Der geheimnisvolle Mr. Hyde - Craig Russell - E-Book
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Der geheimnisvolle Mr. Hyde E-Book

Craig Russell

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Beschreibung

Dunkel und atmosphärisch – die andere Geschichte des Mister Hyde.

Edinburgh im 19. Jahrhundert. Edward Hyde, angesehener und zugleich gefürchteter Superintendent der Polizei, hat ein Geheimnis: Er leidet an Epilepsie und weiß oft nicht, wie er in eine bestimmte Situation geraten ist. Als er vor einem Toten steht, der nach einem keltischen Ritual ermordet worden ist, beschließt er, sich seinem einzigen Freund, dem Arzt Dr. Samuel Porteous, zu offenbaren. Doch dann wird auch Porteous ermordet – auf eine ähnlich mysteriöse Art und Weise. Hyde findet heraus, dass sein Freund nur zwei Patienten heimlich sah: ihn und jemanden, den er »das Biest« nannte. Hyde ahnt, dass er den Mörder finden muss, um sich selbst zu erlösen ...

»Stephen King trifft Robert Louis Stevenson ... eine Geschichte, die einem garantiert einen Schauer einjagt.« David Hewson.

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Seitenzahl: 547

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Über das Buch

Edward Hyde, Freund des Schriftstellers Robert Louis Stevenson und Superintendent der Polizei von Edinburgh, hat ein Geheimnis: Ein Form der Epilepsie sorgt dafür, dass er wie aus wirren Träumen erwacht und feststellt, dass Zeit vergangen ist, ohne dass er weiß, wie und was er getan hat. Als er wieder einmal aufwacht, ohne Bewusstsein, wo er genau ist und wie er dorthin gekommen ist, steht er vor einem Leichnam, der gleich dreimal getötet worden ist. Ein Mann wurde erstochen, erhängt, und sein Kopf wurde unter Wasser getaucht. Offenbar ist an ihm ein keltisches Ritual vollzogen worden. Hyde beschließt, sich an seinen einzigen Freund zu wenden, den Arzt Dr. Samuel Porteous, und sich ihm mit der Frage zu offenbaren, ob er selbst etwas mit diesem dreifachen Mord zu tun haben könnte. Dann aber wird auch Porteous auf grausame Weise ermordet – und Hyde findet heraus, dass sein Freund nur zwei Patienten im Geheimen sah: ihn und jemanden, den er "das Biest" nannte. Doch alle Notizen zum Biest sind aus seinen Notizbüchern herausgerissen worden. Ist das Biest der Mörder, den Hyde sucht? Die schöne Ärztin Cally Burr, in die Hyde sich heimlich verliebt, bietet ihm ihre Hilfe an, oder ist sie nur daran interessiert, für andere hinter sein Geheimnis zu kommen? Hyde ahnt, dass er den Mörder finden muss, um sich selbst zu erlösen. Eine albtraumhafte Reise durch das Edinburgh des 19. Jahrhunderts beginnt.      

Über Craig Russell

Craig Russell, Jahrgang 1956, wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, seine Bücher wurden in 23 Sprachen übersetzt. Er lebt in der Nähe von Edinburgh. Im Aufbau Taschenbuch sind die Romane um den Hamburger Ermittler Jan Fabel lieferbar: »Blutadler«, »Wolfsfährte« und »Auferstehung«. Im Aufbau Taschenbuch ist darüber hinaus sein Roman über das Prag der dreißiger Jahre erschienen: »Wo der Teufel ruht«.  

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Craig Russell

Der geheimnisvolle Mr. Hyde

Thriller

Aus dem Englischen von Wolfgang Thon

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Motto

PROLOG

TEIL I — DER GEHÄNGTE

Zwei Jahre zuvor: KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

TEIL II — EINE ZEIT DER VISIONEN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

TEIL III — DER HÖLLE SCHWARZER HUND

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREISSIG

KAPITEL EINUNDDREISSIG

KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG

KAPITEL DREIUNDDREISSIG

KAPITEL VIERUNDDREISSIG

KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG

KAPITEL SECHSUNDDREISSIG

KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG

KAPITEL ACHTUNDDREISSIG

KAPITEL NEUNUNDDREISSIG

KAPITEL VIERZIG

KAPITEL EINUNDVIERZIG

KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG

KAPITEL DREIUNDVIERZIG

KAPITEL VIERUNDVIERZIG

KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG

KAPITEL SECHSUNDVIERZIG

KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG

KAPITEL ACHTUNDVIERZIG

KAPITEL NEUNUNDVIERZIG

KAPITEL FÜNFZIG

TEIL IV — IM SCHATTEN DES DUNKLEN MANNES

KAPITEL EINUNDFÜNFZIG

KAPITEL ZWEIUNDFÜNFZIG

KAPITEL DREIUNDFÜNFZIG

KAPITEL VIERUNDFÜNFZIG

KAPITEL FÜNFUNDFÜNFZIG

KAPITEL SECHSUNDFÜNFZIG

KAPITEL SIEBENUNDFÜNFZIG

KAPITEL ACHTUNDFÜNFZIG

KAPITEL NEUNUNDFÜNFZIG

KAPITEL SECHZIG

KAPITEL EINUNDSECHZIG

KAPITEL ZWEIUNDSECHZIG

KAPITEL DREIUNDSECHZIG

KAPITEL VIERUNDSECHZIG

KAPITEL FÜNFUNDSECHZIG

KAPITEL SECHSUNDSECHZIG

KAPITEL SIEBENUNDSECHZIG

KAPITEL ACHTUNDSECHZIG

KAPITEL NEUNUNDSECHZIG

KAPITEL SIEBZIG

KAPITEL EINUNDSIEBZIG

KAPITEL ZWEIUNDSIEBZIG

KAPITEL DREIUNDSIEBZIG

EPILOG

DANKSAGUNGEN

Impressum

Wer von diesem Thriller begeistert ist, liest auch ...

Für Wendy

»Es war ein Mann namens Hyde.« »Hm«, machte Mr. Utterson. »Nach welcher Sorte Mensch sieht er denn aus?« »Er ist nicht leicht zu beschreiben. An seiner äußeren Erscheinung stimmt etwas nicht – etwas Unangenehmes, etwas regelrecht Widerwärtiges hat er an sich. Noch nie ist mir jemand begegnet, der mir so zuwider war, und doch weiß ich kaum, warum.«

Der merkwürdige Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde Robert Louis Stevenson

PROLOG

Er sah seinen Freund an und wunderte sich, dass er überhaupt noch am Leben war.

Solch ein starker Charakter, eine so machtvolle Persönlichkeit mit solch unbezähmbarer Willenskraft und Entschlossenheit, und das eingepfercht in einem so kleinen und zerbrechlichen Gefäß. Als er die zierliche Gestalt mit den schmalen Schultern und das hagere vogelartige Gesicht betrachtete, das in der hellen Sonne noch blasser wirkte, wusste er, dass sein Freund nicht mehr allzu lange unter den Lebenden weilen würde. Schon jetzt wirkte seine weltliche Präsenz gedämpft, ausgebleicht wie das sich allmählich auflösende Abbild eines Mannes auf einer unfixierten Fotoplatte.

Und die ganze Zeit, während sie auf der Bank saßen, wo sie über den hellen Sand des Strandes und das glitzernde Band des englischen Kanals dahinterblicken konnten, war er sich bewusst, wie sehr seine eigene Robustheit mit der Gebrechlichkeit seines Freundes kontrastierte. Wie den manchmal unbehaglichen Blicken gelegentlicher Passanten zu entnehmen war, war an der Ausstrahlung des größeren Mannes nichts gedämpft.

In der Konversation der beiden gab es immer wieder ausgedehnte Pausen. Nach ihrer langen Bekanntschaft genügte ihnen oft einfach nur das behagliche Beisammensein. Außerdem fürchtete der größere Mann, sein Gegenüber zu ermüden. Es war schon Jahre her, seit sie sich das letzte Mal getroffen hatten, und der körperliche Verfall seines Freundes hatte ihn schockiert.

»Wir sollten bald nach Skerryvore zurückkehren«, sagte der ausgemergelte Mann jetzt. »Fanny wird eine Mahlzeit zubereitet haben.« Trotz der sommerlichen Wärme trug er ein schlecht sitzendes Jackett aus schwerem Baumwollsamt, das von seinen schmalen Schultern herunterhing. Sie hatten darüber geredet, ein verträglicheres Klima aufzusuchen, mit weniger verschmutzter Luft und mehr Sonne. Vielleicht den amerikanischen Westen oder die Südsee. Der massige Mann fragte sich, ob sein Gefährte wohl auch unter einem freundlicheren Himmel dieses Jackett tragen würde und ob sein Teint unter der Sonne irgendwann etwas Farbe bekäme.

»Es liegt vor allem an diesem verdammten Buch«, erklärte der zierliche Mann, ohne den Blick vom Meer zu wenden. Er hatte offenkundig die Besorgnis seines Freundes gespürt. »Es verzehrt mich, frisst an mir – und doch kann ich keinen klaren Rahmen finden, um es zu erzählen. Ich weiß genau, worüber ich schreiben will, ich weiß, dass es im Grunde um eine Geschichte der Dualität der menschlichen Natur gehen muss, über das Gute im Bösen und das Böse im Guten, aber jeden Tag sitze ich aufs Neue vor einer leeren Seite.«

»Die Dualität der menschlichen Natur, sagst du?«, hakte der andere nach.

