Devil's Playground - Craig Russell - E-Book

Devil's Playground E-Book

Craig Russell

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Beschreibung

Hochspannend – mitreißend – meisterhaft.

Hollywood 1927: Mary Rourke, eigentlich PR-Frau einer Film-Company, wird in die Villa von Norma Carlton gerufen, einem Star des amerikanischen Stummfilms. Norma hat in einem geheimen Film mit dem Titel Devil's Playground mitgespielt, der angeblich einen tödlichen Fluch auf alle an der Produktion Beteiligten gelegt hat. Als Mary die Schauspielerin tot auffindet, bekommt sie von ihrem Filmboss den Auftrag, diesen Mord zu vertuschen. Doch damit setzt sie eine Serie von Morden in Gang, wie selbst Hollywood sie noch nicht gesehen hat. Denn nichts ist, wie es scheint, und Mary kann niemanden trauen – nicht einmal in ihren eigenen Augen. 

Ein grandioser Thriller über Ruhm, falsches Glück und gefährliche Illusionen. Ein absolutes Meisterwerk!

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Seitenzahl: 591

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Über das Buch

1927: Mary Rourke, eine Frau für alle heiklen Angelegenheiten in ihrer Film-Company, wird dringend in das palastartige Haus von Norma Carlton gerufen, einem der bekanntesten Stars des amerikanischen Stummfilms. Norma hat an dem geheimen Film gearbeitet, über den alle reden – ein Horrorfilm mit dem Titel Devil's Playground, der Gerüchten zufolge einen Fluch auf alle an der Produktion Beteiligten gelegt hat. Als Mary den kalten, toten Körper der Schauspielerin findet, fragt sie sich einen Moment lang, ob an diesen dunklen Gerüchten etwas dran sein könnte. Und muss erleben, wie sie selbst in den mörderischen Bann dieses Films gerät.

1967: Paul Conway, ein Journalist und bekennender Filmliebhaber, ist einem verlockenden Gerücht auf der Spur. Er hat gehört, dass eine einzige Kopie von Devil's Playground – ein heiliger Gral für Filmliebhaber – existieren könnte. Er macht sich auf zu einem Hotel, das irgendwo mitten in der Wüste liegt, und tatsächlich scheint er am Ziel zu sein. Bis er erkennt, in welch eine Gefahr er sich begeben hat.

Devil's Playground ist Craig Russells Meisterwerk, ein reich recherchierter und konstruierter Thriller, der das Goldene Zeitalter Hollywoods beschreibt und eine blühende Industrie enthüllt, die auf Geheimnissen, erfundenen Identitäten und dem verzweifelten Streben nach Geld und Ruhm aufbaut.

Über Craig Russell

Craig Russell, 1956 geboren, wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, seine Bücher wurden in 23 Sprachen übersetzt. Er lebt in der Nähe von Edinburgh.

Im Aufbau Taschenbuch sind die Romane um den Hamburger Ermittler Jan Fabel lieferbar: »Blutadler«, »Wolfsfährte« und »Auferstehung« sowie »Wo der Teufel ruht«.

Bei Rütten & Loening erschien zuletzt: »Der geheimnisvolle Mr. Hyde«.

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Craig Russell

Devil's Playground

Ein Film – ein Fluch – ein tödliches Geheimnis

Thriller

Aus dem Englischen von Wolfgang Thon

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Motto

TEIL I

1967 Sudden Lake

1

1927 Hollywood

2

3

4

1897 Kansas

5

1927 Hollywood

6

7

1907 Louisiana

8

1927 Hollywood

9

10

11

1897 Kansas

12

1927 Hollywood

13

14

1907 Louisiana

15

16

1927 Hollywood

17

18

1907 Louisiana

19

1927 Hollywood

20

21

1967 Sudden Lake

22

TEIL II

1967 Sudden Lake

23

1927 Hollywood

24

25

26

27

1907 Louisiana

28

1927 Hollywood

29

30

31

32

1907 Louisiana

33

34

1927 Hollywood

35

36

TEIL III

1967 Sudden Lake

37

1907 Louisiana und Arkansas

38

1927 Hollywood

39

40

41

42

43

44

45

46

1910 Kansas

47

1927 Hollywood

48

TEIL IV

Ein Jahr später: 1928 Hollywood

49

50

51

52

EPILOG

1967 Sudden Lake

53

Ein Jahr zuvor: 1966 Santa Barbara

54

1967 Sudden Lake

55

Impressum

»Ihr vertraut auf das Feuer und glaubt, es kann mich vernichten. Aber das Feuer ist meine Welt; die Flamme das Gelächter, das mich nährt; der ewig lodernde Höllenschlund mein Zuhause.«

»Es freue sich, wer will. Die Stadt Ouxbois brennt.«

»Doch vergesst nicht:

ICH KOMME WIEDER …«

»… denn ich schlummere nur in der Hölle und verlasse die Welt nur, solange ihr meinen Namen nicht aussprecht.«

»Doch eines Tages – wenn diese Geschehnisse und Ruhmestaten in der Erinnerung verblassen, und eure Furcht vor ihnen und vor mir – wird jemand meine Geschichte neu erzählen.«

»Und wenn meine Geschichte neu erzählt wird …«

»DANN WERDE ICH WIEDERGEBOREN, UM VON NEUEM AUF ERDEN

ZU WANDELN!«

Der Dämon und Herr der Hölle Ba’al Zebub über die Vernichtung der Stadt Ouxbois durch das Feuer der Inquisition.

Erhaltene Zwischentitelkarten aus »Devil’s Playground«, 1927, Carbine International Inc.

Aus dem Drehbuch von Nathan Milcom nach dem gleichnamigen Roman, der 1807 von Pierre Lanton, einem exkommunizierten Jesuitenpriester, geschrieben wurde.

TEIL I

1967 Sudden Lake

1

Ihn zu finden dauert Stunden, was ihm klar gewesen war.

Glatter Highway-Asphalt weicht einem schwarzen Belag, der von der glutheißen Sonne zu Schuppen wie von Schlangenhaut gebrannt wurde, der wiederum in staubtrockene Schotterpisten übergeht. Paul Conways Rambler pflügt mit einer Staubwolke hinter sich durch einen Ozean verdorrter Erde, auf dem keine anderen Autos fahren. Er sieht auch keine Raststätten, Tankstellen oder bewohnte Inseln, wo er anhalten und nach dem Weg fragen könnte. Das einzige andere Fahrzeug, an dem er vorbeikommt, ist das verrostete Wrack eines Lastwagens am Straßenrand. Aufgegeben, verwittert und ausgeblichen wird es durch zwanzig Jahre der Vergessenheit allmählich von der Wüste zermahlen.

Ansonsten ist da nur die riesige, bleiche, höllisch heiße Wüste, die sich grau und weiß, gelb und rostbraun bis zu den dunklen Bergen am Horizont erstreckt.

Jemand hat einmal gesagt, die Wüste habe eine besondere Schönheit. Conway kann sich nicht mehr erinnern, von wem der Spruch stammt und ob es sich um eine reale Person oder nur um eine Filmfigur handelte. Wäre nicht das erste Mal, dass er die beiden Welten durcheinanderbringt. Vielleicht war nicht einmal von einer echten Wüste die Rede gewesen, vielleicht ging es nur um eine Kulisse: das, was sich ein Filmemacher unter einer Wüste vorstellte. Wer auch immer es gesagt hat, Conway sieht hier keine einzigartige Schönheit. Für ihn hat die Wüste nichts Schönes. Sie ist leer. Toter Raum.

Andererseits weiß Conway, dass er die Welt nicht so sieht oder erlebt, wie andere es tun. Das hat er noch nie getan, und das hat ihn zu dem Beruf geführt, den er jetzt ausübt und in dem er glänzt. Ein Teil dieser angeborenen Andersartigkeit führt dazu, dass ständig Filmszenen – die er vollständig und fehlerfrei in Erinnerung hat – in seinem Kopf ablaufen und die vorgefertigte Zelluloid-Realität gegen den harten Alltag des Lebens stellen.

Bei seiner Fahrt durch die Wüste wird unaufgefordert die Schlussszene von von Stroheims Gier auf die Leinwand seines Geistes projiziert. Für Conway gibt es in der ganzen Filmgeschichte keine andere Szene, die das Reale und das Irreale so miteinander vermengt. Er weiß, dass von Stroheim in seinem fast zwanghaften Drang nach Authentizität die Szene im Death Valley im Hochsommer um die Mittagszeit drehte und sie mehrmals wiederholte. Schauspieler und Crew kehrten von den monatelangen Dreharbeiten mit Blasen und Verbrennungen zurück; einer kam um, viele wurden in Krankenhäuser eingeliefert und starben fast am Hitzschlag. Co-Star Jean Hersholt erbrach Blut, als ihm in der Hitze Adern platzten.

Aber, verdammt, sagt sich Conway, was für eine Szene! Die Figur McTeague hockt in der prallen Sonne, ohne Schlüssel für die Handschellen an den Mann gefesselt, den er gerade getötet hat, das Geld, für das er betrogen und gemordet hat, liegt knapp außer seiner Reichweite, das letzte Wasser aus seiner von Kugeln durchlöcherten Feldflasche ist ausgelaufen und verdunstet.

Tantalus im Tal des Todes.

Vielleicht war das die Wahrheit der Wüste. Die Wüste als Tod, als vernichtendes Urteil und ausgedörrtes Fegefeuer.

Conway verdrängt die Szene aus seinen Gedanken. Er sucht die Straße nach einem markanten Punkt ab, der ihm zeigt, dass er sich seinem Ziel nähert.

