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Laura Sander findet sich als Geist auf ihrer eigenen Beerdigung wieder. Sie ist zwischen den Welten gefangen, weil sie einen noch nicht erledigten Auftrag zu Ende bringen muss. Aber was? Muss sie ihren Mörder überführen, weil die Polizei eine völlig falsche Spur verfolgt oder hat sie zu Lebzeiten etwas getan, was es nun gut zu machen gilt? Und was ist mit ihrem Mann Sebastian geschehen, den sie auf der Beerdigung nirgends gesehen hat? Ihr neuer Freund auf dem Friedhof, der Geist von Oliver Sommerfeld, muss sich erst an sein Leben erinnern, bevor er sich auf die Suche nach seiner letzten Aufgabe begeben kann. Julia Sommerfeld hingegen, quicklebendig und in Sorge um ihren verschwundenen Bruder, recherchiert auf eigene Faust und kommt seinen Mördern dabei gefährlich nahe.
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Seitenzahl: 474
Veröffentlichungsjahr: 2020
Autorin:
Melitta Gögge, Jahrgang 1969, entdeckte ihre Leidenschaft für das Schreiben bereits in jungen Jahren, als sie Gedichte, Geschichten und Artikel für eine Schülerzeitung schrieb. Bis zum ersten Roman sollten mehr als 30 Jahre vergehen. Sie lebt und arbeitet heute in Freising.
Melitta Gögge
Der Geist mit derblauen Lederjacke
Roman
© 2020 Melitta Gögge
Umschlag, Illustration: Marit Blossey
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7497-6270-5
Hardcover:
978-3-7497-6271-2
e-Book:
978-3-7497-6272-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Der Körper kann ohne den Geist nicht bestehen,aber der Geist bedarf nicht des Körpers.
(Erasmus von Rotterdam)
4. Juni
»Ich gehe jetzt zur Polizei«, sagte Julia Sommerfeld.
»Die werden aber nichts unternehmen«, entgegnete Benjamin, hielt Julia zurück, die sich gerade ihre Tasche vom Garderobenhaken geschnappt hatte und zur Tür hinaus geeilt war. »Oliver ist ein erwachsener Mann, der sich frei bewegen kann, ohne sich bei dir abzumelden.«
»Das ist aber nicht seine Art. Selbst wenn er die Nacht spontan anderswo verbracht hätte, hätte er angerufen oder eine kurze Nachricht geschickt. Oliver schaltet sein Handy nie aus. Nie!«
»Julia! Das weißt du, das weiß auch ich, aber die Polizei wird dich nicht ernst nehmen. Die werden dich nach Hause schicken und du darfst in einer Woche wiederkommen.«
»Das werden wir ja sehen!«, sagte Julia trotzig und stapfte die Treppe hinunter. Das piekfeine Paar, das im Erdgeschoss auf den Aufzug wartete, tat so, als ob es das Gespräch im Treppenhaus nicht mitgehört hatte. Sie zog, kaum sichtbar, eine Augenbraue hoch, er rückte seine elegante Ledermappe unter dem Arm zurecht und drückte ungeduldig auf den Knopf, weil der Aufzug immer noch nicht kam.
Auf dem Polizeipräsidium kümmerte sich sofort eine einfühlsame Polizistin um Julia und Benjamin. Sie stellte sich als Polizeiobermeisterin Wagner vor, bat die beiden in ihr Büro und fragte nach ihrem Anliegen.
»Ihr Bruder ist verschwunden, sagten Sie?«
»Ja, ich erreiche ihn nicht mehr. Er ist nicht nach Hause gekommen und sein Handy ist ausgeschaltet. Das ist absolut untypisch für ihn!«, sagte Julia.
»Wie alt ist Ihr Bruder, Frau Sommerfeld?«
»Er ist zweiunddreißig! Ich weiß, er ist erwachsen und kann machen was er will, aber glauben Sie mir, das ist bisher noch nie passiert!«
»Sie und Ihr Bruder wohnen also in einer gemeinsamen Wohnung?«
»Ja, wir haben sie vor zwei Jahren zusammen gekauft.«
»Ist das nicht etwas ungewöhnlich?«, wunderte sich die Polizistin.
»Für Außenstehende vielleicht schon. Unsere Eltern sind früh gestorben, wir mussten zusammenhalten, denn wir hatten ja nur noch einander. Mein Bruder und ich haben uns immer gut verstanden und haben auch jetzt eine sehr enge Bindung und wir wissen immer, wo der andere sich gerade aufhält.«
»Was macht ihr Bruder beruflich?«
»Er ist freischaffender Journalist.«
»Meinen Sie den Oliver Sommerfeld, der kürzlich diesen Umweltskandal aufgedeckt hat? Ich habe darüber gelesen.«
»Ja, genau den. Glauben Sie mir, mein Bruder ist absolut zuverlässig und wenn er sich nicht meldet, ist ihm bestimmt etwas zugestoßen.«
»Frau Sommerfeld, ich kann Ihre Sorge gut verstehen. Aber sehen Sie, die meisten vermissten Erwachsenen tauchen nach ein paar Stunden oder Tagen wieder auf und es gibt eine einfache Erklärung für ihr Verhalten: Handy verloren, Akku leer oder einfach nicht daran gedacht, sich zu Hause zu melden.«
»Das würde Oliver nie passieren! Sein Handy ist ihm heilig. Darin sind alle seine Kontakte, seine Informanten, er ist ständig für sie erreichbar, er kann seinen Akku im Auto aufladen und er würde sein Handy niemals ausschalten!«
»Ist er mit einem Auto unterwegs gewesen?«
»Ja, er ist morgens weggefahren. Er hatte einen Arzttermin, danach wollte er wieder nach Hause kommen und an seinem Artikel weiter schreiben, weil der Abgabetermin dieses Mal so knapp ist. Er arbeitet immer von zu Hause aus.«
»Ist Ihr Bruder krank?«
»Nein«, winkte Julia ab, »er braucht neuerdings eine Lesebrille und war deswegen beim Augenarzt.«
»Wissen Sie, ob er den Termin wahrgenommen hat?«
»Ja, ich habe beim Arzt angerufen und nachgefragt. Er hat die Praxis gegen zehn Uhr verlassen.«
»Was ist mit einer Freundin?«
»Er hat keine feste Freundin. Er hat auch nicht viele Freunde, und die paar, die er hat, habe ich alle schon kontaktiert, aber niemand hat ihn gestern gesehen oder mit ihm gesprochen.«
»Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt zu Herrn Sommerfeld?«, fragte die Polizistin, an Benjamin gerichtet.
»Ach, das ist schon eine ganze Weile her. Zwei Wochen vielleicht.«
»Sie sind also nur mit Frau Sommerfeld und nicht mit Herrn Sommerfeld befreundet?«
»Oliver und ich verstehen uns ganz gut, aber ich arbeite zeitweise im Ausland, manchmal ist Oliver unterwegs, wenn ich bei Julia bin.«
»Sie und Frau Sommerfeld sind ein Paar?«
»Ja.«
Dann wandte sie sich wieder an Julia.
»War er nach dem Arztbesuch noch einmal zu Hause?«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Ich habe versehentlich das Küchenfenster weit offen gelassen, bevor ich zur Arbeit gefahren bin. Er hätte es bestimmt zugemacht, wenn er zu Hause gewesen wäre.«
»Was für ein Fahrzeug fährt Ihr Bruder?«
»Einen dunkelblauen Volvo Kombi. Das Auto ist auch nicht da!«
Die Polizistin ließ sich ein Foto von Oliver geben, nahm die Personalien und die Fahrzeugdaten auf, druckte die Anzeige aus und legte sie Julia zur Unterschrift vor. Dann begleitete sie die beiden hinaus und versprach, sich um die Anzeige zu kümmern.
»Wir werden zunächst überprüfen, ob Ihr Bruder möglicherweise in einen Unfall verwickelt war und wir werden versuchen, sein Handy zu orten. Die meisten Vermisstenfälle gehen gut aus, glauben Sie mir«, versuchte sie Julia zu beruhigen.
»Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben!«, mahnte auch ihr Freund, als sie wieder draußen waren.
»Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl, Benjamin!«
6. Juni
Laura Sander, geb. Hoffmann – da stand ihr Name unter einem schwarz gerahmten Foto. Es war vom letzten Sommer, sie und Sebastian waren gerade auf Hochzeitsreise gewesen, da trug sie ihre rotblonden Haare noch lang, hatte eine leichte Sonnenbräune und Sommersprossen im Gesicht. Es beunruhigten sie aber die Zahlen darunter. Sie sahen aus, als wären es Angaben von Geburts- und Todestag in einer Traueranzeige. Eine Frau, die nur 34 Jahre alt werden durfte. Das Bild stand vor einem geschlossenen, weißen Sarg, auf dem ein riesiger Kranz aus Pfingstrosen lag. Ihre Lieblingsblumen. Auf dem Boden standen noch mehr Kränze und Sträuße, sie las auf den Schleifen immer wieder »Wir werden dich vermissen« oder »Wir werden dich nie vergessen«. Im Hintergrund lief leise Musik, Balladen von Bryan Adams, ihrem Lieblingssänger und auf die Wand hinter dem Sarg wurden Fotos von ihr projiziert, sorgfältig ausgesuchte Bilder aus Kindertagen, von Familienfesten und Schulausflügen, von ihrer Hochzeit, Urlaubsfotos mit Freunden und Familie.
