Der Geruch des Todes - Annemarie Ganal - E-Book

Der Geruch des Todes E-Book

Annemarie Ganal

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Beschreibung

Was, wenn dein Leben sich schlagartig in einen Albtraum verwandelt und du kannst nichts dagegen tun? Als Thomas Baumann beschuldigt wird, ein Mädchen seiner Klasse sexuell missbraucht zu haben und seine Frau spurlos verschwindet, wird er geradewegs in einen Abwärtsstrudel gezogen. Nichts ist mehr, wie es einmal war...

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Für Apfelopa

Für Mama

Um die Menschen um dich herum zu verstehen,

musst du bei dir beginnen.

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Einsam ist jeder Busch und Stein,

Kein Baum sieht den andern, Jeder ist allein.

Voll von Freuden war mir die Welt,

Als noch mein Leben licht war;

Nun, da der Nebel fällt,

Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,

Der nicht das Dunkel kennt,

Das unentrinnbare und leise

Von allem ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Leben ist Einsamsein.

Kein Mensch kennt den andern,

Jeder ist allein.

-Hermann Hesse, Im Nebel

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Prolog

Dezember 2024

Es war damals in der Zeitung gestanden. Wer es getan hat, ist bis heute unklar. Die Öffentlichkeit zerreißt sich seither das Maul darüber, sie spekulieren seit Jahren, wer etwas Derartiges tun würde, aber sie alle haben keinen blassen Schimmer. Ich weiß es ganz genau. Ich kenne den Namen, die Statur, die Haarfarbe, das Gesicht, das Alter, den Geburtstag und nur ich weiß, was in ihrem Innersten vor sich geht. Aber ich werde es niemandem, keiner einzigen auf diesem Planeten wandelnden Person erzählen, nicht einer. Ich werde schweigen, komme was wolle. Ich werde dieses Geheimnis mit ins Grab tief unter die Erde nehmen, mit zu den Würmern und Maden, den Käfern und dem restlichen Getier, das dort unten auf mich warten wird. Das Geheimnis und ich werden gemeinsam sterben, so, wie wir im Moment gemeinsam leben. Ich kann gut damit leben, also werde ich auch gut damit sterben können. Meine Mutter, die schon tot ist, hat einmal gesagt, dass ich es mit meiner Art nicht weit bringen werde. Doch das habe ich. Ich habe mehr geschafft, als sie sich vermutlich je hätte erträumen können. Nie hatte diese Frau an mich geglaubt, nie. Sie war immer der Meinung gewesen, ich würde irgendwann auf der Straße leben, würde mich von Müll ernähren, drogensüchtig werden und irgendwann erbärmlich auf der Straße verrecken. Heute kann ich mit Stolz sagen, dass sie unrecht hatte. Ich lebe nicht auf der Straße. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Mülleimer durchwühlt, außer ich habe versehentlich etwas fälschlicherweise weggeworfen. Ich habe noch nie Kontakt zu Drogen außer Alkohol gehabt und auf der Straße verrecken werde ich mit Sicherheit nicht, auch wenn ich darauf keinen großartigen Einfluss habe. Ich habe meiner Mutter also die Stirn geboten, habe mir mein Leben aufgebaut, wie ich es mir vorgestellt habe und bin ein Mensch geworden, den ich selbst mag. Es gibt also nichts, was ich noch zu erledigen habe. Ich habe mein Soll auf dieser Welt getan. Und deswegen werde ich gehen und nie mehr auf diese Welt zurückkehren. Ich werde meinem Leben ein Ende setzen, sodass niemals jemand mein Geheimnis, den Namen, erfahren wird. Niemand, niemand, niemand! Ein bisschen erinnert mich das an Rumpelstilzchen. Das Märchen mochte ich als Kind am liebsten, ich konnte es nicht oft genug hören. Auch, wenn meine Mutter es mir niemals vorlesen wollte, ich hatte irgendwann einen alten Kassettenrekorder, auf dem ich mir das Märchen des Rumpelstilzchens in Dauerschleife anhörte. Irgendwann, damals war ich vielleicht acht oder neun, brachte ich meine Mutter damit zur Weißglut und, weil sie so wütend war, warf sie meinen Kassettenrekorder kurzerhand aus dem Fenster auf die Straße, auf der er dann zerschellte und nicht mehr reparierbar war. Meine Mutter hatte ihn zerstört. Damals weinte ich das erste und auch das letzte Mal in ihrer Anwesenheit. Meine Mutter schlug mich so lange zusammen, bis ich aufhörte zu weinen. Erst dann, als die Tränen getrocknet waren und keine neuen nachflossen, ließ sie von mir ab. Ich hatte am ganzen Leib grüne und blaue und lila Flecken, mein Gesicht hatte einige Kratzer abbekommen und mein Auge schimmerte in allen möglichen Farben. Das war auch das letzte Mal, dass ich sie sah. Bis zu ihrem Todestag. Kurz bevor sie endlich elendig verreckte. Ich lege den Brief, den ich schon lange vorbereitet habe, auf das Bett und schließe die Türe des Schlafzimmers. Ich kann noch das Blut riechen, kann noch den Körper sehen. Ich gehe bedächtig in jedes einzelne Kinderzimmer, lasse die Bilder des letzten Tages Revue passieren.

1

01.10.2022

Ich schob meiner jüngsten Tochter gerade einen weiteren Löffel Brei in ihren kleinen Mund, als Thomas mit Marius die Treppen herunterkam. „Mama, Mama, ich hab schon was gemalt für dich!“, kam es aus dem Wohnzimmer. „Toll, Schatz, zeig mal“, rief ich, hörte dabei aber nicht auf, Valerie zu füttern. Thomas, mein Mann, legte inzwischen Marius das Latz um und setzte ihn in seinen Hochstuhl, der direkt neben dem von Valerie stand. „Serafina, Maus, kommst du frühstücken?“ Keine drei Sekunden später kam unsere Älteste schon um die Ecke gesaust, in der Hand hielt sie ein Blatt Papier, auf dem einige bunte Striche zu sehen waren.

