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Der Auftakt der HOBDA-Reihe. Kommt mit auf die Reise und lernt Nojell und Kjell kennen. Klappentext: Nojell lebt mit ihrer Mutter am Rande der Kleinstadt Holychester und freut sich auf ihren achtzehnten Geburtstag. Kjell hat währenddessen geheimnisvolle Visionen und recherchiert heimlich in der Lilthorpe Academy. Durch den Angriff eines Dämonen landen beide bei HOBDA - und erfahren, dass sie Zwillinge sind. Ihre Familien haben sie belogen und sie müssen ihr bisheriges Leben hinter sich lassen. In der hexischen Organisation zur Beobachtung dämonischer Aktivitäten müssen sie lernen, ihre Fähigkeiten einzusetzen und am Ende nicht weniger als die Welt der Menschen und Hexenden retten.
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Seitenzahl: 285
Veröffentlichungsjahr: 2023
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An mein 15-jähriges Ich: Du hast es geschafft!
Die nachfolgenden Inhaltsnotizen sind für die Menschen, die diese benötigen. Solltet ihr nicht dazugehören, viel Spaß beim Lesen.
Familiäre Probleme
Trennung
Flucht
Verfolgung
Körperliche Gewalt
Verletzungen
Militärszenario
Ein Glossar befindet sich hinten im Buch!
PROLOG
NOJELL
KJELL
NOJELL
KJELL
NOJELL
KJELL
NOJELL
KJELL
NOJELL
KJELL
NOJELL
KJELL
NOJELL
KJELL
NOJELL
KJELL
NOJELL
NOJELL
KJELL
NOJELL
NOJELL
KJELL
KJELL
NOJELL
NOJELL
NOJELL
NOJELL
KJELL
KJELL
KJELL
NOJELL
KJELL
KJELL
KJELL
NOJELL
EPILOG
Hektisch riss ich die Tür des Kleiderschranks auf und zog die erstbesten Sachen heraus. Ohne hinzusehen, schmiss ich sie über meine Schulter in den Koffer, der auf dem Bett stand.
»Solltest du dich nicht lieber ausruhen?«, fragte meine Schwester. Ihre haselnussbraunen Augen verfolgten wachsam jede meiner Bewegungen.
»Dein Trank hat geholfen.« Ich hoffte, dass sie sich dadurch beruhigen ließ. Der Stärkungs- und Heiltrank, den sie mir vor zwei Stunden gegeben hatte, wirkte Wunder. Ich konnte wieder stehen und hatte keine Schmerzen mehr, zumindest im Moment. Dass ich mich so kurz nach der Geburt der Zwillinge wieder so schnell bewegen konnte, war erstaunlich. Die Zwillinge … Ich musste mich beeilen.
Meine Schwester seufzte und drückte mich vorsichtig aufs Bett. Seelenruhig begann sie, die Kleidung mit ihrer Magie aus dem Schrank zu holen und gefaltet in den Koffer zu legen. Sie war eine Windhexe und hatte Levitation schon als Kind beherrscht. Auch meine wahllos herausgezogenen Stücke waren nun gefaltet und ordentlich im Koffer gestapelt. Doch der Zeitdruck war immer noch da und es kam mir so vor, als würde alles sehr viel länger dauern als sonst. Dabei war es wahrscheinlich sogar schneller. Wäre die Geburt nach Plan verlaufen, hätten wir erst in vier Tagen packen müssen. Denn bald würden meine Eltern hier auftauchen und ihren Enkel sehen wollen. Von dem Mädchen wussten sie nichts, und das war auch besser so.
Unruhig wippte ich mit dem Fuß. »Schlafen die beiden?« Ich blickte auf meine Hände und strich die schweißnassen Innenflächen an meiner Hose ab.
»Sie sind sehr ruhig, was seltsam ist. Sie müssten merken, dass wir alle sehr gestresst sind. Sie sind wirklich außergewöhnlich.« Meine Schwester schloss den Koffer sorgfältig, hob ihn vom Bett und stellte ihn neben die Tür.
Sie legte ihre Hände auf meine Schultern und sah mich eindringlich an. »Geld habe ich dir in einen Umschlag gepackt, zusammen mit Papieren für euch zwei. Alles ist unten im Rucksack. Damit solltest du auskommen, bis du einen Job und eine Wohnung hast.«
Ich schluchzte. Die ganze Situation zerrte an meinen Nerven, es war zu viel. Besonders als ich von den Papieren hörte, überwältigte mich meine Lage. Ich stand auf.
»Danke … einfach danke, dass du uns so hilfst. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde.«
Sie nahm mich in den Arm und drückte mich an sich.
»Ich würde alles für dich tun. Du bist meine kleine Schwester, wir halten immer zusammen! Natürlich bin ich hier, und helfe dir auch jetzt.« Nun kamen auch ihr die Tränen. »Ich werde dich so vermissen.«
Sie war, genau wie ich, keine Freundin von Abschieden. Es würde vielleicht das letzte Mal sein, dass ich sie sah. Meine große Schwester, die mir all die Jahre zur Seite gestanden hatte und die gerade in den letzten Monaten neben meinem Mann die größte Stütze gewesen war. Einen Augenblick genehmigten wir uns, dann lösten wir die Umarmung und wischten die Tränen weg. Wir hatten keine Zeit, nicht für so etwas, nicht jetzt, auch wenn es uns das Herz zerriss.
