Der Geruch des Paradieses - Elif Shafak - E-Book

Der Geruch des Paradieses E-Book

Elif Shafak

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Beschreibung

Als Peri auf dem Weg zu einer Dinnerparty in Istanbul auf offener Straße überfallen wird, fällt ein Foto aus ihrer Handtasche ein Relikt aus ihrer Studienzeit in Oxford. Daraufhin wird sie von der Erinnerung an einen Skandal eingeholt, der ihre Welt für immer aus den Fugen gehoben hat. Elif Shafak verwebt meisterhaft Fragen der Liebe, der Schuld und des Glaubens und erzählt, wie der Kampf zwischen Tradition und Moderne die junge Frau zu zerreißen droht.

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Danksagung

» Zitatnachweis

» Glossar

» Impressum

» Weitere eBooks von Elif Shafak

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen der Türkei. Die preisgekrönte Autorin von vierzehn Büchern, darunter Die vierzig Geheim­nisse der Liebe (2013), Ehre (2014) und Der Archi­tekt des Sultans (2015), schreibt auf Türkisch und auf Englisch. Elif Shafak lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in London und Istanbul. www.elifshafak.com

ÜBER DAS BUCH

Als Peri auf dem Weg zu einer Dinnerparty in Istanbul auf offener Straße überfallen wird, fällt ein Foto aus ihrer Handtasche – ein Relikt aus ihrer Studienzeit in Oxford. Daraufhin wird sie von der Erinnerung an einen Skandal eingeholt, der ihre Welt für immer aus den Fugen gehoben hat.

Elif Shafak verwebt meisterhaft Fragen der Liebe, der Schuld und des Glaubens und erzählt, wie der Kampf zwischen Tradition und Moderne die junge Frau zu zerreißen droht.

»Elif Shafak ist die Stimme der türkischen Literatur.«

The Independent

»Elif Shafak kann das Unverstehbare verständlich machen.«

Wolfgang Herles, Das blaue Sofa

Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?

Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)

Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)

Bin dein Gewand und dein Gewerbe,

mit mir verlierst du deinen Sinn.

Rainer Maria Rilke

Kämst du, wenn einer dich

beim falschen Namen riefe?

Ich habe geweint, weil Er so viele Jahre

nicht in meine Arme kam.

Doch eines Nachts erfuhr ich ein Geheimnis.

Vielleicht ist Gott

nicht Sein wahrer,

sondern nur ein erfundener Name.

Teil I

Die Handtasche

istanbul, 2016

An einem ganz normalen Frühlingstag in Istanbul, einem langen, bleiernen Nachmittag, traf sie wie ein Faustschlag die Erkenntnis, dass sie fähig war zu töten. Dass unter Stress selbst die ruhigsten, fügsamsten Frauen die Kontrolle verlieren konnten, hatte sie immer schon geahnt, und da sie sich weder für ruhig noch für fügsam hielt, schätzte sie ihr eigenes Gewaltpotenzial weit größer ein. »Potenzial« war allerdings ein heikler Begriff. Die Türkei verfüge über ein großes Potenzial, hatte es einmal geheißen – und was war daraus geworden? Deshalb hatte sich Peri mit dem Gedanken beruhigt, auch ihr dunkles Potenzial würde sich am Ende nicht durchsetzen.

Und das Schicksal, diese gut erhaltene Tafel, in die alle vergangenen und künftigen Ereignisse eingemeißelt waren, hatte es ihr bisher zum Glück fast völlig erspart, Böses zu tun. Sie hatte ein anständiges Leben geführt und anderen zumindest willentlich kein Leid zugefügt, wenn man von dem gelegentlichen Klatsch und den damit einhergehenden Lästereien absah. Und das war zu vernachlässigen, weil das schließlich alle taten und die Hölle bis zum Rand gefüllt gewesen wäre, hätte es als Sünde gegolten. Wenn es überhaupt einen gab, dem sie Kummer bereitet hatte, dann Gott, doch der war zwar schnell ungehalten und notorisch launenhaft, aber niemals gekränkt. Kränken und Gekränktsein, das galt nur für Menschen.

In den Augen ihrer Freunde und Verwandten war Nazperi Nalbantoğlu – Peri, wie sie von allen genannt wurde – ein guter Mensch. Sie spendete für wohltätige Zwecke, engagierte sich für die Alzheimerforschung und sammelte Geld für notleidende Familien. Sie ging in Altenheime und ließ sich von den Bewohnern in Backgammonturnieren besiegen, hatte immer ein paar Leckerbissen für die vielen Istanbuler Straßenkatzen in der Handtasche und ließ hin und wieder eine auf eigene Kosten kastrieren. Sie hielt ein wachsames Auge auf die schulischen Leistungen ihrer drei Kinder, gab elegante Abendessen für den Chef und die Mitarbeiter ihres Mannes, fastete am ersten und am letzten Tag des Ramadan, meist aber nicht in der Zeit dazwischen. Zum Fest des Fastenbrechens, Eid, opferte sie ein mit Henna gefärbtes Schaf. Sie warf keinen Abfall auf den Gehweg, drängelte sich an der Supermarktschlange nicht vor, erhob nicht einmal gegen unhöfliche Menschen die Stimme. Sie war eine gute Ehefrau, gute Mutter, gute Hausfrau, gute Bürgerin und gute moderne Muslima.

Wie ein geschickter Schneider hatte die Zeit die beiden Stoffe, die Peris Leben umhüllten, scheinbar nahtlos zusammengenäht: das, was die anderen von ihr dachten, und das, was sie von sich hielt. Diese beiden Stoffe bildeten ein so perfektes Ganzes, dass sie nicht mehr sagen konnte, wie viele Stunden eines jeden Tages von den Erwartungen an sie bestimmt waren und wie viele von dem, was sie wirklich wollte. Manchmal hätte sie am liebsten einen Eimer genommen und die Straßen und Plätze, die Regierung, das Parlament, die Bürokratie mit Seifenlauge ausgeschwemmt und bei der Gelegenheit auch gleich ein paar Leuten den Mund durchgespült. Da war so viel Schmutz zu beseitigen, so viel Zerbrochenes zu kitten, so viel Falsches zu verbessern. Wenn sie morgens aus dem Haus ging, seufzte sie leise auf, als ließe sich der ganze Müll des Vortags mit diesem einen Atemstoß beseitigen. Doch obwohl sie einerseits die Welt konsequent infrage stellte und Ungerechtigkeit nie schweigend hinnahm, hatte sie andererseits schon vor Jahren beschlossen, zufrieden zu sein mit dem, was sie hatte. Umso größer war ihr Erstaunen, als sie mit fünfunddreißig Jahren an einem leidlich annehmbaren Tag unvermittelt in den Abgrund ihrer Seele blickte.

Schuld war der Verkehr, sagte sie sich später. Das Rumpeln und Dröhnen und Scheppern – wie das Gebrüll von tausend Kriegern. Die ganze Stadt war eine einzige gigantische Baustelle. Istanbul war unkontrolliert gewachsen und wuchs weiter wie ein überfressener Goldfisch, der unaufhörlich nach Nahrung suchte. Im Rückblick auf jenen verhängnisvollen Nachmittag sollte Peri zu der Überzeugung gelangen, dass es ohne den heillosen Verkehrskollaps niemals zu der Kette von Ereignissen gekommen wäre, die letzten Endes so viele tief in ihr vergrabene Erinnerungen geweckt hatten.

Auf einer zweispurigen Straße, die von einem umgekippten Laster blockiert war, krochen sie zwischen den anderen Fahrzeugen voran. Peri trommelte mit ihren Fingern aufs Lenkrad und wechselte alle paar Minuten den Radiosender, während ihre Tochter, Kopfhörer in den Ohren, gelangweilt auf dem Beifahrersitz saß. Wie ein in falsche Hände gelangter Zauberstab verwandelte der Verkehr die Minuten in Stunden, Menschen in Ungeheuer und jeden Hauch von Vernunft in reinen Wahnsinn. Istanbul störte das nicht. An Zeit, Ungeheuern und Wahnsinn herrschte in der Stadt kein Mangel. Eine Stunde mehr oder weniger, ein Ungeheuer mehr, ein Wahnsinniger weniger – ab einem bestimmten Punkt spielte es keine Rolle mehr.

Wie eine berauschende Droge strömte der Irrwitz durch die Straßen dieser Stadt, und Millionen Bewohner verpassten sich tagtäglich eine Dosis, ohne zu bemerken, wie sehr sie dadurch aus dem Gleichgewicht gerieten. Menschen, die sich weigerten, ihr Brot mit anderen zu teilen, teilten bereitwillig ihren Wahnsinn – und fanden es völlig normal. Denn das war das Problem, wenn der Verstand gemeinschaftlich verloren ging: Sobald genug Leute derselben Sinnestäuschung unterlagen, so wurde diese zur Realität. Sobald genug Leute über dasselbe Elend lachten, wurde ein lustiger kleiner Witz daraus.

»Hör endlich auf, an deiner Nagelhaut zu zupfen!«, rief Peri plötzlich. »Wie oft soll ich es dir noch sagen?«

Deniz zog die Kopfhörer betont langsam aus den Ohren, legte sich die Kabel um den Hals, sagte: »Das ist meine Nagelhaut«, und trank einen winzigen Schluck aus dem Pappbecher, der zwischen ihnen stand. Bevor sie sich auf den Weg gemacht hatten, hatten sie sich zwei Getränke geholt bei Star Börek, einer türkischen Kaffeekette, die von Starbucks wegen der Ähnlichkeiten bei Logo, Angebot und Namen wiederholt verklagt worden, aufgrund diverser Gesetzeslücken jedoch nach wie vor in Betrieb war: einen Skinny Latte für Peri und einen Double Chocolaty Chip Crème Frappuccino für ihre Tochter. Peri hatte ihren Becher bereits leer getrunken, aber Deniz brauchte ewig, nippte behutsam daran wie ein verletztes Vögelchen. Draußen verschmolz die Sonne mit dem Horizont und tauchte mit den letzten Strahlen die Dächer heruntergekommener Häuser, die Kuppeln der Moscheen und die Fenster der Wolkenkratzer in dasselbe triste Rostrot.