Nach mehreren staubigen Stopps, in denen er die Straßenkarte studiert, die sich jedem Versuch widersetzt, sie zusammenzufalten, will er schon aufgeben, als er die gesuchte Abzweigung findet. Es ist kaum mehr als eine Geröllpiste, die sich wie ein trockener, toter Mund am Straßenrand öffnet. Ein uraltes Holzschild, das schon lange von seinem Pfosten abgefallen ist, lehnt an einem Felsen auf dem Boden. Das Schild ist so verblasst und vom Sand abgeschliffen, dass Conway den Namen darauf nicht entziffern könnte, wenn er ihn nicht wüsste. Doch er kennt den Namen, und im Geiste zeichnet er die schwachen Konturen auf dem Schild nach.

Sudden Lake.

Die Wüste grollt und knirscht unter den Reifen des Rambler, als er auf die noch rauere Piste einbiegt. Conway entdeckt es fast sofort. Es ist ein bizarrer und einschüchternder Anblick: schwarz und zerklüftet wie ein dunkles Ungetüm, das aus der gebleichten Haut der Wüste wächst. Als er näherkommt, sieht er es allmählich deutlicher: ein riesiges altes Haus, hoch und abweisend, mit einem Wirrwarr von nachgemachten viktorianischen Giebeln und Mansardendächern, die in den sterilen, blassblauen Himmel ragen. Das Haus liegt in einer lang gestreckten, breiten Senke, zwei Meilen breit und zwei lang wie ein riesiger, flacher Krater, ausgeblichener als die Wüste rundum und stellenweise fast weiß. Die skelettartigen Ruinen anderer Gebäude liegen verstreut um die Mulde herum, als wären sie an ihrem wasserlosen Rand verdurstet.

Er verlangsamt das Tempo, als er sich dem Haus nähert. Das Holz der Dachschindeln, der tiefen Dachtraufe und der Schindelverkleidung wurde im Laufe der Jahre immer dunkler gebeizt, bis das Haus zu einer grotesken schwarzen Silhouette in der Wüste geworden ist, unempfindlich für das skalpellscharfe Sonnenlicht.

Mein Gott, denkt er, das ist ja wie eine Filmkulisse. Er lacht leise, weil der Gedanke so seltsam zutreffend ist, aber gleichzeitig empfindet er Unbehagen, als hätte er Mühe, diese Szenerie einer seiner Welten zuzuordnen.

Dann wird ihm klar, dass das Gebäude zu groß für ein Wohnhaus ist. Ein Hotel? Hier draußen, mitten im Nirgendwo? Was auch immer es sein mag, nichts könnte in dieser Umgebung deplatzierter wirken.

Vor dem Haus rostet ein alter Packard unbestimmten Baujahrs auf zerbröselnden Reifen vor sich hin, und ein neuerer Airstream-Wohnwagen glänzt in der Sonne. Eine noch modernere Limousine parkt im Schatten eines Schuppentors.

Sie wartet auf ihn.

Als er draußen anhält, steht sie schon oben auf der Treppe an der Haustür. Sie hält mit der Schulter die Fliegengittertür auf und beschattet ihre Augen mit einer schlanken, gebräunten Hand. Vermutlich hat sie die Staubwolke gesehen, die der Rambler die ganze halbe Meile entlang der Zufahrtsstraße zum Haus aufgewirbelt hat. Warum, denkt er, lebt eine Frau in ihrem Alter so weit weg von allem, ohne Nachbarn oder Hilfe im Umkreis von mehreren Kilometern? Er fragt sich das, obwohl er die Antwort auf diese Frage ziemlich genau kennt.

Conway steigt aus dem klimatisierten Kokon des Autos, und sofort schlägt ihm die Hitze entgegen. Trocken, scharf und unerbittlich. Er macht einen Schritt auf sie zu, und ein Hund – ein riesiges, dunkles Ungetüm von einem Hund – löst sich aus dem Schatten der Tür und wittert, als hätte er den Geruch von Frischfleisch aufgenommen.

»Ist schon okay«, sagt sie, macht eine kleine Handbewegung, und der Hund setzt sich. »Er ist harmlos.«

»Hallo, Junge.« Conway nähert sich nervös dem Fuß der Treppe. Der Hund sitzt teilnahmslos da und starrt ihn ungerührt an. »Wie heißt er?«, fragt er.

»Golly.«

»Golly?«

»Kurzform für Golem.«

»Oh, verstehe … er ist Ihr Beschützer …«

»In gewisser Weise. Ich habe ihn nach einem alten Freund benannt.«

»Ein Freund von damals?«, fragt Conway.

»Kommen Sie rein.« Sie ignoriert seine Frage. Eine weitere Handbewegung und der Hund folgt ihr. Beide werden vom schwarzen Maul der Türöffnung verschluckt. Wie der Hund gehorcht auch Conway ihrer Aufforderung.

Er steckt seine Sonnenbrille in die Brusttasche seines Hemdes, und es dauert einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Dann wird eine große Lobby sichtbar. Jetzt ist klar, dass es sich um ein Hotel handelt, wenigstens ist es vor langer Zeit eins gewesen. In der Lobby herrscht eine Aura von Vergessenheit, aber sie ist peinlich sauber. Er vermutet, dass sie täglich gefegt werden muss, damit sie nicht dem Zugriff der unablässig forschenden, staubigen Finger der Wüste anheimfällt.

»Ein toller Schuppen ist das«, sagt Conway schließlich.

»Das Haus wurde in den frühen zwanziger Jahren gebaut«, erklärt sie gelangweilt. Sie kehrt ihm den Rücken zu, während sie vor ihm durch die Lobby geht. »Die große Salzpfanne da hinten war damals der Sudden Lake.«

»Es gab hier wirklich einen See?«

»Etwa dreißig Jahre lang. Er wurde Sudden Lake genannt, weil er dort 1910 innerhalb weniger Monate entstanden ist.«

»Ein ganzer See ist einfach so aufgetaucht?«, fragt er.

Sie kehrt ihm immer noch den Rücken zu und zuckt mit den Schultern. »Ein Fluss hat nach ungewöhnlich starken Regenfällen seinen Lauf geändert. Es heißt, das Becken wäre schon da gewesen, Überbleibsel eines prähistorischen Sees, der nur darauf wartete, wieder gefüllt zu werden. Ich schätze, jetzt wartet er die nächste Million Jahre darauf, wieder gefüllt zu werden.«

»Und das Hotel wurde wegen des Sees gebaut?«

Sie bleibt stehen und dreht sich zu ihm um. Er sieht ihre Züge zum ersten Mal deutlich, und ein Schauer des Erkennens durchfährt ihn. Sie strahlt noch eine verblasste Glorie aus. Ihr Haar ist strahlend weiß und hebt sich von der tiefen Bräune ihres Gesichts ab. Würde sie es färben, könnte sie als eine zwanzig Jahre jüngere Frau durchgehen. Am meisten fasziniert ihn, dass es ein Gesicht ist, das er so gut kennt – aber nicht so gealtert, wie es jetzt ist, sondern in seiner vergangenen, von der Kamera festgehaltenen, makellosen Jugend. Wenn er sie jetzt ansieht, erkennt er noch die Grundzüge der Schönheit, die ihr jüngeres Ich ausgezeichnet hatte. Als betrachtete er ein klassisches Monument – die Akropolis oder die Sphinx von Gizeh –, wo die Spuren des ursprünglichen, längst vergangenen Glanzes durch die zerstörerische Wirkung der Zeit hindurchscheinen.

»Damals war es eine richtige Attraktion«, antwortet sie auf seine Frage. Ihr Ton ist distanziert, als redete sie von einem fernen Ort, über den sie etwas gelesen hat, und nicht über die Architektur, die sie umgibt, über das Haus, das sie bewohnt. »Ein New Yorker Finanzier zog mit seiner Familie um 1920 oder 21 hierher und baute dieses Hotel und eine Menge Hütten rund um den See. Er war sich sicher, dass der Sudden Lake das nächste große Ding werden würde – der See und das Kino –, also integrierte er einen Kinosaal in das Hotel.«

»Was ist mit dem See passiert?«

»Ein kleines Erdbeben im Norden lenkte den Lauf des Flusses wieder um. Der See wurde nicht mehr mit Wasser gespeist und begann zu verdampfen. Er wurde immer salziger, bis alles, was in seiner Nähe lebte, vergiftet war. Der letzte Soletümpel trocknete irgendwann während des letzten Krieges aus. Kommen Sie, ich habe im Salon alles vorbereitet.« Sie wendet sich wieder von ihm ab und geht weiter durch die Eingangshalle.

»Was ist aus dem Finanzier geworden?«, fragt Conway, während er ihr folgt.

»Der Börsencrash von 29 und das Austrocknen des Sees haben ihn ruiniert. Er ging raus zu dem, was vom See übrig geblieben war, stellte sich in die Mittagssonne und trank von der Salzlake, um sich umzubringen.«

Conway blickt durch den Bogen, der die Eingangshalle mit einer großen Halle verbindet. Hinter den Panoramafenstern der Halle sieht er das weite, wasserlose Seebett, so weiß und trocken wie ein sonnengebleichter Knochen.