Gemeinsam gingen wir nach unten ins Wohnzimmer. Meine Schwester ließ den Koffer zum Rucksack schweben, der dort schon auf mich wartete. Mein Blick wanderte zu meinen kleinen süßen Babys, die entspannt in ihren Tragetaschen lagen.
»Es ist alles gut, beide schlafen«, sagte mein geliebter Mann und Vater der beiden Kinder. Er lächelte sanft.
»Sie sind wunderschön«, sagte ich, mehr zu mir selbst. Wie gebannt sah ich auf meine kleinen Lieblinge und erschrak, als mich mein Mann umarmte. Ich lehnte mich verzweifelt an ihn und versank in seinen grünen Augen.
»Ich liebe dich«, flüsterte ich.
»Ich liebe dich auch.«
Meine Schwester wischte sich verstohlen über das Gesicht. Mir kamen wieder die Tränen und ich schmiegte mich an meinen Liebsten. Ein letztes Mal.
»Wir bereiten hier alles vor, in der Zeit kannst du fliehen«, erklärte meine Schwester und zerstörte damit unseren Moment inniger Zweisamkeit.
Mein Mann sah mich eindringlich an. »Pass auf die Kleine auf. Wenn du einen Wohnsitz hast, schick uns eine Notfallnummer. Unsere hast du ja. Wenn etwas schiefläuft, melde dich!« Er küsste mich. Ein letztes Mal.
»Mach ich.« Ich löste mich von ihm und schulterte den Rucksack. Mein neues Leben befand sich darin, und ich konnte nur hoffen, dass alles gut ging.
»Lebt wohl, meine Lieben.« Ich blickte meinen Mann und meine Schwester an. Dann beugte ich mich zu den beiden Babytragetaschen hinab und gab dem Jungen einen Kuss auf die Stirn. Eine Träne tropfte auf seine Wange und ließ ihn unruhig werden. Sanft wischte ich sie weg.
»Leb wohl, mein kleiner Engel.«
Ich hob die zweite Tragetasche an. In ihr lag mein Mädchen und schlief in aller Ruhe. Dann hörte ich eine Windböe hinter mir, ohne dass ein Luftzug zu spüren war. Meine Schwester öffnete ein Portal, das als kleiner Wirbelsturm an der Wand begann und immer größer wurde, damit ich hindurchschlüpfen und flüchten konnte. Denn nichts anderes war das hier: eine Flucht. Ein Sprung ins Ungewisse.
Ich ergriff den Koffer und ging auf das Portal zu. Je größer die Öffnung wurde, desto lauter wurde das Rauschen des Windes.
»Das Portal bringt dich zum Bahnhof. Leg am besten erst mal einen Schleier auf dich, wir bereiten dein Double vor.« Meine Schwester schien sich sehr stark konzentrieren zu müssen, um den Zauber aufrechtzuerhalten, denn sie sprach sehr langsam.
»Danke.« Ich straffte meine Schultern und ging durch das Portal. Ein kühler Lufthauch streifte mein Gesicht. Dann war alles still. Ich stand auf dem Bahnsteig und war allein.
Die Sonnenstrahlen wärmten mein Gesicht. Ich konnte nicht anders und schloss die Augen. Dieser Samstag war wunderschön. Ich war mit meiner besten Freundin Beth in die Stadt gegangen, ein wenig bummeln, und jetzt schleckten wir auf dem Heimweg unser Eis. Es war sehr warm, doch gerade das sorgte dafür, dass wir noch öfter unterwegs waren. Wer wusste, wann das Wetter umschlagen würde? Immerhin war April, der machte bekanntlich, was er wollte.
Da ich mich noch gar nicht an diese Temperaturen gewöhnt hatte, hatte ich meine langen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden. Mein schräger Pony schirmte meine Augen zumindest ein wenig vor der Sonne ab. Wobei ich meine helle Haut hätte eincremen müssen. Hoffentlich bekam ich keinen Sonnenbrand.
Beth hatte damit gar keine Probleme. Mit ihren kurzen Haaren und ihrer hellbraunen Haut war sie perfekt für das Wetter gerüstet. Sie fragte mich immer wieder, ob ich mir nicht einen feschen Pixie zulegen wollte. Aber darauf konnte sie lange warten.
Wenn ich so an das warme Wetter dachte, war ich wieder aufgeregt. In fünf Tagen war endlich mein achtzehnter Geburtstag. Ein Meilenstein im Leben eines jeden Teenagers, zumindest hier in England, weil ich dann endlich volljährig war.
Vor Beths Haus nahmen wir uns in den Arm und verabschiedeten uns voneinander. Ich musste noch ein Stück weiter und winkte ihr zum Abschied.
Summend verließ ich die Neubausiedlung. Holychester war nur eine Kleinstadt, doch gab es mittlerweile zwei dieser Neubaugebiete. Die Stadt wuchs und wuchs. Das Haus, in dem ich lebte, war ein Stück außerhalb. Zumindest noch. Eine leicht zu übersehende Ausfahrt an einer Nebenstraße. Früher hatte ich das geliebt: abgeschieden von der Welt. Ich konnte spielen, so laut und viel ich wollte, und es hatte niemanden gestört. Inzwischen fand ich es nervig, weil kein Bus fuhr und ich laufen musste.