»Obwohl wir es leugnen«, fuhr der gebrechliche Mann fort, »sind wir alle vielschichtig. In jedem von uns stecken helle Engel und dunkle Dämonen. Dieses Thema verfolgt mich seit meiner Kindheit. Du weißt, dass ich von meinem verstorbenen Vater diese Kommode geerbt habe, die von Dekan Brodie hergestellt wurde. Es ist ein wundervoll gefertigtes Möbelstück, und als Kind habe ich es tagsüber wie ein Wunder bestaunt. Aber in der Nacht … oh, in der Nacht hat allein der Gedanke, dass sie dort in der Dunkelheit stand, mich mit Furcht erfüllt. Ich fantasierte, dass der Geist des anderen Brodie, des nächtlichen Brodie sich mit seiner Bande in unser Haus schleichen und uns alle im Schlaf ermorden würde. Als Junge war ich von Brodies Geschichte besessen. Sie hat sich in die Geschichte Edinburghs eingebrannt. Tagsüber ein prominentes und respektiertes Mitglied der Edinburgher Gesellschaft, in der Nacht der übelste Schurke. Mich plagte ein Albtraum, in dem Brodie in meinem Zimmer auftauchte. Ich konnte im Schatten gerade eben seine große dunkle Gestalt erkennen. Er trug einen Dreispitz und ging durch das Zimmer. Die Werkzeuge seines Berufs schlugen in seinem Beutel klappernd gegen die Pistolen seiner nächtlichen Beschäftigung. Dann beugte er sich über mein Bett, und er hatte das stählerne Band um seinen Hals, das er, wie man sagte, trug, um den Henker zu überlisten. Als er das tat, sah ich beide Brodies gleichzeitig. Sein Lächeln war herzlich und wohlwollend und gleichzeitig ein bösartiges, grausames Grinsen.« Er machte eine kleine Pause.

»Ich habe sie immer noch, weißt du – die Kommode von Brodie, meine ich. Ich habe sie mit hierher nach Skerryvore genommen. Kurzum, Brodies Geschichte fasziniert mich nach wie vor, und ich möchte etwas dieser Art erzählen. Aber nicht einfach nur eine Geschichte über Gut und Böse, sondern über ihre Koexistenz in derselben Persönlichkeit, über all die Schattierungen und Kontraste zwischen ihnen. Über die Dualitäten und die Konflikte in der menschlichen Seele.« Er lachte leise. »Vielleicht ist es mein keltisches Blut, das mich für eine solche Besessenheit empfänglich macht. Oder es liegt daran, dass unser Land selbst eine geteilte Persönlichkeit hat, dass Schottlands zwiespältige Selbstwahrnehmung sich in seinen Söhnen wiederfindet. Was auch immer die Quelle dafür sein mag, es treibt mich jedenfalls, etwas über die Dualität der menschlichen Natur zu schreiben.« Er seufzte, und das Zucken seiner schmalen Schultern ging in dem voluminösen Jackett fast unter. »Nur ist es einfach so, dass ich meine Geschichte offensichtlich nicht zu Papier bringen kann.«

Der größere Mann schwieg eine Weile und richtete seinen Blick dann ebenfalls auf irgendeinen fernen Punkt auf dem Wasser.

»Wenn du wirklich nach solch einer Geschichte suchst«, antwortete er schließlich, »kann ich dir eine erzählen.«

Dann vertraute Edward Hyde unter der hellen, aber freudlosen Sonne von Bournemouth seinem kränkelnden Freund Robert Louis Stevenson seine Geschichte an.

TEIL I

DER GEHÄNGTE

Zwei Jahre zuvor

KAPITEL EINS

Noch nie hatte man so etwas gehört.

Hoch, schrill und rau durchdrang es die Nacht, scharf, bebend, flatternd. Ein Geräusch zwischen einem Jammern und einem Schrei, und dennoch ähnelte es keiner Stimme. Es schien nicht menschlichen Ursprungs zu sein.

Eine mondlose Nacht hatte sich über die Stadt gelegt. Die Dunkelheit erklomm langsam die Flanken des Mound, sickerte durch die Zinnen und Schießscharten des Schlosses, kroch schleichend in die Altstadt und schob ihre dunklen Finger in die schmalen Gassen und engen Höfe; schwarz rieb sie sich an den eleganten Reihenhäusern und Crescents der Neustadt, an den luxuriösen Scheiben der breiten, hohen Fenster. Aber als wäre sie von einer düsteren Schwere, war die Nacht nirgendwo schwärzer als dort, wo sie in die Tiefen des Kanals gesunken war, der die Stadt durchzog und sauberes Wasser aus den Höhen der Pentlands dorthin transportierte, wo es bald schmutzig, dunkel und von Schaum überzogen durch die schattigen Abwasser der Mühlen strömte, die wie an einer Schnur den Water of Leith säumten.

Als jenes Geräusch an ihre Ohren drang, bewegte sich Nell McCrossan wie ein leichter, substanzloser Schatten durch die Dunkelheit. Sie war zierlich für ihre vierzehn Jahre, abgemagert, zart wie ein Vögelchen, und ihre Haut schimmerte in den schwachen Lichthöfen der spärlichen Gaslaternen so hell und weiß wie das Mehl, das die Mühle herstellte, in der sie arbeitete.

Nell war eine furchtsame Seele. Sie fürchtete den Fußweg zu ihrer Schicht, hatte Angst vor der Dunkelheit zwischen den Gaslaternen, ihr bangte vor den schwankenden Schatten der Ulmen und den Stimmen, die sie manchmal über das Rauschen des Flusses zu hören glaubte. Aber sie hatte gelernt, ihren Ohren zu misstrauen. Das Dröhnen und Klappern der Maschinen in der Mühle hatte ihr Gehör geschädigt, hallte in ihren Ohren nach wie geisterhaftes Läuten und verfolgte sie in ihrem Schädel mit geisterhaftem Dröhnen, lange noch, nachdem sie die Mühle verlassen hatte.

Ihre Familie war vor einer Generation aus den Highlands in die Stadt gezogen. Sie hatten aus der grünen Oase von Tälern, Bergen und Schluchten dem höheren Profit der Schafzucht weichen müssen. Die einzige Welt, die Nell je kennengelernt hatte, war die lärmende, beengte und rauchige Welt der Wohnblöcke, die Gassen und Höfe der Altstadt gewesen, und der harsche gutturale Sassenach-Dialekt von Edinburgh. Dennoch hatten das weiche Gälisch ihrer Eltern und die Geschichten einer unsichtbaren Feenwelt ihre Kindheit durchzogen. Als sie jetzt zügig über den von unheimlichen Schatten gesäumten Weg zu ihrer Arbeit in der Mühle hastete, schienen die bedrohlichen Geräusche des glatten tintenschwarzen Flusses aus dem Kanal neben dem Weg nach ihr zu greifen und beschworen in ihrer Erinnerung Geschichten von Seslkies und Kelpies und anderen bösartigen Wassergeistern herauf.

Aber als jener Laut zu ihr drang, fielen alle anderen Ängste von ihr ab, alle Geräusche, reale und eingebildete. Dieses schreckliche, kreischende Jammern schien ihre Haut und ihren dürren Körper zu durchdringen und in ihren Knochen zu klingen. Nell schrie selbst auf, als Furcht in ihr aufstieg und in die Nacht hinauszuströmen schien.

Wieder ertönte es, das bebende, rasselnde Kreischen, das im Kanal widerhallte und von den schwarzen Wänden der Mühlen zurückgeworfen wurde, bis es aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien.

Nell wimmerte, ein Kind allein in der Nacht, das verzweifelt die Dunkelheit nach diesem schrecklichen Wesen absuchte, das so fürchterliche Laute von sich gab, um herauszufinden, in welche Richtung sie fliehen sollte.

Ein drittes Mal ertönte dieses unmenschliche Klagen.

Nell fuhr auf dem Absatz herum und floh, rannte in die Dunkelheit zwischen den Laternenpfosten.

Und lief direkt hinein.

In der Dunkelheit war die Masse unsichtbar gewesen, plötzlich jedoch verfestigte sie sich, als hätten die Schatten sich zusammengeballt, um ein Hindernis für ihre Flucht zu bilden. Die Wucht des Zusammenpralls schleuderte sie zurück, so dass sie schmerzhaft auf dem Boden landete. Ihr Rücken krachte auf die feuchten Pflastersteine. Alle Luft wich aus ihrer Lunge, und sie rang verzweifelt und schmerzhaft nach Atem.

Sie bekam jedoch nicht genug Luft, daher konnte sie nicht um Hilfe rufen, als die Masse sich über sie beugte. Die Silhouette wurde größer, hob sich dunkler vor der schwarzen Nacht ab. Kräftige Hände packten sie, und Nell schrie erstickt auf. Sie hatte noch nicht genug Luft geschöpft, um laut zu schreien. Und immer noch blieb ihr Häscher nicht menschlich und formlos. Sie konnte weder ein Gesicht noch Einzelheiten erkennen.

Die dunkle Kreatur hob sie hoch, als wäre sie vollkommen substanzlos. Sie hielt sie an den Oberarmen gepackt, und Nell spürte, dass es dieses Monster keine Mühe kosten würde, ihr die Knochen zu brechen. Es trug die vollkommen hilflose Nell in den Lichtkegel einer Gaslaterne.

Plötzlich schufen Licht und Schatten ein Gesicht, das Nell erkennen konnte. Sie hatte Atem geschöpft, aber sie konnte immer noch keinen Schrei ausstoßen, laut um Rettung vor dieser rauen Bestie zu rufen, die sie jetzt gefangen hielt. Die Gesichtszüge des Mannes lösten trotz des Lichts Entsetzen in ihr aus. Grobe, harte Gesichtszüge, die abstoßend wirkten, obwohl sie auf eine brutale Art gut aussahen. Furcht. Entsetzen. Sie fühlte sich von einem Monster gefangen, vom Teufel selbst.

Dann erkannte sie ihn. Sie wusste, wer er war, aber diese Erkenntnis vermochte ihre Furcht kaum zu mindern.

»Geht es dir gut?« Seine tiefe Stimme war so samten und dunkel wie die Nacht. »Hast du dir wehgetan?«

Nell schüttelte den Kopf.