»Und das hier ist mein Auto«, murmelte Peri. »Auf dem ganzen Boden liegen deine Hautfetzen herum!«

Sie bereute es, kaum hatte sie es ausgesprochen. Mein Auto! Wie schrecklich, so etwas zum eigenen Kind zu sagen – oder überhaupt zu irgendwem. Sie war doch hoffentlich nicht zu einem der habgierigen Idioten geworden, deren Selbstvertrauen und Position im Leben von materiellen Dingen abhingen?

Deniz wirkte ziemlich unbeeindruckt. Nach einem kurzen Zucken mit den knochigen Schultern nahm sie sich entschlossen den nächsten Finger vor.

Ruckartig fuhr der Wagen ein Stück weiter, kam aber gleich darauf mit quietschenden Reifen erneut zum Stehen. Es war ein Range Rover, lackiert in einer Farbe, die sich Monte Carlo Blue nannte. Die Händlerbroschüre hatte zahlreiche weitere Farbtöne verzeichnet: Davos White, Oriental Dragon Red, Saudi Desert Pink, Ghana Police Gloss Blue, Indonesian Army Matt Green. Peri spitzte den Mund und fragte sich kopfschüttelnd, wer solche Namen aussuchte und ob den Fahrern klar war, dass man mit ihren schnittigen, protzigen Nobelkarossen Polizeiuniformen, das Militär oder Sandstürme assoziierte.

In Istanbul wimmelte es von Luxuswagen jeder erdenklichen Farbe. Viele davon wirkten so deplatziert wie hochgezüchtete, für ein bequemes Leben bestimmte Rassehunde, die sich in die Wildnis verirrt hatten: Sportcabrios, deren Fahrer nirgends beschleunigen konnten und vor Frustration ständig den Motor aufheulen ließen, Geländewagen, für die selbst mit den geschicktesten Rangiermanövern jede Parklücke zu klein schien – falls man überhaupt einmal eine fand –, und teure Limousinen, konzipiert für freie Straßen, wie sie nur in fernen Ländern oder in Werbespots existierten.

»Bei uns ist er am schlimmsten, habe ich gelesen«, sagte Peri.

»Wer?«

»Der Verkehr. Wir sind die Nummer eins. Schlimmer als in Kairo, das muss man sich mal vorstellen. Sogar schlimmer als in Delhi!«

Ohne jemals in Kairo oder Delhi gewesen zu sein, hielt Peri wie so viele Einheimische Istanbul für zivilisierter als jene entlegenen, überfüllten Städte mit ihren rauen Sitten, obwohl »entlegen« relativ war und die beiden Adjektive »überfüllt« und »rau« häufig auf Istanbul zutrafen. Doch die Stadt grenzte immerhin an Europa, und diese Nähe musste für etwas gut sein. Europa war so nah, dass die Türkei bereits einen Fuß in die Tür gestellt und sich mit aller Kraft hineinzuzwängen versucht hatte, nur um zu erkennen, dass der Spalt viel zu schmal war, sosehr man sich auch drehte und wand. Dass Europa gleichzeitig die Tür wieder zudrückte, machte die Sache nicht leichter.

»Cool!«, sagte Deniz.

»Cool?«, wiederholte Peri fassungslos.

»Ja. Dann sind wir wenigstens in irgendwas die Nummer eins.«

Genau das war das Problem mit ihrer Tochter. In letzter Zeit nahm Deniz zu jeder von Peri geäußerten Meinung automatisch die Gegenposition ein und reagierte mit einer an Hass grenzenden Feindseligkeit, egal, wie logisch ihre Mutter argumentierte. Peri wusste, dass sich die zwölfeinhalbjährige Deniz in ihrem schwierigen Alter vom Einfluss der Eltern, insbesondere von dem der Mutter, lösen musste, und sie verstand es auch. Dass dabei aber so viel Wut zum Einsatz kam, wollte ihr nicht einleuchten. In ihrer Tochter brodelte ständig ein Zorn, den sie selbst in keiner Phase ihres Lebens gekannt hatte, nicht einmal während der Pubertät. Die hatte sie in einem Zustand ahnungsloser Verwirrtheit, ja Naivität hinter sich gebracht und war trotz einer nicht halb so fürsorglichen und verständnisvollen Mutter ein völlig anderer Teenager als Deniz gewesen. Und als schlösse sich ein Kreis, wurde Peri, je mehr sie unter den unvorhersehbaren Ausbrüchen ihrer Tochter litt, umso wütender auf sich selbst, weil sie in der Vergangenheit nicht genug gegen die eigene Mutter rebelliert hatte.

»Wenn du erst so alt bist wie ich, hast du auch keine Geduld mehr mit dieser Stadt«, sagte sie leise.

»Wenn du erst so alt bist wie ich«, äffte Deniz sie hämisch nach. »Früher hast du nie so dahergeredet.«

»Weil eben alles immer schlimmer wird!«

»Nein, Mama, weil du dich alt machst. Weil du solche Sachen sagst. Und schau doch mal, wie du dich anziehst!«

»Was ist an dem Kleid auszusetzen?«

Deniz schwieg.

Peri sah an sich hinab. Sie trug ein lila Ensemble, bestehend aus einem Seidenkleid und einem perlenbestickten Chiffonjäckchen, erstanden in einer Boutique in einem ganz neuen Einkaufszentrum innerhalb eines größeren Einkaufszentrums – als hätte das eine das andere zur Welt gebracht. Kleid und Jacke hatten viel zu viel gekostet. Als sie den Preis monierte, schwieg der Verkäufer, verzog jedoch den Mundwinkel zu einem schmalen Lächeln. Was hast du hier zu suchen, wenn du dir dieses Geschäft nicht leisten kannst?, hatte ihr das Lächeln zu verstehen gegeben. Sie hatte sich über die Herablassung geärgert und spontan »Ich nehme es!« gesagt. Plötzlich spürte sie, wie eng das Kleid saß, erkannte, wie unmöglich die Farbe war. Unter den Leuchtstoffröhren der Boutique hatte das Lila frech und selbstbewusst gewirkt; im Tageslicht erschien es ihr aufdringlich und pompös.

Müßige Gedanken. Nach Hause zu fahren und sich umzuziehen war völlig unmöglich. Schon jetzt stand fest, dass sie verspätet zu dem Abendessen in der Villa am Meer erscheinen würden, dessen Besitzer, ein Geschäftsmann, in den vergangenen Jahren ein immenses Vermögen gemacht hatte. Nicht ungewöhnlich für Istanbul. Die Stadt war voll mit ewig Armen, mit Neureichen und mit denen, die danach gierten, sich wie beim Stabhochsprung mit einem einzigen schnellen Satz von der einen Kategorie in die andere zu katapultieren.

Sie konnte diese Dinnerpartys nicht leiden, die sich bis spät in die Nacht hinzogen und ihr manchmal am nächsten Tag eine Migräne bescherten. Sie blieb viel lieber daheim und bis in die frühen Morgenstunden in einen Roman vertieft, denn im Lesen fand sie ihre Verbindung zur Welt. Doch in Istanbul war das Alleinsein ein sehr seltenes Privileg. Immer musste irgendeine wichtige Veranstaltung besucht, irgendeine gesellschaftliche Verpflichtung wahrgenommen werden, als wollte die Kultur in ihrer kindlichen Angst vor der Einsamkeit sicherstellen, dass sich jeder zu jedem Zeitpunkt in der Gesellschaft aller anderen befand. Gelächter und Essen, Politik und Zigarren, Schuhe und Kleider, aber vor allem Designertaschen. Die Frauen führten ihre Taschen vor wie in fernen Schlachten errungene Trophäen. Wer wusste schon, welche echt waren, welche gefälscht! Da die Damen der Istanbuler Mittel- und Oberschicht beim Kauf von nachgemachter Ware nicht gesehen werden wollten, luden sie die Inhaber dubioser, im Großen Basar und den umliegenden Stadtteilen gelegener Läden zu sich nach Hause ein, anstatt sich dorthin zu begeben. Lieferwagen voller Taschen von Chanel, Louis Vuitton und Bottega Veneta sausten mit abgedunkelten Scheiben und schlammverschmierten Nummernschildern (bei ansonsten blitzblanker Karosserie) kreuz und quer durch die Reichenviertel und erhielten wie in einem Film noir auf versteckten Wegen Zugang zu den Privatgaragen. Bezahlt wurde in bar, es gab weder Quittungen noch unangenehme Fragen. Bei der nächsten Zusammenkunft musterten die Damen gegenseitig mit verstohlenen Blicken ihre Taschen, aber nicht nur, um die jeweilige Marke, sondern auch um etwaige Fälschungen und gegebenenfalls deren Qualität zu erkennen. Das Ganze machte viel Mühe. Optische Mühe.

Frauen schauten. Betrachteten, taxierten, prüften, forschten offen und verdeckt nach den Schwachstellen der anderen Frauen. Eine überfällige Maniküre, ein paar Pfunde mehr, ein schlaffer Bauch, Botox-Lippen, Krampfadern, Cellulite, die auch nach dem Fettabsaugen nicht verschwunden war, ein dringend nachzufärbender Haaransatz, ein Pickel oder Fältchen, verborgen unter Puderschichten … Nichts entging dem alles durchdringenden Blick. Viele Frauen erschienen völlig unbeschwert auf Partys, in deren Verlauf sie zu Opfern und Täterinnen gleichermaßen wurden. Je mehr Peri über den bevorstehenden Abend nachdachte, umso mehr graute ihr davor.