Nun stand sie hier, vor diesem Sarg und hatte keine Ahnung, was los war. Sie sah sich um, da saßen ihre Eltern, Großeltern und ihre beiden Brüder, Lukas und Leon, Sebastians Eltern, Ingrid und Arthur, seine Schwester Juliane, dahinter ihre vier besten Freundinnen.
Susanne, Simone, Andrea, Elke und sie waren eine Mädchenclique seit der Schulzeit. Alle hatten verweinte Augen, sogar ihr Bruder Lukas. Sie beide hatten nie ein besonders inniges Verhältnis zueinander gehabt, was an dem großen Altersunterschied von 16 Jahren lag.
»Was ist hier los?« fragte sie ihren Vater. Sie rüttelte die Trauergäste an der Schulter, aber keiner reagierte darauf. Auch die Menschen im hinteren Teil der Kapelle saßen still da, einige weinten, andere tuschelten leise miteinander. Hinter der letzten Stuhlreihe standen einige uniformierte Polizisten und noch mehr dunkel gekleidete Menschen, sogar draußen vor der Tür standen sie in Zweierreihen, weil der Platz in der Kapelle nicht mehr ausreichte. Laura rannte hinaus.
»Hallo! Ich bin hier! Warum spricht niemand mit mir?« schrie sie eine junge Frau an. Aber diese kramte weiter in ihrem Rucksack auf der Suche nach einem frischen Taschentuch.
»Bemühe dich nicht«, sagte ein alter, bärtiger Mann, der etwas abseits auf einem Grabstein saß, »sie sehen und hören dich nicht.«
»Aber warum sehen Sie mich?« fragte Laura.
»Weil ich auch tot bin, genau wie du.«
Jetzt begriff sie es erst: sie war auf ihrer eigenen Beerdigung. Und jetzt sah sie auch, dass sie selbst etwas blass und durchsichtig war, genau wie der Mann, der auf dem Grabstein saß. Neben ihm saß eine durchsichtige Frau, beide hatten Schlafanzüge an. Noch mehr blasse Gestalten standen da und verfolgten neugierig das Geschehen. Einige lächelten müde, einige murmelten, es sei doch immer wieder das gleiche mit diesen Neuen.
»Wenigstens ist diesmal richtig was los«, sagte ein anderer Mann, er trug einen weißen Anzug mit einem kirschroten Einstecktuch, schwebte ins Innere der Friedhofskapelle und hockte sich mitten in den Gang auf den Boden.
Offenbar war sie beliebt gewesen. Oder waren die vielen Menschen aus Neugier zur Beerdigung gekommen? Die Erkenntnis, dass es ihre eigene war, musste Laura erst verinnerlichen. Aber wo war ihr Mann Sebastian? Sie hatte ihn weder in der Kapelle, noch draußen gesehen. Sie ging wieder hinein, starrte die Leute reihum an, aber keiner von ihnen war Sebastian. Laura beschloss, an ihrer eigenen Trauerfeier teilzunehmen, um mehr zu erfahren und hockte sich neben den Mann mit dem weißen Anzug.
»Haben Sie Geduld und passen Sie gut auf, was um Sie herum geschieht«, sagte er in einem väterlichen Ton. »Sie werden irgendwann wissen, warum Sie zwischen den Welten gefangen sind.«
»Zwischen den Welten? Welche Welten?«
»Die Welt der Lebenden und die der Toten. Sie haben noch eine letzte Aufgabe zu erfüllen, sonst wären Sie gar nicht hier.«
Laura verstand nichts davon, beschloss aber, seinem Rat zu folgen und aufmerksam zu beobachten, was geschah, denn gerade ging die Pastorin auf das Rednerpult zu, das neben dem Sarg stand. Die Musik und auch das Stimmengemurmel verstummten allmählich. Stattdessen setzte Orgelmusik ein und die Trauergemeinde stimmte ein Lied an. Danach hielt die Pastorin eine kurze Ansprache, in der es hauptsächlich um Laura und ihre Familie, die glückliche und unbeschwerte Kindheit und die große Liebe ihres Lebens Sebastian ging, eine Liebe die durch einen tragischen Schicksalsschlag viel zu kurz war. Laura versuchte sich zu erinnern, aber es waren nur ein paar bruchstückhafte Bilder in ihrem Kopf. Was war mit ihr passiert? Was war mit Sebastian passiert?
»Ich erinnere mich nicht mehr an die letzten Tage«, sagte sie leise.
»Das ist normal«, antwortete der Mann mit dem weißen Anzug, »die Erinnerung kommt wieder. Mit jedem Gesicht, in das Sie blicken, mit jedem Gebäude, vor dem Sie stehen, mit jedem Duft oder Geräusch. Ihre toten Sinne müssen erst wieder erwachen.«
Die Pastorin hatte ihre Rede beendet. Ihre Freundin Simone stand auf, schritt mit gesenktem Kopf zum Mikrofon und las ein langes Gedicht über Freundschaft vor. Sie kämpfte mit den Tränen und die letzte Strophe war wegen der Weinkrämpfe kaum noch zu verstehen. Es folgte ein weiteres Lied, dann ging ein Mann ans Rednerpult. Er stellte sich den Anwesenden als Ulf Heine, Sebastians Vorgesetzten, vor und hielt zunächst eine Lobrede auf Sebastian, Laura und ihre private Freundschaft. Er machte noch mehr Andeutungen auf ihr viel zu kurzes Leben, das so tragisch endete, offenbar wussten alle Anwesenden, was er meinte – nur sie nicht.
Ein anderer Mann betrat nun das Rednerpult, Laura war aufgefallen, dass er auf dem Weg dahin humpelte.
»Mein Name ist Christian Hollweck. Sebastian und ich sind langjährige Partner und enge Freunde. Wenn Lauras Auto an jenem Morgen nicht kaputt gegangen wäre, dann läge vielleicht ich jetzt in diesem Sarg.«
Laura horchte auf.
»Wie ihr wisst, arbeiten wir bei der Polizei. Wir sind einem gefährlichen Schmugglerring auf der Spur und wir vermuten, dass der Anschlag auf Sebastians Auto auf deren Konto geht. Wir müssen es nur noch beweisen…«
Sebastian und sie arbeiteten beide bei der Polizei, fiel Laura wieder ein. Sie arbeitete in der Personalverwaltung, er war Kriminaloberkommissar in der Abteilung Rauschgiftdelikte. Normalerweise fing ihr Dienst früher an als seiner und daher fuhren sie niemals zusammen zur Arbeit. An diesem Morgen machte ihr Auto komische Geräusche, es stank und qualmte aus dem Motorraum und so beschloss Sebastian, Laura zur Arbeit zu fahren und in der Stunde bis zu seinem Dienstbeginn seinen liegengebliebenen Bürokram zu erledigen. Die Fahrgemeinschaft mit Christian sagte er für diesen Tag ab.
Ihr Haus stand auf einer Anhöhe, in einer kopfsteingepflasterten Sackgasse, welche in eine stark befahrene, vierspurige Straße mündete. Als Sebastian bergab fuhr, merkte er, dass die Bremsen nicht funktionierten, das Auto immer mehr an Tempo zulegte, er konnte an der roten Ampel nicht anhalten, wurde beim Einfahren in die Hauptstraße von einem PKW erfasst und gegen einen LKW auf der Linksabbiegerspur geschleudert. Sie sah plötzlich Sebastians blutverschmiertes Gesicht, hörte sein schmerzvolles Stöhnen und die Geräusche der Straße, das Hupkonzert hinter der Unfallstelle und das Martinshorn. Das letzte woran Laura sich erinnerte, waren die Worte des Notarztes, der sie fragte, ob sie wisse, wie sie heiße und was passiert sei. Darauf konnte sie ihm aber keine Antwort mehr geben.
Ein Autounfall hatte ihr eigenes Leben beendet. Aber wo war Sebastian?
»…die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit. Amen.«
Die letzten Worte der Pastorin rissen Laura aus ihren Gedanken.
Die Trauergemeinde bahnte sich langsam ihren Weg durch die Friedhofspfade. Es war ein langer Weg bis zum Grab, Laura lief nebenher und schaute sich die Leute reihum an, in der Hoffnung, etwas zu entdecken, das ihrer Erinnerung auf die Sprünge half. Die meisten Gesichter konnte sie vage ihrem Bekanntenkreis zuordnen: da waren ein paar Frauen aus ihrem Fitnesskurs, einige Nachbarn, Kollegen. Die junge Frau, die sie vor der Kapelle angeschrien hatte, war eine neue Kollegin, sie hatten noch keine Gelegenheit gehabt, sich richtig kennen zu lernen.