»Woher kam das?«, fragte er. Wieder schüttelte sie stumpfsinnig den Kopf, immer noch hypnotisiert von den leuchtend blauen Augen, die in dem grausamen Gesicht glitzerten. »Der Schrei, Mädchen«, drängte er sie ungeduldig. »Woher kam dieser Schrei?«

»Ich … weiß … nicht, Sir«, stammelte sie. »Er schien von überallher zu kommen. Aber beim ersten Mal …« Sie deutete vage in Richtung des Kanals neben ihnen.

»Weißt du, wer ich bin?«, wollte er wissen. Nell blickte ihm erneut ins Gesicht, in die funkelnden Augen unter dem Schatten von Hut und Stirn, betrachtete die groben Wangenknochen, sein massiges Kinn. Das Gesicht schien aus einem härteren Material als Stein gemeißelt zu sein. Sie nickte, immer noch furchtsam.

»Sie sind Captain Hyde, Sir.«

»Wie heißt du, Kind?«

»Nell, Sir. Nell McCrossan.«

»Arbeitest du in der Mühle, Nell?«

Sie nickte wieder.

»Dann lauf sofort dorthin und sage deinem Vorarbeiter, dass ich Männer brauche, die mir bei der Suche helfen. Und richte ihm aus, er soll jemanden zur Polizeiwache in Dean senden, damit die ein paar Constables herschicken.«

Sie blieb stumm und rührte sich nicht, sondern musterte immer noch regungslos und gebannt Hydes Gesicht.

»Lauf jetzt!«, befahl er ihr nachdrücklicher, als er beabsichtigt hatte. Aber seine harten Worte brachen den Bann, und sie rannte in Richtung Mühle davon.

Hyde zog eine Taschenlampe aus seinem Ulster-Überzieher und beleuchtete den Weg, die Bäume und den Fluss um ihn herum. Der Lichtkegel erweckte seine Umgebung zu einem bedrohlichen Leben. Das rauschende Wasser funkelte schwarz und ölig im Strahl der Lampe, die Schatten der Bäume und Büsche am Flussufer schwankten bedrohlich. Nichts deutete darauf hin, dass irgendetwas nicht stimmte.

Er verließ den Pfad und trat an den Rand des Flusses, folgte der Richtung, in die das verängstigte Mädchen gezeigt hatte. Der Fluss verwandelte sich in eine glatte Schlange, die sich ihren dunklen Weg zum fernen Leith und weiter zum Meer suchte, während die nächtlichen Geräusche hier immer lauter wurden. Hyde fuhr zusammen, als mit einem lauten metallischen Knall die Puffer von unsichtbaren Lokomotiven auf dem Balerno-Güterbahnhof zusammenprallten. Als er weiter am Flussufer entlangging, wurden die Geräusche schwächer. Die Fluten des Water of Leith trieben die Wasserräder der Mühlen auf seinem Weg an, und in regelmäßigen Abständen strömte die Flut in einer Kaskade über die Wehre. Hyde hörte an dem donnernden Brausen des Wassers, dass er sich einem Wehr näherte.

Das Dickicht aus Zweigen und Büschen am Ufer hielt ihn auf, so dass er ein kurzes Stück auf dem Pfad weitergehen musste. Über das Rauschen des Wehrs hörte er kurz die Stimmen, die ihn riefen, bevor auch diese Geräusche übertönt wurden. Die Männer aus der Mühle. Um ihnen die Richtung anzuzeigen, in die er gegangen war, zog Hyde seine Dienstpfeife aus der Tasche und blies drei scharfe Alarmtöne.

Dann ging er weiter auf dem Pfad in Richtung des Wehrs, aber der Blick auf den Fluss wurde ihm von dichtem Unterholz verwehrt. Er erreichte das Wehr, und plötzlich war das Dickicht am Ufer verschwunden. Ein kurzes altersschwaches Eisengeländer, verrostet und verbogen, bot den einzigen Schutz vor einem Sturz in die Tiefe, wo der Fluss nach dem Wehr gut zwanzig Fuß abfiel. Die Dunkelheit und das Brausen des Wassers machten Hyde irritierenderweise Weise blind und taub für alles andere außer diesem kleinen Bereich seiner Wahrnehmung. Er ließ den Lichtstrahl der Lampe über das Flussufer auf seiner Seite und dann über den schäumenden Rand des Wehrs auf das andere Ufer wandern.

Da sah er es.

Es bewegte sich im Licht, wand sich, verdrehte sich und zitterte: etwas Fahles, Hautähnliches. Zuerst wurde er nicht schlau daraus.

Der Zweig einer Ulme ragte über den Fluss hinaus, als würde er Hyde seine bleiche Frucht darbieten. Die Gestalt, die daran hing, war in der ungenügenden Beleuchtung von Hydes Handlaterne zuerst nicht zu erkennen. Zu seiner Verwirrung trug auch die Bewegung dieses Wesens bei, das tanzte, als würde es leben. Dann jedoch erkannte Hyde den düsteren Sinn: Dicht am gegenüberliegenden Ufer hing mit dem Knöchel an einem langen Seil, das am Ast des Baums befestigt war, kopfüber ein nackter Mann. Der Strahl von Hydes Laterne folgte der bleichen Gestalt bis zu der klaffenden Wunde in seiner Brust. Eine dicke Blutspur, die schwarz und glatt in der Nacht glitzerte, verlief bis zur Kehle des Mannes. Sein Kopf wurde jedoch vom schäumenden Wasser des Flusses verborgen. Es war diese Strömung, die so wütend an dem Kopf zerrte, die die Gestalt bewegt und ihr einen Anschein von Leben eingeflößt hatte.

Hyde zog erneut die Pfeife aus seiner Tasche, drehte sich in die Richtung, aus der er gekommen war, und pfiff erneut dreimal kurz.

Wie zur Antwort ertönte jener Schrei erneut. Er war gerade noch über dem Rauschen des Wasserfalls hörbar. Am Anfang dachte Hyde, es wäre das Echo seiner Pfeife, aber dann erkannte er diesen hohen, unmenschlichen Ton, der diesmal noch klagender und trauriger klang. Er wirbelte herum, konnte jedoch nicht feststellen, aus welcher Richtung er gedrungen war. Aber woher auch immer er kam, eines war klar – er kam nicht aus dem Mund des Toten, der da kopfüber von dem Baum herunterhing.

Er pfiff erneut dreimal, und diesmal antworteten ihm lautere Schreie der Mühlenarbeiter, die zu ihm unterwegs waren. Als sie näher kamen, sah er unter ihnen das junge Mädchen, das gegen ihn geprallt war. Ihr Gesicht wirkte im Licht der Laternen gespenstisch. Hyde befahl den Männern, die Kleine zur Seite zu nehmen, damit sie das Grauen dort am gegenüberliegenden Ufer nicht sehen musste.

»Haben Sie es gehört, Sir?«, fragte sie Hyde. »Das war wieder die Bean-Nighe.«

»Die was?«

»Die Bean-Nighe.« In Nells Stimme schwang eine Furcht mit, die nicht nur aus ihr selbst zu kommen schien, sondern schon seit Generationen fortexistierte. »Die Waschfrau – die am Rand des Wassers klagt.«

»Was redest du da?«, wollte Hyde wissen.

»Die Bean-Nighe kommt aus dem Feenreich und klagt, während sie die Kleider derjenigen wäscht, die sterben werden.« Jetzt zitterte nicht mehr nur ihre Stimme, sondern ihr ganzer hagerer Körper. »Das war es, was wir gehört haben. Die Bean-Nighe. Sie ist eine Ban-Sìth, verstehen Sie?«

Hyde nickte. »Jetzt verstehe ich. Aber ich versichere dir, was wir da gehört haben, stammte ganz sicher von dieser Welt, Nell.« Er drehte sich zu einem der Männer herum. »Sie steht unter Schock. Bringt sie zur Mühle zurück, damit sich dort jemand um sie kümmert.«

Nachdem das junge Highland-Mädchen verschwunden war, führte Hyde die Männer zur nächsten Brücke über den Fluss und dann über das andere Ufer zurück zu der Stelle, an der der nackte Mann am Baum hing. Einen Moment blieben sie schweigend vor ihm stehen, wie Männer es manchmal angesichts eines gewaltsamen Todes tun. Hyde konnte jetzt die Leiche deutlich erkennen, aber der Kopf und das Gesicht waren immer noch unter Wasser verborgen. Die Wunde in der Brust war tief und groß, wie ein klaffender Mund. Jemand hatte ihm das Herz herausgeschnitten.

»Er wurde ermordet«, stellte einer der Mühlenarbeiter neben Hyde fest.

»Mehr als das«, ließ sich ein anderer vernehmen. »Er wurde dreimal ermordet.«

Hyde drehte sich fragend zu dem Mann herum.

»Gehängt, aufgeschlitzt und ertränkt …«, erklärte der Mann. »Warum sollte das jemand einem anderen Menschen antun?«

»Holt mir eine Stange oder irgendetwas mit einem Haken!«, befahl Hyde. »Ich will die Leiche ans Ufer ziehen.«

Ein dritter Arbeiter erbot sich, zur Mühle zurückzulaufen, um etwas Geeignetes zu besorgen.

Während Captain Edward Henry Hyde, Superintendent der Detectives bei der Edinburgh City Police, mit den anderen Männern wartete, bekümmerten ihn zwei Gedanken zutiefst. Der erste war, dass er durch pures Glück einen brutalen Mord durch seine vollkommen zufällige Anwesenheit am Schauplatz aufgedeckt hatte, obwohl er sich ums Verrecken nicht daran erinnern konnte, warum er sich hier an diesem Ort aufhielt, so weit entfernt von seinem üblichen Revier, und zudem nicht einmal wusste, wie er hierhergekommen war.