»Die Salzlake, die er getrunken hat, hat ihn aber nicht so schnell getötet, wie er gedacht hatte«, fährt sie in demselben leidenschaftslosen Ton fort. »Es hat Stunden gedauert, und er wurde wahnsinnig, bevor er starb. Sein Gehirn ist durch das Salz und die Hitze angeschwollen. Er lief von der Sonne scharlachrot verbrannt und wie von Sinnen ins Hotel zurück, blutete aus Ohren und Nase. Dann ermordete er dort im Speisesaal seine Frau und seine vier Kinder …«, sie deutet mit einem Nicken zum Türbogen, »… bevor ihn das Salz schließlich umbrachte. So erzählt man es sich jedenfalls.«

Sie führt ihn in einen mittelgroßen, aufgeräumten Salon, dessen Wände mit Büchern tapeziert sind. Von dort führt ein Korridor zu einer kleinen Küche und einer weiteren Tür, einem Schlafzimmer, wie Conway annimmt. Er hat das Gefühl, dass dies der einzige regelmäßig genutzte Teil des Gebäudes ist und dass dies hier früher einmal eine Art Personalwohnung war.

»Das hier war die Unterkunft des Nachtportiers«, sagt sie, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte.

Die Holzlamellen der Fensterläden im Salon sind gegen die strenge Wüstensonne geneigt. Ein rotes Chesterfield-Ledersofa und zwei Klubsessel sind um einen Couchtisch gruppiert. Neben dem Fenster steht ein Mahagonisekretär, mit hochgeschobenen Rollläden. Sie geben den Blick auf eine vierzig Jahre alte Remington-Schreibmaschine frei, die glänzt wie neu. Die Bücher stehen säuberlich geordnet in staubfreien Regalen.

Alles ist peinlich sauber, aber nichts ist neu. Conway spürt die unharmonischen Proportionen. Dieses Mobiliar, sämtlich von hoher Qualität, wurde vor langer Zeit für einen viel größeren, prächtigeren Raum angefertigt. Sie hatte vor all den Jahren nur ein paar Dinge auswählen können, die sie mitnehmen durfte, denkt er. Damals, als das alles geschah.

Aber irgendetwas fehlt in diesem Raum – es ist eine Abwesenheit, die er nicht zuordnen kann und die ihn beschäftigt.

»Sitz«, sagt sie, und Conway ist sich nicht sicher, ob sie mit ihm oder dem Hund spricht, aber sie gehorchen beide gleichzeitig. Er stellt seine Aktentasche neben seinem Sessel auf den Boden.

»Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagt er. »Ich habe mich verfahren. Sie leben hier ganz schön weit weg von allem.«

»Ja«, antwortet sie, und damit ist das Thema ihrer Abgeschiedenheit abgehakt.

»Ich kann kaum glauben, dass ich Sie überhaupt gefunden habe.« Er deutet mit der Hand auf ihre Umgebung. »Ich hätte es nie für möglich gehalten. Ich verstehe nur nicht, warum Sie damals auf dem Höhepunkt Ihrer Karriere alles aufgegeben haben – und warum Sie sich so viel Mühe gemacht haben, von der Bildfläche zu verschwinden.«

»Ich hatte meine Gründe.« Wieder ein Thema abgehakt. »Ich habe Limonade gemacht.«

Sie steht auf und geht in die Küche. Er fühlt, wie unter seinem Hemd zwischen seinen Schulterblättern ein Rinnsal von Schweiß herunterläuft, was sich wie eine warme Fingerspitze anfühlt, die seine Wirbelsäule abtastet. Er nimmt den Raum genauer in Augenschein, während der Hund ihn seinerseits mit kohlschwarzen Augen beobachtet. In Ermangelung einer Klimaanlage surrt ein Deckenventilator, wenn auch ziemlich wirkungslos. Er spielt mit dem Gedanken, aufzustehen, um die Bücher in den Regalen zu betrachten, aber der schwarze Blick des riesigen Hundes hält ihn am Platz.

Was hat er sich da eingebrockt? Und doch zerrt die Abwesenheit im Raum an ihm wie ein ungeduldiges Kind am Ärmel der Eltern. Dann wird es ihm klar.

Es gibt kein Fernsehgerät.

Das ist es: kein Fernseher. Nachdem er es gemerkt hat, fühlt er sich erleichtert. Aber da ist noch mehr, beziehungsweise weniger als das. Er registriert eine noch größere Abwesenheit: Keine Fotos an den Wänden oder in den Bücherregalen, an der Bilderleiste hängt kein Gemälde. Das hier ist ein Raum ohne Bilder. Es gibt keine Simulationen, keine simulierte Realität. Hier gibt es nur das raue, heiße, begrenzte Hier-und-Jetzt des Raumes und die raue, heiße, grenzenlose Wüste dahinter.

Sie kommt zurück. In den Händen hält sie ein Tablett mit einem Krug und zwei Gläsern, die bereits mit Limonade gefüllt sind. Sie stellt es auf den Couchtisch und reicht Conway ein Glas, dann nimmt sie sich das andere und setzt sich in den Sessel ihm gegenüber.

Er nippt an der Limonade und verzieht leicht das Gesicht, weil sie so sauer ist.

»Danke, dass Sie mich empfangen«, sagt er.

»Sie haben mir keine andere Wahl gelassen.« In ihrer Antwort schwingt keine Spur von Bitterkeit mit.

»Das tut mir leid«, sagt er, obwohl das nicht stimmt. »Ich weiß, wie viel Wert Sie darauf gelegt haben …«, er ringt um das passende Wort, »… unterzutauchen.«

»Sie haben sonst niemandem gesagt, wo ich wohne? Oder dass ich überhaupt noch lebe?«

»Nein, ich halte mich an unsere telefonische Vereinbarung. Mir ist bewusst, warum Sie die Einsamkeit gewählt haben, und ich respektiere das.« Er hält inne. »Weil Sie die Letzte sind. Sie sind doch die Letzte, stimmt’s?«

»Sie haben das alles selbst recherchiert. Also müssten Sie es wissen.«

»So ist es auch«, bestätigt Conway. »Alle anderen sind tot. Tot oder verschwunden. Alle, die mit dem Film, dem Drehbuch und dem Buch, das den Autor inspiriert hatte, zu tun hatten. Opfer des Fluchs von Devil’s Playground, wie man es in Hollywood nennt. Ich dachte wie alle anderen auch, Sie wären ebenfalls tot, bis ich Sie aufgespürt habe. Aber keine Sorge, Ihr Geheimnis ist bei mir sicher – und das wird es auch bleiben.«

»Sie glauben also, dass ich deshalb hier bin – weil ich vor einem Fluch davonlaufe? Mich vor einem Dämon verstecke, der in die Welt zurückgekehrt ist, weil wir seine Geschichte erzählten?« Sie lacht verächtlich auf. »Sie glauben doch nicht ernsthaft an diese ganze – Mythologisierung? Es war nur ein Film. Er war großartig, er war schön, aber es war ein Film. Nur ein Film.«

»Es war viel mehr als nur ein Film«, widerspricht er. »Was die Mythologie betrifft – darauf gründet Hollywood, damit wird gehandelt. Es hat seine Götter wie der Olymp, seine Teufel und Ungetüme wie der Hades.«

»Und warum ist das so wichtig für Sie, Mr Conway?«

»Dr. Conway«, korrigiert er sie. »Ich habe einen Doktortitel in Filmgeschichte.«

»Warum haben Sie nach mir gesucht, Dr. Conway?«

Er lässt sich einen Moment Zeit, bevor er antwortet, und streicht sich das schweißnasse, rotblonde Haar aus den Augen. »Den sehr wenigen zufolge, die den Film gesehen haben, bevor er bei dem Brand im Studio verloren ging, ist Devil’s Playground der beste Horrorfilm aller Zeiten, ob mit oder ohne Ton. Aber er ist verschollen. Der bedeutendste Verlust in der Filmgeschichte, zusammen mit dem verschollenen Filmmaterial von von Stroheims ›Gier‹.«

»Das weiß ich alles«, sagt sie ungeduldig. »Als die Lagerhalle des Studios abbrannte, gingen das Master und sämtliche Kopien verloren. Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen helfen kann.«

»Es gibt das Gerücht – was wiederum fast eine Legende ist –, dass eine Kopie, nur eine einzige Kopie, von Devil’s Playground den Brand überstanden haben soll. Alle Nachforschungen, die ich angestellt habe, deuten darauf hin, dass nur eine Person wissen könnte, wo sich diese Kopie befindet – die einzige Person, die all die Pannen, die Unfälle am Set, die mysteriösen Todesfälle und das Verschwinden von Mitarbeitern überlebt hat, die dem Film den Ruf einer verfluchten Produktion eingebracht haben. Und nur Sie sind noch übrig. Sie sind die Einzige, die noch am Leben ist.«

Sie nippt an ihrer Limonade. »Nun gut, ich kann nur sagen, dass Sie an einem merkwürdigen Ort nach Ihrem verlorenen Meisterwerk suchen.« Sie deutet mit einem Nicken zum Fenster, dessen schräge Lamellen die blendenden Sonnenstrahlen dämpfen. »Um diese Jahreszeit herrschen da draußen fast fünfzig Grad Celsius. Und so gut wie keine Luftfeuchtigkeit. Wissen Sie, was mit alten Nitrofilmen passiert, wenn die Temperatur über einundzwanzig Grad steigt?«

»Glauben Sie mir, ich weiß, wie heiß es ist.« Conway macht eine Pause und trocknet mit einem Taschentuch seine sommersprossige Stirn. »Aber man munkelt, dass die erhaltene Nitrokopie in den vierziger Jahren auf Sicherheitsfilm umkopiert wurde. Ich bin hier, weil mich jemand gebeten hat, diese letzte existierende Filmkopie aufzuspüren. Die Person, die mich engagiert hat, ist bereit, eine sehr hohe Summe für diese Kopie zu zahlen.«