Einige der Leute kannte sie sogar mit Namen. Da war zum Beispiel die Familie Möller, die Mieter der anderen Doppelhaushälfte neben ihren Eltern. Und Sebastians bester Freund Daniel mit seiner Frau Astrid. Nach der Beerdigung strömten alle in die nahegelegene Gastwirtschaft, in der das Totenmahl stattfand. Nachbarn und Kollegen waren mitgegangen, die Freundinnen und die ganze Familie. Die Stimmung war bedrückend, ihre Eltern hielten sich die ganze Zeit fest an den Händen, als ob sie Angst hätten, sonst einander zu verlieren. Die Menschen saßen oder standen in Grüppchen beisammen, einige kamen, um ihren Eltern und Brüdern noch einmal ihr Beileid auszusprechen und immer wieder zu betonen, wie sehr sie Laura vermissen werden.
Diese beobachtete das Geschehen erst aus sicherer Entfernung von der Tür aus. Trauergäste betraten und verließen den Raum, ohne sie wahrzunehmen. Die Bedienung war mehrmals an ihr vorbeigelaufen, ohne auf sie zu achten.
Als Laura sich sicher war, dass wirklich niemand sie sehen konnte, ging sie durch den Raum und belauschte die Gespräche. Die Leute redeten über alltägliche Dinge wie ein neues Auto, Urlaubspläne für die nahenden Sommerferien, Eheprobleme. Die meisten Gespräche drehten sich aber um sie selbst, um den Unfall und um Sebastian - der im Koma lag.
Lauras Schwiegereltern und Juliane waren die ersten, die diese traurige Veranstaltung wieder verließen. Laura vermutete, dass sie ins Krankenhaus fahren würden, um Sebastian zu besuchen. Es war ihre Chance, herauszufinden, wo er sich aufhielt und wie es um ihn stand. Im letzten Augenblick konnte sie sich auf die Rücksitzbank flüchten, bevor Juliane die Autotür zuknallte.
Wie erwartet, bog Arthur in Richtung Klinikum ab und steuerte den erstbesten Parkplatz an. Laura folgte ihnen und versuchte, sich den Weg einzuprägen, um beim nächsten Mal auch alleine hierher zu finden. Vor dem Krankenzimmer saß ein uniformierter Polizist und bewachte die Tür. Stand Sebastian unter Polizeischutz, weil man einen erneuten Anschlag auf ihn befürchtete? Aus dem Zimmer kam gerade ein Pfleger. Als er die Besucher entdeckte, blieb er stehen und sagte:
»Es gibt Neuigkeiten, Sie sollten unbedingt mit dem Oberarzt sprechen. Ich sage ihm, dass Sie hier sind.«
Sebastians Mutter eilte daraufhin ins Zimmer, nahm seine Hand und streichelte sie.
Laura sah Sebastian an. Er war verändert. Seine sonst so gesunde Gesichtsfarbe war blass geworden und er hatte mehr graue Strähnen als sonst. Seine langen, schlanken Finger wirkten dünn und knöchern. Sie hatte im Vorbeifahren an einer Apotheke das Datum und die Uhrzeit gesehen: es war der 6. Juni 2014. Zwischen ihrem Todestag und der Beerdigung waren etwas mehr als 3 Wochen vergangen. Seit dieser Zeit also lag Sebastian im Koma.
Laura erinnerte sich plötzlich daran, dass der 7. Juni eine Bedeutung für sie hatte, sie wusste aber nicht, was genau. Vielleicht müsste sie den morgigen Tag noch auf der Erde erleben, um das Ereignis nicht zu verpassen, das an diesem Tag stattfinden sollte. Nur was?
***
Es klopfte kurz an der Tür und der Oberarzt betrat schwungvoll den Raum, kam auf die Besuchergruppe zu, gab allen außer ihr die Hand und fragte, ob sie gerade von der Beerdigung kämen.
»Ja«, sagte Juliane, »es war eine sehr schöne Trauerfeier. Es waren so viele Menschen da, ich wusste gar nicht, dass Laura so viele Bekannte hatte. Wenn sie das gesehen hätte, wäre sie bestimmt erstaunt gewesen.«
Und wie, dachte Laura.
»Es gibt leider schlechte Nachrichten«, sagte der Oberarzt dann und sah in Sebastians Krankenakte. »Die Schwellung des Gehirns geht nur sehr langsam zurück. Wir werden das künstliche Koma verlängern müssen.«
»Was heißt das genau?«, fragte Ingrid.
»Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Frau Sander, so tragisch der Tod Ihrer Schwiegertochter auch ist, aber ihr ist das erspart geblieben, was Ihren Sohn erwartet. Er wird für den Rest seines Lebens ein Pflegefall sein, er wird nie wieder sprechen können, nie wieder laufen, nicht mehr alleine atmen. Durch die Schädigung des Gehirns könnte er seine restlichen Lebensjahre im Wachkoma verbringen. Es tut mir sehr Leid, Ihnen das sagen zu müssen.«
Laura war geschockt! Der sonst so aktive und lebenslustige Sebastian sollte nie wieder ein normales, eigenständiges Leben führen? Nie wieder Sport treiben? Nie wieder reisen? Nie wieder mit ihr und Freunden feiern? Ingrid weinte leise und streichelte immer wieder Sebastians Hände. Laura stand auf der anderen Seite des Bettes und berührte seine Haare, konnte aber nichts spüren. Ihre Sinne waren noch nicht wieder ganz funktionsfähig. Sie beschloss, ein anderes Mal wiederzukommen und zu versuchen, Zwiesprache mit Sebastian zu halten. Manchmal hatten sie sich ohne Worte verstanden, vielleicht klappte es auch jetzt. Der Arzt verließ den Raum und Laura nutzte diese Gelegenheit zum Verschwinden. Draußen fiel ihr ein nervöser Mann auf, der aus dem Aufzug stieg, sich kurz umsah und sofort kehrt machte, als er die Wache erblickte. Sie rannte die Treppe hinunter und konnte noch sehen, wie er in einen wartenden schwarzen BMW stieg, sich kurz mit dem Fahrer unterhielt und das Auto dann rasch davon fuhr. Vielleicht hatten diese beiden Männer etwas mit dem Unfall zu tun.
***
Laura ging wieder zurück zum Friedhof. Manchmal waren ihre Schritte fest, manchmal schwebte sie über dem Boden. Einmal sah sie einen Mann, der auch so durchsichtig war wie sie, er hatte Laura aber nicht bemerkt, denn er stand mit dem Rücken zur Straße und betrachtete das Schaufenster eines Ladens, das gerade umdekoriert wurde. Er lächelte wehmütig. War auch er auf der Suche nach seiner letzten, unerledigten Aufgabe? Welche Rolle spielte dieser Laden? Welches war ihre letzte Aufgabe? Ging es nur darum, den 7. Juni zu erleben oder hatte sie noch etwas Wichtigeres zu erledigen? Laura überlegte fieberhaft, ob es in ihrem Leben etwas gab, was sie unbedingt erreichen wollte? Oder gab es einen Ort, den sie unbedingt sehen wollte? Ihr fiel nichts ein. Es machte auch keinen Sinn, denn bei allem, was sie noch vorgehabt hätte, wäre Sebastian mit von der Partie gewesen und das ging ja nun nicht mehr. Hatte sie vielleicht jemandem Unrecht getan oder ein Versprechen nicht eingelöst? War es ihre letzte Aufgabe, etwas gut zu machen, was sie zu Lebzeiten nicht mehr geschafft hatte? Oder spielte ihre Familie eine Rolle dabei? Der Mann mit dem weißen Anzug hatte gesagt, dass sie nur Geduld haben müsse, ihre Erinnerung käme Schritt für Schritt wieder.
Auf dem Friedhof musste sie ihr Grab gar nicht erst suchen, wie durch eine magische Anziehungskraft ging sie durch die Reihen. Einige durchsichtige Gestalten saßen auf den Grabsteinen oder standen in Grüppchen zusammen. Der Mann mit dem weißen Anzug lehnte an einem Baumstamm und starrte auf einen unfertigen Grabstein.
Als Laura an ihm vorbei kam, fragte er freundlich lächelnd:
»Fühlen Sie sich schon heimisch?«
»Noch nicht so ganz«, sagte sie und lächelte zurück. »Warum tragen Sie eigentlich einen weißen Anzug?«
»Aus dem gleichen Grund, warum viele hier einen Schlafanzug tragen und Sie eine weiße Jeans, eine geblümte Bluse und eine hellblaue Lederjacke. Steht Ihnen gut!«
»Sie meinen, jeder behält die Kleidung, die er bei seinem Ableben getragen hat?«
»Ja.«
Laura dachte daran, dass Sebastian bloß nicht sterben durfte, solange er noch das Krankenhaushemd trug, das hinten offen war.
»Wieso ein weißer Anzug?«
»Ich war Schauspieler. Ich hatte einen Herzinfarkt während der Generalprobe.«
»Welche Rolle haben Sie gespielt?«
»Die eines alternden Gigolo.«
Laura musste lachen, denn diese Rolle passte so gar nicht zu seiner gutmütigen, väterlichen Art.