Das zweite, was ihm Kopfzerbrechen bereitete, war das ernste Entsetzen eines jungen, furchtsamen Mädchens, das immer noch von den fernen Highlands und ihren Mythen verfolgt wurde. Und deren Entsetzen sich auf die Überzeugung stützte, dass die Schreie, die sie gehört hatten, von einer Ban-sìth stammten.

Einer Banshee. Einer Todesfee.

KAPITEL ZWEI

Dr. Samuel Porteous saß am Kamin in seinem Arbeitszimmer und wartete auf das Eintreffen von Edward Hyde.

Porteous war ein energischer, gut aussehender Mann mittlerer Größe, dessen jugendliches Äußeres seine siebenundvierzig Lebensjahre Lügen strafte, von denen er einundzwanzig als Mediziner praktiziert hatte. Zudem hatte er einen Hang zur Eitelkeit, vor allem was sein kastanienbraunes Haar und seine außergewöhnlichen smaragdgrünen Augen anging. Diese Eitelkeit manifestierte sich in künstlerischer Form in Gestalt seines Porträts über dem Kaminsims. Mittlerweile jedoch, fünf Jahre nachdem er es in Auftrag gegeben hatte, missfiel Porteous das Gemälde, weil er sein jüngeres Abbild um seine Unveränderlichkeit beneidete, um seine Unempfindlichkeit dem Alter gegenüber.

Samuel Porteous’ Herkunft war erheblich bescheidener als die vieler anderer seiner Profession und gesellschaftlichen Stellung, und er neigte dazu, seine soziale Unsicherheit zu kompensieren, indem er mehr Mittel für feine Kleidung erübrigte, als es der presbyterianische schottische Anstand normalerweise zuließ.

Der Schatz seiner intellektuellen Fähigkeiten jedoch gab ihm keinerlei Anlass zur Unsicherheit. Seit seinem ersten Studienjahr an der medizinischen Fakultät der Edinburgh University war Porteous als aufgehender Stern der Wissenschaft betrachtet worden. Einen solchen Ruf ausgerechnet in Edinburgh zu erlangen, der Welthauptstadt medizinischen Fortschritts, bedeutete, dass kein Ziel zu kühn erschien – und Dr. Samuel Porteous war ein Mann mit wahrlich kühnem Ehrgeiz. Im Laufe seiner Karriere hatte er sich einen Namen als Pionier der Neuropsychiatrie erarbeitet. In den letzten beiden Jahren hatte er sich zunehmend auf die neuen Disziplinen der Psychophysik und Psychologie gestürzt. Er war davon überzeugt, dass in diesen neuen Forschungszweigen die Antworten auf sehr viele bis dahin unlösbare Rätsel der modernen Psychiatrie lagen.

Porteous’ wesentliches Tätigkeitsfeld befand sich auf der Station für Geistesgestörte des Craiglockhart Hydropathic Hospitals, aber er unterhielt auch Praxisräume in der Neustadt. Außerdem behandelte er zusätzlich noch zwei weitere Patienten – und zwar ausschließlich diese beiden – in seiner privaten Residenz und außerhalb der normalen Sprechzeiten. Diese Fälle hatten ihre eigenen und unterschiedlichen Gründe, um bei ihrer Behandlung Privatsphäre, ja, sogar Geheimhaltung zu suchen. Keiner der beiden wusste von der Existenz des anderen und ebenso wenig davon, dass sie in Porteous’ Augen paradoxerweise zwei Seiten derselben Medaille bildeten. Und das, obwohl ihre Persönlichkeiten kaum gegensätzlicher hätten sein können.

Diese geheimen Besucher waren Fälle, über die Porteous keine offiziellen Unterlagen anfertigte. Die Einzelheiten seiner Eindrücke von den beiden sowie seine Behandlung wurden ausschließlich im persönlichen Tagebuch des Arztes aufgezeichnet, das er im Safe seines Arbeitszimmers aufbewahrte. Er hatte seine eigenen Gründe, die Geheimnisse seiner Patienten zu wahren. Beide Fälle lieferten einzigartige Möglichkeiten für eine bahnbrechende Forschung. Eine große Entdeckung wartete darauf, enthüllt zu werden.

Zudem hütete Doktor Samuel Porteous selbst ebenfalls genug Geheimnisse. Zwei Dosen eines bestimmten Präparates lagen ungeöffnet in seinem Medizinschrank. Dort warteten sie darauf, angewendet zu werden, sollten die Symptome, die in ihm schliefen, wieder erwachen. Aber diese Furcht wurde zurückgestellt: Es war eine Herausforderung für einen anderen, hoffentlich noch weit entfernten Tag.

Einer der beiden vertraulichen Fälle war Porteous’ Freund Edward Hyde. Und eben den erwartete er in dieser Nacht als Besucher.

Etwas an Hyde verwirrte Proteus. Der Arzt versuchte zu verstehen, was an dem Mann und seiner Ausstrahlung es war, das bei jeder Begegnung Unbehagen in ihm auslöste.

Wie Porteous in seinem Journal notiert hatte, war Hyde nicht besonders groß, auf jeden Fall jedoch imponierend. Er war breitschultrig, wenn auch nicht übermäßig, aber seine Präsenz schien fast einen bedrückenden Schatten zu werfen. Porteous beschlich oft das Gefühl, dass Hydes Proportionen verzerrt waren: sein Kopf etwas zu schwer, seine Arme einige Zentimeter zu lang und seine Schultern ein wenig zu massig. Etwas an Edward Hyde schien auf eine Entwicklungsstufe zu verweisen, die die Menschheit bereits überwunden hatte, auf irgendeinen kürzlichen, aber verschollenen darwinistischen Vorentwurf des Menschen. Doch all diese Eindrücke waren weder Beobachtungen, geschweige denn gemessene Werte, sondern eher Wahrnehmungen der Intuition.

Ebenso wenig war Hyde ein hässlicher Mann. Im Gegenteil, er strahlte eine düstere Attraktivität aus, aber etwas in seiner Erscheinung war teuflisch, abschreckend und schuf Distanz. Hyde stieß zurück, ohne dass er direkt abstoßend gewesen wäre. Und auch die Gemessenheit seines Verhaltens war sonderbar. Seine Sprache, sein Mienenspiel und seine Bewegungen waren äußerst ökonomisch, und diese Ruhe selbst war beunruhigend. Sie hinterließ den Eindruck, als wäre ein nur hauchdünner Schleier über eine extreme und leicht entflammbare Brutalität gezogen und als könnte jeden Moment Hydes wirklich außerordentliche Gelassenheit in Gewalttätigkeit umschlagen.

Doch diese Eindrücke wurden immer und augenblicklich zerstreut, sobald Hyde Porteous in ein Gespräch verwickelte. Die traurige Wahrheit war, dass der Arzt ernsthaft bezweifelte, jemals einen besseren Menschen als Captain Edward Henry Hyde kennengelernt zu haben. Alles, was Porteous über diesen Mann wusste, sagte ihm, dass Hyde ein mitfühlendes Herz gegenüber den Ungerechtigkeiten und Verletzungen hatte, die anderen zugefügt wurden. Und weit entfernt von Primitivität war er ein Gentleman von äußerster Kultiviertheit und Bildung.

Porteous hatte bei seinem Freund eine Form der Epilepsie diagnostiziert, deren Bekanntwerden Hyde augenblicklich seine Stellung als Superintendent der Detectives der City of Edinburgh Police gekostet hätte. Deshalb hatte er Hyde Geheimhaltung versprochen. Aber es gab noch weitere und weniger noble Erwägungen, die Porteous zum Schweigen veranlassten. Der Zustand seines Freundes, die sonderbaren Absencen von der Realität und die noch bizarreren Träume, die in Wahrheit blühende Halluzinationen waren, die Hydes nächtliche Anfälle schufen, boten dem ehrgeizigen Psychiater ein Guckloch in bis dato unerforschte Ebenen des menschlichen Bewusstseins.

Porteous wusste, dass es sehr viel in dieser sonderbaren »Anderswelt« von Captain Edward Henry Hyde zu lernen gab.

Die Nacht sammelte sich vor den Fenstern. Doktor Samuel Porteous zog die schweren Samtvorhänge seines Arbeitszimmers vor, entzündete das Feuer im Kamin und saß da, während er beobachtete, wie die Flammen zum Leben erwachten. Dabei versuchte er sich die ganze Zeit ins Gedächtnis zu rufen, dass da ein Freund zu ihm unterwegs war und nicht etwas Düsteres als die immer schwärzer werdende Nacht.

KAPITEL DREI

Es herrschte vollkommene Dunkelheit, als Hyde eintraf. Erneut beschlich Porteous das Gefühl, dass sein Freund und Patient etwas aus der Nacht mitgebracht hatte.

Sie hatten sich darauf geeinigt, dass der Arzt die Laterne an der Hintertür herunterdrehte, die von seinem Arbeitszimmer in den Garten führte, so dass kein Bediensteter von Hydes Ankunft erfuhr. Natürlich kannten alle Diener Captain Hyde von seinen häufigen gesellschaftlichen Besuchen, bei denen er wie die anderen Gäste durch die Haustür eintrat und sich auch auf gleichem Weg verabschiedete. Und natürlich erinnerten sich wegen des Erscheinungsbildes des Captains alle an ihn. Diese heimlichen Besuche jedoch ergaben sich häufig, wenn Hyde nicht ganz er selbst war, gewöhnlich nach einem besonders üblen Anfall, und er weder die Gesellschaft noch auch nur den Blick von jemand anderem als seinem Arzt wünschte.

Außerdem war Porteous’ Arbeitszimmer in dem umgebauten Wintergarten ein sicherer und geheimer Ort für sie beide. Außer Mrs. Wilson war der Zutritt keinem anderen Bediensteten gestattet. Die Haushälterin betrat den Raum einmal in der Woche, um aufzuräumen und sauber zu machen, und das auch nur dann, wenn Porteous ihr ausdrücklich die Erlaubnis dazu erteilt hatte.