»Wer ist dieser Jemand? Und warum hat er Sie als Spürhund engagiert?«

»Ich kann den Namen meines Klienten nicht preisgeben. Aus Gründen der Diskretion. Sagen wir einfach, es handelt sich um jemanden, der ein besonderes Interesse an solchen Dingen hat.«

»Solche Dinge?«

Conway zuckt mit den Schultern. »Verloren geglaubte Filme. Verschollene Klassiker. Insbesondere dieser verschollene Klassiker. Wie Sie schon sagten, ist Nitrozellulosefilm notorisch instabil und entzündlich. Da sich Filmmaterial mit der Zeit zersetzt, zerfällt, sich spontan entzündet, oder die Studios das Silber daraus recyclen wollen oder die Filmrollen im Laufe der Jahre einfach im Müll landeten, sind unzählige epische Stummfilme verloren gegangen. Und was selten ist, wird wertvoll – wie gesagt, es gibt Leute, die bereit sind, ein Vermögen auszugeben, um sich noch existierende Filmkopien zu sichern. Vor allem nach dem Brand im Tresor von 20th Century Fox im Jahr 1937 und dem Brand des MGM-Tresors vor ein paar Jahren. Ein Käufer – ein anderer Käufer – hat mir fünfzigtausend Dollar geboten, wenn ich eine Kopie von Tod Brownings Um Mitternacht mit Lon Chaney in der Hauptrolle finden kann. Die letzte bekannte Kopie davon ist bei dem MGM-Brand in Flammen aufgegangen.«

»Und für Devil’s Playground?«, fragt sie mit ausdrucksloser Miene.

»Mehr. Viel, viel mehr. Und was meine Fähigkeiten als Spürhund angeht – mein Käufer weiß, dass ich mich in der Branche und in der Epoche auskenne, und er kennt auch meine Fähigkeiten als Ermittler.« Er hebt die Hände und deutet durch den Raum. »Anscheinend hat er mit mir die richtige Wahl getroffen.«

»Was diese letzte existierende Kopie des Films angeht«, sagt sie. »Sie glauben, ich wüsste, wo sie ist?«

»Es hat lange gedauert, Sie zu finden. Und fast hätte ich es nicht geschafft. Aber schließlich spüre ich Sie mitten im Nirgendwo in einem verlassenen Hotel auf, das zufällig einen Kinosaal hat. Vielleicht haben Sie die Kopie hier, vielleicht auch nicht. Aber wie dem auch sei – Sie sind meine beste Chance, jemanden zu finden, der wissen könnte, wo die Kopie ist. Wie gesagt, ich bin bereit, für diese Informationen ein kleines Vermögen zu zahlen. Genau genommen ist es gar kein so kleines Vermögen.«

»Und was sollte mir das viele Geld jetzt nützen?«

»Ich bin sicher, dass Sie eine Verwendung dafür finden könnten«, sagt Conway und lässt seinen Blick durch den Raum schweifen.

Sie lacht kurz auf. »Und Sie haben überhaupt keine Angst? Vor dem Mythos? Vor dem Fluch?«

»Ich glaube, der Film ist ein cineastisches Meisterwerk, das nicht verloren ist, wie alle glauben. Ein Meisterwerk, inszeniert von einem Genie des Expressionismus, das Lang, Murnau, Dreyer, Leni – einfach alle in den Schatten stellte. Die wenigen, die den Film gesehen haben, sagten hinterher, sie hätten so etwas noch nie gesehen oder erlebt. Und so etwas sollte man der Welt nicht vorenthalten.« Er hält inne, blickt von der Frau zu ihrem Hund und wieder zurück. Das ohnmächtige Rattern des Deckenventilators überbrückt die Stille. In diesem Moment ist er unsicher, ob er sagen soll, was er denkt. Schließlich entscheidet er sich. »Ich glaube nicht, dass ein Fluch Devil’s Playground so gefährlich gemacht hat.«

»Ach nein?«

»Es gibt noch eine andere Theorie, die besagt, dass eine Szene in diesem Film – vielleicht sind es nur ein paar Einzelbilder – etwas … eingefangen hat.«

»Eingefangen? Was?«

»Mitte bis Ende der zwanziger Jahre gab es in Hollywood eine Mordserie an jungen Frauen, die mit wichtigen Leuten, großen Namen, in Verbindung gebracht worden waren. Diese wenigen Sekunden des Films sollten angeblich einen Hinweis auf die Identität des Mörders geben. Jemand, der mit diesem Film und mit seltsamen geheimen Machenschaften zu tun hatte, die im Hintergrund vor sich gingen.«

»Und das glauben Sie?«

Conway zuckt mit den Schultern. »Es ist glaubwürdiger als verrückte Spekulationen darüber, dass der Film einen Dämon zum Leben erweckt hat.«

Er nimmt ein Notizbuch und einen Stift aus seiner Aktentasche und kritzelt etwas auf das Papier. Dann reißt er das Blatt ab und hält es ihr hin. Der Hund knurrt leise und tief. Er lässt den Arm sinken und legt den Zettel auf den Tisch. Sie nimmt ihn und sieht ihn dann fragend an.

»Das ist die Summe, die mein Klient zu zahlen bereit wäre. Es ist die Summe, die Sie erhalten, nach Abzug meiner Provision. Damit könnten Sie weiterhin untergetaucht bleiben, aber mit verdammt viel mehr Komfort.«

Sie sitzt da und beobachtet ihn einen Moment lang. Er spürt auch den Blick des Hundes auf sich. Nach einer Weile sagt sie: »Bitte, Dr. Conway, trinken Sie Ihre Limonade aus – ich möchte Ihnen etwas zeigen …«

1927 Hollywood

2

Es ist kurz nach zwanzig Uhr, aber die Sonne ist schon fast untergegangen und lässt einen seidigen Himmelsschleier erglühen, dessen Farben von Purpur zu Rosa und von Rosa zu Indigo übergehen. Selbst in dieser Höhe lastet die Luft schwer und nach Orangenblüten duftend wie ein Mantel auf den Schultern der Santa-Monica-Berge.

Ein Packard 533 Cabriolet hält am Bordstein hinter einem geparkten Streifenwagen. Die Fahrerin, eine Frau um die vierzig, steigt aus und tritt auf den Bürgersteig. Sie ist mittelgroß, schlank und hat eine schmale Taille, ist aber nicht mager. Ihr Busen und ihre Hüften sind voller, als es der aktuelle Trend vorgibt. Auch ihr dunkles Haar unter dem marineblauen Glockenhut aus Filz ist länger, als die vorherrschende Mode diktiert, und fällt ihr fast bis auf die Schultern. Sie trägt ein blaues, gut geschnittenes Kostüm. Es ist erlesen, aber nicht extravagant.

Die Frau bewegt sich mit gemessenen, zielstrebigen Schritten auf das Haus zu. Im Vorbeigehen wirft sie einen Blick in das Polizeifahrzeug, stellt fest, dass es leer ist, und geht durch das offene Gartentor zum Haus. Ein teures, beiges Cabriolet einer ausländischen Marke steht schräg in der Auffahrt, als sei jemand in aller Hast ausgestiegen. Das Verdeck ist noch heruntergelassen, und die Fahrertür steht offen.

Die Villa liegt so hoch im Vorgebirge, dass sie einen ungehinderten Blick über die Stadt bis hin zum Meer bietet. Die Architektur ist eine Mischung aus spanischem Kolonialstil und Zementguss. Das weiße, mit Stuck und Terrakotta verzierte Haus ist groß und weitläufig und steht auf einem verhältnismäßig großzügigen Grundstück mit Akazien, Palmen, Oliven- und Obstbäumen. Auf der Rückseite des Hauses glitzert ein nierenförmiger Swimmingpool unter aufgehängten Laternen.

Sie weiß, dass das Haus und das verstreute halbe Dutzend Nachbarhäuser allesamt nicht einmal ein Jahrzehnt alt sind. Die Früchte der kürzlich gesäten Saat von plötzlichem Wohlstand und Zuversicht. Nach dem Krieg und durch das wirtschaftliche Chaos, das nach dem Waffenstillstand in Europa herrschte, war die bis dahin dominierende französische, deutsche und dänische Filmindustrie so gut wie ausgelöscht. Der Weg war frei, damit eine kleine kalifornische Stadt, die hauptsächlich vom Orangenanbau lebte, ihren Horizont erweitern konnte – metaphorisch und, wie das Haus und seine Nachbarn bezeugen, auch buchstäblich.

Ein junger Polizist steht an der Haustür und bewacht den Eingang, während sie sich nähert.

»Ich bin Mary Rourke«, sagt sie zu dem Officer. »Pops Nolan hat mich angerufen …«

Der junge Mann blickt in ihr Gesicht. Es wirkt teilnahmslos, kühl, hat hervorstehende Wangenknochen und ein kräftiges Kinn. Die blau-grünen Augen funkeln. In jeder anderen Stadt in Amerika, ja auf der ganzen Welt, würde man es ein schönes Gesicht nennen. Aber wir sind in Hollywood, und schöne Gesichter gibt es hier im Überfluss. Gesichter, die ein oder zwei Jahrzehnte jünger scheinen als die Körper ihrer Besitzer; Augen, die mehr wie Tau und weniger wie Feuerstein glitzern.