Eine ältere Frau gesellte sich zu ihnen, sie war im Schlaf gestorben, denn sie war barfuß, trug ein Nachthemd und ein Haarnetz über den Lockenwicklern. Sie kam Laura irgendwie bekannt vor.
»Was ist mit Ihnen passiert?«
»Mein Mann und ich hatten einen Autounfall, er liegt noch im Koma.«
»Das tut mir Leid. Wird er überleben?«
»Ich weiß es nicht.«
»Vielleicht warten Sie ja hier auf ihn!«
»Wieso?«
»Nun, Sie sind ja nicht umsonst zwischen den Welten gefangen. Sie haben eine Aufgabe zu erfüllen. Das könnte eine sein.«
»Das würde aber bedeuten, dass ich noch sehr lange hier wäre.«
»Schon möglich. Fragen Sie doch mal den Dietmar, der wird noch ein paar Monate hier sitzen.«
Ohne eine weitere Erklärung drehte sie sich um und ging weiter. Der Mann mit dem weißen Anzug war auch verschwunden und so schwebte Laura hinüber bis zu ihrem Grab. Zwei Friedhofsbedienstete waren gerade damit beschäftigt, die vielen Kränze und Blumen auf dem frisch aufgeschütteten Erdhaufen zu verteilen, einer schlug mit einem großen Gummihammer ein weißes Holzkreuz in den Boden, auf dem in schwarzen Lettern ihr Name, ihr Geburtstag und ihr Todesdatum standen.
»Die arme Frau, noch so jung«, murmelte er und bekreuzigte sich. »Wer weiß, ob sie das Schwein jemals kriegen.«
Laura las die Inschriften auf den Bändern noch einmal. Der schönste Kranz war von ihrer Familie: weiße und rosafarbene Pfingstrosen. Ihre Schwiegereltern hatten sich für weiße Lilien entschieden und ihre besten Freundinnen für bunte Sommerblumen. Auf dem Grab neben ihr stand ein riesiger Blumenstrauß und auf einem Gedenkstein war ein sehr persönlicher Spruch graviert. Ihr Nachbar war auch sehr jung gestorben, er hatte seinen dreißigsten Geburtstag vor ein paar Wochen gerade noch erleben dürfen. Laura war schon gespannt, ihn kennen zu lernen und seine Geschichte zu erfahren. Er hieß Dietmar und wenn es der Dietmar war, von dem die alte Frau gesprochen hatte, dann würde er noch mehrere Monate hier auf dem Friedhof verbringen.
Weil ihr langweilig war, beschloss Laura, sich noch ein wenig auf dem Friedhof umzusehen. Sie war schon oft hier gewesen, an den Gräbern ihrer verstorbenen Großeltern mütterlicherseits und Sebastians Tante Hildegard, von der er vor knapp drei Jahren das Haus geerbt hatte. Sie war kinderlos und Sebastian war ihr Lieblingsneffe gewesen. Die anderen waren auch nicht leer ausgegangen, aber auf das Haus hatten viele spekuliert. Die anderen hätten es meistbietend verscherbelt, ruhige Innenstadtlage war bestimmt ein Vermögen wert, selbst in dem abgewohnten Zustand, in dem sie es hinterlassen hatte. Sebastians Herz hing an diesem Haus, und Hildegard wusste das auch.
Laura sah den Friedhof nun mit ganz anderen Augen. Früher waren es Namen und Jahreszahlen gewesen, gelegentlich ein Foto auf einem Grabstein und ein flüchtiger Eindruck, den ein besonders schön gepflegtes oder ein stark vernachlässigtes Grab im Vorbeigehen hinterlassen hatte. Jetzt waren es Lebensgeschichten hinter den vielen durchsichtigen Gestalten, die hier weilten.
Die alte Frau mit dem Haarnetz saß auf einer Bank und rief einer anderen Frau zu:
»Er ist jetzt weg, er hat es geschafft!«
»Wer?«
»Na der Gregor.«
»Was ist Ihr Auftrag?« fragte Laura die Frau auf der Bank. Sie überlegte fieberhaft, woher sie sie kannte.
»Ich weiß es noch nicht, aber der Gregor hat es jetzt geschafft!«, sagte sie noch einmal. »Warum sind Sie so jung gestorben? Waren Sie krank?«
»Nein, ich hatte einen Autounfall«, sagte Laura. Diese Frau hatte anscheinend nicht mehr das beste Gedächtnis.
»Da ist heute eine junge Frau beerdigt worden, die wurde ermordet!« Das klang sehr brachial. Natürlich war der Unfall genaugenommen ein Mordanschlag. Aber wie diese Frau das sagte, hörte es sich an, als sei sie hinterrücks gemeuchelt worden.
»Ich weiß. Das bin ich. Ich bin die, die heute beerdigt wurde« sagte Laura noch einmal. Die alte Frau hatte vergessen, dass sie ihr vor ein paar Minuten schon von dem Unfall erzählt hatte.
»Ach, Sie sind das? Das ist ja ein Ding! Wissen Sie was, Sie müssen bestimmt Ihren Mörder finden!« rief sie enthusiastisch, obwohl sie vorher noch davon überzeugt war, dass Laura hier auf Sebastian warten müsste.
»Das glaube ich nicht, das wird die Polizei schon erledigen. Verdächtige gibt es ja bereits!«
»Aber einen Grund hat es ja, dass Sie noch nicht nach drüben dürfen. Der Gregor, der hat es geschafft!«
Bevor die Frau näher auf diesen Gregor eingehen konnte, ging Laura zurück zu ihrem Grab und wartete auf ihren Nachbarn.
Es dauerte gar nicht so lange, bis er kam. Auch er trug einen Schlafanzug und war barfuß. Seine Haare waren ausgefallen, das Gesicht hager und blass, er winkte Laura schüchtern zu und setzte sich auf seinen Grabstein.
»Ich bin Laura, ich bin neu hier.«
»Ich bin Dietmar«, sagte er. »Du hattest eine schöne Beerdigung, erzählt man sich.«
»Na ja, was ist schon eine schöne Beerdigung? Es waren viele Leute hier, es wurden sentimentale Reden gehalten. Findest du das schön?«
»Ja, schon. Das ist das Gute, wenn man jung stirbt. Da gibt's noch viele Verwandte und Freunde, die kommen. Stimmt es, dass du ermordet wurdest?«
»Genau genommen ja. Jemand hat einen Anschlag auf das Auto meines Mannes und seines Kollegen verübt. Nur leider saß ich in dem Auto drin. Mein Mann ist, na ja, er war Polizist.«
»Ist er auch gestorben?«
»Nein, er liegt seit dem Unfall im Koma. Der Arzt sagte, dass er nie wieder gesund werden wird.«
»Das ist ein gefährlicher Beruf. Würde ich niemals machen.«
»Was hast du denn beruflich gemacht?«
»Ich habe noch studiert. Medizin. Aber ich konnte mein Studium wegen meiner Krankheit nicht so konsequent durchziehen.«
»Was hattest du?«
»Leukämie. Wurde im fünften Semester festgestellt.«
»Das tut mir Leid!« sagte Laura mitfühlend.
»Nun, ich konnte mich wenigstens auf den Tod vorbereiten. Du nicht.«
»Stimmt auch wieder. Aber ich glaube, es stirbt sich dadurch nicht leichter.«
»Keine Ahnung, ich habe ja keinen Vergleich. Aber meine Frau hatte viel mehr Angst vor dem Tod als ich.«
»Stimmt es, dass du noch monatelang hier auf dem Friedhof warten musst?«
»Mmmhmmm…«. Er nickte. »Ich werde Vater. Ich habe mir so sehr gewünscht, mein Kind wenigstens einmal zu sehen, bevor ich sterbe. Meine Frau ist jetzt im fünften Monat schwanger. Ich warte also auf die Geburt meines Kindes. Und du?«
»Ich weiß es nicht, ich suche noch einen Anhaltspunkt.«
»Vielleicht musst du deinen Mörder finden«, sagte Dietmar.
»Das hat die alte Frau da drüben auch gesagt.« Laura drehte den Kopf in die Richtung, wo sie sich mit ihr unterhalten hatte. »Ach übrigens, Gregor ist jetzt weg. Falls du es noch nicht mitbekommen hast.«
»Aha…«, sagte Dietmar, auch ihn schien dieser Gregor nicht zu interessieren.
»Woran merkt man, dass jemand seinen letzten Auftrag erledigt hat?«
»Schau dich mal um, einige Gräber umgibt ein leichter Schimmer, das heißt, dass derjenige noch hier weilt. Wenn der Auftrag erledigt ist, verschwindet der Schimmer.«
Laura blickte über den Friedhof und tatsächlich leuchteten einige Gräber auf sonderbare Weise.