Als Hyde eintraf, war er aufgewühlt. Porteous hatte erwartet, dass er sich darüber beschwerte, er hätte erneut einen seiner lebhaften und luziden Träume gehabt, die ihren Schatten über den nächsten Tag werfen und seine Gedanken von seiner Arbeit ablenkten. Die unheimliche Anderswelt seiner Träume bekümmerten Hyde sehr, trotz der Versicherungen des Psychiaters, dass sie ein Ergebnis seiner Epilepsie wären – Anfälle im Schlaf, keine normalen Träume.

An diesem Abend jedoch belastete Hyde etwas anderes.

»Ich habe gestern Nacht den Schauplatz eines Mordes aufgesucht«, erklärte er. »Genauer gesagt, habe ich selbst das Verbrechen entdeckt.« Er setzte sich wie ein verdichteter Schatten in den ledernen Ohrensessel am Kamin. Seine Stimmung war düster, als er mürrisch in die Flammen starrte, als ließe sich dort eine Lösung finden. Das Licht des Feuers akzentuierte die harten Gesichtszüge und die grobe Attraktivität seines Profils, und erneut überkam Porteous so etwas wie instinktive Abscheu.

»Sie haben das Opfer gefunden?«, erkundigte sich der Arzt.

»So ist es. Ich hörte …« Hyde machte eine Pause, während er nach dem richtigen Wort suchte. »… Laute. Schreie, die mich zum Opfer führten.«

»Haben Sie den Mörder ergreifen können?«, wollte Porteous wissen. »Wenn Sie die Schreie des Opfers gehört haben, müssen Sie doch sehr nah am Tatort gewesen sein.«

»Die Schreie, die ich hörte, kamen nicht vom Opfer.« Hyde schüttelte frustriert den Kopf. »Die Sache ist nicht einfach zu erklären … Aber nein, von dem Mörder war keine Spur zu entdecken. Und genau das bereitet mir Kopfzerbrechen.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Wie ich sagte, ich habe die sterblichen Überreste des Opfers entdeckt. Ich habe das Verbrechen aufgedeckt. Ich, ein Mordermittler, tauchte zufällig und praktischerweise am Schauplatz einer mörderischen Tat auf.«

»Und das bekümmerte Sie? Warum genau?«

Hyde beugte sich in dem Ohrensessel vor, stützte die Ellbogen auf die Knie, und seine massigen Schultern sackten herab. »Ich habe wieder Aussetzer gehabt.« Er seufzte. »Die Bewegungen und Ereignisse, die mich an diesen Ort geführt haben, sind mir nicht mehr bewusst. Ich habe keine Erinnerung daran, wie ich dort hingekommen bin. Ich habe jegliches Zeitgefühl von einem Moment an verloren, bevor ich das Revier verließ, und habe meine Sinne erst am Tatort eines Mordes wiedergefunden.«

»Oh«, erwiderte Porteous. »Ich verstehe. Haben Sie das Ihren Vorgesetzten gemeldet?«

»Ich habe das niemand anderem als Ihnen enthüllt«, erwiderte Hyde. »Bis jetzt. Aber Sie verstehen vermutlich, warum ich Sie unbedingt aufsuchen wollte. In den meisten Fällen verliere ich nur für ein paar Minuten die Zeit. Diesmal jedoch hat es mehr als eine Stunde gedauert … und diesmal gab es einen Mord. Ich war am Tatort und kann mich absolut nicht daran erinnern, wie ich dorthin gekommen bin. Ebenso wenig kann ich mich daran erinnern, was ich getan habe.«

Porteous stand auf, stellte sich an den Kamin und stützte seinen angewinkelten Ellbogen auf den Sims. Dann zog er ein Papierpäckchen aus der Tasche seiner Hausjacke, nahm einen Zigarillo heraus und entzündete ihn. Da er wusste, dass Hyde die Gewohnheit des Rauchens verabscheute, bot er ihm keinen an.

»Sie glauben, Sie hätten etwas mit diesem Mord zu tun – ich meine, Sie hätten etwas damit zu tun, dass er begangen worden ist?«, spottete er. »Das ist lächerlich. Sie sind ebenso wenig zu einem Mord fähig wie ich.«

»Wie können Sie das mit einer solchen Sicherheit behaupten?« In Hydes Stimme mischte sich ein verzweifelter Unterton. »Denken Sie nur an all die Dinge, die wir in diesen letzten beiden Jahren diskutiert haben. An den absoluten Wahnsinn meiner Träume. Die Abnormität meines Verstandes …«

»Edward, wir haben schon so oft darüber diskutiert. Ihr Verstand ist keineswegs anormal. Sie quält keine geistige Krankheit, sondern ein neurologischer Defekt. Es ist Epilepsie, nichts mehr. In Ihrem Fall erzeugt diese Epilepsie diese längeren geistigen Ausfälle, die Sie ›verlorene Zeit‹ nennen und ich Status epilepticus. Ebenso wie diese starken nächtlichen Halluzinationen, die, wie ich schon so häufig erklärt habe, weit mehr als nur einfache Träume sind. Und zudem liegt in jedermanns Träumen ein gewisser Wahnsinn – sie werden immerhin in den tiefsten und dunkelsten Stellen unseres Verstandes gesponnen.«

»Aber nicht solche Träume«, widersprach Hyde.

Porteous nickte und blickte ins Feuer. Die Flammen bildeten glitzernde, kalte Reflexionen in seinen smaragdgrünen Augen. In Wahrheit hatte er Mühe, sich vorzustellen, wie es sein musste, Anfälle im Schlaf zu erleiden, die sich als Träume manifestierten, die so anschaulich waren, dass sie nicht von der Realität zu unterscheiden waren. Ein elektrischer Strom im schlafenden Gehirn, der unmögliche, oft Furcht einflößende und dennoch komplett glaubwürdige Universen beschwor.

»Hören Sie, Edward …« Der Doktor zog an seinem Zigarillo und blies Rauch in die Luft, der den Raum mit seinem Aroma erfüllte. »Wir befinden uns in einem neuen Zeitalter der Medizin und verstehen immer mehr von der Wirkungsweise des Status epilepticus. Ich versichere Ihnen, dass der schlafwandelnde Mörder und der epileptische, mörderische Wahnsinnige nur in billigen Groschenheften und entsprechenden Schundromanen vorkommen – in der Realität existieren sie einfach nicht.«

»Falls das, worunter ich leide, tatsächlich Epilepsie ist«, protestierte Hyde schwach.

»Es ist Epilepsie, Edward, zweifeln Sie nicht daran. Wir verstehen mittlerweile die Natur solcher Ausfälle – wie auch die Loslösung von der Realität, die sie verursachen. Glauben Sie mir: Keine Absicht, kein bewusster oder unbewusster Wille kann während eines solchen Anfalls ausgedrückt werden.«

»Es muss genug Wille vorhanden gewesen sein, um mich zu diesem Ziel zu führen.« Hyde blieb hartnäckig. »Es lag immerhin mehr als zwei Meilen von dem Ort, an dem ich mich meiner Erinnerung nach zuletzt aufgehalten habe.«

»Das ist kein Wille«, erwiderte Porteous. »Es ist nicht mehr als ein Automatismus. Nur die einfachsten und nahezu autonomen Funktionen können in einem solchen Zustand arbeiten. Sie hätten jedenfalls keinen Akt bewussten Handelns während eines Anfalls durchführen können.«

»Und wenn dieser Wille nicht meiner war?« Hyde runzelte verblüfft die Stirn, als versuchte er einen Gedanken zu lokalisieren, der ihm entging. »Wenn ich zu diesem Ort geführt worden bin? Wenn mir jemand die Idee, dorthin zu gehen, in den Kopf gepflanzt hat? Ich meine, während ich in diesem Zustand war?«

»Noch einmal, Edward, so etwas kommt nur in Groschenromanen vor oder in diesen primitiven Aufführungen von Bühnen-Mesmerismus. Dahinter steckt kein Funken Wissenschaft. Keine Person in einem veränderten Bewusstseinszustand kann gezwungen werden, etwas zu tun, was sie nicht auch täte, wenn er vollkommen bei Bewusstsein wäre. John Hughlings Jackson, ein Pionier auf dem Feld der Epilepsie, hat einen Namen für den Zustand des Bewusstseins, in den Sie während einer Ihrer Absencen eintreten: Er nennt es das ›Anderswo‹, weil Sie in diesem Moment in dieser Welt nicht bewusst präsent sind. Sie sind sozusagen nicht anwesend, um irgendwelchen Befehlen gehorchen zu können, seien sie nun gut oder böse.«

»Ich kann trotzdem nicht verstehen, warum ich mich plötzlich so dicht am Schauplatz eines bis dahin unentdeckten Mordes wiedergefunden habe«, beharrte Hyde finster. »Dieser Zufall erscheint mir einfach zu groß zu sein.«

»Vielleicht ist es auch kein Zufall. Nicht ihre ganze verlorene Zeit besteht aus Automatismen oder aus einem reinen Anfall«, antwortete Porteous. »Ein Element der Amnesie hält an Ereignissen vor einem solchen Schub fest. Vor dem Anfall waren Sie vollkommen Sie selbst, haben normal funktioniert, aber Sie können sich trotzdem jetzt nicht mehr an diese Ereignisse erinnern. Unmittelbar vor Ihrem Anfall haben Sie vielleicht etwas erfahren oder an etwas gedacht, was Sie zu diesem Ziel geführt hat.«