Gedankenversunken ging ich durch das Eingangstor. Ich verstand immer noch nicht, warum meine Mum diese zwei Meter hohe Mauer hatte bauen lassen. Wir waren mitten im Wald, hierher würden sich nur Rehe verlaufen. Doch sie empfand es als wichtig, das eigene Heim zu schützen. Vor wem oder was auch immer.
Ich schloss die Haustür auf und hörte meine Mum in der Küche hantieren.
»Ich bin zu Hause«, rief ich.
»Perfektes Timing, mein Schatz, das Essen ist gerade fertig!«
Ich zog die Schuhe aus, stellte meinen Rucksack an den Treppenabsatz und folgte dem verführerischen Duft der besten Käsesuppe der Welt. Meine Mum stellte gerade die Teller auf den Esstisch und mir lief das Wasser im Mund zusammen.
»Hast du alle für nächste Woche eingeladen?«, fragte sie und setzte sich zu mir an den Tisch.
»Ja, es haben auch schon alle zugesagt. Ich kann’s kaum erwarten.«
Ich freute mich wirklich sehr auf die Feier. Meine erste Hausparty! Grinsend fing ich an zu essen.
Doch bereits nach wenigen Löffeln wurde mir schummrig. Ich legte das Besteck beiseite, um mich am Tisch festzuhalten. Was war denn nun los?
»Alles okay?«, fragte Mum besorgt.
Ich nickte, musste dann aber den Kopf schütteln. Es wurde nicht besser. »Ich … weiß nicht.« Ich blinzelte ein paar Mal in der Hoffnung, dass meine Sicht sich bessern würde. »Mir ist schwindelig.«
Mum half mir ins Wohnzimmer auf die Couch. Vorsichtig legte ich mich hin und schloss die Augen. »Ich hole dir was zu trinken. Ruh dich aus. Ist dir schlecht? Oder nur schwindelig? Soll ich einen Eimer holen?«
So war sie immer, sobald es mir schlecht ging. Es dauerte einen Moment, bis ich alle Fragen verarbeitet hatte, und ich schüttelte den Kopf. Okay, das war eine schlechte Idee gewesen.
»Nur schwindelig.« Meine Stimme war leise.
Sie ging zurück in die Küche, um einen Tee aus frischen Kräutern zu brauen. Das war ihre Lösung für alles.
Was war nur los? Ja, mir war gestern auch schon schwindelig gewesen, aber nur kurz, und ich war davon überzeugt, dass ich zu wenig getrunken hatte. Immerhin war es sehr schnell warm geworden und da vergaß ich den Flüssigkeitshaushalt schon mal.
Es dauerte nicht lange und Mum kam mit der Tasse Tee wieder. Ich setzte mich langsam auf und nahm einen Schluck. Er war trinkfertig und ich fühlte mich gleich besser. Sie ging wieder in die Küche. Ich nahm noch einen Schluck, stellte die Tasse auf dem Tisch ab und lehnte mich wieder zurück. Leises Klappern deutete darauf hin, dass sie die Küche aufräumte.
Ich atmete konzentriert auf den Schwindel. Dann öffnete ich die Augen und sah mich im Wohnzimmer um. Hatte die Oberfläche des Birkenholzschrankes gerade … geflackert? Ich blinzelte mehrfach, doch es passierte nicht noch mal. Ich hätte schwören können, dass sich das Holz gerade verändert hatte. Es hatte kurzzeitig dunkler ausgesehen. Doch wenn ich es so anstarrte … Nichts. Es war wieder das helle Birkenholz. Ich trank den Tee aus und beobachtete den Schrank, doch er blieb unverändert. Fantasierte ich nun komplett?
Der Schwindel flaute ab, ich stand vorsichtig auf und ging leicht schwankend wieder in die Küche und setzte mich. Ich wollte nicht die ganze Zeit liegen. Jetzt, da das Schlimmste vorbei war, wollte ich etwas essen, vielleicht half das schon.
Mum musterte mich. »Geht’s wieder besser?«
Ich nickte, doch war mir nicht ganz sicher. Ich musste definitiv mehr trinken.
Mum wärmte unser Essen in der Mikrowelle auf und wir aßen weiter.
»Ich … ich weiß, es klingt seltsam. Aber ich glaube, der Schrank hat gerade geflackert, und es sah so aus, als wären dort Zeichen drauf.« Schon beim Aussprechen hatte ich das Gefühl, Unsinn zu erzählen. »Ich weiß, das klingt total seltsam.«
Meine Mum sah mich skeptisch an. Doch nicht die Art von Skepsis, dass ihr Kind fantasierte, sondern eher die, in der echte Sorge mitschwang.
»Ja, das klingt seltsam. Vielleicht lag’s wirklich am Schwindel. Geht’s dir besser?«
Wieder nickte ich. »Ja, der Tee hat geholfen. Danke.«
»Die richtigen Kräuter haben schon immer geholfen«, sagte sie und schmunzelte.
Irgendwann musste sie mir mal ihre Zusammensetzungen der Tees erklären, die alle in einem speziellen Verhältnis gemischt waren. Ich selbst kannte nur einzelne Kräuter.