„Schau“ Sie hielt uns das Bild vor die Nase und grinste dabei stolz. „Wow, schön!“ Thomas tat, als hätte er noch nie etwas Schöneres gesehen, sah mich dabei kurz an und lächelte. Wie sehr ich diesen Mann liebte. Und die Kinder erst. Unsere kleine Familie war ein Traum, der in Erfüllung gegangen war. Als vor fünf Jahren Serafina auf die Welt kam, hatte ich das Gefühl, es gäbe nichts, rein gar nichts, was dieses Glück übertreffen könnte. Dann wurde ich ein zweites Mal Schwanger. Mit Marius. Das war vor drei Jahren. Das Glück, diese Wärme, die ich spürte, war wie eine Explosion. Wieder war ich selbst erstaunt darüber, dass es überhaupt möglich war, solche Gefühle zu spüren. Ich konnte mein Glück kaum fassen, wollte, dass es nie wieder endet. Ich wollte es einfangen, in ein Glas sperren, um immer wieder etwas davon spüren zu können. Aber da merkte ich, dass das überhaupt nicht nötig war, denn das Glück, die Wärme, dieses Gefühl, das ich so unbedingt behalten wollte, blieb.

Immer, wenn ich eines unserer Kinder ansah, durchströmte es mich. Und dann wurde ich das dritte Mal schwanger. Vor zwei Jahren bekamen wir dann Valerie und wieder empfand ich eine Steigerung dieses unglaublich starken Gefühls des Glückes und der Liebe. „Wir müssen langsam los“, riss Thomas mich aus meinen Gedanken. Ich nickte, gab Valerie einen letzten Löffel ihres Breis, dann stand ich auf, brachte die Schüssel in die Spülmaschine und hob meine jüngste Tochter aus ihrem Hochstuhl. Ich stellte sie auf ihre kleinen, wackeligen Beinchen und zog ihr das Lätzchen aus. Serafina war schon wieder aufgestanden und stellte ihre Müsli-Schale selbstständig in die Spülmaschine. „Danke, Seri“, sagte ich zu ihr, begann die restlichen Tassen und Gläser einzuräumen.

Als auch Marius aufgegessen hatte, nahm ich ihn mit in den Flur zur Garderobe, sodass Thomas sich in Ruhe einen Kaffee herauslassen und Frühstücken konnte. Ich zog die beiden Jüngeren an, Serafina bekam das meiste schon ziemlich gut ohne Hilfe hin. „Iii Kindagaten?“, nuschelte Valerie und brachte mich damit zum Lachen. „Jaaa, du gehst jetzt in den Kindergarten“ Ich zog den Reißverschluss ihrer Jacke hinauf, dann setzte ich sie auf die kleine Bank hinter ihr und zog ihr ihre Turnschuhe an. Immer wieder versuchte sie, den Schuh abzustrampeln, was ihr glücklicherweise nicht gelang. Als alle drei fertig angezogen waren, ging ich zurück in die Küche, schnappte die drei Brotbüchsen, die ich hergerichtet hatte und die Trinkflaschen und steckte jede einzeln in einen Rucksack. Draußen wollte Serafina ihren Rucksack selbst tragen, die beiden anderen hatte ich über die Schulter gehängt. Valerie nahm ich auf den Arm, in der anderen Hand hatte ich meine Handtasche und den Autoschlüssel. „Los geht’s!“, sagte ich und Serafina öffnete ganz langsam die Türe. „Tschüss, Schatz! Bis gleich dann!“, sagte ich im Gehen noch. „Viel Spaß, meine Mäuse!“ Er kam zur Türe und gab jedem einzelnen unserer Kinder ein Bussi auf die Stirn. Auch ich bekam einen sanften Kuss auf die Wange gehaucht. Im Auto setzte ich die drei in ihre Kindersitze und fuhr dann los in den Kindergarten.

Im Kindergarten brachte ich die Drei nach drinnen, redete kurz mit der Kindergärtnerin, dann fuhr ich wieder zurück nachhause. „Wann musst du heute los?“, fragte ich Thomas, als ich mich zu ihm an den Tisch setzte. „Ich hab erst zur dritten Stunde heute, also erst in einer halben Stunde“, murmelte er, kam zu mir herüber und massierte mir den Nacken. Seine weichen Hände fuhren betont langsam auf und ab. Ich bekam eine Gänsehaut. „Aha, das heißt wir haben noch ein bisschen Zeit zu zweit?“, flüsterte ich, beugte mich zu ihm nach oben und gab ihm einen Kuss. Seine Zunge neckte meine, seine Hände wanderten tiefer, unter mein T-Shirt, unter meinen BH. Er umschloss meine Brüste, fuhr noch tiefer. Vorsichtig legte ich meine Hände um seinen Hals, eine Hand griff in seine kurzen Haare. Sanft zog ich an ihnen, drückte seinen Kopf wieder tiefer. Seine Zunge wanderte an meinen Hals. Ein leises Seufzen entfuhr mir, als seine Hand in meinen Schoß wanderte. Er kam zu mir vor, hob mich grob und gleichzeitig liebevoll vom Stuhl hoch. Meine Beine schlang ich um seinen Körper…

„Ich liebe dich“, sagte Thomas, als er eine halbe Stunde später zur Tür hinaus ging. „Ich liebe dich auch“, erwiderte ich und gab ihm einen letzten Kuss, bekam einen Klaps auf den Po und dann ging er. Thomas arbeitete in einer Realschule nicht weit von hier als Deutsch- und Geschichtslehrer. Seufzend lehnte ich mich von innen an die Haustüre, dachte an den Sex, daran, dass es schon viel zu lange her gewesen ist, dass wir uns das letzte Mal so berührt hatten. Seitdem wir Kinder hatten, blieb unser Sexleben ein wenig auf der Strecke, aber eigentlich machte mir das nicht wirklich viel aus. Ich hatte nicht das Bedürfnis, jeden Tag mit meinem Mann zu schlafen, das hatte ich schon vor den Kindern nicht gehabt. Trotzdem hatte ich manchmal das Gefühl, dass es unsere Beziehung beeinflusste. Es war ein dunkler Fleck auf unserem sonst weißen Band der Familie und natürlich hatte ich Angst, er könnte dieses Band zerstören. Ich erwartete es fast, dass es nicht für immer so schön bleiben würde. Irgendwann würde irgendetwas passieren und unser kleines Glück, unser wunderschönes Familienleben, das wir so mühsam aufgebaut hatten, zerstören. Aber vielleicht war ich auch einfach paranoid und hatte zu viele Bücher gelesen. Aber was, wenn dem nicht so war?