»Und diese Erinnerung ist verschwunden? Sie ist für mich verloren?«

»Vielleicht nicht. Wir stoßen ständig auf neue Entdeckungen darüber, wie der Verstand funktioniert. Es wird zunehmend klarer, dass er nicht nur eine einzige Dimension hat. Stattdessen gibt es dort viele Schichten.« Porteous hielt inne, warf den Rest seines Zigarillos in die Flammen und blickte zu seinem Porträt über dem Kaminsims hoch. »Stellen Sie es sich als ein Gemälde vor. Ganz zuunterst liegt die zunächst leere Leinwand. Doch das Bildnis, das wir dann am Ende alle sehen, wurde keineswegs makellos auf diese leere Leinwand aufgetragen. Alle Fehler, Veränderungen in der Komposition, der Striche und der Farbe liegen unter dem verborgen, was schließlich der Welt präsentiert wird. Die Italiener haben einen Namen dafür: Pentimenti, Schicht auf Schicht der Gedanken des Künstlers, aufgetragen und verändert, bis einige selbst für ihn verschollen sind. Der Verstand funktioniert genauso: Seine leere Leinwand ist die Tabula rasa des kindlichen Gehirns, auf die Schicht um Schicht Erfahrungen, Emotionen und Erinnerungen gelegt werden. Szenen und Personen, die bis ins Detail beschrieben sind und dann übermalt werden. Wir können diese Gestalten nicht mehr sehen, aber das heißt nicht, dass sie nicht mehr da wären. Wenn wir genau genug hinsehen, können wir vielleicht ihre Umrisse noch erkennen oder sogar behutsam einige der verdeckenden Schichten entfernen.«

»Sie glauben also, dass meine Erinnerungen aus der Zeit vor meinen Anfällen möglicherweise noch da sind? In dieser tieferen, mentalen Schicht? Wie kann ich sie wieder hervorholen?«

»Ich weiß nicht, ob Sie das können. Hier in Edinburgh werden von James Braid Hypnosemethoden entwickelt, denen man zutrauen kann, dass sie bis ins Unterbewusste gelangen. Aber, mein lieber Edward, Sie sind von Natur und Beruf ein Ermittler. Vielleicht ist das Ihr bester Weg, Antworten zu finden. Ich würde vorschlagen, Sie verfolgen Ihre Schritte so gut Sie können zu dem letzten Ort zurück, an den Sie sich vor dem Anfall erinnern können. Oder vielleicht liegt die Antwort ja auch schon vor Ihnen.«

»Ich verstehe nicht …«

»In Ihrer Anderswelt, Edward. In Ihren Träumen.«

Hyde blieb noch eine Stunde. Sie unterhielten sich, Porteous trank Portwein und rauchte Zigarillos, als würden die beiden Freunde einfach nur eine angenehme Zeit miteinander verbringen. Doch Porteous bemerkte, dass sich Hydes Stimmung nicht gebessert hatte.

Bevor Hyde ging, verabreichte Porteous ihm seine Medizin, wie sie es üblicherweise hielten. Die letzte Episode hatte seinen Patienten so aufgewühlt, dass der Arzt es für klug hielt, die Formel ein wenig zu verändern. Er wollte nicht, dass Hyde, der professionelle Ermittler, zu neugierig wurde, was die einzelnen Komponenten der Mischung anging.

Es war fast zwölf Uhr nachts, als er Hyde zur Hintertür seines Arbeitszimmers brachte und ihm nachsah, wie er verschwand. Ein Schatten, der sich mit anderen Schatten in dem mitternächtlichen Garten vermischte. Porteous rätselte über seine Gefühle, nachdem sein Patient und Freund ihn verlassen hatte. Es waren Empfindungen von Mitgefühl, Trauer, Sorge. Sogar Schuld.

Und Erleichterung.

KAPITEL VIER

Draußen graute bereits der Morgen. Edward Hyde lag regungslos und stumm in der Dunkelheit hinter den zugezogenen Vorhängen, in der Schwebe zwischen den Universen des Schlafs und des Wachens. Er hatte in der Nacht geträumt, aber er hatte geträumt wie andere träumen, nicht in den kaleidoskopischen Halluzinationen eines nächtlichen Anfalls. Der Traum hatte hinter seinen geschlossenen Augen angedauert, die Zeit war in sich selbst gefaltet geblieben. Er hatte von sich als jungem und sorgenfreiem Mann geträumt, verloren in strahlendem, jugendlichem Spiel, von ruhigen, hellen Sommerabenden, die von der lebhaften Palette der Kindheit Gold und Grün ausgemalt waren, von seiner Mutter und den Gutenachtgeschichten, die sie erzählte, von Brownies und Feen, von den Helden Cú Chulainn und Fionn mac Cumhaill, von dämonischen Schurken und fantastischen Bestien.

Diesen süßen, hypnopompischen Moment barg der Traum, und Hyde schlief weder, noch war er wach. Und noch etwas war geblieben: ein Gefühl, das wie ein längst vergessener Duft in der Luft hing, der eine klare Erinnerung einer fernen Zeit weckte. Ein Gefühl, das er schon sehr lange nicht mehr empfunden hatte. Hyde war in diesem flüchtigen Moment wirklich glücklich.

Dann rief die wache Welt. Draußen, vor den zugezogenen Vorhängen klapperten eisenbeschlagene Hufe und rumpelten mit Eisen beschlagene Räder unmusikalisch über die Pflastersteine der Northumberland Street und weckten ihn endgültig. Mit dem Erwachen kam die Metamorphose: Edward, das glückliche, leichtfüßige Kind aus dem Traum, veränderte sich in Masse, Form und Erscheinung, nahm einen rauen Aspekt und eine wuchtige Gestalt an, wurde zu Hyde.

Er lauschte dem langsamen Anschwellen der Alltagsgeräusche. Noch mehr Räder auf den Pflastersteinen, das Erklingen und Verklingen unverständlicher Stimmen, wenn die Leute unter ihm auf dem Bürgersteig vorübergingen. Die rauchgraue Stadt, die zu rauchgrauem Leben erwachte. Die Bilder seines Traumes wurden von den Erinnerungen von vor zwei Tagen verdrängt, von dem Gehenkten, dessen Kopf und Hände in die schmutzigen Fluten des Water of Leith hinabhingen. Dieser unmenschliche, klagende Schrei, der zweifellos von einem wahnsinnigen Mörder stammte, denn ganz gewiss konnte nur der Wahnsinn einen Menschen dazu treiben, einem anderen so etwas Entsetzliches anzutun.

Aber es kamen andere, noch fernere Erinnerungen zurück, um ihn zu bekümmern. Alte Erinnerungen aus einem fernen strahlenden und von Gerüchen erfüllten Land, an Grausamkeiten, die im Namen des Empires unter einer glühenden Sonne und ohne die Ausflucht des Wahnsinns begangen worden waren. Erinnerungen an einen Mann, der getrieben von Pflichtgefühl unter dem gefürchteten Beinamen Jaanavar bekannt geworden war. Die Bestie.

Damals war es eine andere Welt gewesen. Und er war damals auch ein anderer Mann gewesen.

Hyde stand früher auf als gewöhnlich, und seine Stimmung verfinsterte sich noch mehr, als er an die Termine dachte, die er an diesem Morgen wahrnehmen musste. Sein großes und moderat prächtiges Stadthaus war zum größten Teil unbewohnt. Die vielen unbenutzten Zimmer reflektierten den Mann, der darin wohnte. Er badete wie jeden Morgen, dann kleidete er sich an. Hyde stammte aus einer Schicht, in der man einen Kammerdiener hatte, auch wenn das für seinen Berufsstand nicht galt. Aber er schätzte seine Privatsphäre viel zu sehr, um sich einen professionellen Mitbewohner zu leisten. Seine Anfälle, so vermutete er, würden jeden, der Zeuge davon wurde, verwirren, wenn nicht sogar beunruhigen. Und wenn jemand sie miterlebte und das Erlebte weitergab, würde möglicherweise Hydes Kompetenz, als Superintendent der Detectives zu dienen, infrage gestellt werden.

Also diente Edward Hyde als sein eigener Stiefelputzer, Plätter, Garderobier, kurz, als sein eigener Diener. Er deckte seinen Tisch selbst und beschickte seinen Kamin. Er bereitete sich selbst das Frühstück zu und verzehrte es in einsamem Schweigen. Seine frühen Morgenstunden waren eine selbst gewählte Abkapselung mit eigenen Ritualen. Abgeschlossen von der Welt und zurückgezogen. Seine Vorbereitungen auf den Tag waren systematisch und immer gleich. Sein Verstand war stets auf die Einzelheiten gerichtet und nie, niemals auf die scharfe Schneide der Einsamkeit, die so oft sein Leben durchbohrte.

Für den kommenden Arbeitstag hatte er einen schwarzen weiten Drei-Knopf-Anzug mit einer grauen Seidenweste gewählt. Er knöpfte statt des Kragens mit Ecken den Umlegekragen an sein Hemd, gemäß dem neuen Kleidungsstil, und band seine Krawatte in einem einfachen Knoten, statt ein Halstuch anzulegen. Darüber trug er einen schwarzen Tweed-Ulster, den er bei Lockwood auf der Princes Street erstanden hatte. Er hatte sich für dieses Kleidungsstück entschieden, weil das kurze Cape seine massigen Schultern kaschierte. Außerdem trug er einen dunkelgrauen breitkrempigen Homburg, der seine Gesichtszüge beschattete. Dann streifte er die maßgefertigten Schweinslederhandschuhe über.

Wäre es nicht so früh und die Gestalt unter den feinen Gewändern nicht so robust gewesen, hätte Captain Edward Henry Hyde ausgesehen, als wollte er seinen Geschäftstag in einer von Edinburghs Banken oder Finanzinstitutionen beginnen. Aber das Geschäft, das an diesem Morgen stattfinden würde, die Abrechnung, die Hyde zu bezeugen hatte, war eine erheblich düsterere Angelegenheit.