»Ich muss mir mal die Beine vertreten«, sagte Deniz und sprang aus dem Wagen.

Sofort zündete sich Peri eine Zigarette an. Sie hatte zwar das Rauchen mehr als zehn Jahre zuvor aufgegeben, war aber in letzter Zeit wieder schwach geworden. Sie trug stets eine Schachtel bei sich und gönnte sich ab und zu eine Zigarette, die sie jedoch nie zu Ende rauchte. Ein paar Züge genügten ihr. Wenn sie den Rest wegwarf, hatte sie immer ein schlechtes Gewissen, ja empfand beinahe Ekel, und steckte sich, um den Geruch zu kaschieren, sofort einen Pfefferminzkaugummi in den Mund, obwohl sie den Geschmack nicht mochte. Wären Geschmackssorten politische Herrschaftsformen gewesen, hätte Pfefferminz die Rolle des Faschismus übernommen – totalitär, steril, streng.

»Ich krieg keine Luft mehr, Mama«, sagte Deniz, die schon wieder im Wagen saß. »Du weißt doch, dass man davon stirbt!«

Kinder in Deniz’ Alter behandelten Raucher wie frei herumlaufende Vampire. In der Schule hatte sie während ihres Referats über die schädlichen Auswirkungen des Nikotinkonsums ein Plakat präsentiert, auf dem mit Neonstift gemalte Pfeile aus einer geöffneten vollen Zigarettenschachtel direkt auf ein frisch ausgehobenes Grab deuteten.

»Schon gut, schon gut«, erwiderte Peri mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Wenn ich Präsidentin wäre, würde ich dafür sorgen, dass Eltern, die vor ihren Kindern rauchen, ins Gefängnis kommen, ganz im Ernst!«

»Dann bin ich nur froh, dass du dich nicht für das Amt bewirbst«, sagte Peri und ließ das Fenster herunter.

Der Rauch, den sie hinausblies, waberte durch die Luft und drang unversehens durch das geöffnete Fenster in den Wagen neben ihnen. Räumliche Nähe – die wurde man nie los in dieser Stadt. Alles war mit allem benachbart. Fußgänger schlängelten sich als ein einziger großer Organismus durch die Straßen, Reisende saßen dicht gedrängt auf Fähren oder standen Schulter an Schulter in Bussen und U-Bahnen, schwerelos wie die Samen von Pusteblumen stießen die Körper aneinander, verfingen sich und lebten miteinander.

Die zwei Männer im Nachbarauto grinsten zu ihr hinüber. Peri wurde blass, denn wenn eine Frau einem fremden Mann Rauch ins Gesicht blies, kam das laut dem ungeschriebenen Führer durch das Patriarchat für Fortgeschrittene einem offenen sexuellen Angebot gleich. Auch wenn man es zwischendurch immer wieder vergaß, war die Stadt ein stürmisches Meer voller Männer, die man besser behutsam und einfallsreich umschiffte wie Eisberge, denen man auch nicht ansah, wie gefährlich sie einem werden konnten.

Als Frau, egal, ob zu Fuß unterwegs oder im Auto, war man gut beraten, den Blick auf nichts Bestimmtes zu richten. Es galt als sittsam, wenn man den Kopf möglichst gesenkt hielt, was nicht leicht war, da die Tücken des Stadtlebens, ganz zu schweigen von unerwünschter männlicher Aufmerksamkeit und sexueller Belästigung, stete Wachsamkeit erforderten. Wie man sich gleichzeitig mit gesenktem Kopf und nach allen Richtungen umsehend bewegen sollte, war Peri ein Rätsel. Sie warf die Zigarette hinaus, schloss das Fenster und hoffte, die beiden Fremden würden bald das Interesse an ihr verlieren. Die Ampel sprang von Rot auf Grün, doch sie tat es vergebens. Nichts bewegte sich.

In diesem Moment bemerkte sie den Penner, der sich auf der Fahrbahnmitte näherte. Groß und schlaksig, mit einem kantigen Gesicht, spindeldürr, die Stirn zu tief gefurcht für sein Alter, das Kinn mit einem Ausschlag bedeckt, die Hände übersät mit nässenden Ekzemen. Einer von den Millionen syrischen Flüchtlingen, die vor dem einzigen Leben geflohen waren, das sie kannten – das war ihr erster Gedanke. Doch er konnte auch ein Einheimischer sein, Türke, Kurde oder Zigeuner oder von allem ein bisschen. Wer in diesem Land der endlosen Menschenwanderungen und des steten Wandels konnte schon behaupten, nur einem bestimmten Volk anzugehören, ohne sich damit selbst zu belügen? Andererseits gab es in Istanbul Trug und Täuschung zuhauf.

Die Füße des Mannes waren schlammverkrustet, und den zerlumpten Mantel mit dem hochgeschlagenen Kragen hatte der Schmutz fast schwarz gefärbt. Mittlerweile hatte er Peris lippenstiftverschmierte Zigarette entdeckt und rauchte sie fertig, als wäre es das Normalste der Welt. Als Peri den Blick von seinem Mund zu seinen Augen wandern ließ, stellte sie erstaunt fest, dass er sie die ganze Zeit belustigt angesehen hatte. Er strahlte etwas Arrogantes, fast Provokantes aus, als wäre er kein Penner, sondern ein Schauspieler in der Rolle eines Penners, der, von seiner eigenen Darbietung überzeugt, auf Beifall wartete.

Da sie sich jetzt von drei Männern abwenden musste, drehte sie sich zur Seite, wobei sie Deniz’ Frappuccino umstieß, dessen schaumiger Inhalt auf Peris Schoß landete.

»Oh nein!« Entsetzt betrachtete sie den dunklen Fleck, der sich auf ihrem teuren Kleid ausbreitete.

Ihre Tochter fand sichtlich Gefallen an dem Desaster. Sie stieß einen Pfiff aus. »Jetzt kannst du sagen, das Kleid wäre von einem total schrägen neuen Designer.«

Peri ignorierte die Bemerkung und verfluchte sich selbst. Sie griff nach der Handtasche in ihrem Fußraum, eine lavendelblaue Birkin Bag aus Straußenleder, bis ins kleinste Detail perfekt imitiert, abgesehen von dem falsch gesetzten Akzent in »Hermès« – türkische Fälscher konnten alles nachahmen, nur nicht die korrekte Rechtschreibung –, und holte ein Päckchen Papiertaschentücher heraus, obwohl sie wusste, dass sie den Fleck damit nur verreiben würde. Und weil sie abgelenkt war, beging sie einen Fehler, der in Istanbul keinem versierten Autofahrer unterlief: Sie warf die Tasche auf die Rückbank eines Wagens, dessen Türen nicht verriegelt waren.

Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Ein Mädchen, keine zwölf Jahre alt, kam um Münzen bettelnd näher. Mit schlotternden Kleidern, die offene Hand ausgestreckt vor sich haltend, ging das magere Kind mit starrem Oberkörper dahin wie durch Wasser. Vor jedem Auto blieb es etwa zehn Sekunden stehen und schlenderte dann weiter zum nächsten. Vielleicht, dachte Peri, hatte es herausgefunden, dass man Mitleid nur innerhalb dieser kurzen Zeitspanne erregen konnte. Mitleid kam niemals verzögert – es war sofort da oder fehlte ganz.

Als das Mädchen den Range Rover erreicht hatte, blickten Peri und Deniz automatisch in die entgegengesetzte Richtung und taten so, als hätten sie es nicht gesehen. Doch die Bettler von Istanbul waren es gewohnt, für andere unsichtbar zu sein – und darauf vorbereitet. Genau an der Stelle, auf die Mutter und Tochter ihren Blick gerichtet hatten, stand ein weiteres, etwa gleichaltriges Mädchen und streckte ebenfalls die Hand aus.

Zu Peris großer Erleichterung schaltete die Ampel auf Grün. Dieses Mal schossen die Autos los wie Wasser aus einem Gartenschlauch. Gerade als auch Peri aufs Gaspedal treten wollte, hörte sie, wie die hintere Tür blitzschnell geöffnet und wieder geschlossen wurde, und sah im Rückspiegel ihre Tasche verschwinden.

»Diebe!«, rief sie. »Hilfe, die haben meine Tasche gestohlen! Das sind Diebe!«

Die Fahrer hinter ihr hupten ungeduldig; sie hatten nichts mitbekommen und wollten weiter. Dass niemand helfen würde, war klar. Peri zögerte nur kurz. Gekonnt riss sie das Lenkrad herum, scherte aus der Reihe aus, fuhr an den Randstein und schaltete die Warnblinker ein.

»Mama, was tust du?«

Für eine Antwort blieb keine Zeit. Peri hatte gesehen, in welche Richtung die Kinder gerannt waren, und musste ihnen sofort folgen. Eine innere Stimme, eine Art animalischer Instinkt, sagte ihr, dass sie nur die beiden Mädchen zu finden brauchte, um ihren rechtmäßigen Besitz zurückzubekommen.

»Fahr weiter, Mama! Es ist doch nur eine Tasche, noch dazu eine gefakte!«

»Da ist Geld drin und meine Kreditkarten! Und mein Handy!«

Ihre Tochter war dennoch nicht überzeugt, sie war geradezu peinlich berührt. Deniz hasste es, Aufmerksamkeit zu erregen. Sie wollte sein wie die anderen, ein grauer Tropfen im grauen Meer. Ihre Aufsässigkeit bekam nur die Mutter zu spüren.