»Ja, Ma’am.« Der Streifenpolizist, der nicht älter als einundzwanzig ist, tritt zur Seite. »Pops hat Sie schon angekündigt.«

Sie tritt durch den Portikus und die Haustür in eine breite, weiße Empfangshalle, deren Decke mit spanischen Gewölbebögen verziert ist. Die weißen Wände werden von lebhaften modernen Gemälden und Möbeln im Hacienda-Stil aufgelockert. Die Maserung des Palisanderholzes windet und kräuselt sich wie dunkle Muskeln und Sehnen. Die Sitzflächen und Rückenlehnen der Stühle im spanischen Kolonialstil sind mit dickem, blutrotem Leder gepolstert, und die blanken hölzernen Armlehnen enden in Löwenkrallen. Auf einem dieser Stühle sitzt eine kleine, ältere, offenbar hispanisch-stämmige Frau im Outfit einer Hausangestellten. Durch jahrzehntelange Arbeit sind ihre Hände so dunkel und sehnig wie das geschnitzte Holz des Stuhls geworden. Sie liegen nervös verkrampft auf ihrem Schoß. Ihr Gesicht ist von Kummer gezeichnet und tränenfeucht. Mary Rourke geht zu ihr und legt ihr eine Hand auf die Schulter, um zu verhindern, dass sich die Hausangestellte mit gewohnter Beflissenheit vom Stuhl erhebt.

»Oye madre, ¿Estás bien?«

Die Frau blickt auf. Sie nickt kurz und angespannt, ihr Entschluss, nicht mehr zu weinen, ist nur ein zerbrechlicher Damm, der sich gegen den Druck des Schocks und des Kummers stemmt. Er bricht, und sie beginnt wieder zu weinen. Die Tränen strömen wieder wie ein frischer Wüstenregen über die getrockneten Spuren. Sie nickt.

»Haben Sie noch jemand anderen angerufen? Oder nur die Polizei?«, fragt Rourke. Die Hausangestellte sieht sie verständnislos an.

»¿Llamaste a alguien más? ¿O simplemente telefoneaste a la policía?«

Die Frau runzelt die Stirn. »Sólo la policía, señora.«

Mary Rourke tröstet die mittelalte Mexikanerin erneut, wird aber unterbrochen, als ein älterer Officer in der Uniform eines Streifenpolizisten mit zwei Streifen auf dem Ärmel die große, weiße Marmortreppe in die Halle hinabsteigt.

»Hallo, Pops.« Rourke wendet sich von der Hausangestellten ab. »Danke für den Anruf. Haben Sie schon den Gerichtsmediziner informiert?«

»Nein. Als ich sah, wer es war, habe ich sofort Sie angerufen. Ich dachte mir, dass Sie wissen wollen, was hier vorgefallen ist.« Die Stimme des Streifenpolizisten klingt wie von den nicht allzu weit entfernten Geistern seiner irischen Vorfahren gehetzt.

»Das weiß ich zu schätzen. Und …?« Sie deutet zur Eingangstür. Pops Nolan versteht, was sie meint.

»Prentice? Er ist in Ordnung«, sagt er. »Der Junge weiß Bescheid. Sorgen Sie auch für ihn?«

»Natürlich. Wie ich schon sagte, wir wissen Ihr Entgegenkommen zu schätzen.« Rourke macht eine kleine Pause, dann sagt sie entschlossen: »Wo ist sie?«

Der Officer nickt in Richtung des oberen Stockwerks. Rourke wendet sich an die Frau und beruhigt sie kurz auf Spanisch, bevor sie dem Officer die Marmortreppe hinauffolgt.

Das Schlafzimmer, in das er sie führt, ist hoch und breit. Alles hier widerspricht verschnörkelt und extravagant dem Stil des übrigen Hauses. Die Wände sind mit Tüchern verhängt, bogenförmige Seidenbahnen in den grün-blauen Farbtönen von Pfauen.

Ein einziges, riesiges Gemälde dominiert den Raum: ein überlebensgroßes, in kräftigen Farben gemaltes Ganzkörperporträt einer Frau, die auf den Stufen eines antiken Tempels steht. Die Frau ist eine atemberaubende, dunkle Schönheit und strahlt sehr viel Sinnlichkeit aus. Sie ist in ein figurbetonendes, transparentes Kalasiris aus golddurchwirktem Tuch gehüllt und trägt die Geierkrone Altägyptens mit einer goldenen Uräus-Kobra auf dem Scheitel, deren aufgerichtetes Haupt wiederum von einer Sonnenscheibe gekrönt wird. Der helle Glanz ihrer Augen wird durch schwarzen Kajal und smaragdfarbenes Make-up im ägyptischen Stil hervorgehoben. Die Eleganz ihres schlanken Halses wird durch ein kunstvolles goldenes Halsband mit Juwelenbesatz betont, das ihn vollständig umschließt, vom Kinn bis zu dem Punkt, an dem es sich wie ein Usekh-Halskragen über Brust und Schultern ausbreitet.

Rourke blickt von dem Gemälde auf das Bett darunter. Es ist ebenfalls überdimensioniert und doppelt so breit und lang wie ein Doppelbett. Rourke vermutet, dass die Matratze und das Bettzeug eigens angefertigt wurden. Es ist mit Satin und Seide bezogen, ebenfalls in Pfauenblau und Smaragdgrün.

Eine Frau liegt auf dem Bett.

Sie trägt ein bodenlanges Kleid, dessen Seide wie Perlen schillert. Arme und Schultern sind entblößt, die schlanken Hände ruhen auf ihrem Bauch. Das Gesicht der Frau wirkt ruhig, die geschlossenen Augenlider sind dunkel getuscht, die Lippen tiefrot geschminkt. Ihr Haar liegt wie ein dunkler, kastanienbrauner Heiligenschein um ihren Kopf.

»Eine schöne Frau«, stellt Nolan fest.

Mary Rourke nickt stumm. Die Frau auf dem Bett, die von vielen als die begehrenswerteste Frau der Welt angesehen wird, ist tatsächlich sehr schön. Und außerdem sehr tot, wie man Rourke mitgeteilt hat. Die Frau auf dem Bett ist die Frau auf dem Gemälde.

Norma Carlton, der Filmstar.

Carltons Miene wirkt so gelassen, dass Mary Rourke für einen Moment glauben könnte, sie schliefe nur und wäre nicht tot. Sie erwartet fast, dass sich der Brustkorb hebt, um einen träumerischen Atemzug zu tun. Aber das passiert nicht. Rourke legt ihre Fingerspitzen seitlich an Carltons Hals. Die Haut ist kühl, jedoch noch nicht kalt. Sie ertastet keinen Puls.

Rourke seufzt, als sie sich wieder aufrichtet. Sie erstellt im Kopf kurz eine Inventur der Ringe, Armbänder und Armreifen, die Carltons Leichnam zieren. Sie sind zusammen mehr wert, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben verdienen werden. Das auffälligste Stück ist jedoch die reich verzierte Halskette, die ihren schlanken Hals vollständig umschließt – genau dieselbe Kette wie auf dem Porträt – und über ihre Schultern reicht. Obwohl sie auffälliger ist, entspricht sie weder in Farbe noch Wert den anderen Schmuckstücken: Bemalter Draht ersetzt Gold, Glas und Glaspaste imitieren Juwelen. Dennoch erkennt Mary Rourke das Stück sofort wieder: Es gehört zum Kostüm für Norma Carltons berühmteste Rolle, die auf der Leinwand über dem Bett festgehalten ist.

Der Königin Hatschepsut in D. W. Griffiths historischem Epos Queen Pharaoh.

Rourke geht zum Nachttisch des Bettes. Sie hebt drei leere Medizinflaschen auf; alle drei tragen die Aufschrift LUMINAL. Unter der wuchtigen Tischlampe findet sich ein handgeschriebener Zettel, auf dem ein noch unverschlossener, silberner Füllfederhalter liegt. Mary Rourke nimmt den Füller in die Hand und sieht eine Inschrift auf der Seite: Für NC von HC.

Sie liest den Zettel:

Ich kann mit all dem nicht mehr leben. Ich kann es nicht ertragen

Es gibt weder eine Unterschrift noch Initialen. Die beiden Sätze stehen oben auf der Seite, hinter dem zweiten Satz fehlt der Punkt, als hätte Carlton noch mehr schreiben wollen. Rourke seufzt. Das Luminal, die Notiz, das Tragen eines Erinnerungsstücks an ihre berühmteste Rolle: Alles deutet auf Selbstmord hin, und Selbstmord ist ein Skandal für das Studio.

Rourke steckt Stift und Zettel in ihre perlenbesetzte Clutch.

»Wie viel Zeit habe ich noch, bis Sie es melden müssen?«, fragt sie Nolan, als sie fertig ist.

»Das hängt davon ab, wovon wir reden und ob sich die Kriminalpolizei einmischt.« Nolan schreit das Wort »Selbstmord«, ohne es laut auszusprechen. »Das Dienstmädchen hat auf der Wache angerufen, also ist die Anrufzeit protokolliert. Die Frau spricht kaum Englisch, also ist bisher nur aktenkundig, dass es sich um eine Art Notfall handelt. Aber ich muss mich melden und ein paar Details durchgeben. Ich kann Ihnen noch zwanzig Minuten geben. Maximal eine halbe Stunde.« Er hält inne. »Und es gibt da einen Haken.«

»Ach?«

Der Streifenpolizist führt sie zurück auf den Flur und zur nächsten Zimmertür. Mary Rourke wirft einen Blick hinein. Ein großer Mann sitzt auf der Bettkante, den Kopf in die Hände gestützt und die schlanken Finger in das dichte, brünette Haar gegraben. Er spürt ihren Blick und sieht auf. Sein absurd hübsches Gesicht ist verzerrt, sein Ausdruck verzweifelt.

Rourke erkennt ihn sofort, so, wie ein Viertel der Weltbevölkerung es ebenfalls tun würde. Sie seufzt und zerquetscht einen Fluch zwischen den Lippen.