2

„Ey, Fiona! Was haben wir jetzt?“, rief ich meiner Freundin hinterher, die schon mindestens zwei Meter vor mir den Gang entlangging. „Deutsch“, sagte sie nur ohne mich überhaupt anzusehen. Sie blieb nicht Mal stehen. „Was hast du eigentlich schon wieder?“, fragte ich sie direkt, als ich endlich bei ihr ankam. „Nichts, wieso?“ Sie starrte mich nur an, ohne ihr Gesicht zu verziehen. „Kein Plan, du bist so kurz angebunden heute“ Ich sah Fiona forschend an, versuchte eine Veränderung in ihrem Gesicht zu erkennen, aber es regte sich nichts. „Bin nur müde, mehr nicht“, sagte sie dann, drehte sich um und ging ins Klassenzimmer zu ihrem Platz, der direkt neben meinem war. „Loreeeeeen!“, kreischte Timo mir zu und begann laut zu lachen. „Was?!“ Ich sah ihn zwei, drei Sekunden wütend an, dann folgte ich Fionas Beispiel und ging zu meinem Platz. Im Klassenzimmer herrschte ein einziges Chaos, alle schrien durcheinander und überall flogen Papierschnipsel und Stifte durch die Gegend. Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. In dem Moment kam Herr Baumann durch die Türe, warf einen kurzen Blick durch dir Klasse und ging dann zum Pult, um seine Tasche abzustellen. „Morgen“, sagte er laut. Einige murmelten zurück, andere sahen nicht einmal zu ihm.

„GUTEN MORGEN“, sagte er, dieses Mal so laut, dass einige zusammenzuckten. Auf einen Schlag war es ruhig. Ich fand diesen Mann anziehend. Er hatte irgendetwas an sich. Diese sanfte, grobe Art gefiel mir und ich konnte nicht anders, als daran zu denken, wie es wäre, wenn er mich küssen würde.

Wenn er mich ausziehen würde. Er war noch ziemlich jung, gerade 29. Am liebsten wäre ich sofort mit ihm irgendwo verschwunden und hätte mich von ihm von hinten nehmen lassen. Ich versuchte den Gedanken wegzuschieben, denn ich musste mich konzentrieren. Ich musste ihn beeindrucken, seinem Unterricht folgen und mich so oft melden, wie ich nur konnte. Die beiden Stunden vergingen wie im Flug und ich hatte mich so gut wie immer gemeldet. Die Brüste hatte ich dabei immer nach vorne gereckt. Drangenommen hatte er mich zwar nicht immer, aber er sah begeistert aus. Begeistert davon, dass ich so engagiert war. Begeistern von mir. Am Ende der Stunden takelte ich zu ihm nach vorne ans Pult.

„Herr Baumann?“, fragte ich in einer Stimmlage, die zugleich sexy und neugierig klang. „Ja, was brauchst du Loreen?“ Er sah mich nur kurz an, packte dann weiter seine Sachen zusammen. „Ich würde gerne kurz unter vier Augen mit Ihnen sprechen, wäre das möglich?“, fragte ich. „Klar, kommst du mit hoch, dann gehen wir in den Besprechungsraum?“ Ich nickte ihm zu und wartete, bis er alles hatte und nach oben ging. Während ich hinter ihm die Treppen hinaufstieg, konnte ich den Blick nicht von seinem Po lassen. Er war so fest und kam in seiner Jeans gut zur Geltung. „So, was brauchst du denn?“, fragte Herr Baumann, als wir uns Gegenüber saßen. „Ich… Nun, ich hätte gerne Nachhilfestunden“, sagte ich mit einer gewissen Schwingung in der Stimme. „In Deutsch?“ Er runzelte die Stirn, sichtlich verwirrt. „Nein, eigentlich hatte ich dabei an etwas anderes gedacht“ Ich spielte mit meinen Haaren, streckte die Brust raus und zog sogar das Shirt ein Stück nach unten, sodass meine Brüste etwas mehr zu sehen waren. „Ähm…? Und an was?“ Er hatte es gecheckt, wollte es aber nicht zugeben, das konnte ich sehen. „Oh… Naja, ich würde gerne meine körperlichen Bedürfnisse mit Ihnen gemeinsam stillen, wenn Sie verstehen, wie ich das meine…“ Am liebsten hätte ich mich auf seinen Schoß gesetzt, seinen harten Schwanz geritten, doch das traute ich mich dann doch nicht. „Loreen, du bist meine Schülerin und ich dein Lehrer, ich werde keinesfalls mit dir schlafen oder ähnliches tun, das wird nie passieren! Außerdem bin ich sehr glücklich verheiratet und habe drei wunderbare kleine Kinder!“ Mit diesen Worten stand er auf und ging. Er ließ mich allein in dem kleinen Raum sitzen. Ich seufzte enttäuscht. Ich hatte nicht damit gerechnet eine Abfuhr zu erhalten und wusste auch nicht, dass er verheiratet war und sogar Kinder hatte. Nach einigen Sekunden stand ich auf, ging nach draußen und sah mich kurz um, ehe ich wieder nach unten ging. Ich wollte diesen Mann. Nur er wollte mich nicht und das gefiel mir so gar nicht. Ich musste ihn irgendwie dazu bringen mit mir zu schlafen… Nur wie sollte ich das anstellen?

3

Als ich nach diesem Tag nachhause kam, waren die Kinder schon im Bett. Ich fand das ziemlich schade, aber ich hatte es ja gewusst, als ich mich dazu entschieden hatte, mit ein paar Kollegen noch etwas trinken zu gehen. Ich hatte Anja eine kurze Nachricht geschrieben, dass ich etwas später kommen werde und sie mit dem Essen nicht warten solle. Ich wusste zwar, dass Anja es nicht leiden konnte, wenn ich nicht zum Essen da war, weil es meistens die einzige Gelegenheit bot, gemeinsam am Tisch zu sitzen und zu reden, aber nachdem, was heute passiert war, war die Aussicht auf ein paar Bier zu verlockend, um abzulehnen. Ich ging leicht schwankend und benommen in die Küche, nahm eines der Ikea-Gläser aus dem Schrank und füllte es mit Leitungswasser. In wenigen Zügen leerte ich es und stellte es in die Spülmaschine, dann machte ich mich auf den Weg nach oben ins Bad. Dort putzte ich mir die Zähne, einerseits weil ich den Geschmack von Alkohol wegbekommen wollte, andererseits weil ich wusste, dass es eine Sache gab, die meine Frau noch weniger leiden konnte als die Tatsache, dass ich abends nicht zum Essen kam. Und das war, wenn ich zu viel Alkohol trank.

„Thomas?“, kam es aus dem Schlafzimmer. Das klang gar nicht gut. Sie sagte nur dann meinen Vornamen, wenn sie sauer war. „Ja, bin im Bad“, antwortete ich demütig. Ich konnte die Schritte draußen im Flur hören, dann stand sie in der Tür, die Hände hatte stemmte sie in die Hüften. „Was soll das?“, fragte sie, ihre Augen funkelten mich wütend an.