»Warum bist du jetzt nicht bei deiner Frau?«
»Es geht nicht. Wenn man seinen letzten Auftrag nicht gleich erledigen kann, muss man die Hälfte seiner Zeit auf dem Friedhof verbringen, die andere Hälfte darf man sich außerhalb frei bewegen. Dann bin ich immer bei meiner Frau. Ich beobachte sie, wie sie ihr neues Leben meistert. Sie ist sehr tapfer. Sie stürzt sich in Arbeit, um sich abzulenken. Aber sie weint auch viel, wenn sie alleine ist.«
»Was meinst du mit Hälfte der Zeit?«
»Die Zeit deiner Abwesenheit musst du anschließend hier absitzen. Bist du zwölf Stunden weg, musst du die nächsten zwölf Stunden hierbleiben. Bleibst du 3 Tage weg, sitzt du die nächsten 3 Tage hier fest.«
»Wer will denn kontrollieren, wie lange wir uns draußen aufgehalten haben?«
»Keine Ahnung, vielleicht der Schwarze Mann«, lachte Dietmar. Laura fand das albern. Sie glaubte nicht an den unheimlichen Schwarzen Mann. Wer sollte das sein? Andererseits hatte sie früher auch nicht an Geister geglaubt und war nun selbst einer.
»Alle halten sich an diese Regel. Aber keine Sorge, die Zeit hier vergeht schnell. Es ist immer was los. Tagsüber sind die Trauerfeiern und Beerdigungen, dann kommen die trauernden Verwandten und bringen Blumen und nachts treiben sich hier Jugendliche herum, die sich und anderen ihren Mut beweisen müssen.«
»Auf geht’s«, sagte Laura, »lass uns jemanden erschrecken.« Ihre Unternehmungslust war geweckt.
»Heute nicht, vielleicht ein anderes Mal.« Er schloss die Augen und Laura verstand, dass er jetzt mit sich und seinen Gedanken alleine sein wollte. Da sie noch keinen Grabstein hatte, suchte sie sich eine Bank, setzte sich hin, dachte nach und vergaß die Zeit.
***
Benjamin zerrte eine junge, zierliche Frau die Treppe hinauf. Obwohl sie sich bemühte, schnell zu gehen, immer zwei Stufen auf einmal nahm, konnte sie mit Benjamins Tempo kaum mithalten. Oben angekommen, hämmerte er an die Tür, Julia öffnete sofort und sah die beiden erstaunt an.
»Das ist Kathi, meine Cousine, sie macht gerade ein Praktikum bei der Stadtverwaltung und sie hat dir etwas zu sagen. Los Kathi, erzähl Julia genau das, was du mir heute am Telefon erzählt hast!«, forderte er die junge Frau auf.
»Kommt doch erstmal herein«, sagte Julia und trat beiseite. Sie führte Benjamin und Kathi in die Küche, bot ihnen einen Platz an und stellte drei Gläser und eine Flasche Limonade auf den Tisch.
»Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll«, sagte Kathi. Es war ihr unangenehm, darüber zu sprechen.
»Es hat also etwas damit zu tun, dass du ein Praktikum machst?«, fragte Julia.
»Ja, ein Berufsfindungspraktikum. Wir können uns drei Wochen lang in verschiedenen Berufen ausprobieren, das war jetzt meine letzte Woche, die habe ich bei der Stadtverwaltung verbracht. Heute Nachmittag musste ich beim Standesamt aushelfen. Dort hatte sich ein dicker Stapel Unterlagen angehäuft, der abgeheftet werden musste. Für so etwas werden wir Praktikanten gerne genommen.« Kathi lächelte verlegen und stammelte weiter. »Ja, also… ich war fast fertig, da kam der Standesbeamte und gab mir noch eine Akte zum Abheften… Normalerweise interessiert es mich nicht, was darin steht, aber mir fiel der Name auf… Ich wusste ja von Benjamin, dass dein Bruder verschwunden ist… Ja also, das war eine Akte, die ich… die ich bei den Sterbeurkunden abheften sollte. Da stand der Name deines Bruders drauf.« Kathis Stimme war immer leiser geworden. Julia, die gerade im Begriff war, Limonade auszuschenken, stellte die Flasche wieder hin und setzte sich.
Kathi öffnete ihre winzige Handtasche und förderte ein paar Blätter graues Kopierpapier zutage, das mehrfach auf die Größe der Tasche zusammengefaltet war. Sie legte es auf den Tisch.
»Benjamin hat gesagt, ich solle die Akte kopieren«, stammelte sie schuldbewusst und schob die Papiere näher zu Julia hin. »Okay, dann gehe ich jetzt. In zehn Minuten fährt ein Bus.«, sagte Kathi hastig und stand auf. Benjamin begleitete sie zur Tür.
»Vielen Dank, Kathi«, sagte er, »und keine Sorge, im Standesamt wird niemand davon erfahren. Deine Eltern auch nicht. Ich verspreche dir, dass du deswegen keinen Ärger bekommen wirst. Du weißt gar nicht, wie sehr du Julia damit geholfen hast.«
»Ich muss los, sonst verpasse ich den Bus.« Kathi wollte nur noch weg. Sie hatte etwas Verbotenes getan und sie hatte einer jungen Frau eine traurige Nachricht übermittelt. Das war zu viel für einen einzigen Tag, von dem sie sich nichts Anderes versprochen hatte, als ihn irgendwie zu überstehen und sich nach Feierabend mit ihrer besten Freundin in der Stadt zu treffen.
Als Benjamin die Tür schloss, hörte er Julia in der Küche weinen.
»Ich habe gewusst, dass etwas passiert ist!«, stotterte sie zwischen lauten Schluchzern. Dicke Tränen tropften auf Kathis Kopien. »Ich habe das gefühlt, Benjamin, ich habe dir das schon vorgestern gesagt, als wir bei der Polizei waren. Ich habe gewusst, dass Oliver etwas zugestoßen ist!«
Benjamin setzte sich zu ihr und streichelte ihr Haar.
»Julia, es tut mir so leid!« Dann nahm er ihr die Kopien aus der Hand und blätterte sie durch.
»Ich verstehe nicht, warum die Polizei dich nicht benachrichtigt hat«, sagt er nach einer Weile. »Kennst du einen Dr. Walser?«
»Nein, wer soll das sein?«
»Der Arzt, der den Totenschein ausgestellt hat.«
»Nie gehört«. Julia stand auf, riss ein großes Stück von der Küchenrolle ab und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann holte sie das Telefon, rief die Polizei an und ließ sich mit der Polizeibeamtin verbinden, die zwei Tage zuvor die Vermisstenanzeige aufgenommen hatte.
»Frau Sommerfeld, gut dass Sie sich melden, ich wollte Sie gerade anrufen«, sagte diese voller Euphorie. »Wir haben das Auto Ihres Bruders sichergestellt. Es stand im Halteverbot am Bahnhof. Wir gehen davon aus, dass Ihr Bruder mit dem Zug weggefahren ist. Wir werden jetzt überprüfen, ob er ein Ticket mit Kreditkarte bezahlt hat, dann wissen wir, wohin.«
Benjamin gestikulierte wild und deutete Julia an, nichts von der Sterbeurkunde zu sagen.
»Okay, danke…«, stammelte Julia und legte wieder auf.
»Wir müssen es der Polizei sagen, dass Oliver tot ist. Die suchen sonst weiter nach ihm!«, sagte sie.
»Auf gar keinen Fall! Ich habe Kathi hoch und heilig versprochen, dass wir niemandem davon erzählen! Die Polizei wird’s schon irgendwie herausfinden.« Dann faltete er die Kopien wieder zusammen und steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes. Julia wurde erneut von einem Weinkrampf geschüttelt und alle Versuche, sie zu trösten, scheiterten. Benjamin hob sie hoch, trug sie in ihr Zimmer, legte sie aufs Bett und zog ihr die Schuhe aus. Julia ließ es geschehen und fiel kurze Zeit später weinend in einen unruhigen Schlaf.
Es war schon kurz vor Mitternacht, als sie wieder erwachte. Durch den offenen Türspalt sah sie Licht in der Küche.
»Oliver, bist du das?«, rief sie, stand auf und eilte den Flur entlang. Im Türrahmen blieb sie stehen, sah Benjamin über Kathis Kopien gebeugt und seufzte. Erneut kullerten Tränen über ihr Gesicht, sie setzte sich schweigend zu ihrem Freund.
»Julia, etwas stimmt hier nicht«, sagte Benjamin. »Hier auf dem Totenschein steht Herzversagen als Todesursache. Wo ist er gestorben? Warum wurdest du nicht benachrichtigt, wenn er auf der Straße oder in der Bahn zusammengebrochen ist?«
Julia starrte ihn nur stumm an und zuckte mit den Schultern.
»Stell dir mal vor: Oliver erleidet beim Autofahren einen Herzinfarkt – auch wenn wir von einer Herzkrankheit nichts wissen – er schafft es gerade noch, irgendwo am Straßenrand zu anzuhalten, bevor er das Bewusstsein verliert oder gar stirbt. Zufälligerweise ist es das Halteverbot am Bahnhof. Irgendjemand findet ihn, alarmiert den Notarzt, möglicherweise ist das dieser Dr. Walser, dieser kann aber nur noch den Tod feststellen. Warum wird die Polizei nicht gerufen?«
Julia starrte weiterhin stumm an Benjamin vorbei.