»Du bleibst hier. Verriegle die Türen und warte auf mich«, sagte Peri. »Tu jetzt bitte ein einziges Mal, was ich dir sage!«

»Aber Mama …«

Ohne nachzudenken stürzte Peri aus dem Wagen, hatte aber ganz vergessen, dass sie High Heels trug. Sie zog die Schuhe aus, und ihre nackten Sohlen landeten hart auf dem Asphalt. Deniz starrte ihre Mutter mit erstauntem, gekränktem Blick aus weit aufgerissenen Augen an.

Peri lief los. In ihrem lila Kleid, das Gewicht ihres Alters tragend, mit hochroten Wangen, vor Dutzenden von Augenpaaren. Die Ehefrau, Hausfrau, Mutter von drei Kindern war sich der beschämenden Tatsache bewusst, dass ihre Brüste heftig wippten und sie nichts dagegen tun konnte. Doch während sie weiterlief, die Straße in Richtung Innenstadt überquerte, während die Fahrer lachten und die Möwen über ihr flatterten, spürte sie eine seltsame Freiheit in sich, als wäre sie in einen verbotenen Bereich eingedrungen, den sie nicht benennen konnte. Hätte sie gezögert, wäre sie auch nur für die Dauer einer Sekunde langsamer geworden, es hätte sie das Entsetzen gepackt über das, was sie tat. Die Gefahr, in rostige Nägel, Bierflaschenscherben oder Rattenurin zu treten, hätte ihr Angst gemacht. Doch sie rannte weiter. Fast wie von selbst, als besäßen sie ein eigenes Gedächtnis, liefen ihre Beine immer schneller, erinnerten sich an die Zeit vor vielen Jahren in Oxford, als sie jeden Tag und bei jedem Wetter fünf, sechs Kilometer gejoggt war.

Peri hatte das Laufen geliebt, doch wie so viele Freuden in ihrem Leben gab es auch diese schon lange nicht mehr.

Der stumme Dichter

istanbul, 1980er-jahre

Als Peri klein war, lebten die Nalbantoğlus in der Straße des Stummen Dichters in einem von Angehörigen der unteren Mittelschicht bewohnten Viertel auf der asiatischen Seite Istanbuls. Wenn der Tag zu Ende ging, strömte ein Gemisch von Düften aus den offenen Fenstern – der Geruch von ausgebackenen Auberginen, frisch gemahlenem Kaffee, heißem Fladenbrot, gebratenem Knoblauch –, so stark, dass es alles durchdrang und in die Abflussrinnen und Gullys sickerte, so scharf, dass am nächsten Tag der Morgenwind sofort die Richtung änderte. Aber die Leute dort beschwerten sich nie, denn sie rochen es nicht. Es stieg nur Menschen von außerhalb in die Nase, und für die wenigsten Menschen von außerhalb gab es jemals einen Grund, das Viertel zu betreten. Die Häuser lehnten aneinander wie Grabsteine auf einem verwahrlosten Friedhof, und der alles bedeckende Nebel aus Langeweile lichtete sich nur dann und wann, wenn das Geschrei von Kindern, die im Spiel geschummelt hatten, die Luft durchschnitt.

Es wurde viel darüber gemunkelt, wie die Straße zu ihrem sonderbaren Namen gekommen war. Manche glaubten, ein berühmter osmanischer Dichter aus der Gegend, unzufrieden mit dem kümmerlichen Bakschisch, das er vom Palast für ein Gedicht erhalten hätte, wäre zu dem Entschluss gekommen, so lange kein Wort mehr zu sprechen, bis der Sultan ihm ein angemessenes Honorar zahlte.

»Der Herr über die Reiche Cäsars und Alexanders des Großen, Gebieter über drei Kontinente und fünf Meere, der Schatten Gottes auf Erden, lässt seinem demütigen Untertan gewisslich seine grenzenlose Großzügigkeit zuteilwerden. Tut er es aber nicht, so erkenne ich darin ein Zeichen der Minderwertigkeit meiner Gedichte und werde stumm bleiben bis zum Tag meines Todes, denn ein toter Dichter ist besser als ein schlechter.« Dies waren seine letzten Worte, bevor er sich in tiefstes Schweigen hüllte. Es lag keine Anmaßung in seinem Tun. Er verehrte, fürchtete und befolgte alles, was einen Herrscher für ihn ausmachte. Doch weil er ein Dichter war, gierte er nach mehr Aufmerksamkeit, Lob und Liebe, und ein paar Münzen mehr wären eben auch nicht schlecht gewesen.

Als der Sultan von der Sache erfuhr, erheiterte ihn die Dreistigkeit des Dichters, und er versprach ihm Genugtuung. Wie alle Despoten betrachtete er Künstler mit gemischten Gefühlen. Einerseits missbilligte er ihre Unberechenbarkeit und ihren Ungehorsam, andererseits genoss er ihre Gesellschaft – vorausgesetzt, sie kannten ihre Grenzen. Die Künstler besaßen eine ungewöhnliche Sicht der Dinge, die sehr unterhaltsam sein konnte, außer wenn sie es nicht war. Er hatte immer gern ein paar Künstler bei sich am Hof, nahm sie aber hart an die Kandare. Sie durften sagen, was sie wollten, solange sie es unterließen, den Staat und die Gesetze, die Religion und den Allmächtigen, vor allem aber den Herrscher zu kritisieren.

Im Serail war es zu einer Verschwörung gekommen, die den Sturz des Sultans und die Inthronisierung seines ältesten Sohnes zum Ziel hatte, und so wollte es das Schicksal, dass der Herrscher noch in derselben Woche ermordet wurde – mit einer Bogensehne aus Seide, um nicht sein edles Blut zu vergießen. Bei den Osmanen folgten Leben wie Sterben genau festgelegten Gesetzen; alles hatte seine Ordnung. Angehörige der Sultansfamilie wurden erdrosselt, Diebe gehängt, Rebellen geköpft, Strauchdiebe gepfählt, Würdenträger in einem Mörser zerstampft und Konkubinen in beschwerten Säcken ins Meer geworfen. Jede Woche stellte man neue abgetrennte Köpfe auf den Galgen vor dem Palast zur Schau, stopfte ihre Münder mit Baumwolle, wenn es sich um hohe Beamte handelte, mit Stroh, wenn sie unbedeutend waren. Der Dichter hatte ähnlich starre Prinzipien. An den Schwur gebunden, blieb er stumm bis zu dem Tag, an dem er sein Leben aushauchte.

Es gab noch eine zweite Version der Geschichte. Als der Dichter großzügige Entlohnung forderte, befahl der Sultan, erzürnt über die Unverfrorenheit, dem Mann die Zunge aus dem Mund zu schneiden, sie klein zu hacken und gebraten an die Katzen in sieben Stadtvierteln zu verfüttern. Doch die scharfen Worte, die der Dichter jahrelang geäußert hatte, waren dem Geschmack seiner Zunge nicht zuträglich gewesen, und die Katzen verschmähten das Mahl. Sie schmeckte so streng, dass auch das Anbraten in Schafschwanzfett mit Zwiebeln nichts daran änderte. Die Frau des Dichters, die alles mitangesehen hatte, sammelte die Stückchen heimlich ein und flickte sie zusammen. Kaum hatte sie ihr Werk auf das Bett gelegt und sich auf die Suche nach einem Chirurgen gemacht, der die Zunge wieder in den Mund ihres Mannes nähen sollte, flog eine Möwe durchs offene Fenster und stahl es, was nicht verwundern konnte, waren die Möwen von Istanbul doch berüchtigte Aasfresser und vertilgten alles, was sie fanden, egal, wie es schmeckte. Ein Vogel, der die Augen von Tieren aushackte und verschlang, die doppelt so groß waren wie er selbst, konnte alles fressen. Deshalb blieb der Dichter stumm wie ein Fisch; ein weißer Vogel, der ständig über seinem Kopf kreiste, krächzte Istanbul an seiner statt die Gedichte vor, die er selbst nicht mehr aufsagen konnte.

Welche auch immer die wahre Geschichte hinter ihrem Namen sein mochte – die Straße der Nalbantoğlus war jedenfalls ein malerisches, verschlafenes Gässchen, in dem sich die angesehensten Tugenden nach den drei Aggregatzuständen ausgeformt fanden: Allah und den Imamen mit unbeirrbarem Wohlverhalten, völliger Unterwerfung und nie nachlassender Beständigkeit zu gehorchen (fest), den göttlichen Fluss des Lebens hinzunehmen, ganz gleich, wie viel Schlamm und Geröll er mit sich führte (flüssig), und dem Ehrgeiz zu widerstehen, da sich alle Besitztümer und Trophäen irgendwann unweigerlich in Luft auflösten (gasförmig). In dem Viertel galt jedes Schicksal als vorherbestimmt und jedes Leid als unvermeidbar – auch wenn es sich die Anwohner gegenseitig zufügten, etwa indem sie beim Fußballspielen aneinandergerieten, sich wegen politischer Differenzen prügelten oder die Ehefrau schlugen.

Die Familie lebte in einem zweistöckigen, sauerkirschrot gestrichenen Haus, das im Lauf der Jahre viele verschiedene Farben getragen hatte: Salzpflaumengrün, Walnussmarmeladenbraun, Betenrot. Die Nalbantoğlus hatten das Erdgeschoss gemietet, der Hausbesitzer wohnte über ihnen. Obwohl die Familie alles andere als reich war – Reichtum war relativ und abhängig von den Maßstäben, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort galten –, hatte Peri in ihrer Kindheit nie etwas vermisst. Das kam erst später und wie alles Verzögerte mit solcher Wucht, als müsste die verlorene Zeit wettgemacht werden. Erst da erkannte sie die Schwächen der Familie, deren geliebte und behütete Tochter sie gewesen war.