Ich nahm meinen Rucksack und ging nach oben in mein Zimmer. Nachdem ich das Licht eingeschaltet hatte, sah ich mich misstrauisch um. Alles wirkte wie immer. Das breite Bett zu meiner Rechten, der Schreibtisch am Fußende, das Doppelfenster mir gegenüber und der Kleiderschrank und der Bücherschrank zu meiner Linken. Die Möbel hatten den warmen Ton des Akazienholzes. Keine Zeichen, nichts Ungewöhnliches.
Ich stellte den Rucksack ab, zog eine bequeme Jogginghose an und setzte mich an den Schreibtisch. Normalerweise hörte ich bei meinen Hausaufgaben Rockmusik, aber gerade war ich zu aufgewühlt. Es hatte so real ausgesehen. Das Holz hatte dunkel, fast schwarz gewirkt und überall auf den Schranktüren hatten helle Zeichen geglüht. Das konnte schlecht Einbildung gewesen sein. Materialien veränderten ihre Oberfläche nicht. So etwas passierte nicht.
Blau wie das Meer. So schön und klar strahlte mich ein Augenpaar an. Nicht irgendeines. Ein bestimmtes. Haselnussbraunes Haar umspielte das schmale Gesicht. Eine Hand tauchte auf, klein, zierlich. Sie strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Ein Lächeln, so sanft und voller Ehrlichkeit und Liebe, blickte mir in die Seele.
Ich schreckte hoch und sah mich um. Niemand war hier: keine Augen, kein Mädchen. Mein Blick schweifte durch mein Zimmer und fiel auf die Unterlagen, die sich vor mir auftürmten. Seufzend strich ich mir die Haare aus dem Gesicht. Ich trug sie am Oberkopf länger als an den Seiten und hatte mir diese Geste angewöhnt.
»Schon wieder …«
Es war nicht das erste Mal, dass ich sie gesehen hatte. Nicht das erste Mal, dass ich so eine Vision hatte. Seit Tagen kamen sie immer wieder, immer häufiger. Ich kannte das Mädchen nicht, zumindest nicht persönlich. Doch sie war mir vertraut, als wäre ich mit ihr aufgewachsen. Vertrauter als jeder Mensch, der seit Jahren an meiner Seite war. Ihre meerblauen Augen, ihr haselnussbraunes Haar.
Mit einem Kopfschütteln versuchte ich, ihr Bild zu vertreiben. Dann sammelte ich meine Hausaufgaben für Dämonologie zusammen, steckte sie in den Rucksack und sah mich noch einmal um. Die Visionen sorgten dafür, dass ich mich nicht wirklich hier fühlte. Doch ich war zu Hause. In meinem Zimmer. Hier war kein Mädchen. Nur Validris, meine Sperbereule, saß in seiner Voliere und schlief. Der Vogelkäfig nahm fast die ganze Wand ein und war durch eine Klappe mit einer Erweiterung an der Außenwand verbunden. Durch eine Öffnung konnte er jederzeit hinaus und jagen. Dafür war die Tür in mein Zimmer immer offen.
Validris war mein Seelenpartner. Er hatte mich gesucht und gefunden und stand mir bei. Nur Hexenden war dies vergönnt. Sie sahen aus wie Tiere, waren aber eher Geister, die uns im Leben begleiteten. Sie verhielten sich teilweise sehr menschlich, merkten, wenn ihre Hexenden ein Leid plagte. Wenn die hexende Person starb, dann auch der Seelenpartner.
Seufzend stand ich auf, nahm meinen Rucksack und sah noch einmal in den Spiegel. Meine hellbeige Haut hatte eine grünliche Nuance. Die Visionen gingen echt an die Substanz. Mir war danach immer ein wenig schwindelig.
Ich ging zur Treppe. »Dad, ich gehe noch mal zur Akademie. Ich brauch noch ein paar Unterlagen für meine Hausaufgaben!«
»Mach das, bis später!«, rief er von unten zurück.
Ich drehte mich um und ging auf die Wand gegenüber meiner Zimmertür zu. Hell leuchtende Runen waren in die Holzvertäfelung eingelassen. Ich strich über drei der Zeichen und das Rauschen eines Windes ertönte, ohne dass er zu spüren war. Ein Portal entstand und wurde schnell größer. Solche festen Portale waren Standard für Haushalte, die Junghexende an die Lilthorpe Akademie schickten. Immerhin konnten sie noch keine Portale erschaffen. Mal davon abgesehen, dass meistens nur Windhexende dazu in der Lage waren. Wer kein Portal im eigenen Haus wollte, konnte auch in der Akademie leben, die an ein Internat angeschlossen war. Das Portal hier im Haus war auf mich und meinen Vater registriert und nur durch uns zu aktivieren.
Ich durchschritt das Portal und ein kalter Windhauch strich über meine Haut. Es fühlte sich ein wenig eklig an, als würde ich nach einem heißen Sommertag in kaltes Wasser springen. Als Feuerhexer mochte ich es eher warm.
Die große Eingangshalle öffnete sich vor mir. An den dunklen Marmorboden und die holzvertäfelten Wände musste ich mich jedes Mal neu gewöhnen. Auf dem Boden prangte ein Pentagramm mit dem Symbol für ein Element an jeder Spitze. Die Halle wurde von mit Kerzen versehenden Kronleuchtern sowie Kerzenhaltern an den Wänden erhellt, schwere Holztüren führten hinaus. Studierende betraten und verließen schwatzend die Halle. In der Akademie war immer was los. Einige hatten noch Unterricht, andere waren gerade im Selbststudium. Ich nickte dem Lehrhexer zu, der die Obhut über die Halle hatte und von hier aus die Portale zurück öffnete.