»Anderes Szenario: Oliver hat kurzfristig einen Anruf von einem Informanten bekommen, der will sich mit ihm in irgendeinem Zug treffen. Oliver ist spät dran, stellt sein Auto im Halteverbot ab und steigt in den verabredeten Zug. Während der Fahrt erleidet er einen Herzinfarkt, würde der Schaffner dann nicht die Polizei benachrichtigen? Würde man dich nicht benachrichtigen? Oliver hatte seinen Ausweis dabei, sein Handy, es wäre auf jeden Fall festzustellen gewesen, wo er wohnte! Egal wie man es dreht und wendet: warum weiß die Polizei nichts davon? Wer hat dieses Bestattungsinstitut angewiesen, eine Sterbeurkunde zu beantragen? Wann und wo wird die Beerdigung stattfinden? Warum weiß du nichts davon? Stell dir vor, Kathi hätte mich nicht angerufen, dann hätten wir niemals davon erfahren!«
»Oliver ist tot. Alles andere interessiert mich nicht«, sagte Julia apathisch, stand auf und ging zurück in ihr Zimmer.
7. Juni
Am nächsten Morgen stand Benjamin schon früh in der Küche, brühte einen Beruhigungstee und briet Spiegeleier. Vom Klappern des Geschirrs war auch Julia wach geworden und stand in der zerknitterten Bluse vom Vortag im Türrahmen.
»Ich habe kaum geschlafen«, sagte sie.
»Ich auch nicht. Und genau deswegen brauchen wir jetzt eine Stärkung. Komm, setz dich, das Frühstück ist gleich fertig.«
»Ich kann jetzt nichts essen«, wehrte sie ab, setzte sich aber trotzdem an den Tisch und sah Benjamin zu, wie er jedes Spiegelei mit einem Klecks Ketchup auf einer Scheibe Toast anrichtete.
»Du rufst nach dem Frühstück gleich bei dem Bestattungsinstitut an, die Nummer habe ich schon herausgesucht«, sagte er und deutete auf die geöffneten Gelben Seiten auf der anderen Seite des Küchentischs.
Julia schob ihren Teller weg, zog das Telefonbuch näher und starrte auf die Anzeige des Bestattungsinstituts im Telefonverzeichnis.
»Schwarze Tulpe, was für ein seltsamer Name«, bemerkte sie, wählte die Nummer, schaltete den Lautsprecher ein und wartete geduldig. Erst nach dem fünften Klingeln meldete sich jemand.
»Guten Tag, mein Name ist Julia Sommerfeld. Ich möchte mit Ihnen über die Beerdigung meines Bruders sprechen.«
»Mein Beileid Frau Sommerfeld, mein herzliches Beileid! Unser Bestattungsinstitut wird sie gerne unterstützen! Wir beraten Sie kompetent zu allen Fragen, wir können alles für Sie organisieren, den nötigen Schriftverkehr, Behördengänge, zum Beispiel die Beantragung der Sterbeurkunde…«
»Sie haben doch die Sterbeurkunde für meinen Bruder schon beantragt.«
»Dann hatten Sie schon ein erstes Gespräch mit dem Chef? Warum sagen Sie das nicht gleich…«
»Nein, ich hatte noch kein Gespräch. Weder mit Ihrem Chef noch mit sonst jemandem. Ich kannte Ihr Bestattungsinstitut bis jetzt noch gar nicht.«
»Es tut mir leid«, sagte der Mann am Telefon geduldig und höflich. »Wir beantragen die Sterbeurkunde immer im Auftrag der Hinterbliebenen. Hat vielleicht jemand aus Ihrer Familie bereits Kontakt zu uns aufgenommen?«
»In unserer Familie gibt es nur noch meinen Bruder und mich. Ich wusste bis gestern auch nicht, dass mein Bruder tot ist. Aber nun muss ich mich um die Beerdigung kümmern.«
»Warten Sie kurz, ich schaue schnell in unserer Kartei nach. Wie ist der Name Ihres Bruders?«
»Oliver Sommerfeld.«
»Es tut mir wirklich sehr Leid, aber hier muss es sich um ein Missverständnis handeln. Wir haben hier keinen Toten mit diesem Namen.«
Benjamin gestikulierte wieder ganz wild und deutete an, dass Julia das Gespräch beenden sollte.
»Ja, vermutlich ein Missverständnis. Vielen Dank.«
»Das wird ja immer mysteriöser!« Benjamin war von seinem Platz aufgesprungen und lief durch die Küche. »Erst verschwindet Oliver, dann stirbt er oder er war schon tot, als du ihn noch gar nicht vermisst hast. Die Polizei weiß nichts davon und das Bestattungsunternehmen, das die Sterbeurkunde beantragt hat, auch nicht! Langsam komme ich mir vor wie in einem schlechten Film!«
Benjamin schob Julia das Spiegelei und die Tasse Tee wieder hin und starrte sie so lange an, bis Julia ein paar Bissen zu sich genommen hatte. Dann aß auch er weiter.
»Wir gehen nachher hin, vielleicht lässt sich das persönlich regeln«, sagte Benjamin. »Vielleicht haben wir Glück und der Chef der Schwarzen Tulpe ist da und kann das Missverständnis aufklären.«
***
Laura beschloss, zuerst in ihr Haus zu gehen und dort nach Hinweisen zu suchen. Als sie den Friedhof verließ, musste sie sich zunächst orientieren. Die Erinnerung kam aber recht schnell wieder, so wie es der Mann mit dem weißen Anzug gesagt hatte.
Unweit war eine Bushaltestelle, ein Bus fuhr gerade vor und die ersten Friedhofsbesucher, zwei ältere Damen, stiegen aus und gingen zielstrebig auf das Tor zu.
»Hallo«, rief Laura ziemlich laut, aber keine der beiden reagierte. Na prima, das funktionierte auch heute! Die Frau, die hinten ging, hatte eine Umhängetasche, Laura schob den Riemen von ihrer Schulter und die Tasche fiel herunter. Die Frau hob sie auf, schob den Riemen erneut auf die Schulter und hielt ihn fest. Als Geist konnte man also Dinge bewegen, dachte Laura. Als nächstes versuchte sie, die Tasche zu öffnen und auch das gelang ihr. Sie ertastete ein Grablicht und ein Feuerzeug, eine Packung Papiertaschentücher, eine Geldbörse und einen Schlüsselbund mit einem runden Anhänger. Laura nahm ihn heraus und ging der Frau hinterher. Kurz vor dem Friedhofstor steckte sie ihr die Schlüssel in die Manteltasche. Die Frau hatte nichts gemerkt.
Beschwingt von ihren neuen Fähigkeiten machte Laura sich auf den Weg. Sie konnte ziemlich schnell schweben. An der Unfallstelle blieb sie eine Weile stehen und beobachtete den Verkehr. Dort, wo auf dem Mittelstreifen eine Gedenkstelle eingerichtet war, fuhren die meisten langsamer und warfen einen Blick auf die schon verwelkten Blumen, selbstgemalten Plakate, Karten und ausgebrannten Grablichter. Wenn man jung oder auf tragische Weise sein Leben verlor, nahmen auch viele fremde Menschen Anteil daran. Laura ging die gepflasterte Straße hinauf, blieb vor der Haustür stehen und überlegte, wie sie ohne Schlüssel hineinkommen sollte. Sie versuchte, sich durch die Tür zu drücken, aber es gelang ihr nicht. Sie tastete ihre Jackentaschen ab, ob sie vielleicht ihren Schlüsselbund fände, aber der war bestimmt in ihrer Handtasche, in dem kleinen Seitenfach. Dort bewahrte sie ihn immer auf, zusammen mit ein paar Münzen für den Einkaufswagen. Sie musste sich dringend einen Ersatzschlüssel besorgen!
Vor dem Haus ihrer Eltern wartete sie ziemlich lange vor der Tür, bis jemand kam und sie mit ihm ins Haus schlüpfen konnte. Ihr Vater kam vom Bäcker mit einer großen Papiertüte auf dem Arm. Es war ganz still im Haus. Er ging in die Küche, machte sich einen Kaffee und setzte sich an den Tisch. Er trank stumm aus seiner Tasse, biss zwischendurch in ein trockenes Brötchen und starrte geradeaus. In der Spüle stapelte sich das Geschirr von mehreren Tagen: Tassen und Gläser, Teller und Messer. Anscheinend hatte ihre Mutter es nicht geschafft, etwas zu kochen und jeder hatte sich bei Bedarf ein Brot und einen Kaffee gemacht. Vor ein paar Tagen hatte jemand gespült, das Geschirr lag noch auf dem mittlerweile trockenen Abtropftuch. Auf dem Küchentisch standen mehrere leere Bierflaschen und im Obstkorb lagen überreife Früchte, an denen sich bereits Fruchtfliegen angesammelt hatten. Laura ging durch den Flur ins abgedunkelte Wohnzimmer und betrachtete entsetzt die ungewohnte Unordnung. Auf dem Sofa lagen ein paar zerknautschte Kissen und eine Wolldecke, auf dem Couchtisch standen noch mehr leere Bierflaschen und ein Stapel ungelesener Tageszeitungen. Über der Sofalehne hingen weitere Zeitungen, jeweils aufgeschlagen bei einem Artikel, in dem es um den Mordanschlag ging. Die Zeitungsfritzen überschlugen sich förmlich mit möglichen Motiven, keine Behauptung über Sebastian und sie war ihnen zu peinlich, ganz zu schweigen von der reißerischen Aufmachung der Artikel. Laura stand fast schon an der Terrassentür, hielt jedoch inne. Wenn sie jetzt die Rollläden hochziehen würde, um das Tageslicht herein zu lassen, würde ihr Vater sich furchtbar erschrecken.