„Was?“ Falsche Tonlage. Mist. „Ich sitz hier allein zuhause, mach alles allein und du betrinkst dich bis Mitternacht mit deinen Kollegen? Du weißt genau, dass ich es hasse, wenn wir allein essen müssen und ich alles machen muss… Ich kann nicht Mal eben mit meinen Freundinnen ein Bier trinken gehen, weil ich mich um die Kinder kümmern muss… Das ist nicht fair.“ Ich weiß, dass sie recht hat. Ich weiß es und trotzdem lodert eine Wut in mir auf, die ich, dank des Alkohols, nicht zu bändigen weiß. „Das war jetzt ein einziges Mal. Ich hatte eben einen schlechten Tag und war froh, ein wenig Ablenkung zu bekommen. Ich kann doch auch nichts dafür, dass du deine Freundinnen nie triffst… Du solltest auch Mal wieder unter Leute gehen, du vereinsamst hier in diesem Haus noch, wenn das so weiter geht!“ Anjas Augen begannen zu glänzen, etwas in ihrem Blick veränderte sich. Sie war verletzt, das konnte ich spüren. Im nächsten Moment drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand.

Ich hörte ihre schnellen Schritte die Treppe hinunter gehen.

„Mist!“, fluchte ich leise vor mich hin und starrte in den Spiegel. Wütend funkelte ich mein Spiegelbild darin an, bevor ich ihr folgte. Unten sah ich, dass sie den Wein geöffnet hatte, die Terassentür war geöffnet. Als ich in die stille Nacht hinaustrat, saß Anja am Tisch, rauchte eine Zigarette und trank Wein. „Wieso rennst du immer gleich davon?“, fragte ich. Sie würdigte mich keines Blickes, antwortete auch nicht.

Sie zeigte keinerlei Reaktion auf meine Frage, weswegen ich mich zu ihr an den Tisch setzte und sie einfach nur ansah. Ich liebte diese Frau, das wusste ich, aber sie konnte so stur wie ein Esel sein. Manchmal war sogar ein Esel im Gegensatz zu ihr noch einsichtiger. „Anja…“ Keine Antwort, nach wie vor.

Da sie mich sowieso ignorierte, ging ich wieder hinein, holte mir von oben eine Decke und ein Kissen und wanderte damit bepackt ins Wohnzimmer, wo ich es mir auf der Couch bequem machte. Lange Zeit lag ich einfach nur da, starrte Löcher in die Decke über mir und fragte mich, ob ich es zu weit getrieben hatte. Vielleicht hätte ich mich einfach entschuldigen sollen und wir hätten miteinander geschlafen und die Sache hätte sich. Aber jetzt schlief ich wütend auf dem Sofa und sie saß allein draußen im Dunkeln und betrank sich. Genau in dem Moment, als ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, ging die Terassentür auf und Anja kam herein, schloss die Tür aber nicht hinter sich. Sie ging nur zum Tisch, nahm die darauf stehende Weinflasche, holte aus dem Kühlschrank eine Zweite und verzog sich wieder nach draußen. Sie hatte keinen einzigen Blick an mich verschwendet. Keinen. Womit hatte ich das verdient? Ich konnte eine gefühlte Ewigkeit nicht einschlafen, ständig wanderten meine Gedanken zu meiner Frau. Dann wanderten sie zu meiner Schülerin, die mir heute ein Sex-Angebot gemacht hatte. Eigentlich sollte ich Anja auch davon erzählen, aber solange sie sich so aufführte, konnte sie das vergessen. Ich hasste es, wenn wir stritten, und trotzdem wollte ich nicht derjenige sein, der angekrochen kam. Nein, dieses Mal nicht! Irgendwann döste ich immer wieder vor mich hin, schreckte einige Male hoch, sah mich um, nur um gleich wieder einzuschlafen.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, erschrak ich zu Tode, als ich merkte, dass ich auf dem Sofa lag, was zur Folge hatte, dass ich um ein Haar vom Sofa geflogen wäre. Ich sah auf die Küchenuhr, die in meinem Blickfeld hing und stöhnte, als mir bewusstwurde, dass ich gerade Mal vier läppische Stunden Schlaf abbekommen hatte. Es war fünf Uhr und draußen war es noch dunkel, was typisch für diese Jahreszeit war. Ich begann mich zu strecken, schlug die Decke nach hinten und stand langsam auf. Mein Kopf fühlte sich bleischwer an. Langsam tappte ich barfuß in die Küche hinüber, zog eine der Schubladen auf, in denen Anja Medikamente aufbewahrte und suchte nach Kopfschmerztabletten. Als ich sie gefunden hatte, drückte ich sie aus dem Blister und warf sie in den Mund, dann trank ich einen Schluck Wasser aus dem Wasserhahn, um nachzuspülen. Ich sah mich um. Wo sind die leeren Weinflaschen? Stehen die noch draußen? Als ich zur Terassentür kam, war die noch immer offen. Sag nicht, die saß die ganze Nacht draußen… Ich öffnete die Tür und sah eine leere und eine halbleere Flasche auf dem Tisch stehen, der Aschenbecher war randvoll, das Glas beinhaltete einen letzten Schluck. Die Zigarettenschachtel lag daneben. Aber nirgends war eine Spur von Anja. Ich ließ den Blick durch den Garten schweifen, suchte alles ab, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Vielleicht hatte sie genug und ist ins Bett gegangen…? Vielleicht hat sie die Sachen nur vergessen…? Aber sie hatte noch nie vergessen, die Flaschen aufzuräumen, die Tür zu schließen... Noch nie. Vielleicht war sie auch aus Versehen eingeschlafen… Irgendwie kam mir die ganze Situation nicht richtig vor, etwas stimmte nicht, das konnte ich fühlen. Aber was? Ich ging wieder rein, suchte mein Handy und rief sie, als ich es gefunden hatte, an.

Nichts. Es tutete nicht Mal. Es sprang sofort die Mailbox an.

Komisch… Ich rief ihr ihre beste Freundin an, die nach dem dritten Klingeln dran ging. Sie klang noch ziemlich verschlafen, was mich nicht wirklich wunderte, aber auch nicht störte. „Hey, ich bins, Thomas! Du, ist Anja bei dir?“ Ich kam direkt zur Sache, wollte nicht lange drum herumreden.

„Nee, sorry, ist sie weg?“, kam es aus dem Hörer. Marie klang mit einem Mal schon etwas wacher. „Ja, also ich weiß es nicht genau… tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken“, antwortete ich und legte auf, ohne abzuwarten, ob sie noch etwas sagen wollte. Kurz überlegte ich, ihre Schwester anzurufen, doch dann wurde mir klar, dass Anja nie zu ihrer Schwester ging, wieso sollte sie dann auf einmal damit anfangen? Nur weil wir stritten? Nein, das klang nicht nach Anja. Das würde sie nicht machen. Man konnte viel über sie sagen, aber an ihre Prinzipien hielt sie sich gnadenlos. Ratlos stand ich da. Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Inzwischen war es sechs Uhr und die Kinder würden jeden Moment aufwachen, was bedeutete, dass ich ihnen irgendwie erklären musste, wieso ihre Mutter nicht da war.