Die Zeugung dieses letzten Nalbantoğlu-Kindes war eine Riesenüberraschung, denn die Eltern hatten schon zwei Jungen großgezogen, beide damals an die zwanzig Jahre alt, und galten nach der im Viertel herrschenden Ansicht als zu betagt für erneuten Nachwuchs. Peri wurde behütet, verwöhnt, jeder ihrer Wünsche nicht nur erfüllt, sondern vorausgeahnt. Ihre ersten Lebensjahre verliefen völlig sorglos, obwohl sie durchaus das leise Rauschen einer Spannung wahrnahm, das sich zum ausgewachsenen Sturm verstärkte, wann immer ihre Eltern sich im selben Raum aufhielten.

Der Vater und die Mutter waren ein Gegensatz wie Schenke und Moschee. Der finstere Blick, mit dem sie sich ansahen, der kühle Ton, in dem sie miteinander sprachen, zeugten eher von Schachgegnern als von einem verliebten Paar. Auf dem Spielbrett ihrer Ehe stieß jeder einzeln vor, entwarf die Taktik für den nächsten Zug, schlug Türme, Elefanten und Wesire im ständigen Bemühen, den Widersacher ein für alle Male niederzuringen. Der eine galt dem anderen als unerträglicher Familientyrann, und beide sehnten sich danach, irgendwann sagen zu können: »Schachmatt – shah manad –, der König ist hilflos.« Ihre Ehe war so tief von Groll durchdrungen, dass es keines Grundes mehr bedurfte, um sich schlecht behandelt und enttäuscht zu fühlen. Schon als kleines Kind spürte Peri, dass ihre Eltern wohl nie aus Liebe zueinandergefunden hatten.

Abends saß ihr Vater zusammengesunken am Tisch, vor sich mehrere Teller mit mezes, die rings um eine Flasche Raki angeordnet waren. Gefüllte Weinblätter, Hummus, gegrillte rote Paprikaschoten, Artischocken in Olivenöl und seine Lieblingsspeise, Lammhirnsalat. Er aß sehr langsam, kostete wie ein Gourmet von jedem Gericht, obwohl er das Essen nur brauchte, um nicht auf leeren Magen zu trinken. »Ich spiele nicht, ich stehle nicht, lasse mich nicht bestechen, rauche nicht und jage nicht den Frauen hinterher. Da wird Allah seinem alten Geschöpf doch wohl diese eine kleine Sünde nachsehen«, pflegte er zu sagen. Normalerweise leisteten ihm bei diesen langen Abendessen ein, zwei Freunde Gesellschaft. Deprimiert über die allgemeine Lage, schwadronierten sie ausführlich über Politik und Politiker. Wie die meisten Leute in diesem Land sprachen sie am liebsten über das, was sie am wenigsten mochten.

»Wer die Welt kennt, weiß: Jedes Volk trinkt anders«, sagte Mensur oft. Er selbst war in jungen Jahren als Schiffsingenieur weit herumgekommen. »In einer Demokratie ruft der Besoffene: ›Was ist nur aus meiner Süßen geworden?‹ Dort, wo es keine Demokratie gibt, ruft er: ›Was ist nur aus meinem süßen Vaterland geworden?‹«

Schon bald gingen die Worte in Melodien über, und sie begannen zu singen – muntere Balkanweisen zuerst, dann Revolutionslieder vom Schwarzen Meer und nach und nach – es blieb nie aus – anatolische Balladen über gebrochene Herzen und unerfüllte Liebe. Wie Rauchkringel vermengten sich die türkischen, kurdischen, griechischen, armenischen und judenspanischen Verse in der Luft.

Peri saß allein in einem Eckchen, und das Herz wurde ihr schwer. Sie fragte sich oft, warum ihr Vater so traurig war. In ihrer Vorstellung klebte ihm der Kummer wie eine dünne Schicht Pech an den Sohlen. Weder gelang es ihr, seine Stimmung zu heben, noch konnte sie es unversucht lassen, denn sie war, wie jeder in der Familie bezeugte, eine Vatertochter.

Aus dem verschnörkelten Bilderrahmen an der Wand schaute Atatürk, der Vater der Türken, mit seinen stahlblauen, goldgesprenkelten Augen auf die Nalbantoğlus herab. Das Porträt des Nationalhelden hing überall. Atatürk bekleidet mit einer Militäruniform in der Küche, Atatürk angetan mit einem Redingote im Wohnzimmer, Atatürk mit Mantel und Kalpak im elterlichen Schlafzimmer, Atatürk mit Seidenhandschuhen und wehendem Umhang in der Diele. An den nationalen Feier- und Gedenktagen hängte Mensur eine türkische Fahne mit dem Abbild des großen Mannes für alle sichtbar aus dem Fenster.

»Ohne ihn würde es bei uns zugehen wie im Iran, vergiss das nie!«, sagte er oft zu seiner Tochter. »Dann müsste ich einen Kinnbart tragen und mir meinen Schnaps selbst brennen. Ich würde natürlich erwischt und auf offener Straße ausgepeitscht werden. Und du, mein Herz, würdest schon in so jungen Jahren den Tschador tragen!«

Mensurs Freunde – Lehrer, Bankbeamte, Ingenieure – waren Atatürk und seinen Grundsätzen nicht minder zugetan als Mensur. Sie lasen und rezitierten patriotische Gedichte, und wenn die Muse sie küsste, schrieben sie sogar welche. Fast alle hatten den gleichen Rhythmus und wiederholten immer denselben Inhalt, sodass sie nicht wie eigenständige Gedichte klangen, sondern wie das Echo eines einzigen Rufs. Dennoch saß Peri gern im Wohnzimmer, lauschte dem angenehmen Geplapper, dem An- und Abschwellen des Stimmengewirrs bei jedem neuen, bis zum Rand gefüllten Glas. Die Männer störte es nicht, ganz im Gegenteil – sie fühlten sich jünger, weil Peri sich für die Gespräche interessierte, und sie schöpften Hoffnung für die Jugend. Und so blieb sie und trank Orangensaft aus dem Lieblingsbecher ihres Vaters, der auf der einen Seite Atatürks Unterschrift, auf der anderen ein Zitat des Staatsgründers trug: Die zivilisierte Welt ist uns voraus, es bleibt uns nichts übrig, als mit ihr gleichzuziehen. Peri liebte den Porzellanbecher, der so glatt in der Hand lag, obwohl sie immer wenn sie ausgetrunken hatte, eine Art Reue verspürte, als wäre mit dem Inhalt auch die Möglichkeit verschwunden, die zivilisierte Welt einzuholen.

Es gab viel zu tun für sie an diesen Abenden. Ständig musste sie aufstehen, um das Eis aufzufüllen, Aschenbecher zu leeren oder Brot zu rösten, denn ihre Mutter suchte jedes Mal das Weite.

Kaum hatte Selma leise seufzend das Essen auf den Tisch gestellt, zog sie sich in ihr Zimmer zurück und erschien erst wieder am nächsten Morgen. Manchmal kam sie sogar erst mittags heraus oder noch später. Das Wort »Depression« existierte für die Nalbantoğlus nicht; sie habe Kopfschmerzen, erklärte sie immer. Die Kopfschmerzen schwächten sie, und ihre Augen wurden davon schmal wie Schlitze, als würde sie ständig in die Sonne blinzeln. Die Schwäche des Körpers reinige den Geist, behauptete sie, und schließlich war ihr Geist so rein, dass sie überall Vorzeichen sah, sei es in einer Taube, die vor dem Fenster gurrte, in einer plötzlich erlöschenden Glühbirne oder in einem Blatt, das im Tee schwamm. So lag sie allein in ihrem Zimmer und lauschte vom Bett aus auf jedes Geräusch. Und es gab viele Geräusche; die Wände waren dünn wie ausgerollter Teig. Nur eine Wand war massiv und wurde von Jahr zu Jahr höher: die zwischen Selma und Mensur.

Selma hatte sich vor einiger Zeit einem religiösen Zirkel angeschlossen, den ein für die Wortgewalt seiner Reden und für die Strenge seiner Ansichten berühmter Prediger leitete. Üzümbaz Efendi wurde er genannt, denn er behauptete, jedes Anzeichen von Götzendienst und Ketzerei sofort zu vernichten, als würde er Trauben zertreten. Dass sein Name an das Weinkeltern erinnerte – eine ebenso große Sünde wie der Genuss des Getränks –, störte ihn nicht im Geringsten. Weder saftige Trauben noch abgefüllter Wein reizten den Mann auch nur annähernd so sehr wie der Akt des Zerstampfens.

Unter dem Einfluss des Predigers hatte sich Selma spürbar verändert. Nicht nur weigerte sie sich, Männern die Hand zu geben, sie war nicht einmal mehr bereit, einen Platz im Bus einzunehmen, auf dem zuvor ein Mann gesessen hatte – auch dann nicht, wenn er eigens für sie aufgestanden war. Im Gegensatz zu einigen ihrer besten Freundinnen trug sie zwar keine Nikab, bedeckte jedoch den ganzen Kopf mit Ausnahme des Gesichts. Popmusik lehnte sie plötzlich ab, weil sie darin etwas Verdorbenes sah. Üzümbaz Efendis Hinweis, in Konfekt, Knabberzeug, Speiseeis, Kartoffelchips und Schokoladenprodukten könnte aus Schweinen gewonnene Gelatine enthalten sein, hatte zur Verbannung all dieser Leckereien aus dem Haus geführt, selbst wenn sie als halal gekennzeichnet waren. Ihre Furcht vor dem Kontakt mit Schweineprodukten war so groß, dass sie statt Shampoo grobe Olivenölseife benutzte, statt Zahnpasta einen Miswakzweig und statt Kerzen einen Klumpen Butter mit einem Stück Docht darin. Aus Angst, sie könnten mit Leim aus Schweineknochen gefertigt sein, trug sie keine ausländischen Schuhe und riet jedem, es ihr gleichzutun. Am sichersten seien Sandalen – und so ging Peri jahrelang in Sandalen aus Kamelleder und Socken aus Ziegenwolle in die Schule und wurde dort entsprechend gehänselt.