Sie ging die Treppe hinauf, das Schlafzimmer war leer und die Betten sahen unbenutzt aus. Aus dem Zimmer ihres Bruders Leon drang Musik, sie traute sich aber nicht, hinein zu gehen, aus Angst, er könnte die Bewegung der Tür wahrnehmen. Lukas’ Zimmertür stand einen Spalt breit offen, sie spähte hinein, aber keiner war zu sehen. Vielleicht ertrug er diese düstere Stimmung seines Elternhauses nicht und war bei Freunden untergekommen. Laura ging noch eine Treppe höher, in ihr altes Kinderzimmer unter dem Dach. Sie öffnete die Tür behutsam und erschrak. In ihrem Bett lag ihre Mutter, sie wälzte sich unruhig hin und her, schwitzte und murmelte unverständliche Worte. In ihrem Arm hatte sie Lauras Lieblingspuppe aus Kinderzeiten, auf dem Boden lagen Fotoalben und Bücher. Es tat Laura weh, ihre Familie so zu sehen. Sie waren ihretwegen traurig, ihretwegen hatten sie ihr Leben nicht mehr im Griff. Ihre Eltern hatten sonst nie viel Alkohol im Haus, sie führten ein normales, geordnetes Leben, ihre Mutter hatte immer für ein gemütliches Zuhause gesorgt, davon war es jetzt jedoch meilenweit entfernt.
Laura stand gerade wieder unten im Flur und suchte nach dem Ersatzschlüssel, da ertönte die Türglocke: erst einmal, zweimal, danach Sturm. Jemand klingelte und klopfte gleichzeitig. Ihr Vater kam langsam schlurfend aus der Küche.
»Mach doch nicht so einen Krach, Möller!«, brummte er, öffnete die Tür und hätte fast die Faust des anderen zu spüren bekommen, der bereits zu einer weiteren Klopftirade angesetzt hatte. »Was willst du?«
»In der Küche ist der Abfluss verstopft. Das hab ich dir schon letzte Woche gesagt!«, schrie Herr Möller, der Nachbar und Mieter ihrer Eltern.
»Kannst du nicht jemand anderen nerven? Ich habe gerade meine Tochter begraben, meine Söhne sind ganz neben der Spur, meine Frau ernährt sich nur noch von Beruhigungsmitteln und spricht kein Wort mehr. Ich habe seit Wochen kaum geschlafen. Meinst du ich habe keine anderen Sorgen als deinen blöden Abfluss?«
»Ach komm, stell dich doch nicht so an. Das Leben geht weiter!« schnauzte der andere. »Du lebst und kümmerst dich gefälligst heute noch um das Problem!«
»Wie wär’s, wenn du dich zur Abwechslung selber mal um etwas kümmern würdest? Du bist doch gelernter Klempner.«
»Ja, aber auch schon seit 20 Jahren aus dem Beruf raus. Wie du sicherlich gehört hast, arbeite ich jetzt als Aushilfe im Supermarkt.«
»Ach, du arbeitest wieder? Das ist doch mal was Neues. Dann kannst du ja die ausstehende Miete bezahlen!«
»Von dem, was ich verdiene, kommen wir gerade so über die Runden. Da bleibt nichts mehr übrig für Schulden und so. Das kannst du dir gleich abschminken.«
»Verschwinde und lass uns in Ruhe!« Der Vater knallte die Tür zu, Herr Möller hämmerte noch ein paar Mal dagegen, fluchte und suchte schließlich das Weite. Laura hatte eine Idee und schlich in den Keller, hier war seit eh und je das Arbeitszimmer ihres Vaters, hier wurden Kontoauszüge, Stromrechnungen, Versicherungsunterlagen, die alten Schulzeugnisse der Kinder und Korrespondenz jeglicher Art aufbewahrt. Laura musste im Regal nicht lange suchen, bis sie den Ordner »Möller« fand. Darin waren neben Mietvertrag und den Auszügen des Mietkautionskontos auch jede Menge Notizen ihrer Eltern abgelegt, über ausstehende oder teilweise gezahlte Mieten, Drohungen und diverse Schikanen. Dass es mit dieser Familie immer wieder Ärger gab, war Laura nicht neu, aber dass die Probleme so groß waren, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie setzte sich hin und las alle Schriftstücke durch. Ihre Eltern hatten sogar einen Rechtsanwalt eingeschaltet, der sich um die Anmahnung ausstehender Mieten und Nebenkostennachzahlungen kümmerte und um eine Klage ihrer Eltern vor dem Amtsgericht, die zwar zu einem vollstreckbaren Titel geführt hatte, der jedoch nie vollstreckt werden konnte, weil die Familie Möller und ihr gewiefter Winkeladvokat jedes juristische Schlupfloch genutzt hatten. Insgesamt schuldeten sie ihren Eltern bis zum Zeitpunkt des Urteils mehr als 8.000 Euro und das war schon vor einem Jahr gewesen.
Laura kam der Gedanke, dass ihr Bruder Leon nach der Trennung von seiner letzten Freundin vielleicht deswegen wieder bei den Eltern wohnte, um ihnen finanziell zu helfen. Ihr Vater verdiente als Berufsschullehrer ganz gut und ihre Mutter arbeitete an zwei Nachmittagen in der Woche in der Buchhandlung des Onkels. Aber davon wurde man auch nicht reich. Sie hatten die andere Doppelhaushälfte vermietet, nachdem ihre Großeltern verstorben waren. Es ging ihnen nicht schlecht, aber die Kosten für Anwalt, Gericht, Räumungsklagen und diverse Pfändungsversuche hatten eine Menge Geld gekostet und bisher nichts gebracht. Ihren Eltern war es nicht gelungen, die Mieter loszuwerden. Vielleicht war dies ihr letzter Auftrag: die Möllers so lange zu schikanieren, bis diese so genervt und verängstigt waren, dass sie von selber auszogen.
Als Laura das Büro verließ, fiel ihr Blick auf die alte Garderobe, die früher in der Haushälfte der Großeltern und nun im Keller ihrer Eltern stand und an der ihre Handtasche hing. Offenbar hatte die Polizei ihre Sachen hier abgegeben. Sie nahm ihren Schlüsselbund und die Chipkarte vom Polizeipräsidium mit und verließ ihr Elternhaus. Sie ging hinüber zu den Möllers und warf einen Blick durchs Küchenfenster. Frau Möller saß am Tisch und blätterte die Sonderangebote durch. Herr Möller stand daneben und redete auf sie ein, Laura konnte zwar nichts davon verstehen, seine Gesten waren aber eindeutig eine Drohung gegen ihren Vater. Sie beschloss, noch am selben Abend, nach Einbruch der Dunkelheit mit ihrem Gespenstertreiben zu beginnen.
***
Der Bestatter wollte gerade abschließen, als zwei junge Leute um die Ecke bogen.
»Sind Sie hier der Chef?«, fragte Julia.
»Ja, das bin ich. Mein Name ist Karl Schwarz. Wie kann ich Ihnen helfen?«, sagte dieser dienstbeflissen und übertrieben höflich.
»Ich habe vorhin schon mit einem Ihrer Mitarbeiter gesprochen, es geht um die Beerdigung meines Bruders, Oliver Sommerfeld. Ihr Mitarbeiter hat behauptet, es gäbe hier keinen Toten mit diesem Namen.«
Karl Schwarz war blass geworden, als er den Namen hörte. Er räusperte sich, schloss die Tür wieder auf und bat die beiden hinein.
»Der Name sagt mir nichts«, behauptete er, »es kann schon sein, dass ein anderer Mitarbeiter den Vorgang bearbeitet hat. Kommen Sie bitte herein, das lässt sich bestimmt klären.«
Er bot ihnen einen Platz an.