Sie hatten seit ihrer Geburt nicht einen einzigen Morgen ohne sie verbracht, genau wie ich auch nicht. Ich war völlig überfordert ohne Anja. Ich kam ja nicht Mal einen einzigen Tag ohne sie klar, wie sollte ich je allein klarkommen? Ich konnte sie nicht verlieren… Ich durfte nicht. Plötzlich bekam ich Angst. Angst, sie verloren zu haben. Angst, allein da zu stehen. Angst, ihr könnte etwas zugestoßen sein… Ich fuhr mit den Händen über mein Gesicht, merkte, dass meine Augen feucht wurden. Ich weinte. Ich weinte sonst nie. Aber was sollte ihr zugestoßen sein? In unserem Garten? Hier auf dem Dorf am Arsch der Welt? Hier, wo jeder jeden kennt und jeder über alles Bescheid wusste. Wahrscheinlich hatte das halbe Dorf schon erfahren, dass Anja und ich uns gestritten hatten und vermutlich waren einige Omas schon an unserem Haus vorbeigelatscht, um zu sehen, ob Anjas Auto noch vor dem Haus stand… Ihr Auto! Ich schlug mit der flachen Hand gegen meine Stirn und rannte fast schon aus dem Haus.

Wieso hatte ich daran nicht schon viel früher gedacht? Ich reiße die Tür auf und gehe ums Eck zu unserem Carport.

Nichts. Nur mein eigener Wagen steht da. Erleichterung macht sich in mir breit. Sie ist mit dem Auto weg. Von drinnen höre ich Kindergeschrei. Seufzend mache ich mich auf den Weg nach oben, um die Kinder fertig zu machen.

4

„Morgen“, murmelte ich, als ich die Tür zum Kindergarten aufstieß. Neugierige Blicke lagen auf mir. Ich konnte förmlich spüren, wie die Fragen in ihren Köpfen aufloderten. Was ist bei denen los? Wieso bringt der Vater die Kinder, der war doch noch nie da? Haben die Baumanns sich etwa gestritten? Am liebsten wäre ich rückwärts wieder aus dem Raum gerannt, doch ich musste die Kinder herbringen. Was tat man(n) nicht alles für seine Kinder? Außerdem hatte ich mir die perfekte Ausrede zusammengereimt, die ich auch den Kindern erzählt hatte, sodass sie im Kindergarten auch nichts anderes erzählen würden, sollten sie von neugierigen Kindergärtnerinnen nach Mama gefragt werden. „Guten Morgen, Thomas! Ist ja schön, dass du Mal vorbeischaust!“ Bamm! Der erste Vorwurf. Ich zwang mich zu lächeln. „Ja, finde ich auch“, sagte ich nur und begann die Kinder auszuziehen. „Mama ist krank!“, kam es da schon von Serafina. „Oh, was hat Anja denn, dass sie ihre Kinder nicht selbst herbringen kann?“ Das war der nächste und übernächste Vorwurf. Super! Diese Frau wusste, wie man jemandem ein schlechtes Gewissen verpasste. „Sie musste sich die halbe Nacht übergeben, vermutlich eine Lebensmittelvergiftung… Sie ist heute Morgen losgefahren ins Krankenhaus“ Ich zuckte mit den Schultern, während ich Marius Schuhe abstellte. „Dann richte ihr doch bitte gute Besserung von mir aus und sag ihr, dass wir nächste Woche eine Verkleidungswoche haben“ Mit jedem Satz, den sie sagte, wurde ich wütender. Ich nickte nur, gab meinen drei Mäusen ein Bussi und verschwand dann mit einem überfreundlichen „Tschüss, schönen Tag euch!“. Draußen musste ich erst einmal Luft holen. Aus irgendeinem Grund hatte ich in diesem Raum vergessen zu atmen. Ich musste Anja finden. Aber wie? Ich warf einen kurzen Blick auf mein Handy, sah, dass ich in zehn Minuten beim Arbeiten sein sollte und beschloss kurzerhand mich krank zu melden. Ich tätigte den nötigen Anruf während des Heimweges und hoffte, dass nirgends die Polizei stehen würde. Zuhause trank ich drei Tassen Kaffee, dann begann ich in der Küche auf- und abzutigern. Irgendwann, nachdem ich alle möglichen Horrorszenarios im Kopf durchgegangen war, schnappte ich den Schlüssel und fuhr mit dem Auto los. Ich wollte die Landstraßen entlangfahren, vielleicht hatte sie irgendwo angehalten und war im Auto eingeschlafen… Ich war gerade 10 Minuten unterwegs, da klingelte mein Handy. Panisch griff ich danach, wobei es unter den Sitz rutschte. „Fuck!“,

rief ich, bremste ab und fuhr an den Straßenrand. Der Wagen hinter mir musste abrupt bremsen und hupte mich an, doch ich ließ mich davon nicht beeindrucken. Mit zittrigen Händen griff ich unter den Sitz und tastete nach meinem Handy. Als ich es in der Hand hielt, hatte der Anrufer natürlich schon längst aufgelegt. Die Nummer kam mir jedoch nicht bekannt vor. Einige Minuten wartete ich, dass noch einmal angerufen wurde, was jedoch nicht geschah, dann rief ich zurück. Eine weibliche Stimme, die ich noch nie in meinem Leben gehört hatte, drang aus dem Hörer. „Hallo? Herr Baumann, sind Sie das?“, fragte sie. Woher kannte diese Frau meinen Namen? Woher hatte sie meine Nummer? Und, was noch viel wichtiger war: Was wollte sie von mir? „Ähm… Hallo? Ja, der bin ich und wer sind Sie?“ Kurze Pause. „Oh, Verzeihung, Frieda Hopf mein Name! Ich habe sie versucht zu erreichen, Sie sollten zu mir kommen! Jetzt! Ich wohne in der Dorfstraße 13 im Oberdorf.“

Damit hatte sie aufgelegt. Verdattert starrte ich auf mein Handy, als hätte es mich gerade angesprungen. Ich gab die Adresse in mein Navi ein und fuhr los. Eine halbe Stunde später parkte ich den Wagen vor einem alten, windschiefen Haus, dessen Tür offenstand. Auf der rechten Seite des Häuschens, das ich in Gedanken als „Hexenhaus“ bezeichnete, schloss ein großer Garten an, der völlig überwuchert war. Er wurde von einem alten, drahtigen, hohen Zaun umgeben. Auf der linken Seite waren zwei Stellplätze aus Kies, auf denen jedoch kein Auto stand. Nun, jetzt stand mein eigenes dort. Dahinter befand sich ein riesiger, dunkler Wald. Mein Herz schlug kräftig gegen meine Brust. Ich musste mich zwingen, die kleine Steintreppe, die zur Haustür führte, hinaufzugehen.