Mein Weg führte mich in die Bibliothek. Ich hatte mein Studium der Magie vor elf Jahren an der Lilthorpe Akademie begonnen, ich kannte diesen Ort in- und auswendig.
»Du noch hier?«, fragte mich eine vertraute Stimme. Glenn, mein bester Freund, klappte sein Buch zu und stand von der Bank neben einem Wasserspender auf. In dem dunklen Gang mit der spärlichen Beleuchtung hatte ich ihn gar nicht gesehen.
»Wieder, ich möchte etwas nachlesen«, erklärte ich.
Er folgte mir. »In der Bibliothek sehe ich dich selten. Habt ihr nicht alle Schulbücher zu Hause?« Seine hellbraunen Augen sahen mich fragend an.
»Haben wir auch, aber nichts zu diesem Thema.«
Die Bibliothek erstreckte sich über mehrere Stockwerke. Es roch nach Staub, alten Büchern und, je nachdem, in welche Abteilung es mich verschlug, nach Leder oder Kräutern. Neue Literatur war hier eher nicht zu finden.
Wir gingen in den obersten Stock, in die Abteilung hexischer Märchen und Sagen. Die war nicht stark besucht, da Märchen und Sagen nicht zum normalen Unterrichtsstoff gehörten, und wir konnten in Ruhe reden.
»Also, was suchen wir?« Glenn stellte seinen Rucksack ab und holte seine Trinkflasche hervor. Er nahm einen großen Schluck und sah mich dann neugierig an.
»Seit zwei Tagen habe ich Visionen, scheinbar eine neue Fähigkeit. Aber ich sehe keine wirren Dinge, sondern eine Person. Ein Mädchen. Sie lächelt und strahlt mich an. Doch ich kenne sie nicht, ich habe sie noch nie gesehen.«
Glenn blickte mich irritiert an. Dabei entglitt ihm die Wasserflasche. Doch bevor sie auf dem Boden aufkommen konnte, blieb sie in der Luft hängen. Sie schwebte langsam wieder in Glenns Hand und er schraubte sie zu. Glenn war ein Windhexer. Er grinste und stellte die Flasche ab. War klar, dass er das nun spannend fand. Ich, der nie über andere Hexende redete, hatte Visionen von einer Frau.
»Alles klar, Visionen. Dann schauen wir mal, was wir finden.«
Ich war ihm dankbar, dass er voller Tatendrang dabei war. Wir teilten uns auf und suchten nach entsprechenden Büchern. Mit großen Stapeln gingen wir zu einem der Tische und begannen zu blättern. Einige Stunden und viele Seiten später lag Glenn auf den Büchern und döste.
»Was suchen die Herren denn hier so intensiv?«
Glenn schreckte von seinem Buch hoch und blickte verschlafen zu Großhexer Parris. Dieser schaute sich die Bücher an und blätterte durch das, welches ich mir gerade angesehen hatte: Visionen erkennen und richtig deuten. Wir waren ertappt worden. Auch wenn wir eigentlich nichts Verbotenes getan hatten.
»Ein neues Projekt oder eine spezielle Hausaufgabe?«
Ich atmete durch. Darüber zu reden, fiel mir noch schwer, dabei war es eigentlich nichts Schlimmes. Doch es auszusprechen, machte es wahr.
»Nichts von beidem, Großhexer Parris. Seit zwei Tagen habe ich Visionen und ich weiß nicht, woher diese Kraft plötzlich kommt. Sie war einfach da und ich will verstehen, was es damit auf sich hat.« Im Augenwinkel sah ich, wie sich Glenn den Schlaf aus den Augen wischte.
»Lass es zu, Kjell, sträube dich nicht. Neue Kräfte kommen zu den seltsamsten Zeiten, und wir wissen nie, wofür sie gut sind. Was hast du gesehen?«
Der Großhexer wirkte ehrlich interessiert und gar nicht wütend. Normalerweise mussten wir melden, wenn sich neue Fähigkeiten zeigten. Es kam selten vor und manchmal verschwanden sie schnell wieder. Und dann gab es Fähigkeiten, die sehr schnell außer Kontrolle geraten konnten. Visionen gehörten zum Glück zu den harmlosen.
Ich sah auf einen der alten Buchdeckel, oder vielmehr durch das Buch hindurch, und versuchte, mich an die Details zu erinnern. Es war mir peinlich und ich spürte, wie mein Gesicht warm wurde.
»Ein Mädchen sehe ich, immer wieder. Nur das Gesicht. Ich sehe ihre Augen, ihre Haare, ihr Lächeln. Aber das war’s.« Mein Blick ging zum Großhexer. »Mehr nicht.«
Er wirkte nachdenklich.
»Wer weiß. Vielleicht wirst du sie noch kennenlernen. Visionen können vieles bedeuten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Freue dich auf den Moment, in dem du ihr gegenüberstehst.« Der Großhexer nickte uns zu und ging zu einer anderen Schülergruppe.
