht gerade während eines Forschungstrimesters in Paris wissenschaftliche Magazine infiltrierte, unterrichtete sie hier als Fellow am St. John's College Kriminologie und Psychologie sozialer Gruppen.