„Hallo?“, rief ich laut. „Herr Baumann! Kommen Sie, kommen Sie!“ Die kleine Frau, die bestimmt schon um die 80 sein musste, war aus dem Nichts aufgetaucht. Am liebsten wäre ich einfach wieder ins Auto gestiegen und nachhause gefahren, doch die Neugier trieb mich dazu, mit ihr ins Haus zu gehen. Überall brannten Kerzen, es roch nach Thymian und Salbei und es schien kein elektrisches Licht zu geben.

Von den Möbeln konnte ich nur die Umrisse erkennen, die Kerzen warfen nicht genug Licht. Ich wurde von der Frau in ein kleines, etwas helleres Zimmer geführt. Auf dem Boden lag ein riesiger, runder Teppich, auf dem ein kleiner Hocker mit einer Klangschale stand. Daneben lagen irgendwelche undefinierbaren Gegenstände. „Setzen Sie sich, los, keine Angst“, raunte die Frau. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte machen sollen, also folgte ich ihrem Befehl und setzte mich.

Sie setzte sich mir gegenüber, schloss die Augen und begann irgendwelche Laute von sich zu geben. Wäre das alles nicht so gruselig, hätte ich glatt gelacht. Ich hatte noch nie an irgendwelche übernatürlichen Praktiken geglaubt und würde auch jetzt sicher nicht damit anfangen! „Ihrer Frau wird grausames zustoßen. Sie müssen sich von ihr lösen, bevor es zu spät ist…“, murmelte sie auf einmal. Augenblicklich bekam ich eine Gänsehaut. Auch wenn ich wusste, dass sie solche Dinge nur erfand, mischte sich ein ungutes, mulmiges Gefühl in mein tiefstes Inneres. Angst. Ich hatte Angst. Ohne ihr weiter zuzuhören, stürzte ich aus dem Haus. In meinem Wagen zitterte ich am ganzen Körper, außerdem schlug mein Herz so laut, dass es wahrscheinlich selbst die Hexe im Haus noch hören konnte. Ich bemerkte einen Schatten an der Tür, sah ihren Kopf zu mir herübersehen. Mein Puls beschleunigte sich sofort, doch die Frau hob nur die Hand und winkte, dabei lächelte sie, als wäre sie nur eine nette Oma, die ihrem Sohn gerade einen 50-Euro-Schein in die Hand gedrückt hatte und ihn gemahnt hatte, sich etwas Gescheites davon zu kaufen. Ich startete den Wagen, fuhr los, merkte, dass es die falsche Richtung war und ich gerade in den Busch vor mir fuhr, stieg erschrocken auf die Bremse und legte den Rückwärtsgang ein. Ich spürte, dass mir immer heißer wurde, mein Kopf musste schon hochrot sein. Mit Schwung fuhr ich auf die Straße, blickte noch einmal kurz zurück. Die Frau stand noch immer in der Türe und starrte mich an. Schnell wand ich den Blick ab und raste durch den Wald davon, obwohl ich aus der anderen Richtung gekommen war. Egal.

Scheißegal. Hauptsache weg hier. Was zur Hölle war das?

Wieso genau heute, wo Anja nicht da ist? Mein Puls raste auch eine viertel Stunde später noch, als ich schon viele Kilometer zwischen mich und das Hexenhaus gebracht hatte.

Ich war nervlich am Ende. Woher hatte diese Frau meine Nummer? Ich drehte die Musik so laut, dass meine Ohren zu klingen begannen, versuchte so, meine Gedanken zu übertönen. Ich schaltete auf CD um. Sofort schlug die Musik um. Anstatt irgendeines Nullachtfünfzehn-Sängers, der über seine gescheiterte Liebe zu seiner fünfzehnten Freundin sang, drang nun Rammstein an mein Ohr. Lange hatte ich die CD nicht mehr gehört, weil Anja die Musik hasste und sie außerdem der Meinung war, dass es mit Kindern keine gute Idee wäre, solch umstrittenen Lieder einer so „rechten“ Band zu hören. Es würde keinen guten Eindruck machen, hatte sie gesagt. Ich hatte versucht ihr daraufhin zu erklären, dass ein Mensch nicht automatisch rechts eingestellt sein musste, nur weil seine Aussprache des „R“ rollend war, doch sie hörte mir nicht zu. „Diese Musik hörst du nicht, wenn ich oder eines der Kinder anwesend ist und basta!“ Die Worte klangen noch in meinen Ohren. Unwillkürlich musste ich lächeln.

Anja. Wo war sie nur? Ich nahm mein Handy, das auf dem Beifahrersitz lag und wählte ihre Nummer. Wieder tutete es nicht einmal. Wieder ging nur die Mailbox ran. Wieder legte ich auf. Dann versuchte ich es erneut. Immer wieder. Ich versuchte es so lange, bis ich völlig erschöpft zuhause vorfuhr. Müde rieb ich mir die Augen, stieg aus und ging nach drinnen. In der Küche sah ich mich unschlüssig um, begann die Überreste des Frühstückes aufzuräumen. Als ich damit fertig war, ging ich ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Ich setzte mich auf mein provisorisches Nachtlager, zappte durch die Kanäle, fand jedoch nichts, was mir zusagte und schaltete die Kiste wieder aus. Die Fernbedienung warf ich neben mich. Meine Augen brannten und erst jetzt konnte ich spüren, dass mein Magen knurrte und mich daran erinnerte, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Weil ich aber keinen Hunger hatte, entschloss ich mich dazu, lieber duschen zu gehen. Kurz darauf stand ich unter dem heißen Strahl der Dusche, das Wasser prasselte auf meinen Rücken, den Kopf. In Gedanken ging ich immer wieder den gestrigen Abend durch. Ich hätte mich entschuldigen sollen, dann wäre es nie so weit gekommen… Niemals. Ich trug die Schuld dafür, dass sie verschwand. Ich ganz allein. Niemand sonst. Ich drängte die Gedanken weg, versuchte sie irgendwo ins Innerste meines Gehirns zu verbannen, doch sie kamen immer wieder. Es war zum Verrückt-werden.