»Verzeihen Sie bitte«, sagte Benjamin und fasste sich an den Bauch, »dürfte ich Ihre Toilette benutzen? Ich habe etwas Falsches gegessen.«
»Ja, natürlich. Die Tür gleich unter der Treppe.«
Benjamin lugte auf dem Weg in den Keller durch die geöffneten Türen. Neben einem Büro gab es ein paar Arbeitsräume, die ziemlich steril aussahen, in denen sich aber niemand aufhielt. Gleich unter der Wendeltreppe fand er die schmale Tür mit der Aufschrift WC. Bevor er hinein ging, sah er sich noch einmal im Keller um. Hier waren zwei offene Särge aufgebahrt, bereit für eine letzte Verabschiedung. Vor jedem Sarg stand ein Foto des Verstorbenen mit Namen und Daten. In einem Lagerraum stand ein geschlossener Sarg auf einem Rollwagen, ein Blatt Papier war mit einem Klebestreifen daran festgeklebt. Daneben, auf dem Boden, stand eine Urne ohne Zettel. In einem anderen Lagerraum herrschte ein heilloses Durcheinander aus Ordnern, Stoffballen, Devotionalien und leeren Särgen und Urnen. Benjamin hörte, wie die Stimmen oben immer lauter wurden, er zog sich zur Tarnung in die Toilette zurück, wartete ein paar Minuten und betätigte dann zweimal die Spülung.
»Es tut mir Leid, Frau Sommerfeld, es muss sich um ein Missverständnis handeln«, sagte Karl Schwarz nun zum dritten Mal, nachdem er sowohl die Unterlagen auf seinem Schreibtisch, als auch die Kartei in seinem Computer durchgesehen hatte. »Wie kommen Sie überhaupt auf unser Bestattungsinstitut?«
»Sie haben doch die Sterbeurkunde beim Standesamt beantragt. So habe ich davon erfahren.«
»Hat man Ihnen die Sterbeurkunde zugeschickt?«
»Nein, ich habe es zufällig erfahren.«
»Darf ich fragen, von wem?«
»Das… das… das spielt keine Rolle! Ich habe eben meine Kontakte im Rathaus!«
»Vermutlich ist der Fehler im Standesamt passiert und man hat uns verwechselt. Sehen Sie, Frau Sommerfeld, täglich sterben Menschen, es vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht eine Sterbeurkunde beantragen. Nicht nur wir, auch die anderen Bestatter. Da kann es zu Verwechslungen kommen.«
»Kennen Sie einen Dr. Walser?«, fragte Julia.
Karl Schwarz wurde erneut blass und schüttelte den Kopf viel zu energisch. Dann blickte er ungeduldig nach hinten, zur Treppe.
»Nein, nein, der Name sagt mir nichts.«
»Wirklich nicht?«
»Nein, Frau Sommerfeld, ich sagte doch, dass ich diesen Doktor nicht kenne.« Erneut hielt er Ausschau nach seinem Besucher, der die Toilette aufgesucht hatte.
»Wie finde ich nun heraus, wo die Leiche meines Bruders ist?«
»Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, es tut mir Leid.«
Endlich kehrte Benjamin von seinem Toilettengang zurück. Er nahm Julias Hand, zog sie hoch und drängte zum Aufbruch.
»Komm, wir gehen jetzt. Es handelt sich bestimmt um einen Irrtum. Herr Schwarz hat bestimmt noch viel zu erledigen. Wir rufen jetzt in allen Krankenhäusern an und bei den anderen Bestattungsunternehmen, irgendwo muss Olivers Leiche zu finden sein.«
Die Erleichterung stand Herrn Schwarz ins Gesicht geschrieben, mit fahrigen Bewegungen begleitete er die beiden zur Tür und schloss diese wieder von innen.
Benjamin drückte sich an die Wand und hielt den Zeigefinger vor den Mund.
»… die Urne muss schnellstens von hier verschwinden. Ich kann kein Risiko eingehen… nein, das geht nicht… nein, Walser, das Ganze ist mir zu heiß! Das ist eine clevere, junge Frau, keine senile Witwe!«, hörten sie durch das gekippte Bürofenster. Dann wurde die Stimme leiser und das Klappern des »Komme gleich wieder«- Schildes an der Eingangstür war zu hören.
»Schnell, lass uns verschwinden!«, sagte Benjamin und zog Julia in das nächste Geschäftslokal, wo er notgedrungen ein Brot kaufte und dieses aufschneiden ließ, um Zeit zu gewinnen, bis Karl Schwarz in sein Auto gestiegen und weggefahren war.
Auf dem Weg nach Hause hatten sie kein Wort miteinander gesprochen. Zu abwegig war das, was sie gerade gehört hatten. Als Julia die Tür aufschloss, blinkte der Anrufbeantworter. Die ersten beiden Nachrichten waren von Olivers Freunden, die sich erkundigten, ob sie in der Zwischenzeit etwas von ihm gehört habe. Der letzte Anruf war von Polizeiobermeisterin Wagner. Ihr Bruder habe kein Ticket mit Kreditkarte bezahlt, sei aber vor drei Tagen in Begleitung einer Frau gesehen worden. Der Zeuge, ein Kioskbesitzer am Bahnhof, hatte Oliver auf dem Foto erkannt und konnte sich angeblich genau an das Paar erinnern. Sie hätten sehr verliebt gewirkt. Sie bat Julia, sich bei Olivers Freunden nach dieser Frau zu erkundigen.
»Die Mühe kann ich mir sparen«, sagte sie. »Oliver hatte keine Freundin. Wenn er frisch verliebt gewesen wäre, dann hätte ich es wohl als Erste erfahren.« Erneut brach sie in Tränen aus, legte sich auf ihr Bett und war für die nächsten Stunden nicht ansprechbar.
***
Zuhause angekommen, vergewisserte Laura sich zunächst, dass keiner der Nachbarn gegenüber aus dem Fenster schaute, schloss auf und schlüpfte schnell hinein. Seit dem Unfall musste jemand hier gewesen sein, denn die Blumen waren gegossen, der Mülleimer war leer und das Frühstücksgeschirr, das sie damals in aller Eile nicht mehr weggeräumt hatten, war gespült worden. Der Briefkasten quoll auch nicht über, jemand hatte die Post an sich genommen.
Hier fühlte sie sich geborgen und unbeobachtet, so wie in den vergangenen zwei Jahren, in denen sie hier gewohnt hatten. Nachdem Sebastians Tante gestorben war, mussten sie das Haus erst einmal entrümpeln und sanieren. Wände mussten weichen, zum Garten hin hatten sie eine große Terrassentür einbauen lassen und aus dem altmodischen orange-braunen Bad im Stil der 70er Jahre, das immer irgendwie schmuddelig aussah, hatten sie einen modernen, hellen Raum geschaffen, wo man gerne stundenlang in der Badewanne lag. Das Projekt hatte nicht nur ihre ganzen Ersparnisse vertilgt, auch von ihren Familien hatten sie großzügige Unterstützung in Form von Finanzspritzen und Arbeitskraft erhalten. Zwischen dem ganzen Gerümpel und unter den Bergen von Modezeitschriften, die die Tante im Laufe der letzten 50 Jahre gehortet hatte, fanden sie einen großen Holzesstisch und zwei schöne, antike Buffets, hatten diese bei einem Schreiner richten lassen und dann in ihre gemütliche Wohnküche integriert. Hier fühlte Laura sich immer zurückversetzt in ihre Kindheit, in die Wohnküche ihrer Uroma, wenn der Raum von herrlichen Kocharomen oder dem Duft frischgebackenen Kuchens erfüllt wurde. Dies war einer ihrer Lieblingsplätze im Haus. Hier hielten sie sich auch mit ihren Freunden meistens auf, kochten zusammen, saßen am großen Tisch, tranken Wein und erinnerten sich gerne an die Zeit, als sie in ihrer ersten kleinen gemeinsamen Wohnung noch keinen Esstisch hatten und für Gäste den Schreibtisch zweckentfremden mussten, als sie bloß ein Sammelsurium von nicht zusammen passenden Tellern besaßen und den Wein aus abgespülten Senfgläsern oder geklauten Glühweintassen tranken. Gekühlter Weißwein statt Bier aus der Flasche erschien ihnen damals stilvoll genug.
Das Haus von Tante Hildegard war ein schmales Stadthaus und daher wohnten sie auf 4 verschiedenen Ebenen. Die vielen Treppen machten ihnen nichts aus und das Problem des Treppensteigens im Alter stellte sich nun nicht mehr. Keiner von ihnen beiden würde in diesem Haus alt werden. Hatten sie überhaupt ein Testament? Was würde aus dem Haus werden? Laura lief die Treppe bis ganz nach oben und durchforstete ihre Unterlagen. Vergeblich. Sie schaltete den Computer an, vielleicht hatte sie Glück und fand dort Dateien, die sie weiterbrachten. Nach einigen Sekunden erinnerte sie sich an das Kennwort und stöberte eine Zeitlang in diversen Ordnern und Dateien, ohne jedoch etwas Brauchbares zu finden. In der Schublade des Schreibtischs fand sie einige CDs und Sticks, auf denen sich jedoch nur Fotos von diversen Urlauben und von ihrer Hochzeit befanden. Laura schaute sich die Fotos ihrer Hochzeitsreise noch einmal an, es war wunderschön gewesen. Sebastian und sie waren sich noch viel nähergekommen, obwohl sie sich schon seit 10 Jahren kannten. Sie hatten sich geschworen, sich niemals zu trennen und auch in Krisenzeiten, sollte es einmal welche geben, zusammen zu halten und um ihre Ehe zu kämpfen.