»Wann ist er hier aufgetaucht?«

»Unmittelbar nach uns«, antwortet Nolan.

»Nach Ihnen, nicht vorher?«

»Danach.«

»Ist das sein Auto in der Einfahrt?«

Der Officer nickt.

Der große, gut aussehende Mann meldet sich zu Wort. Sein Akzent ist abgehackt, britisch. Seine Stimme ist ein wenig hoch, näselnd. »Ich hätte nie gedacht, dass sie es wirklich durchziehen würde … Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Ich glaube …«

»Sie hat es aber getan«, unterbricht ihn Mary Rourke. »Und überlassen Sie das Denken mir, Mr Huston.«

»Wer sind Sie?«, fragt der Engländer.

»Die Kavallerie«, sagt Rourke ohne Umschweife. »Woher wussten Sie, dass sie tot ist? Die Hausangestellte hat nur die Polizei angerufen.«

»Ich …« Huston hebt jetzt den Blick zu ihr. »Sie sagte, sie würde es tun. Ich meine, sie hat gedroht, es zu tun, so, wie sie es schon früher angedroht hat. Ich dachte immer … Es schien nur leeres Gerede zu sein.« Rourke fixiert ihn mit ihrem Blick. Sie kennt Typen wie Huston. Er ist ein Mann in einer Männerwelt. Ein Mann, den Frauen haben wollen und dem die Männer nacheifern. Der Typ Mann, der durchs Leben gleitet, charmant und betörend, weil die Natur ihm zufällig bestimmte Proportionen und eine gewisse Symmetrie geschenkt hat. Aber jetzt gibt es keine Bosheit mehr in ihm. Keinen Charme. Nichts Geschmeidiges.

»Und warum heute Abend?«, fragt sie. »Warum sind Sie ausgerechnet heute Abend hierhergekommen, um sie zu retten?«

»Weil wir einen Streit hatten. Einen heftigen Streit. Ich habe ihr gesagt, dass ich meine Frau nicht verlassen werde. Wir hatten schon früher darüber gesprochen, aber die Dinge … die Dinge sind kompliziert.«

Na sicher sind sie das, denkt Rourke. Robert Huston, ein Star, auf der ganzen Welt berühmt, weil er in einer Reihe Historienschinken den Krummsäbel schwingt. In den intimeren Zirkeln Hollywoods ist er auch als ebenso versierter Säbelfechter im Schlafzimmer bekannt. Er ist häufiger und höchst begeisterter Saufkumpan von John Gilbert und John Barrymore. Er ist mit Veronica Stratton verheiratet, der eisigen Schönheit, deren Stern noch heller leuchtet als der seine. Sie sind Hollywoods Traumpaar, das in seiner Beliebtheit nur noch von Fairbanks-Pickford übertroffen wird. Rourke weiß, dass eine Scheidung für sie beide eine Katastrophe wäre.

»Ich habe ihr heute gesagt, dass Veronica das mit uns herausgefunden hat«, fährt Huston fort, »und dass wir Schluss machen müssen. Sie hat es nicht gerade gut aufgenommen.«

Rourke nickt nachdenklich. Sie weiß – wie jeder im inneren Zirkel Hollywoods –, dass Norma Carlton und Veronica Stratton erbitterte Rivalinnen sind – waren. Eine Rivalität, die ihre jeweiligen Studios mit Fotostrecken herunterspielen mussten, auf denen die beiden zusammen sind, Tennis spielen, gemeinsam Wohltätigkeitsveranstaltungen besuchen – eben alles, außer sich gegenseitig die Augen auszukratzen, was bei einem Fototermin dennoch geschah.

Rourke schätzt Huston ab und kommt schnell zu dem Schluss, dass der britische Pin-up-Boy zwar wenig Hirn, aber ansonsten jede Menge an den Stellen hat, an denen es darauf ankommt. Carlton oder Stratton ging es also bei ihren Besitzansprüchen eher darum, der Rivalin eins auszuwischen, als um den tatsächlichen Besitz des Objekts. Das passt nicht zu einem Selbstmord. Ebenso wenig wie alles andere, was Rourke sonst noch über die kühle, selbstbewusste Norma Carlton weiß, auf einen Selbstmord hindeutet.

»Sie sagen, Miss Carlton hat Ihnen gegenüber damit schon einmal gedroht?«

Huston nickt.

»Wann hat die Affäre zwischen ihnen angefangen?«

»Kurz nachdem wir mit den Dreharbeiten zu Devil’s Playground begonnen hatten. Sie ist auf mich zugekommen, ich habe nicht damit angefangen.« Er sieht zu Rourke auf, als läge ihm etwas daran, dass sie ihm glaubt.

»Jedenfalls haben Sie mitgespielt. Soweit ich mich erinnere, läuft das bei solchen Fällen immer so.« Sie wendet sich an den Officer. »Behalten Sie ihn im Auge.« Sie geht hinaus in den Flur, sucht ein Telefon, nennt der Vermittlung eine Nummer und wird verbunden. Es findet kein Gespräch statt; sie erteilt lediglich eine Reihe von Anweisungen und legt den Hörer dann wieder auf.

»Ich brauche eine Stunde«, sagt sie zu dem Officer. »Meine Leute sind unterwegs.«

»Ich …« Nolan will protestieren.

Rourke greift in ihre Handtasche und holt eine Rolle mit Geldscheinen heraus. Sie zählt hundert Dollar in Fünfern und Zehnern ab. Nolans Augen weiten sich. Sie hat sich soeben ihre Stunde erkauft.

»Sie haben uns – mir – einen großen Gefallen getan, Pops. Das hier ist wirklich wichtig für uns …« Rourke gibt ihm den Hunderter. »Ich überlasse es Ihnen, wie viel Sie dem Jungen geben, aber es ist wichtig, dass alle das hier für sich behalten. Bevor wir gehen, bekommen Sie die offizielle Verlautbarung, okay?«

Der Officer nickt zerstreut. Er ist von den Scheinen in seiner Hand wie hypnotisiert.

Rourke geht wieder ins Schlafzimmer, wo der Engländer wartet. »Wer weiß, dass Sie hier sind?«, fragt sie ihn.

Er schaut sie einen Moment verwirrt an. Sein Verstand watet mühsam durch den Sumpf seines Schocks. »Ich … niemand. Ich habe es niemandem gesagt. Ich habe sie angerufen, und sie ist nicht rangegangen. Also bin ich hergefahren.«

»Die Hausangestellte war hier«, stellt Rourke fest.

»Norma hatte ihr nicht erlaubt, ans Telefon zu gehen. Ihr Englisch ist dafür nicht gut genug.«

»Aber sie konnte die Polizei anrufen.«

»Davon weiß ich nichts. Ich weiß nur, dass ich angerufen habe und niemand ans Telefon gegangen ist. Wie gesagt, Norma und ich hatten beim Lunch einen furchtbaren Streit, nachdem ich ihr gesagt hatte, dass ich Schluss machen muss. Sie ist einfach rausgestürmt.«

»Sie waren in einem Restaurant? Dieser Streit war öffentlich?«

»Nein. Wir waren diskret. Ich habe so etwas wie einen Rückzugsort – ein Strandhaus am Meer, unten in Santa Monica. Dort haben wir zu Mittag gegessen.« Er runzelt die Stirn. »Sind Sie vom Studio?«

»Ja. Ich bin von Carbine International«, klärt sie ihn auf. Huston ist eine Leihgabe von First National Pictures an eben dieses Studio.

Sie wird unterbrochen, weil der junge Streifenpolizist lautstark protestiert, als unten jemand durch die Haustür ins Haus kommen will. Sie geht in den Flur hinaus und beugt sich über das Geländer.

»Das ist in Ordnung, die Leute gehören zu mir.«

Mary Rourke läuft rasch die Treppe hinunter. In der Eingangshalle warten vier Männer auf sie. Es gibt keinen Zweifel, wer von den vieren das Sagen hat. Der Golem. Sam Geller ist ein Hüne von einem Mann: zwei Meter groß, mit breiter Brust und groben Gesichtszügen. Wenn er spricht – was er nur selten und dann knapp und bündig tut –, ist seine Stimme ein grollender Bariton. Seine hellen und intelligenten Augen verschwinden fast im Schatten seiner buschigen Augenbrauen und seines dunkelgrauen Filzhuts.

»Hallo, Sam«, sagt Rourke. »Die übliche Prozedur. Eliminiert alles, was das Studio in Misskredit bringen könnte, sämtliche Drogen, alles, was übertrieben erotisch ist, alles, was sie mit einem unserer Stars in Verbindung bringt. Die drei Flaschen Luminal auf dem Nachttisch müssen ebenfalls verschwinden.« Sie erinnert sich an den Briten. »Außerdem sämtliche Notizen oder Briefe von Robert Huston. Der hockt übrigens da oben und steht unter Schock. Sie müssen ihn von hier wegschaffen, ohne gesehen zu werden. Der Wagen auf der Auffahrt gehört ihm.«

Geller nickt, dann weist er den anderen Männern ihre Aufgaben zu. »Luminal, sagen Sie?«, fragt er mit seinem tiefen Bariton. »Selbstmord wird dem Boss nicht gefallen.«

»Ich bin schon an der Sache dran. Ich habe Doc Wilson herbestellt. Wilson steckt hinter mehr medizinischen Märchengeschichten, als sich Sonya Levien in ihren Drehbüchern für Famous Players-Lasky ausgedacht hat. Ich schätze, wenn er fertig ist, wird unser Mädchen ein krankes und kein gebrochenes Herz behandelt haben.« Sie runzelt die Stirn.