Nach dem Wälzen der Bücher trieb uns der Hunger in die Mensa. Der Duft von Basmatireis, Erbsen und Frittiertem ließ meinen Magen knurren. Mit einem vorgewärmten Teller bewaffnet ging ich zur großen Theke. Dahinter wartete eine der Küchenhilfen auf meine Bestellung. In der Akademie stand eine gesunde Ernährung an der Tagesordnung. Viel Gemüse, gutes Fleisch in geringen Mengen, frisches Obst. Die obersten Hexenden sagten immer: »Eine gesunde und ausgewogene Ernährung führt zu starker Magie.«
Mit vollen Tellern beladen gingen wir zu den Sechsertischen. Glenn setzte sich mir gegenüber.
»Glaubst du, du lernst sie noch kennen?«
»Wer weiß. Wenn der Großhexer sagt, dass es passieren kann … Ich kann mich nicht erinnern, sie je gesehen zu haben, also wird es wohl die Zukunft sein.«
»Vielleicht bin ich ja dabei, wenn du auf sie triffst.« Sein Grinsen wurde breiter.
Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln und stocherte in meinem veganen Frikassee. War klar, dass Glenn das miterleben wollte. Gerade ich, der nie ein Date hatte und auch niemanden in dieser Akademie interessant fand, hatte Visionen von einem Mädchen. Glenn konnte es wahrscheinlich noch weniger erwarten als ich selbst.
»Was hast du bei Aufgabe drei?« Ich hoffte, dass ich sie diesmal richtig hatte.
»Zweiundvierzig«, sagte Beth.
Erleichtert lehnte ich mich zurück. »Okay, ich auch.«
Mathe war so gar nicht meins. Umso glücklicher war ich, dass Beth ein ziemliches Mathe-Genie war und wir die Hausaufgaben zusammen machten. So konnte sie mir noch mal erklären, wie es funktionierte. Da dies die letzte Aufgabe gewesen war, packte ich alles ein. Mathehausaufgaben an einem Sonntag, der tragische Abschluss eines Wochenendes.
»Glaubst du, Jack kommt wirklich zu deiner Feier?«
Mir stieg die Hitze ins Gesicht. Nervös strich ich mir eine lange Ponysträhne aus dem Gesicht. »Er hat zumindest zugesagt. Ich hoffe doch, dass er kommt.« Ich musste kichern. »Er ist schon echt süß.«
Jack war in unserer Parallelklasse. Jedes Mal, wenn ich ihn ansah, sah er auch zu mir. Jedes Mal, wenn wir reden wollten, verwickelte ihn einer seiner Freunde in ein Gespräch. Ihm die Einladung für die Feier zu geben, war gar nicht so einfach gewesen. Ich hatte mich dafür extra vor der ersten Stunde zu seinem Spind geschlichen und sie verschwörerisch eingeworfen. Die Antwort hatte ich auf die gleiche Weise erhalten.
Die Feier nächstes Wochenende war meine Chance. Endlich würde ich die Zeit nutzen und mit ihm reden. Meine Mum hatte mir ein kleines Buffet versprochen und würde sich den Rest des Abends in ihrem Kräuterzimmer verkriechen. Für viele wäre es peinlich, dass ihre Mum zu Hause war, wenn sie feierten. Ich hatte damit absolut kein Problem. Meine Mum war die coolste.
»Wird deine Mum wieder die Nacht vor deinem Geburtstag weggehen?«
»Ich denke schon. Bis jetzt hat sie nichts anderes gesagt. Nur weiß ich immer noch nicht, wohin sie geht.«
Vor zwei Jahren war ich ihr gefolgt, doch ehe ich mich versah, war sie weg gewesen und ich war allein zurück nach Hause gegangen. Es war ein Mysterium und bis jetzt hatte ich es nicht gelöst. Wenn ich fragte, gab sie mir nie eine klare Antwort: »Das erkläre ich dir später in aller Ruhe.« Doch wann dieses Später war, sagte sie nie.
»Glaubst du, sie hat einen Freund?«
Ich schüttelte den Kopf. »Den sie nur an acht Abenden im Jahr besucht? Ich glaube eher nicht. Oder ich kann es mir zumindest nicht vorstellen. Wenn sie einen Freund hätte, könnte sie es mir ja auch sagen.«
Nachdenklich nippte ich an meinem Glas Wasser. Dieses Gespräch führten Beth und ich mindestens acht Mal im Jahr. Und nie kamen wir auf ein zufriedenstellendes Ergebnis.
»Wer weiß. Sie arbeitet ja in diesem Esoterikladen, vielleicht geht sie zu irgendwelchen okkulten Abenden«, kombinierte Beth.
Ich sah sie an. Das wäre sogar logisch. Darauf waren wir noch nicht gekommen.
»Aber warum erzählt sie mir dann nie etwas davon? Das ergibt auch keinen Sinn. Sie macht jedes Mal ein großes Geheimnis daraus, obwohl sie sonst immer sehr ehrlich zu mir ist.« Zumindest hatte ich das Gefühl.
»Und dein Vater? Hat sie dazu mittlerweile was gesagt? Du wolltest dranbleiben.«
Ich schüttelte den Kopf. Alles Sackgassen. Meine Mum war ein wandelndes Mysterium mit einem Faible für Kräuter.
»Nein, leider nicht. Sie hat ihn nie erwähnt. Und wenn ich nachfrage, wird sie immer abweisend und lenkt vom Thema ab. Das Einzige, was ich von ihm gesehen habe, ist ein Bild, das auf ihrem Nachttisch stand.«
Mein Handy kündigte piepend eine Nachricht an.