Die Kutsche wartete bereits draußen auf ihn, während der Morgen qualmte und rußschwarze Rauchsäulen aus zehntausend erwachenden Herden in die kalte, windstille Luft emporstiegen.

»Morgen, Captain Hyde«, begrüßte ihn der Kutscher mit dem Custodian-Helm auf dem Bock der Polizeikutsche. »Ich nehme an, wir fahren heute Morgen nicht aufs Revier?«

»Guten Morgen, Mackinley«, erwiderte Hyde den Gruß. »Nein, noch nicht. Ich habe vorher noch zwei Termine …«

Als er Mackinley die erste Adresse gab, nickte der Constable-Kutscher grimmig. »Sehr gut, Sir.«

Es war paradoxerweise ein strahlender Ort voller Licht.

Der weiße Raum.

Sämtliche Wände waren weiß gekalkt, und sämtliches Holz, die Türen, der kleine Tisch an einer Wand, die Rahmen der Dachfenster, die Brüstung, die den Teil des Raums abtrennte, in dem Hyde und die anderen standen, der vertikale Holzpfeiler und sogar die Falltür waren weiß lackiert. In den Wänden waren keine Fenster, aber durch die großen Dachfenster fiel das morgendliche Licht in den Raum.

Es war außerdem ein ruhiger Ort. Hyde und die anderen, insgesamt sechs Personen, standen hinter der Brüstung und warteten in erwartungsvollem Schweigen.

Morrison, ein junger Mann, nicht einmal zweiundzwanzig, betrat den Raum und sah sich hastig um. Als müsste er seine Augen, die nach Eindrücken gierten, mit dem Anblick der Welt füttern. Er war groß, sehnig und breitschultrig, seine Haut war gerötet, und sein ungekämmtes Haar hatte die Farbe von Rost. Seine rötliche Hautfarbe wirkte in der weißen Stille des Raums noch lebhafter und wurde zudem von dem kragenlosen Hemd aus gebleichtem Leinen betont. Er sah Hyde bei den anderen stehen und nickte ihm grüßend zu. Ein unsicheres Lächeln flog kurz über seine Lippen. Einer seiner beiden Begleiter berührte seinen Ellbogen, und Morrison drehte sich zu ihm herum, fast als wollte er sich für seine Unaufmerksamkeit entschuldigen. Dann trat er vor.

»Hier, trink!«, befahl ihm der zweite Uniformierte brüsk und reichte ihm einen kleinen Becher mit einer klaren Flüssigkeit. Morrison tat wie geheißen und verzog das Gesicht, als er den Schnaps in einem Zug herunterstürzte. Ein kleiner Mann mit einem Schnauzbart, der etwa einen Kopf kleiner als Morrison war und einen dunklen Serge-Anzug trug, trat hinter der Balustrade hervor und ging auf den jungen Mann zu. Seine schnellen, entschiedenen Bewegungen kündigten von eingeübter, professioneller Gewohnheit. Er fesselte Morrisons Ellbogen mit einem Lederriemen, ging hinter ihm auf die Knie und legte ihm D-förmige Fußfesseln an. Morrison sah wieder in Hydes Richtung und schien etwas sagen zu wollen. Aber der kleine Mann nahm eine weiße Baumwollkapuze vom Tisch und schob sie Morrison über den Kopf. Mit der gleichen handwerklichen Geschicklichkeit zog er die Schlinge über die Kapuze, legte sie um Morrisons Hals und zog sie fest. In einer einzigen, schnellen und flüssigen Bewegung trat er zurück, legte die Hand auf einen Hebel und zog. Die Stille wurde von dem lauten Knall der Falltür gebrochen, die sich öffnete und durch die Morrison stürzte. Die Schleife in dem Seil lief durch eine Ledermanschette, und das Henkerseil straffte sich mit einem lauten Schnappen.

Morrisons Kopf war über der Falltür gerade noch zu sehen. Der Gehenkte zappelte, als zuckte er mit den Schultern, dann wurde er ruhig, bis auf ein kurzes, ersticktes Murmeln und das leichte Pendeln seines Körpers.

Vom Eintreten des jungen Steinbrucharbeiters in den weißen Raum bis zu seinem Abgang aus dem Leben hatte es weniger als dreißig Sekunden gedauert.

Der Governor des Calton Gaol Gefängnisses nickte der kleinen Gruppe Zeugen zu. Hyde stand neben Abercrombie, dem Polizeiarzt. Außerdem waren zwei Zeitungsreporter und zwei Vertreter des Büros des Staatsanwalts anwesend. Der Jüngere von beiden sah aus, als müsste er sich gleich übergeben. Alle verließen schweigend den weißen Raum des Henkerschuppens und sprachen erst, als sie in dem mit grünen und eierschalfarbenen Fliesen ausgelegten Gang des Gefängnisses standen.

»Ganz gleich, wie verdient es auch sein mag«, sagte Hyde zu Abercrombie, »es ist immer wieder ein trauriger Anblick. Mein Verstand will einfach nicht akzeptieren, dass es richtig ist.«

»Wir alle brauchen unsere Rituale«, erwiderte Abercrombie zerstreut, während er einen Blick auf seine Taschenuhr warf. Hyde wusste, dass der Arzt Tee mit dem Governor trinken würde, während er darauf wartete, dass die vorgeschriebene Stunde Hängezeit verstrich. Danach würden sie in die mit Ziegeln ausgekleidete Hinrichtungsgrube unter dem weißen Raum hinabsteigen und sich vergewissern, dass jegliches Leben aus dem Verurteilten gewichen war.

»Rituale?«, erkundigte sich Hyde.

»Das Henken ist ein ebenso religiöser Ritus wie jeder andere«, erklärte der Doktor. »Ein Opfer an das Allgemeinwohl. An die Religion des Gesetzes, der Ordnung. An die Götter der Justiz. Ein kleiner Akt, um das Universum wieder in seine korrekten Bahnen zu leiten. Und ehrlich gesagt, wenn jemand es verdiente, aufgeknüpft zu werden, dann war es Hugh Morrison. Das arme Kind …« Abercrombie beendete seinen Satz nicht.

Sie alle kannten die Geschichte. Mary Paton, die ihre gesamten acht Jahre im Elend der Mietskasernen verbracht hatte, war während des Spielens auf der Straße verschwunden. Man hatte ihre Leiche erst einen Monat später gefunden, halb verscharrt in einem Graben an einem ungenutzten Weg am Rand des Gypsy Brae Parks. Jemand hatte Äste und Zweige gesammelt und sie sorgfältig zu einem improvisierten Nest geflochten, wie einen primitiven Babykorb, bevor er ihre sterblichen Überreste hineingelegt und sie mit noch mehr Zweigen und Blättern bedeckt hatte. Die Öffentlichkeit hatte von der Besonderheit ihrer Ruhestätte Wind bekommen, und Mary Paton hatte als »Gypsy Brae Kind« und »Mädchen in der Hexenwiege« traurigen Ruhm erlangt.

Ihre sterblichen Überreste waren von Hugh Morrison entdeckt worden, der als Steinhauer im Duke of Buccleuch’s Granton Sea Quarry beschäftigt war. Morrison war zum Steinbruch gelaufen und hatte seinem Vorarbeiter von seiner finsteren Entdeckung erzählt. Der Vorarbeiter war mit ihm zum Tatort gegangen, bevor er anschließend die Behörden verständigt hatte.

Der Eindruck, den Morrison auf Hyde gemacht hatte, war nicht der eines Einfaltspinsels, sondern eher der eines Kindes im Körper eines Mannes. Jemand, der in seinem privaten Universum gefangen war, unfähig, die Mechanismen der Gesellschaft, der Gemeinschaft zu verstehen. Er unterschied sich von seinen Kollegen durch seine Gewohnheiten und seine Persönlichkeit, aber auch durch seine Herkunft: In Morrisons Sprache waren die Melodie und die Kadenz der Highlands unverkennbar. Bei anderen, vor allem unter seinen Arbeitskollegen, galt er einfach als »verrückt« oder sonderbar. Er sang bei der Arbeit oft vor sich hin und schien unfähig zu sein, mit seinen Kollegen in irgendeiner bedeutungsvollen Art und Weise Kontakt zu pflegen.

Und er war dafür bekannt, dass er sich gerne mit viel jüngeren Kindern umgab.

Am verräterischsten jedoch war, dass der junge Steinhauer nicht erklären konnte, warum er auf einem Weg unterwegs gewesen war, der schon ein Jahrzehnt lang nicht mehr benutzt wurde und so überwuchert war, dass er fast nicht mehr begehbar war. Ein sonderbarer Mann, der den sonderbaren Ruheplatz eines ermordeten Kindes entdeckte.

Es war unausweichlich gewesen, dass der Verdacht auf ihn fiel. Dieser Verdacht war durch keinerlei Beweise gestützt worden, aber noch bevor Hyde eine Chance bekam, den jungen Steinbrucharbeiter zu befragen, hatte man ein Geständnis aus ihm herausgeholt. In Wahrheit hatte der Zustand des toten Kindes die Constables von Granton so aufgestachelt, dass sie Gewalt angewendet und so etwas wie ein Geständnis aus Morrison herausgeprügelt hatten. Ein Geständnis, das der junge Highlander später vehement widerrufen sollte.

Hyde hatte nachgefragt, warum Morrison freiwillig das Versteck seines Opfers verraten sollte oder warum der angebliche Mörder nicht zu wissen schien, von welchem Ort das Mädchen entführt worden war. Beides wurde einfach der Einfältigkeit des Jünglings zugeschrieben, und Hydes Bedenken wurden abgetan und überstimmt. In Wahrheit hatten Morrisons bizarre Ausführungen seinem Fall noch mehr geschadet. Er hatte sowohl auf Englisch als auch auf Gälisch behauptet, dass das Kind dem cù dubh ifrinn zum Opfer gefallen sein musste, dem großen schwarzen Höllenhund, irgendeine mythische Bestie aus den Sagen der Highlands.