5

„Fiona?“, sagte ich, als ich mit meiner besten Freundin vor dem Schultor stand. Sie biss gerade von ihrem Brot ab, kaute und nickte dabei. „Ja?“ „Ich muss dir was erzählen…“, begann ich, stockte kurz. „Du hast ja gemerkt, dass Herr Baumann nicht da ist… Es… Ich glaube, ich weiß, wieso…“, sagte ich mit gespielt zittriger Stimme. Ich drückte die Tränen in meine Augen, ließ meine Lippe zittern, dann dachte ich daran, wie es war, als mein erster Hund gestorben ist und versuchte so, meinem Auge eine Träne zu entlocken. Es dauerte eine Weile und benötigte viel Konzentration, doch irgendwann rann eine einzelne Träne über meine Wange.

„Was ist denn passiert?“, fragte Fiona sofort, legte einen Arm an meine Schulter. Hatte sie mich je Weinen sehen? Ich glaube nicht. „Ich… Er…“, stotterte ich nur. Dann legte ich mein Gesicht auf ihre Schulter. Sie durfte nicht sehen, dass ich nicht wirklich weinte. „Loreen, ich mein es ernst, wenn er dir etwas angetan hat, musst du es sagen…“ In ihrer Stimme schwang ehrliche Besorgnis mit. Ich nickte. Vorsichtig, ganz langsam hob ich den Kopf und sah sie an. „Ja, Fiona, er hat mich angefasst…“ Ich starrte auf die Wand hinter meiner Freundin, ließ sie nicht mehr aus den Augen. Eine solche Reaktion hatte ich bei meiner Schwester einmal gesehen, als sie geweint hatte. Sie hatte nicht mehr viel geredet und nur noch vor sich hingestarrt. Vermutlich hätte man in dem Zustand alles mit ihr machen können… Und genau das musste ich jetzt nachspielen. Fiona nahm meine Hand und führt mich nach drinnen. „Wir gehen zu Frau Berg“, sagte sie nur, führt mich die Treppen ins Lehrerzimmer hinauf. Oben angekommen lässt sie mich stehen und verschwindet im Lehrerzimmer. Eigentlich war es für Schüler und Schülerinnen verboten, hineinzugehen. Irgendwie freute es mich, dass sie es tat. Es zeigte mir, dass sie mich ernst nahm.

Dann kam Frau Berg. Fiona ging hinter ihr. Frau Berg ging auf mich zu, fragte mich, was denn los sei, doch ich antwortete ihr nicht, sondern schüttelte nur den Kopf. Vor ihr hatte ich schon etwas mehr Angst. Sie war Vertrauenslehrerin und darauf geschult. Was, wenn sie es durchschaute? Was, wenn sie mir nicht glaubte? „Komm, wir gehen da ins Besprechungszimmer“, sagte sie und legte sanft ihre Hand auf meinen Rücken, um mich vorwärtszuschieben. Im Besprechungszimmer angekommen winkte sie Fiona herein.

„Fiona, vielleicht kannst du mir ja sagen, was los ist?“ Es klag zwar wie eine Frage, war aber eher eine Aufforderung. Fiona erzählte Frau Berg genau das, was ich ihr vorher erzählt hatte. Frau Berg war geschockt, das konnte ich sehen. Ihr Blick durchbohrte mich beinahe. „Ist das wahr?“, fragte sie mich direkt. Ich nickte. Langsam, Tränen herausdrückend.

Die Tränen kamen nicht. Dafür musste ich aussehen, als würde ich dringend aufs Klo müssen. Frau Berg starrte mich an, dann stand sie auf und kündigte an, gleich wieder zu kommen. Es verging eine lange Zeit, dann kam sie wieder, diesmal mit Frau Sieg. Frau Sieg war unsere Direktorin.

Angst breitete sich in mir aus. Die Türe wurde geschlossen.

„Herr Baumann hat dich angefasst?“, fragte sie mich und sah mich mit einem durchbohrenden Blick an. Ich nickte. „Okay.

Wir werden jetzt Herr Baumann anrufen, damit er die Möglichkeit hat, sich zu äußern. Der nächste Schritt wird sein, dass wir die Polizei anrufen.“ Mit diesen Worten verließ sie den Raum wieder. Jetzt war ich ehrlichen Tränen nahe.

Fuck. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte gehofft, sie würden ihn rausschmeißen und mehr nicht. Eine Träne rollte über mein Gesicht. Angst breitete sich in mir aus. Was hatte ich angerichtet? Ich wusste ebenso gut wie er, dass nichts dergleichen geschehen war. „Ist schon gut, du musst ihn nicht sehen, wenn er kommt“, sagte Frau Berg sanft, vermutlich dachte sie, ich hätte Angst vor ihm. Die Zeit, in der wir dasaßen und warteten, fühlte sich ewig an. Die Minuten verstrichen in Zeitlupe. In mir wurde die Angst immer größer, sie wuchs mit jeder Minute, mit jeder Sekunde.

Am liebsten wäre ich einfach weggerannt. Ich hatte alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte. Wieso war ich auf diese dumme Idee gekommen? „So. Herr Baumann ist auf dem Weg“ Ich zuckte zusammen, als Frau Sieg die Tür öffnete. Wieder liefen mir Tränen übers Gesicht.

Sie sah mich kalt an. „Ich werde mit Frau Berg zusammen das Gespräch führen“, sagte sie und ging wieder. Wahrscheinlich war das ihre Art, sie zu beruhigen. Frau Sieg und Frau Berg würden mit ihm reden. Würden sie ihm glauben? Oder mir?

Fiona sah mich mitleidig an, legte mir eine Hand auf den Schenkel. Selbst diese lieb gemeinte Berührung machte mir Angst. Ich hatte dieses Mitleid nicht verdient, nachdem, was ich getan hatte. Ich hatte einen unschuldigen Menschen beschuldigt, etwas getan zu haben, was ich eigentlich wollte.

Wie bescheuert konnte man nur sein? Aber ich konnte ja schlecht zugeben, dass ich mir das alles nur ausgedacht habe.

Sie würden mich alle hassen. Alle würden davon erfahren.

Sie würden mit Sicherheit wissen wollen, warum ich mir so etwas ausdenke. Was sollte ich sagen? „Ach ich wollte mit ihm schlafen, er aber nicht, da war ich sauer und wollte es ihm heimzahlen“? Klar, gute Idee, genauso gut könnte ich mich nackt ausziehen und durchs Schulhaus rennen. Nein, ich würde bei meiner Geschichte bleiben. Das war das Einfachste. Das erforderte nicht so viele Opfer.