»Wo wir gerade von meiner Mum sprechen: Ich muss mich langsam auf den Weg machen.«
Ich schulterte meinen Rucksack, verabschiedete mich von Beth und machte mich auf den Heimweg.
Das Wetter war genauso schön wie gestern. Die Sonne schien und es war angenehm warm. Wenn so der Sommer werden würde, wäre ein Saisonticket für das Freibad echt ein Gewinn.
Eine Gänsehaut schlich mir den Nacken hinauf und ich blieb stehen. Was war das? Ich sah mich auf der Straße um. Warum hatte ich das Gefühl, es wäre jemand da? Ich spürte Gefahr. Ging schneller, rannte fast. Zuerst öffnete ich das Eingangstor, dann die Tür und schloss sie schnell wieder. Erst dann atmete ich auf. Das Gefühl, beobachtet zu werden, war weg.
»Schatz, bist du es?«
»Ja, ich bin es.«
Kopfschüttelnd zog ich meine Schuhe aus. Was war das denn bitte gerade gewesen? Ich wurde doch gar nicht verfolgt. Was für eine seltsame Situation. Ich ging in die Küche und sah einen Zettel auf dem Tisch.
Meine Mum stellte uns zwei Teller Eintopf hin.
»Denkst du, das reicht für die Feier?«
Ich setzte mich und überflog die Liste.
»Mum, wenn du das alles kochst, können wir noch drei Wochen davon leben. Du musst nicht so übertreiben.«
Sie hatte von süßen Snacks bis zu Herzhaftem alles aufgeschrieben, was ich gern aß, plus vegetarische, vegane und glutenfreie Alternativen.
Sie kicherte. »Ich übertreibe doch gar nicht. Du wirst nur einmal im Leben achtzehn und das müssen wir feiern. Gerade wenn Freunde ins Haus eingeladen sind. Dazu braucht es doch eine gewisse Auswahl.«
Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Meine Mum hatte einen Dickkopf. Sie würde sich nie davon abhalten lassen, das alles zuzubereiten, also war jede weitere Diskussion unnötig.
Wir aßen den Eintopf auf, ich räumte das Geschirr in die Spülmaschine und Mum ging in den Garten. Ich schnappte mir das Buch, das ich im Wohnzimmer liegen gelassen hatte, und folgte ihr nach draußen. Mein Weg führte mich zu den Gartenstühlen auf der kleinen Terrasse. Ich setzte mich und genoss mit geschlossenen Augen die warmen Sonnenstrahlen.
Zwischendurch blickte ich zu meiner Mum, die mit ihrem Kräutergarten beschäftigt war. Sie jätete Unkraut und prüfte, ob die Pflanzen gut wuchsen. Dank des schönen Wetters waren die Kräuter in die Höhe gesprossen. Wenn ich das richtig erkannte, waren auch die Tomaten schon groß und die Kohlrabis wuchsen schneller, als ich gucken konnte. Die Setzlinge hatte sie im Gewächshaus gezogen. Sie sagte immer, die Eisheiligen müssten erst vorbei sein, dass aber einige Setzlinge auch vorher raus könnten. Doch so, wie die Kohlrabis gestern Morgen ausgesehen hatten, fragte ich mich, ob die noch gut zwei Wochen warten konnten.
Ich begann zu lesen. Doch lange konnte ich mich nicht konzentrieren und so beobachtete ich weiter meine Mum. Sie hatte einen unglaublichen grünen Daumen. Im ganzen Haus hingen Kräuterbündel zum Trocknen, überall blühten und gediehen Pflanzen. Das Grundstück war eine Oase und es roch nach frischen Kräutern und Gewürzen. Ich hoffte, dass ich irgendwann auch mal so gut mit Pflanzen umgehen konnte. Zwar hatte sie mir ein paar grundlegende Sachen beigebracht, wie dass Kamille bei Entzündungen half oder Fenchel und Salbei gut für den Hals waren, aber ihre Tricks fürs Anpflanzen wollte sie mir noch nicht verraten. Da wurde ich immer vertröstet.
Da war es wieder, dieses Später. Wenn ich mir mal eine Pflanze gekauft hatte, war sie nach kurzer Zeit gestorben, selbst der Kaktus. Ich war mir nicht sicher, ob da ein Später helfen würde.
Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden, und nahm mir wieder das Buch. Diesmal lief es mit der Konzentration besser. Mum und ich gingen schweigend unserer Tätigkeit nach. Es war kein unangenehmes Schweigen, sondern ein harmonisches. Wir brauchten nicht viele Worte. Manchmal war diese Stille sehr entspannend.
Plötzlich sah ich im Augenwinkel, wie sich etwas bewegte, und zuckte erschrocken zusammen.
Mum drehte sich zu mir, die Schaufel in der Hand.
»Was ist los?!«
Ich zeigte auf den Himbeerstrauch gegenüber. Hier kam nichts und niemand rein, die Mauern waren zwei Meter hoch. Mum pirschte sich an den Himbeerstrauch an, die kleine Gartenschaufel wie eine Waffe erhoben. Blitzschnell griff sie unter den Busch.
In ihrem festen Griff mauzte ein Kätzchen. Ein kleines, zerzaustes, dreckiges, schwarzbraunes Kätzchen. Es zappelte und schrie, als würde es verhungern. Mum zupfte einen Zweig aus dem Fell des kleinen Knäuels.