»Wer ist es?«, will Geller wissen.

»Norma Carlton. Selbstmord«, antwortet Rourke. »Für mich passt das einfach nicht zusammen. Ebenso wenig wie Norma Carlton und ein gebrochenes Herz. Wie ich gehört habe, ist fraglich, ob Norma Carlton überhaupt ein Herz hatte.«

»Drei Flaschen Luminal sind reichlich viel für einen Schönheitsschlaf«, sagt er. »So etwas passiert einem nicht aus Versehen.«

»Ich hätte sie nur nicht für den Typ gehalten. Das ist alles.« Sie schüttelt den Gedanken ab. »Sie und Ihre Jungs beeilen sich besser. Pops Nolan nimmt die Zeit.«

Geller bellt seinen Männern Befehle zu. Der jüngere Officer, Prentice, sieht ihnen mit sichtlichem Unbehagen zu. Er protestiert bei seinem Vorgesetzten, und Nolan führt ihn aus der Halle hinaus auf die Hauptstraße. Dort hält er ihm einen kurzen Vortrag über die Realität des Polizistendaseins in Hollywood und einen ordentlich gefalteten Keil von ein paar der Scheine hin, die Mary Rourke ihm gegeben hat.

Drinnen spricht Rourke auf Spanisch mit Renata, der mexikanischen Hausangestellten, über die Sünde des Selbstmords und die Notwendigkeit, der Familie der Señora die Schande zu ersparen. Sie erklärt ihr, dass die Señora auf jeden Fall schwer krank war, was sie ihren Bewunderern verheimlicht hatte, und dass sie versehentlich und nicht absichtlich zu viel Medizin nahm. Sie fragt die ältere Frau, wie viel die Señora ihr zahle. Fünf Minuten später sitzt die Frau in einem Taxi und fährt nach Hause. In der Tasche ihrer Schürze steckt mehr Geld, als sie mit einem Jahr Arbeit verdient, und eine Telefonnummer, die sie als Referenz für ihren nächsten Job angeben kann.

Ein Mann mittleren Alters trifft ein. Er trägt einen teuren, dreiteiligen Anzug und dazu einen passenden Homburg, sein Teint ist ungesund gerötet bis rot, und seine Brille sitzt auf einer Knollennase. Mary Rourke empfängt ihn im Flur.

»Hallo, Doc, Ihre Patientin ist oben.«

»Selbstmord, sagen Sie?« Wilsons Stimme ist tief und kultiviert, sein Atem duftet nach teurem Brandy.

»Sieht aus, als hätte sie ganz allein eine Luminal-Party gefeiert. Sam Geller hat die Flaschen eingesammelt. Wartet der Krankenwagen draußen?«

»Samt Fahrer und Sanitäter. Die legen sie auf die Trage, und dann schaffen wir sie hier weg. Sind die Cops handzahm?«

»Wie Welpen. Ich will nicht, dass sich die Kriminalpolizei einmischt. Wir haben zwar die Hälfte von denen auf der Gehaltsliste, aber die andere Hälfte arbeitet für die Zeitungen. Und ich kann mir die Schlagzeilen lebhaft vorstellen.«

»Dann schlage ich vor, Sie bringen sie dazu, einen Verdacht auf Herzinfarkt zu melden und zu behaupten, dass sie noch lebte, als wir kamen und sie in die Appleton-Klinik brachten. Ich ändere den Todeszeitpunkt auf dem Totenschein so, dass sie noch im Krankenwagen gestorben ist. Herzversagen wegen Herzinsuffizienz durch rheumatisches Fieber im Kindesalter.«

Rourke verzieht das Gesicht.

»Ich weiß, es ist die alte Leier«, räumt Wilson ein, »aber das ist der Weg des geringsten Widerstands. Ich bringe ihre Krankenakten in der Klinik auf den neuesten Stand, damit sie mit unserer Geschichte übereinstimmen. Danach führe ich noch heute Abend eine Autopsie durch und unterschreibe den Totenschein. Morgen können wir sie einsargen. Andernfalls müssten Sie womöglich die Laune des Gerichtsmediziners versüßen. Wofür meines Wissens eine Menge Zucker nötig ist.«

Rourke nickt und zeigt Wilson den Weg zur Leiche. »Ich habe eine Liste vom Schmuck angelegt«, sagt sie. »Bewahren Sie ihn für mich in der Klinik auf. Jemand vom Studio wird ihn morgen abholen.«

»Gut«, erwidert Wilson. »Ich empfehle ein Familienbegräbnis im kleinen Kreis. Am besten eine Einäscherung, und zwar so schnell es möglich ist, ohne Verdacht zu erregen.«

Sie führt Wilson in das Schlafzimmer, in dem der tote Star liegt. Die beiden Sanitäter folgen mit einer Trage. Rourke überlässt ihnen das Feld und geht in das andere Schlafzimmer, um dem Briten ihr Märchen einzutrichtern.

»Auch wenn ich es Ihnen jetzt erzähle, wissen Sie offiziell noch nichts davon. Wenn Ihnen mitgeteilt wird, dass Miss Carlton an Herzversagen gestorben ist – ich sorge dafür, dass man die Nachricht morgen am Set verkündet –, sollten Sie schockiert aussehen. Haben Sie das verstanden? Sie sind am Boden zerstört, dass Ihr Co-Star auf so grausame Weise von einer Krankheit dahingerafft wurde. Es wäre gut, wenn Sie nebenbei erwähnen könnten, dass sie früher schon gelegentlich über Herzprobleme geklagt hat.«

»Ich …« Huston runzelt die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich so tun kann, als ob …«

»Natürlich können Sie!«, fährt Rourke ihm über den Mund. »Das nennt man Schauspielerei. Und ich würde mir Mühe geben, wenn Ihnen etwas an Ihrer Karriere liegt.«

Sie lässt ihn sitzen und geht die Treppe hinunter. Der Golem und seine Männer gehen methodisch von Raum zu Raum, bis sie sich in der Haupthalle treffen. Sie haben drei Taschen voller Papiere, Briefe, Fotos, Adressbücher und einem Tagebuch dabei. Die meisten Einträge dürften harmlos sein, wie sie annehmen, aber sie haben so etwas schon oft genug gemacht und wissen, dass sie keine Zeit haben, wählerisch zu sein.

Als sie fertig sind, gibt Mary Rourke Geller weitere Anweisungen, dann brechen die Männer auf. Sie nehmen den britischen Schauspieler mit. Einer von Gellers Männern setzt sich ans Steuer von Hustons Sportcoupé. Sie bedankt sich bei Pops Nolan und dem jüngeren Officer und erzählt ihnen, dass Norma Carlton ein schwaches Herz hatte – »Seit einer Erkrankung in ihrer Kindheit.« Sie habe kaum noch gelebt, als sie in den Krankenwagen geladen wurde. Rourke erklärt den beiden, Doktor Wilson, Miss Carltons Leibarzt, habe gesagt, dass sie die Nacht wahrscheinlich nicht überleben werde.

Sie präsentiert die Geschichte mit solcher Überzeugung und Gewissheit, dass der jüngere Officer plötzlich so verunsichert wirkt, als wäre er sich nicht mehr sicher, was wirklich passiert ist. Sie lächelt ihn an.

»Keine Sorge, Prentice«, sagt sie. »Das ist Hollywood. Die Dinge sind nie so, wie man glaubt. Sie können es jetzt melden«, sagt sie zu Nolan und wartet, während er den Anruf macht.

»Wer ist der diensthabende Detective?«, fragt sie Nolan, als er das Gespräch beendet und den Hörer wieder in die Gabel hängt.

»Kendrick«, sagt er. »Aber bei einer natürlichen Todesursache begnügen sie sich wahrscheinlich mit meinem Bericht.«

»Gut.« Sie hält inne, als die Sanitäter den toten Star auf einer Trage die Treppe hinuntertragen, gefolgt von Doc Wilson. »Falls Detective Kendrick sich für den Fall zu interessieren beginnt, bitten Sie ihn, mich anzurufen. Ich kenne Jake.«

Die Polizisten rücken ab, und sie ist allein im Haus. Nachdem hier fünfundvierzig Minuten lang eine hektische, zielstrebige Aktivität herrschte, wirkt es jetzt ruhig, fast entspannt. Sie verlässt das Haus, schließt die schwere Eingangstür, in dem sich eine Tragödie ereignete, die keinerlei Spuren hinterließ, und geht weiter zur Straße. Der Duft von Mimosen vermischt sich in der Abendluft mit dem schwachen Duft von Orangen. Am Bordstein entdeckt sie Geller, der noch in seinem Auto wartet, das hinter ihrem parkt.

»Gibt es ein Problem, Sam?«

»Kein Problem«, antwortet Geller. »Nur eine Nachricht. Der Boss will Sie morgen früh sehen. Wegen dieser Sache, nehme ich an. Er hat mich nur gebeten, es Ihnen auszurichten, mehr nicht.«

Sie nickt. »Gute Nacht, Sam.«

Gellers grobes Gesicht verzieht sich zu einem Grinsen. »Nacht, Mary«, sagt er und fährt los.

Rourke sieht in den Himmel und wirft dann einen Blick zurück zum Haus. Sie steigt in ihren Packard und fährt die abschüssige Straße hinunter in die nächtlich funkelnde Stadt.

3

Abgesehen von den ratternden, schwach beleuchteten und fast leeren nächtlichen Straßenbahnen ist es ruhig auf den Straßen, und Mary Rourke braucht nur fünfzehn Minuten, bis sie an ihrem Bungalow in Larchmont Village vorfährt.