6

Auf dem Weg zur Schule wusste ich nicht, was ich denken sollte. In einem Moment dachte ich nur an Anja, im nächsten Moment wusste ich nicht, wieso ich überhaupt in die Schule beordert wurde. Vor einer halben Stunde hatte Frau Sieg, unsere Direktorin, bei mir angerufen und mich gebeten aus „dringlichen Gründen“ zu kommen. In meinem Hirn herrschte ein einziges Chaos. Einen klaren Gedanken zu fassen war praktisch unmöglich. Noch immer hatte ich keine Ahnung, wo meine Frau war, ihr Handy hatte sie nach wie vor ausgeschaltet. Ich drehte die Musik leise, als ich auf den Schulparkplatz fuhr. Als ich ausstieg, schlug mein Herz heftig gegen meine Brust. Ich schloss das Auto ab und ging zum Eingang. Als ich oben ankam, erwarteten Frau Sieg und Frau Berg mich schon. Ihre Lippen waren zu schmalen Strichen zusammengepresst. Unter anderen Umständen hätte ich mich vermutlich darüber amüsiert, doch gerade war mir nicht zum Lachen zu Mute. „Kommen Sie doch bitte mit“, sagte Frau Sieg kurz angebunden, wie immer. Ich folgte den beiden ins Büro der Direktorin. Ein komisches Gefühl überkam mich. Aus irgendeinem Grund wirkten die beiden verändert. Was war passiert? „Setzen Sie sich bitte“, wurde ich aufgefordert. „Okay, dürfte ich erfahren, worum es geht?

Ich habe gerade private Probleme zu klären und in einer Stunde muss ich meine Kinder abholen…“ „Es dauert nicht allzu lange, denke ich. Ihre Kinder sollten Sie aber lieber von Ihrer Frau abholen lassen!“, unterbrach Frau Sieg mich scharf.

Sie sog die Luft durch ihre Schneidezähne. Dann holte sie tief Luft. Bevor sie weiterreden konnte, sagte ich, dass meine Frau gerade nicht da sei und ich deswegen später wirklich dringend losmusste. „Hören Sie erst einmal zu, was es zu sagen gibt, dann sehen wir weiter!“ Ich nickte stumm und wartete ungeduldig. „Eine Schülerin hat uns anvertraut, dass sie von Ihnen sexuell missbraucht wurde. Was können Sie dazu sagen?“ Mir fiel die Kinnlade herunter, meine Augen weiteten sich. Ich konnte nicht sprechen. Die Luft wurde dünn. Mein Atem wurde immer flacher. „Bitte was?“, kam es aus meiner Kehle. Ich hörte mich heißer an, als hätte ich drei Tage durchgehend geschrien. Ich hatte die Wörter nur ausgespien, keines davon war in meinem Hirn geformt worden. Es war, als hätte meine Zunge sich selbstständig gemacht. Die Szene vom Vortag kam mir wieder in den Sinn.

Fuck, dieses Miststück. „Sie haben schon verstanden!“ Ich nickte, beziehungsweise, mein Kopf nickte von selbst. Ich blinzelte einige Male, kniff mich in den Arm. Träumte ich?

War das Wirklichkeit? „Nun? Ich hoffe, Sie verstehen, dass wir das sehr ernst nehmen müssen“, drängte Frau Sieg.

„Ich… Ja, natürlich verstehe ich das… Ich kann nur das sagen, was der Wahrheit entspricht, und zwar, dass ich nichts dergleichen getan habe. Vielleicht hätte ich Ihnen gestern schon davon berichten sollen, dass eine gewisse Schülerin mich überzeugen wollte, mit ihr zu schlafen.“ Ich konnte mich nicht steuern, all das kam heraus, ohne, dass ich es beabsichtigt hatte, zu sagen. Ich wusste, ich musste mit der Wahrheit herausrücken, um mich aus dieser Situation zu befreien, aber ich wollte es sanfter machen. So würden nur Fragen über Fragen kommen. Danke, Mund, für gar nichts… „Ach, und wieso haben Sie das nicht gleich gestern gemeldet?

Wieso jetzt? Das muss Ihnen doch klar sein, dass das ein schlechtes Licht auf Sie wirft… Was haben Sie getan?“ Frau Siegs Augen wurden eng, ihre Lippen noch schmaler. „Ich habe ihr gesagt, dass es niemals dazu kommen würde.

Natürlich ist mir das bewusst, aber ich sage es ja jetzt… Ich musste ja auch erst einmal damit klarkommen.“ Wieder sprach ich, ohne es zu steuern. „Um wen handelte es sich dabei?“, fragte sie mich dann. „Loreen Fischer“, antwortete ich seltsam ruhig. „Okay, ich glaube so hat das ganze keinen Sinn…“ Mit diesen Worten stand sie auf. Ich hatte keine Ahnung, ob sie mir glaubte oder nicht, aber im Grunde zählte ihre Meinung eh nicht. Sie würden die Polizei rufen müssen, da war ich mir sicher. Wie zur Bestätigung kam Frau Sieg nochmal zurück und sah mich an. „Ich muss die Polizei rufen, es tut mir leid! Ich glaube Ihnen, nur, dass Sie das wissen… Das bringt Ihnen nur leider wenig.“ Ich nickte, dankbar und ein wenig erleichtert darüber, dass wenigstens sie mir glaubte. Es bedeutete mir persönlich viel. Ich hatte mein Leben lang meine Prinzipien aufgebaut und war ihnen immer treu geblieben. Gerade so etwas, eine Frau, noch dazu minderjährig, für meine Zwecke gegen ihren Willen zu benutzen, war eine Sache, die ich niemals mit mir in Verbindung bringen lassen wollte. Ich hatte mir inzwischen hier ein Leben, einen Namen aufgebaut, der nicht in den Dreck gezogen worden war, wie es in meiner Heimatstadt der Fall gewesen war. Deshalb war ich umgezogen. Deshalb hatte ich neu angefangen. Deshalb hatte ich keinen Kontakt mehr zu meiner Mutter gehabt, die sich ebendiesen von Dreck besudelten Namen dort aufgebaut hatte. Deshalb wollte ich sie nie wieder sehen. Mitunter. Und jetzt? Jetzt hatte dieses Mädchen alles zerstört, was ich mir mühsam aufgebaut hatte. Naja, sie war zumindest gerade dabei, mein Leben zu zerstören. Anja. Ich hatte seit meiner Ankunft hier nicht mehr über meine Frau nachgedacht. Fuck. Meine Frau ist weg. Ich werde gleich vernommen wegen sexuellem Missbrauch. Was wird hier gespielt? Ist das hier Versteckte Kamera? Ich sah mich wirklich kurz um, hätte fast laut über