Mit ihrem Zirkel Gleichgesinnter organisierte Selma Fahrten an die Strände Istanbuls und der Umgebung. Die Mitglieder der Gruppe versuchten Bikiniträgerinnen zur Umkehr zu bewegen, ehe ihre Seelen unrettbar verloren waren. »Für jedes Fleckchen Haut, das ihr heute zeigt, schmort ihr schon morgen in der Hölle!« Sie verteilten Handblätter, deren Texte zahlreiche Grammatik- und Rechtschreibfehler enthielten, obendrein ein Übermaß an Ausrufezeichen, dafür umso weniger Kommas. Die Texte wiederholten pausenlos, Allah wolle Evas Enkeltöchter nicht halb nackt in der Öffentlichkeit sehen. Hatten sich die Strände abends geleert, flatterten die Zettel zerrissen und befleckt im Wind, und die Wörter »Verkommenheit«, »Frevel« und »ewige Verdammnis« lagen wie trockener Tang auf dem Sand verstreut.

Lebhaft war Selma schon immer gewesen; in dieser neuen Lebensphase aber wurde sie noch streitlustiger in ihrem Drang, anderen, besonders ihrem Mann, den rechten Weg zu weisen. Da Mensur nicht die Absicht hatte, einen besseren Menschen aus sich machen zu lassen, war die Wohnung der Nalbantoğlus in ihren Bereich und seinen Bereich unterteilt, in Dar al-Islam und Dar al-Harb, in die Zone des Gehorsams und die Zone des Kriegs.

Wie ein Meteorit war die Religion in das Leben der Familie eingeschlagen und hatte sie in zwei verfeindete Lager gespalten. Hakan, der jüngere Sohn, tiefreligiös und ultranationalistisch, ergriff Partei für die Mutter; der ältere, Umut, versuchte den Konflikt zu entschärfen und blieb eine Zeit lang neutral, ließ aber in seinem Reden und Tun eine deutliche Neigung zur politischen Linken erkennen und entpuppte sich später sogar als überzeugter Marxist.

Peri, das jüngste Kind, geriet in eine missliche Lage, denn jedes Elternteil versuchte sie auf seine Seite zu ziehen. Ihr Leben wurde zum Schlachtfeld rivalisierender Weltanschauungen. Die Vorstellung, sich ein für alle Mal zwischen der kämpferischen Religiosität ihrer Mutter und dem kämpferischen Materialismus ihres Vaters entscheiden zu müssen, lähmte sie fast. Sie gehörte zu den Menschen, die stets versuchten, möglichst niemanden zu kränken. Umzingelt von Kriegern, die in ständiger Fehde sinnlose Kämpfe ausfochten, verdammte sie sich daher zur Fügsamkeit. Von allen unbemerkt, löschte sie ihr inneres Feuer, bis nur mehr Asche übrig war.

Nirgends zeigte sich die Kluft zwischen Peris Eltern deutlicher als in der Wohnzimmerecke, in der über dem Fernsehtisch zwei Wandborde hingen. Das eine war für die Bücher des Vaters bestimmt: Atatürk. Die Wiedergeburt einer Nation von Lord Kinross, Die große Rede von Atatürk selbst, Ausgewählte Gedichte von Nâzım Hikmet, Schuld und Sühne von Dostojewski, Doktor Schiwago von Boris Pasternak, eine Sammlung von Erinnerungen aus dem Ersten Weltkrieg, verfasst von Generälen wie von einfachen Soldaten, und eine alte Ausgabe der Rubaijat von Omar Chayyām mit einem vom vielen Lesen stark abgegriffenen Einband.

Das zweite Brett war eine völlig andere Welt. Jahrelang hatte es Porzellanpferde aller Größen und Ausführungen beherbergt – Ponys, Hengste und Stuten mit goldenen Mähnen und Schweifen in den Farben des Regenbogens, tänzelnd, galoppierend, grasend. Nach und nach waren Bücher dazugekommen: Die Hadithe, zusammengestellt von al-Buhārī, theologische Texte von al-Ghazālī – Eine schrittweise Anleitung zu Gebet und Bitte im Islam und zum guten muslimischen Leben, Die Geschichten der Propheten, Das Handbuch der guten muslimischen Frau, Die Tugend der Geduld und Dankbarkeit, Die islamische Traumdeutung. Die rechte Seite war den beiden Büchern von Üzümbaz Efendi vorbehalten: Die Bedeutung der Reinheit in einer sittenlosen Welt und Schaitan flüstert dir ins Ohr. Mit jedem neuen Buch wanderten die Pferde Stück für Stück näher an den Rand des Bretts und standen dort nun dicht gedrängt wie vor einem gefährlichen Abgrund.

Die Flut von Worten und Gefühlen, die das Haus durchströmte, verwirrte Peris unschuldigen Geist. Allah, hatte sie gelernt, sei der eine, einzige Gott; doch dass die religiöse Lehre, die ihrer Mutter heilig war und gegen die sich ihr Vater ereiferte, zu ein und demselben Gott gehören sollte, wollte sie nicht glauben. Das konnte nicht sein. Denn wenn es so war, wie ließ sich dann erklären, dass diese zwei Menschen – die zwar das Bett nicht mehr teilten, aber immerhin noch den gleichen Ehering trugen –, Allah dermaßen unterschiedlich auffassten?

Wachsam und gefügig verfolgte sie die Kämpfe und sah zu, wie sich ihre geliebten Eltern gegenseitig zerfleischten. Sie lernte früh, dass kein Krieg schlimmer war als ein Familienkrieg und kein Familienkrieg schlimmer als der, bei dem es um Gott ging.

Das Messer

istanbul, 2016

Schon nach kurzer Zeit entdeckte Peri die Bettlerinnen, die ihre Handtasche gestohlen hatten. Die Mädchen waren so schnell gerannt, wie sie konnten, doch Peri war schneller gewesen. Sie konnte ihr Glück kaum fassen – wenn es denn Glück war. Mit schmerzender Brust folgte sie ihnen in eine enge, dunkle Kopfsteinpflastergasse.

Die beiden Kinder gingen zielstrebig auf einen Mann zu, der am Rand der Gasse auf dem Boden saß, und stellten sich zu ihm hin. Es war der Penner, der Peris Kippe aufgeraucht hatte. Peri brachte kein Wort heraus, als sie auf die drei zuging. Sie hatte gehandelt, ohne nachzudenken, und als sie nun zu denken begann, wurde sie unsicher.

Der Penner lächelte so gleichmütig, als hätte er ihr Erscheinen erwartet. Von Nahem sah er anders aus. Er hatte ebenmäßige, hohe Wangenknochen, und aus den dunklen Tiefen seiner Augen leuchtete ein jugendlicher Blick. Wäre seine Erscheinung nicht so erbärmlich gewesen, hätte man ihr fast etwas Dandyhaftes attestieren können. Ehrfürchtig hielt er die Handtasche im Schoß, streichelte sie wie eine lang vermisste Geliebte.

Peri schluckte den Kloß herunter, der ihr plötzlich im Hals steckte, und sagte mit gepresster Stimme: »Die gehört mir.«

Der Mann öffnete den Verschluss, fischte das Handy heraus, hielt die Tasche in die Höhe und ließ den gesamten Inhalt herausfallen: die Hausschlüssel, einen Lippenstift, einen Eyeliner, einen Kugelschreiber, einen kleinen Parfümflakon, ein Päckchen Papiertaschentücher, eine Sonnenbrille, eine Bürste, einen Tampon – und ein Lederportemonnaie, das er vorsichtig aufhob und Folgendes daraus entnahm: ein Bündel Geldscheine, mehrere Kreditkarten, einen rosa Frauen-Personalausweis, einen Führerschein und Aufnahmen denkwürdiger Familienereignisse. Ohne den Rest zu beachten, steckte er das Handy und das Geld ein und pfiff dabei eine flotte, muntere Melodie, die nach einem Lied aus einer alten Spieluhr klang. Gerade als er die leere Geldbörse wegwerfen wollte, entdeckte er etwas darin – ein Polaroidfoto, das ein wenig aus dem Fach herausgerutscht war, in dem es sorgsam verborgen gesteckt hatte, ein Relikt aus lange vergangenen Zeiten.

Mit hochgezogenen Brauen betrachtete er das Bild. Vier Gesichter waren darauf zu sehen, ein Mann und drei junge Frauen. Ein Professor und seine Studentinnen. Im Mantel, mit Schal und Mütze standen sie vor der Bodleian Library in Oxford, aneinandergeschmiegt, um sich zu wärmen oder aus alter Gewohnheit, für immer gefangen in einem der kältesten Tage jenes Winters.

Der Penner hob den Kopf und grinste, als hätte er Oxford schon einmal im Film oder in einer Zeitung gesehen und nun wiedererkannt. Vielleicht hatte er aber auch nur bemerkt, dass eines der Mädchen die vor ihm stehende Frau war. Sie hatte etwas zugenommen und Fältchen bekommen, ihr Haar war jetzt kürzer und glatter, doch die Augen waren dieselben. Nur die Spur Traurigkeit darin zeigte das Foto noch nicht. Er warf es achtlos weg.

Einen Moment lang, nicht länger, sah Peri das Polaroid in hohem Bogen fliegen und flatternd zu Boden sinken, und sie zuckte zusammen, als lebte es und könnte bei dem Sturz Schaden nehmen.