»Ist die niedlich! Glaubst du, sie gehört jemandem?«
Mum sah sich die Katze genauer an, überprüfte, ob sie ein Halsband trug. Das Kätzchen schlug mit der Pfote nach ihrer Hand.
»Ich glaube nicht, dass sie ein Zuhause hat. Sie hat zumindest kein Halsband.«
»Darf ich sie behalten?« Die Frage kam mir schneller über die Lippen, als ich denken konnte. Haustiere waren nie ein Thema gewesen. Ich hatte aber auch nie eins haben wollen. Doch jetzt gerade wollte ich die Kleine so gern behalten. Ihre blauen Augen schienen genauso zu strahlen wie meine.
An Mums Gesicht konnte ich sehen, dass sie mit sich haderte. Doch dann nickte sie.
»Du darfst sie behalten. Wenn sie es schon hierhergeschafft hat, wird sie dich wohl gesucht haben.«
Sie legte mir das Kätzchen in die Hände.
»Aber zuerst machst du sie sauber, so kann sie nicht ins Haus. Vergiss nicht, sie abzutrocknen, sonst macht sie alles nass. Morgen besorge ich Futter und ein Katzenklo. Ach, und geh bitte alle paar Stunden mit ihr in den Garten, bis wir das Katzenklo haben. Nicht, dass sie auf die Couch macht.«
Ich nickte eifrig. »Mach ich!«
Dann drehte ich mich um und trug die Kleine ins Haus. »Du bist echt ein Dreckspatz. Das müssen wir ändern: Ab mit dir unter die Dusche.«
»Miau!«
Wie süß. Als hätte sie mich verstanden und mir geantwortet.
Hinter mir hörte ich noch ein empörtes Krähen. Manchmal war ein Rabe im Garten, den meine Mum fütterte. Zu ihr war er zutraulich, zu mir leider gar nicht. Vielleicht hatte er nun Sorge, dass dieses süße Fellknäuel ihm das Revier streitig machte.
Kräuterlehre. Den grünsten Daumen hatte ich echt nicht und stumpf alles aufzuschreiben, war eigentlich nicht die beste Art, zu lernen. Aber genau das war die Hausaufgabe.
Glenn und ich saßen wieder in der Bibliothek und schrieben Kraut für Kraut ab. Welche Rituale mit ihnen vollzogen wurden und wie sie gepflegt wurden. Spannend war was anderes.
Ein stechender Schmerz zuckte durch meine Schläfe und ließ einen Blitz vor meinen Augen aufleuchten. Dann sah ich sie wieder. Das Mädchen mit den blauen Augen. Doch diesmal war es mehr als ihr Gesicht. Sie lächelte wieder. Und tat dann etwas, das mich überraschte: Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, genauso, wie ich es immer tat.
»Kjell … Kjell!«
Glenn rüttelte mich. Wo war ich? Was war passiert? Großhexer Parris war wieder da. Glenn hatte die Augenbrauen zusammengezogen, während Parris mich forschend ansah. Da wir diesmal nicht so abgeschieden in der Bibliothek saßen, wurde ich auch von anderen Schülern angestarrt.
»Wieder eine Vision, Kjell?«, fragte Großhexer Parris. »Geht es dir gut?«
Ich nickte und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Mit genau der gleichen Geste.
»Hast du deinem Vater davon erzählt?«
»Nein. Ich wollte erst beobachten, ob es einen Mondzyklus bleibt oder vielleicht in einer Woche wieder weg ist.«
Ich lehnte mich im Stuhl zurück und schloss die Augen. Wenn jemand eine neue Fähigkeit hatte, verbreitete sich das wie ein Lauffeuer. Der akademische Buschfunk würde es morgen schon in alle Räume getragen haben.
»Unter diesen Umständen sollte dein Vater informiert werden. Nicht, dass es eine magische Wechselwirkung gibt. Folge mir, wir kontaktieren ihn.«
Großhexer Parris würde kein Nein akzeptieren, also packte ich meine Sachen. Vor seinem Schreibtisch setzte ich mich auf einen der beiden Stühle und beobachtete ihn, wie er eine Nachricht für meinen Vater verfasste. Er öffnete das Tintenfass, nahm die Rabenfeder und schrieb fein säuberlich schmale Zeilen auf das Papier. Das Kratzen des Federkiels war das einzige Geräusch im Raum. Gerade als er die Feder absetzte und zurück in die Halterung steckte, entflammte die große Kerze rechts neben ihm. Stimmt, Großhexer Parris war auch ein Feuerhexer. Er wartete, bis die Tinte getrocknet war, und verbrannte den Zettel.
»Worte fließen,
Worte sprießen,
Worte brennen,
Worte wehen,
Lasst keine Zeit vergehen.«
Es dauerte keine zehn Minuten und es klopfte an der Tür. Mein Vater trat unaufgefordert ein. »Guten Tag, Großhexer Parris. Geht’s Kjell gut?«
Großhexer Parris nickte zum Gruß und deutete auf den freien Stuhl.
»Alles ist gut, Ludovic. Dein Sohn hat eine neue Fähigkeit erworben und diese hat sich in den letzten Tagen manifestiert. Er hat Visionen.«
Mein Vater sah mich überrascht an, dann setzte er sich.
»Kjell? Warum hast du nichts gesagt?«