Schleichende Müdigkeit macht sich in ihr breit. Sie bleibt einen Moment in dem dunklen, stillen Packard sitzen und seufzt bei dem Gedanken, die Tür eines leeren Hauses geschlossen zu haben, nur um die Tür zu einem anderen leeren Haus zu öffnen. Manche Tragödien, denkt sie, lassen sich leichter ausradieren als andere.

Als sie aus dem Auto steigt, hört sie schon das Telefon in ihrem Haus klingeln. Sie schaut auf ihre Armbanduhr: Viertel nach zehn. Sie geht zügig zur Tür, aber das Klingeln hört auf, als sie ihren Schlüssel ins Schloss steckt. Dann öffnet sie die Haustür, legt ihren Schlüssel in die Garderobenablage im kurzen Flur und hängt Hut und Jacke an die Haken.

Rourke schlüpft aus ihren Schuhen und läuft auf Strümpfen zum Wandschrank. Wie immer hält sie kurz inne, um das Foto auf dem Regal zu betrachten, und spürt einen schmerzhaften Anflug von Trauer. So, wie jedes Mal.

Sie wirft ihre Handtasche auf den Couchtisch, gießt Brandy in ein Collins-Glas und füllt es mit Soda aus dem Siphon auf. Prohibition ist hier bloße Theorie: Während der Rest der Staaten überteuerten Fusel von Gangstern kauft oder darauf wartet, dass der Vino Sano oder die zu Ziegeln gepressten, getrockneten Weintrauben in der Badewanne gären, ist das gute Zeug in Hollywood immer erhältlich, wenn man die richtigen Leute kennt.

Die richtigen Leute zu kennen ist Mary Rourkes Job.

Sie lässt sich in einen ledernen Klubsessel sinken, nippt am Brandy-Soda und hebt den Kopf hoch. Mit der freien Hand greift sie in ihre Tasche und legt den Zettel und den Stift mit dem Monogramm auf den Couchtisch.

Etwas nagt an ihr, etwas in ihrem Bewusstsein, das einfach keine Ruhe geben will. Was Rourke über die tote Frau weiß, passt einfach nicht zu einem Selbstmord. Auch nicht der Gedanke, dass sie sich wegen eines unverkennbar unterbelichteten Waschlappens wie diesem Briten umbringen würde.

Norma Carlton war ein Star, und dazu einer der schillerndsten. Sie hatte den Ruf, zielstrebig bis zur Rücksichtslosigkeit zu sein. Ihre zahlreichen Affären waren bekannt. Trotz der Moralklauseln, die nach dem Arbuckle-Skandal festgelegt wurden, kümmerte sich niemand im Studio darum, solange die Presse keinen Wind von ihren sexuellen Eskapaden bekam. Rourke wusste nicht viel über Carltons Affären, außer, dass sie eher sexuell als romantisch geprägt waren. »Die begehrenswerteste Frau der Welt« hatte viele Männer benutzt und dann wieder fallen lassen. Sie hatte nur einmal geheiratet, aber die Ehe mit Theo Woolfe, einem der erfolgreichsten Regisseure Hollywoods, war in Rekordzeit zu Ende gewesen und wurde kurz darauf annulliert. Manche behaupteten, sie habe ihren verliebten Gemahl verlassen, als sie erfuhr, dass er Janet Gaynor und nicht ihr die Hauptrolle in seinem nächsten Film geben wollte. Wie dem auch sei, diese Abfuhr hatte Woolfe in den Wahnsinn getrieben, und er hatte sie bei einer Pressegala mit einer Pistole bedroht. Da konnte selbst ein Problemlöser vom Studio nichts mehr ausrichten, und Woolfe landete in der Klapsmühle in Downey.

Norma Carlton stand außerdem im Ruf, hart zu verhandeln und rücksichtslos um die besten Rollen zu kämpfen. Es hieß, D. W. Griffith habe auf Druck von Joe Kennedy Gloria Swanson für die Rolle der Hatschepsut besetzen wollen, aber irgendwie sei es Carlton gelungen, den Regisseur zu überreden, ihr die Hauptrolle in Queen Pharaoh anzutragen. Mehr noch als ihr schauspielerisches Talent hatte Carltons Schönheit das Publikum in aller Welt in ihren Bann gezogen. Die Schlagzeilen verkündeten, dass Carlton das Geheimnisvolle und die Klasse von Greta Garbo besaß, aber auch den heißen Sexappeal von Theda Bara. »Das Mädchen, das noch mehr von dem ›gewissen Extra‹ hat als Clara Bow«, hatte ein Blatt verkündet.

Ein Star war geboren.

Das Telefon klingelt wieder. Sie geht zur Anrichte und nimmt den Hörer ab.

»Mary?«, fragt ein kultivierter Bariton. »Hier spricht Dr. Wilson. Können Sie bitte in die Leichenhalle der Klinik kommen.«

»Jetzt?«

»Ja, jetzt. Da gibt es etwas, das Sie sich ansehen sollten.«

4

Das dreistöckige Art-Déco-Gebäude mit seinen eleganten Linien und abgerundeten Kanten sieht im Licht der Straßenlaternen wie ein verkleinerter Ozeandampfer aus, der am Straßenrand in seiner eigenen Bucht mit gepflegten Gärten vor Anker gegangen ist. Mary Rourke weiß, dass die Klinik nicht einmal ein Jahr alt ist und über die Ausstattung und Ressourcen eines kleinen Krankenhauses verfügt. Sie weiß auch, dass die Klinik zwar von Wilson geleitet wird und sein Name auf dem teuren Briefpapier steht, dass sie ihm aber nicht gehört. Die Holding, die die Mehrheitsanteile an der Klinik hält, ist außerdem Wilsons Vermieter und Besitzer der Immobilie. Es bedarf keiner allzu mühseligen Nachforschungen, um die Holding zu Carbine International Pictures, ihrer Muttergesellschaft, zurückzuverfolgen.

Wegen des Exklusivvertrags des Studios mit Doc Wilson besitzt Carbine International ihn quasi. Und jeder Schauspieler und jede Schauspielerin, die bei dem Studio unter Vertrag stehen, sind vertraglich verpflichtet, Wilson als Leibarzt zu akzeptieren.

Als Arzt ist Wilson vor allem für das Unerwartete und Unbequeme zuständig. In der Traumfabrik Hollywood verliert man leicht den Bezug zur Realität und zu den Regeln, die einen bisher geleitet haben, die man aber bei der Ankunft in der Stadt zusammen mit dem Wintermantel an der Tür abgegeben hat. Stars strahlen hell und brennen oft schnell aus. Jedes Studio braucht Leute wie Mary Rourke, Sam Geller und Doc Wilson, die sich um die unschönen Dinge kümmerten – die Nervenzusammenbrüche, ungewollten Schwangerschaften, Sexskandale, Schlägereien unter Alkoholeinfluss, Autounfälle, Selbstmordversuche, Syphilis- und Tripper-Infektionen, Morphin- und Kokainabhängigkeiten und die Saufgelage … Die glatten, cremefarbenen Stuckwände der Appleton-Klinik hüten einige der dunkelsten und schmutzigsten Geheimnisse Hollywoods.

Der alte Wachmann, der mit seiner blauen Uniform und der Pistole an der Hüfte schwach an seine Vergangenheit als Streifenpolizist erinnert, lächelt Rourke an, als er die Tür der Klinik aufschließt, um sie einzulassen. Sie hat ihm den Job nach seiner Pensionierung verschafft. Und fraglos wird sie Pops Nolan einen ähnlichen Job in der Klinik oder in den Studios verschaffen, wenn seine Zeit gekommen ist.

»Der Arzt hat Sie bereits angekündigt«, sagt er. »Ich bringe Sie zur Leichenhalle.«

»Schon gut, Frankie.« Sie lächelt ihn an. »Ich kenne den Weg.«

Die Leichenhalle ist nur schwach beleuchtet, abgesehen vom Licht der Deckenlampen über den beiden Weiß gekachelten Seziertischen. Sie rümpft die Nase, als der Geruch dieses Ortes hineinsteigt: Desinfektions- und Bleichmittel, die etwas anderes, weniger Steriles überdecken.

Doc Wilsons Teint wirkt im grellen Arbeitslicht plötzlich fahl. Er trägt eine durchgehende, blassblaue Gummischürze, seine Hände stecken in weißen Latexhandschuhen. Sie kann an seinem Gesicht ablesen, dass er schlechte Nachrichten hat.

»Wir wurden verarscht, Mary.«

»Verarscht?«

»Reingelegt. Sehen Sie hier …«

Der Leichnam von Norma Carlton liegt nackt auf einem der Seziertische. Rourke stellt fest, dass ihre Perfektion bereits zu verblassen beginnt. Auf den weißen Porzellankacheln sieht ihre nackte Haut jetzt grau und fleckig aus, wie mit Wachs überzogen. Ihr Gesicht ist noch nicht abgeschminkt, das Augen- und Lippen-Make-up hebt sich deutlich vom Rest ab. Ihr gesamter Schmuck ist bis auf ein einziges Stück entfernt worden: die Halskette aus ihrer Rolle in Queen Pharaoh.

»Ich habe sie ihr wieder angelegt, damit Sie es sehen können. Als Filmkostüm ist sie sehr auffällig, aber als Alltagsschmuck völlig unpraktisch. Das Stahldrahtgestell ist fast völlig starr, so dass sie gerade eben ihren Kopf hin- und herbewegen kann, aber sonst nichts.«

»Doc, ich …«