Sie wusste sich nicht anders zu helfen, als dem Penner zuzurufen, dass jeden Moment Hilfe kommen würde, die Polizei, die Gendarmerie, ihr Ehemann. Sie begann mit der Hand zu fuchteln, damit er den Ehering sah. Gleichzeitig war ihr peinlich bewusst, wie lächerlich es die junge Peri gefunden hätte, ihren Familienstatus wie einen schützenden Talisman zur Schau zu stellen. Dabei gab es Gründe genug, weshalb der Mann sie für unglaubwürdig halten konnte, nicht zuletzt das Stocken in ihrer Stimme. Menschenleer lag die Gasse da, und der Himmel hatte sich verdüstert. Wie weit war die Hauptstraße entfernt? Den Verkehr hörte sie noch, aber sehr gedämpft, wie hinter einer Glaswand. Plötzlich hatte sie Angst.

Einige Sekunden lang blieb der Penner seltsam starr. Es wurde so still, dass Peri glaubte, in dem Abfallhaufen neben ihr eine Maus stöbern zu hören, ein trippelndes, huschendes Mäuschen, dessen pochendes Herz in der winzigen Brust nicht größer als eine Pistazie war. Sie hatte das Gefühl, als läge die Gasse jenseits des Reichs der Istanbuler Katzen, jenseits der Stadtgrenzen und diesen einen Augenblick lang auch jenseits der gesamten Welt.

Der Mann kramte seelenruhig in seiner Manteltasche, zog schließlich eine Plastiktüte mit einer Tube Lösungsmittel hervor und drückte den gesamten Tubeninhalt in die Tüte. Dann blies er sie auf wie einen kleinen Ballon. Lächelnd betrachtete er sein Werk, seine idyllische Schneekugel, in der es Flocken aus Diamanten und Perlen schneite. Er stülpte sich die Öffnung über Mund und Nase und inhalierte tief. Ein Mal, zwei Mal, das dritte Mal länger. Als er den Kopf wieder hob, hatte sich seine Miene verändert. Er war da und doch nicht mehr da. Peri verstand – der Mann war ein Klebstoffjunkie. Erst jetzt bemerkte sie die geplatzten Äderchen, die seine Augäpfel durchzogen wie Risse den ausgedörrten Boden. Eine leise Stimme in ihr befahl sie zum Auto zurück, zu ihrer Tochter, doch sie blieb so reglos stehen, als wäre der Klebstoff an ihre Füße geraten und hielte sie fest.

Der Penner bot einem der Kinder die Tüte an. Das Mädchen riss sie ihm vor Gier fast aus der Hand und begann zu schnüffeln, während das andere, sichtlich verärgert, die Letzte zu sein, voller Ungeduld wartete. Klebstoff war äußerst beliebt bei Straßenkindern und minderjährigen Prostituierten. Er war der fliegende Teppich, der sie federleicht über die Dächer und Kuppeln und Hochhäuser in ein entlegenes Königreich brachte, in dem es keine Angst gab und keinen Grund, Angst zu haben, keinen Schmerz, keine Gefängnisse, keine Zuhälter. In diesem Paradies blieben sie, so lange es nur ging, ließen sich goldene Trauben in den Mund hängen, naschten von saftigen Pfirsichen, konnten dort, vor Hunger und Kälte geschützt, Ungeheuer jagen, Riesen verspotten und Geister in die Flaschen zurückstopfen, aus denen sie entwichen waren.

Wie alle süßen Träume hatte auch dieser seinen Preis. Der Klebstoff zersetzte die Membranen der Hirnzellen, griff das Nervensystem an, zerstörte Niere und Leber, fraß die Menschen von innen her auf.

»Ich rufe die Polizei!«, schrie Peri, merkte sofort, dass ihre Stimme lauter als nötig gewesen war, und fügte noch lauter hinzu: »Meine Tochter hat sie sogar schon gerufen. Sie werden jeden Moment hier sein.«

Wie auf ein Stichwort hin erhob sich der Mann. Er bewegte sich langsam und sehr bedacht, als wollte er Peri Zeit zum Umdenken geben oder klarstellen, dass nichts von dem, was gleich geschehen würde, seine Schuld war.

Die beiden Mädchen waren verschwunden. Wann und wohin, wusste Peri nicht. Sie unterstanden dem Befehl des Penners. Er war der Sultan der Seitenstraßen, der Kaiser des nicht abgeholten Mülls und der offenen Kloaken, alles Unerwünschten, Herrenlosen, das er großmütig einsammelte. Nicht seine Züge, aber seine starke Ausstrahlung erinnerte Peri an jemanden – an einen Menschen, den sie in der Vergangenheit eingeschlossen geglaubt und den sie geliebt hatte wie keinen sonst.

Ein, zwei Sekunden lang senkte sie den Blick und betrachtete das auf dem Boden liegende Foto. Es gehörte zu den wenigen Bildern aus ihrer Studienzeit in Oxford, die sie all die Jahre über behalten hatte, und es war das einzige mit Professor Azur. Undenkbar, es zu verlieren.

Als sie wieder zu dem Penner sah, stellte sie zu ihrer Verblüffung fest, dass er aus der Nase blutete. Dicke, rote Tropfen, kräftig leuchtend wie Malfarbe, fielen auf seine Brust, doch er ging weiter auf Peri zu und schien es gar nicht zu bemerken. Sie sah den Stahl funkeln, sah den Mann die Hand mit dem Messer erheben und hörte ein Stöhnen – die eigene, plötzlich fremd klingende Stimme.

Das Spielzeug

istanbul, 1980er-jahre

Sie kamen an einem Freitag, spätnachts. Wie die Eulen warteten sie mit der Suche nach ihrer Beute, bis sich Dunkelheit über die Stadt gelegt hatte. Peris Mutter, die noch eine ihrer Spezialitäten gekocht hatte – langsam gegartes Lammfleisch mit Minze – und erst nach Mitternacht zu Bett gegangen war, hörte das Hämmern an der Haustür als Letzte. Als sie endlich wach und auf den Beinen war, durchwühlte die Polizei bereits das gemeinsame Zimmer ihrer Söhne. Wie um sich zu bestrafen, schlief Selma nach der Hausdurchsuchung nie wieder durch. Sie wurde selbst zu einem Wesen der Nacht.

Obwohl die Polizisten jede Kleinigkeit in Augenschein nahmen, ließ sich an ihrem Verhalten erkennen, dass es ausschließlich um Umut ging, den älteren Sohn. Sie ließen ihn in einer Ecke stehen und untersagten ihm, auch nur Blicke mit den anderen auszutauschen. Ihn in diesem Zustand zu sehen machte die siebenjährige Peri unendlich traurig, ja verzweifelt. Sie hatte es nie laut gesagt, aber Umut war ihr Lieblingsbruder. Groß gewachsen, mit braunen Augen, an deren Winkeln sich bei jedem Lächeln Fältchen bildeten, und einer breiten Stirn, die ihn ungewöhnlich klug für sein Alter wirken ließ. Wie Peri wurde auch er sehr schnell rot. Doch im Gegensatz zu ihr war er stets gut gelaunt und machte seinem Namen – »Hoffnung« – alle Ehre. Trotz des großen Altersunterschieds hatte er Peri immer nahegestanden, hatte ihre albernen Spiele aus Liebe mitgespielt und in ihren Geschichten bereitwillig den entführten Prinzen auf dem Piratenschiff oder den hinterhältigen Zauberer auf dem Berg Kaf verkörpert.

Mit Beginn seines Chemietechnik-Studiums hatte sich Umut zurückgezogen. Er ließ sich einen gewaltigen Walrossschnauzer wachsen und hängte Poster von Leuten auf, die Peri noch nie gesehen hatte. Eines zeigte einen Großvater mit grauem Rauschebart, ein anderes einen Mann mit Nickelbrille und offenem Gesicht, ein drittes einen mit wilder Mähne und dunklem Barett. Von einem weiteren Plakat blickte eine Frau mit hochgestecktem Haar und einem weißen Hut herunter. Auf Peris Frage antwortete Umut: »Der da ist Marx, und der hier Gramsci. Und der mit dem Barett, das ist der Genosse Che.«

»Ach so.« Die Namen sagten ihr nichts, aber die Inbrunst, mit der er sie aussprach, berührte sie. »Und die Frau?«

»Rosa.«

»Ich würde auch gern Rosa heißen.«

Umut lächelte. »Dein Name ist schöner, glaub mir. Aber wenn du willst, nenne ich dich Rosa-Peri. Vielleicht wirst du dann auch mal eine Revolutionärin.«

»Was ist eine Revolutionärin?«

Umut überlegte, wie er es verständlich machen sollte. »Das ist jemand, der dafür kämpft, dass jedes Kind Spielzeug hat, aber kein Kind sehr viel mehr als die anderen.«

»Aha …«, sagte Peri skeptisch. Die Erklärung hatte ihr zur Hälfte gefallen, zur anderen Hälfte nicht. »Wie viel ist sehr viel mehr?«

Umut strich ihr lachend übers Haar, und die Frage blieb unbeantwortet.

Diese Poster riss die Polizei nun von der Wand. Als es nichts mehr zu zerfetzen gab, wandten sie sich den Büchern zu, die allesamt Umut gehörten, denn sein Bruder Hakan war kein großer Leser. Das kommunistische Manifest von Karl Marx, Die Lage der arbeitenden Klasse in England von Friedrich Engels, Die permanente Revolution von Leo Trotzki, Von Mäusen und Menschen von John Steinbeck, Utopia von Thomas Morus, Mein Katalonien von George Orwell … Offenbar auf der Suche nach privaten Briefen und Aufzeichnungen blätterten sie sich gereizt und frustriert durch die Seiten, und obwohl sich nichts fand, wurden alle Bücher beschlagnahmt.