»Er hat mir geschworen, dass er unschuldig wäre«, sagte Hyde jetzt zu dem Polizeiarzt.

»Behaupten sie das nicht alle?«, entgegnete Abercrombie. »Ich selbst würde im Angesicht des Henkerstricks ebenfalls eher meine Unschuld beteuern, als ein Geständnis ablegen.«

»Ja«, bestätigte Hyde. »Ja, das tun sie. Aber normalerweise durchschaue ich ihre Lügen. Ich weiß nicht, ob das eine angeborene Eigenschaft ist oder eine Fähigkeit, die ich mir im Laufe der Jahre angeeignet habe. Aber normalerweise sehe ich die Wahrheit hinter der Lüge, sehe den Schatten der anderen Natur, die sie vor der Welt verbergen wollen.«

»Und Ihre Intuition hat Sie bei Morrison im Stich gelassen?«

»Das hat sie. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht gab es bei ihm keine dunkle Seite. Jedenfalls habe ich ihm geglaubt. Ich habe alles nur Erdenkliche versucht, um Beweise für seine Unschuld zu finden, aber ich bin gescheitert.«

»Ihr Ruf, die Wahrheit auszugraben, ist unvergleichlich. Es könnte doch sein, dass seine Behauptung einfach keine Wahrheit enthielt, die man hätte ans Licht bringen können.«

»Vielleicht«, räumte Hyde ein. »Aber ich kann einfach den Gedanken nicht abschütteln, dass wir gerade einen Unschuldigen hingerichtet haben.«

Sie gingen schweigend durch die mit Carbonsäure ausgespülten Hallen von Calton Gaol. Mackinley wartete draußen mit der Kutsche im Schatten der mit Türmchen geschmückten Residenz des Governors. Abercrombie blieb stehen, bevor er sich verabschiedete.

»Was ist mit diesem anderen Gehenkten?«, erkundigte er sich. »Jener kopfüber Aufgehängte am Water of Leith. Das ist einer der sonderbarsten Vorfälle, die Sie mir je gebracht haben. Ich glaube, er wurde an Dr. Bell weitergegeben, damit er die Leichenschau durchführt.«

»Heute Morgen, ja.«

»Eine sonderbare Sache, Hyde. Eine wirklich sonderbare Angelegenheit.«

KAPITEL FÜNF

Es war ein Ort, der der Ablenkung geweiht war, der Unterhaltung, ein Platz, in dem Gelächter und Applaus widerhallen sollten. Doch als Hyde aus dem hellen Tageslicht und der trostlosen farblosen Einfachheit des Henkerschuppens dort eintrat, kam es ihm vor, als betrete er eine rote Höhle.

Vielleicht beruhte seine Reaktion auf seiner Kenntnis der vorübergehenden Funktion des Theaters.

Wie in allen Auditorien lag auch in diesem Theater der Fokus auf der Bühne. Die Architektur des Gebäudes schien sich erwartungsvoll darum herum zu gruppieren. Der Zuschauersaal hatte drei Ränge. Die goldenen Rahmen der Klappstühle waren luxuriös mit kirschrotem Stoff gepolstert. Sie waren in eng geschlossenen gestuften Bögen arrangiert. Logen flankierten die Bühne, drei Ränge von je drei Logen an beiden Seiten. Ihre geschwungenen knochenfarbigen Bäuche waren mit rotem Glas verziert, das wie Blutstropfen wirkte. Alles andere war rot: Weinrote Kletterpflanzen mit Laubwerk erstreckten sich verschlungen auf der Wandtapete. Die schweren Bühnenvorhänge waren karminrot, und die Falten und Samtvorhänge, die das Bühnenportal verdeckten, waren von einem dunklen Scharlachrot. Die Schirme, die die zurzeit nicht angezündeten Glühstrümpfe in den reich verzierten Gaslampen an der Wand verdeckten, waren aus rotem Glas. Trat man aus dem Tageslicht der Straße hier herein, hatte die einen umhüllende rote Dunkelheit etwas Anatomisches, fast Organisches.

Der einzige hell erleuchtete Bereich des Theaters war die Bühne selbst, wo der Lichtkegel nur zwei Akteure beleuchtete. Dr. Joseph Bell mit seinen blutigen Händen und den Mann, der auf dem fahrbaren Seziertisch lag und von dem Pathologen untersucht wurde. Es war klar, dass der Liegende keine aktive Rolle mehr in irgendeinem Drama dieser Welt spielen würde.

»Ah, Hyde …« Dr. Bell richtete sich auf und lächelte strahlend. Der Anatom und Pathologe war groß, glatt rasiert und um die fünfzig. Er hatte seine wilde Mähne vorzeitig ergrauten Haares aus seiner breiten Stirn zurückgekämmt, die Hemdärmel bis über die Ellbogen aufgerollt, und seine Weste und Hose wurden von einer Gummischürze geschützt. »Endlich ein Zuschauer für meine Darbietung.«

»Ich wusste ja, dass Sie einen Hang zur Theatralik haben, Doktor, aber das hier …« Hyde deutete lächelnd auf ihre Umgebung.

»Früher habe ich an vielen Orten Autopsien durchgeführt, angefangen von Lazarettzelten und verlassenen Kirchen bis hin zu Hinterzimmern in Kaschemmen oder den Heimen der Verschiedenen. Aber ich stimme Ihnen zu, dies hier ist ein wenig … prunkvoller. Sie haben natürlich von diesem schrecklichen Feuer im Spital gehört, nehme ich an? Unsere Sektionshalle und die Untersuchungsräume stehen uns für mindestens drei Wochen nicht zur Verfügung. Deshalb sind wir in der Zwischenzeit bedauerlicherweise eine fahrende Truppe …« Bell winkte mit den langen dünnen Fingern seiner blutigen Hand, wie in einem Echo von Hydes Geste zuvor. »Wir können das Theater allerdings nur eine Woche lang nutzen, dann müssen wir Shakespeare die Bühne überlassen. Macbeth, glaube ich. Letztlich eine weit blutrünstigere Veranstaltung als dies hier.«

»Wie ich sehe, geben Sie bis dahin eine Solovorstellung«, sagte Hyde.

»Was? Oh, nein … Mein Assistent ist nur gerade hinausgegangen, um Werkzeug zu holen.«

»Assistiert Ihnen heute Dr. Conan Doyle?«

»Nein, heute nicht. Bedauerlicherweise hat uns der junge Arthur verlassen, um eine Allgemeinpraxis an der Südküste von England zu eröffnen. Ehrlich gesagt glaube ich, dass die Leidenschaft meines ehemaligen Angestellten eher im Schreiben als im Verschreiben liegt – sein Abschiedsgeschenk war ein Versprechen, mich zu niemandem Geringeren als zum Detektivhelden einer seiner Geschichten zu machen. Deshalb assistiert mir heute Dr. Burr.« Joseph Bell lächelte. Hyde, der sich seiner eigenen groben Robustheit gewahr war, beneidete den Pathologen oft um seine natürliche vornehme Eleganz. »Haben Sie Dr. Burr schon kennengelernt? Nein? Ein bemerkenswerter junger Arzt. Jedenfalls sind wir im Moment ein wenig eingeschränkt. Es bereitet verdammt viele Umstände, dass wir unsere übliche Umgebung räumen mussten, wo alles stets zur Hand war.« Bell deutete mit einem Nicken auf die Leiche auf dem Seziertisch. »Dieser Gentleman ist einer von Ihren Kunden, nehme ich an?«

Hyde blickte auf den Leichnam. Der Tod erzeugte seine eigenen Muster. Er bleichte die Haut hier, machte sie dort dunkler, wenn das Blut, seines Antriebs beraubt, sich dort sammelte, wo die Schwerkraft es diktierte. Und der Tod bestimmte auch schon durch seine Natur die Vitalität. Der Effekt war, dass er den Betroffenen älter machte, ihm die Jugend raubte. Als Hyde im Licht seiner Lampe auf die kopfüber hängende Gestalt geblickt hatte, die über dem tosenden Wasser des Wehrs von Dean Village baumelte, hatte er deshalb den Eindruck eines älteren, vom Leben gezeichneten Mannes gewonnen. Aber als das Opfer jetzt auf dem Sektionstisch lag, wurde deutlich, dass er noch ziemlich jung gewesen war. Dieser Körper hatte noch feste Muskeln.

Da die Leiche mit dem Kopf nach unten gehangen hatte, war das Gesicht voller widerlicher Leichenflecke. Ein Teil des Blutes, das sich dort gesammelt hatte, war gewichen, aber die Lippen und Augenlider waren immer noch tiefrot und geschwollen, die Haut von spinnennetzartigen tintenfarbenen Kapillaren überzogen. Der dunkle Teint wurde von dem hellblonden Haar, dem Backenbart und dem Schnauzbart des Mannes noch betont. Trotz der düsteren Farben des Todes wirkte das Gesicht jedoch recht jugendlich.

»Bedauerlicherweise ja, er ist einer von meinen«, antwortete er. »Er hing kopfüber an einem Baum mit dem Kopf im Wasser. Ist er …?«

»Ertrunken?« Bell blickte auf die Leiche, schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Es gibt kein Wasser in seinen Lungen, und er ist auch nicht an den Brustverletzungen gestorben. Die Entnahme des Herzens und das Eintauchen des Kopfes ins Wasser fanden beide post mortem statt.«

»Was hat ihn dann getötet?«, fragte Hyde.

Joseph Bells Antwort wurde vom lauten Knall einer zufallenden Tür in den Kulissen unterbrochen. »Ah, Ruhe bitte!, wie man im Theater sagt. Das wird mein Assistent sein. Dr. Burr hat die erste Untersuchung durchgeführt und kann all Ihre Fragen beantworten.«