»Warum liest du diesen Dreck?« Der Einsatzleiter griff nach einem Buch – Der Kuss der Spinnenfrau – und fuchtelte damit vor Umut herum. »Du bist ein muslimischer Türke. Dein Vater ist ein muslimischer Türke, deine Mutter ist muslimische Türkin. Sieben Generationen reicht das zurück. Was willst du mit dem ausländischen Mist?«

Umut starrte auf seine nackten Füße und presste die rundlichen, sauberen Zehen zusammen.

»Wenn die verfluchten Westler ein Problem haben, dann ist es ihr Problem!«, fuhr der Mann fort. »Hier bei uns ist jeder glücklich. Hier gibt es keine Klassen. Wir wissen nicht mal, was das Wort bedeutet. Oder hast du schon mal jemanden fragen hören: ›Hey, aus welcher Klasse stammst du?‹ Garantiert nicht! Wir sind alle Muslime, und wir sind alle Türken, Punkt. Dieselbe Religion, dieselbe Nationalität, alles gleich. Was ist daran so schwer zu verstehen?«

Er trat nah an Umut heran und beugte sich zu ihm vor, als wollte er an ihm schnuppern. »Drei Mal hat das Militär in diesem Land die Macht übernommen, um dem Unsinn ein Ende zu bereiten, und jetzt kommt der Quatsch wieder hoch. Denkst du, wir lassen das zu? Deine Bücher sind voller Lügen. Reines Gift ist das! Vielleicht haben sie dich ja vergiftet!«

Umut schwieg.

»Ich habe dich etwas gefragt, du Schwachkopf!«, brüllte der Mann, dass sich die Nasenlöcher blähten. »Haben sie dich vergiftet, ja oder nein?«

»Nein«, flüsterte Umut kaum hörbar.

»Ich glaube schon.« Er nickte, wie um sich selbst zuzustimmen. »Du siehst mir jedenfalls ganz danach aus.«

Die Matratze, der Kleiderschrank, die Schubladen, selbst das Innere des Holzofens – kein Winkel blieb ungeprüft. Doch das Gesuchte schien nicht auffindbar zu sein, was ihre Wut nur verstärkte.

»Durchkämmt das ganze Haus, es muss hier versteckt sein!«, befahl der Einsatzleiter seinen Männern. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen und aschte achtlos auf den Boden.

»Entschuldigung«, sagte Mensur vorsichtig von der gegenüberliegenden Zimmerecke her, in der die restliche Familie warten musste. Sein dünn gewordenes Haar war zerzaust, der gestreifte Schlafanzug verknittert, und seine Füße steckten in Pantoffeln. »Was genau soll hier versteckt sein?«

»Wenn wir es finden, schiebe ich es dir in den Arsch. Du weißt es nämlich ganz genau!«

Peri, an der Hand des Vaters, zuckte zusammen, als sie die rüden Worte vernahm. Sie sorgte sich um Umut, der leichenblass geworden war.

Die Polizisten durchwühlten die anderen Zimmer, das Bad, die Toilette, die Speisekammer, in der die selbst getrockneten Okraschoten und die selbst eingelegten Gurken lagerten. Aus der Küche hörte man, wie Schubladen aufgerissen, Kisten durchstöbert, Besteck umhergeworfen wurde. Auf den eben noch so ordentlichen, mit Spitzenbesatz versehenen Holzborden herrschte das Chaos. Eine Stunde verging, vielleicht mehr. Draußen durchbrach ein schmaler Streifen Licht den bleigrauen Himmel wie ein Kinderzahn, der sich durch das rohe Fleisch bohrte.

»Was ist mit dem Mädchen?«, fragte der Einsatzleiter, schnippte die Kippe auf den Teppich und zertrat sie mit dem Absatz. »Habt ihr das Spielzeug durchsucht?«

Da schaltete sich Selma ein und sagte, den Blick auf den am Vortag gereinigten Teppich geheftet: »Das muss ein Missverständnis sein, efendim. Wir sind eine anständige Familie und gottesfürchtige Menschen.«

Ohne sie zu beachten, wandte sich der Mann an Peri.

»Wo sind deine Sachen, Kleine? Zeig sie uns mal!«

Peri riss die Augen auf. Warum interessierten sich alle für ihr Spielzeug, von dem sie nun wirklich nicht zu viel hatte? Erst die Revolutionäre, jetzt die Polizei. »Das sage ich nicht.«

Mensur, der Peri noch immer an der Hand hielt, schob seine Tochter hinter sich und murmelte: »Pssst! Lass sie ruhig nachsehen. Wir haben nichts zu verbergen.« Dann verkündete er an niemand Bestimmten gerichtet: »Ihre Sachen sind in einem großen Koffer unter ihrem Bett.«

Als der Einsatzleiter wenig später gefolgt von seinen Männern zurückkehrte, erschrak Peri weniger über den Gegenstand in seiner Hand als über seinen Gesichtsausdruck.

»Na, was haben wir denn da?«

Peri hatte noch nie eine Pistole gesehen. Anders als im Fernsehen war die hier so klein und niedlich, dass sie einen Moment lang glaubte, sie wäre aus Schokolade.

»In einer Wiege! Unter der Puppe! Wie praktisch!«

»Ich schwöre beim heiligen Koran, dass wir davon nichts wussten«, sagte Selma mit brüchiger Stimme.

»Sie nicht, Frau, aber Ihr Sohn.«

»Die gehört mir nicht.« Umut lief knallrot an. »Ich sollte sie nur ein paar Tage aufbewahren. Morgen wollte ich sie ihnen zurückgeben.«

»Wer ist ›ihnen‹?«, fragte der Einsatzleiter. Er wirkte sehr glücklich.

Umut holte zitternd Luft und fiel in Schweigen.

Von der nahen Moschee ertönte der Ruf des Muezzins. »Es gibt keinen Gott außer Gott. Das Gebet ist besser als der Schlaf.«

»Los, wir gehen!«, sagte der Einsatzleiter. »Nehmt ihn fest!«

Mensur, dessen Züge beim Anblick der Pistole erstarrt waren, rief: »Es gibt bestimmt eine Erklärung dafür. Mein Sohn ist ein guter Junge, er würde niemals einem Menschen etwas zuleide tun!«

Der Einsatzleiter, bereits auf dem Weg zur Tür, machte kehrt. »Immer derselbe Mist. Die Eltern passen nicht auf, die Kinder geraten an gottlose kommunistische Arschlöcher und kommen in größte Schwierigkeiten. Und wenn es zu spät ist, wird gejammert und gebettelt. Heul, heul! Warum macht ihr Idioten Kinder und kümmert euch dann nicht um sie? Schafft ihr es nicht, den Schwanz in der Hose zu lassen?«

Unvermittelt griff er an Mensurs Schlafanzughose, zog sie ihm bis zu den Knien hinunter und brachte eine blendend weiße, aber leicht abgenutzte Unterhose zum Vorschein. Einige Polizisten begannen zu kichern, die anderen gaben sich gleichgültig.

Peri spürte alle Kraft in der Hand ihres Vaters schwinden. Seine Finger wurden leicht, als würde das Blut daraus entweichen. Die Hand einer Leiche auf dem Seziertisch. Das Schweigen und die Scham ihres Vaters, den sie bewunderte, verehrte, liebte, ja vergötterte, seit sie ihr erstes Wort gesprochen hatte. Als Mensur die Hose zitternd wieder hochzog, waren die Polizisten bereits mit Umut verschwunden.

Sieben Wochen blieb Umut in Einzelhaft, sieben Wochen durfte die Familie ihn nicht sehen. Er wurde der Mitgliedschaft in einer verbotenen kommunistischen Organisation beschuldigt und hatte den Besitz der Waffe gestanden, nachdem er nackt und mit verbundenen Augen auf einem Bettgestell aus Metall mit Elektroschocks gequält worden war. Als man die Elektroden an seinen Hoden anbrachte und die Voltzahl verdoppelte, gab er zu, Kopf einer Zelle zu sein, die Anschläge auf Staatsbeamte geplant habe.

Der beißende Gestank verkohlter Haut, metallischer Blutgeruch, scharfer Uringestank, der nach Zimt riechende Kaugummi des Folterknechts. Wenn Umut ohnmächtig wurde, brachten sie ihn mit kaltem Wasser wieder zu Bewusstsein und schütteten eimerweise Salzwasser auf ihn, um die Leitfähigkeit zu erhöhen. Morgens versorgten die Polizeibeamten seine Verletzungen mit Salbe, um die Misshandlungen am Nachmittag fortsetzen zu können. Während er Umuts Wunden einrieb, beklagte sich der Folterer über das niedrige Gehalt und die langen Arbeitszeiten. Einmal jammerte er darüber, dass seine Tochter mit einem älteren Mann, einem verheirateten Vater, durchgebrannt war. Ein halbes Jahr später seien die beiden völlig pleite und verängstigt zurückgekommen. Am liebsten hätte er sie auf der Stelle umgebracht, habe sie dann aber doch verschont. Wie viele berufsmäßige Folterer behandelte der Mann seine Angehörigen gut, begegnete seinen Vorgesetzten mit Respekt und war zu allen anderen grausam.

Zwischen den Folterungen musste sich Umut die Schreie der anderen Gefangenen anhören, so wie sie sich seine anhören mussten. Ständig plärrte die Nationalhymne aus den Lautsprechern. Einmal vergaß man, ihm vor den Elektroschocks ein Handtuch in den Mund zu stecken – eine kleine Unachtsamkeit –, und er biss sich fast die Zunge durch. Lange blieb Essen für ihn eine qualvolle Prozedur; was er im Mund hatte, schmeckte er erst beim Herunterschlucken.