Der Geruch von Wut - Gabriele Clima - E-Book

Der Geruch von Wut E-Book

Gabriele Clima

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Beschreibung

Nach "Der Sonne nach" das neue Jugendbuch von Gabriele Clima. Ein Aufruf gegen Hass und Gewalt – aufwühlend, fesselnd und authentisch

Alex ist wütend. Seit dem Autounfall, bei dem sein Vater ums Leben gekommen ist, ist nichts mehr wie früher. Schuld an allem ist der Fahrer des anderen Wagens, das steht für Alex fest. Er setzt es sich zum Ziel, den Mann zu finden und zu bestrafen. Unterstützung erhofft er sich von den „Black Boys“. Dass die rechtsradikale Ansichten vertreten, nimmt er in Kauf. Im Gegenzug muss er sich an den gewalttätigen Aktionen der Gruppe beteiligen. Zusehends verliert Alex die Kontrolle über die Situation und erkennt: Den wahren Rückhalt findet er zu Hause, wo seine Mutter und Tante immer für ihn da sind – ganz gleich, was passiert. Ein eindrücklicher Roman über falsche Entscheidungen, ihre Konsequenzen und die Hoffnung auf einen Neuanfang.

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Über das Buch

Alex ist wütend. Seit dem Autounfall, bei dem sein Vater ums Leben gekommen ist, ist nichts mehr wie früher. Schuld an allem ist der Fahrer des anderen Wagens, das steht für Alex fest. Er setzt es sich zum Ziel, den Mann zu finden und zu bestrafen. Unterstützung erhofft er sich von den »Black Boys«. Dass die rechtsradikale Ansichten vertreten, nimmt er in Kauf. Im Gegenzug muss er sich an den gewalttätigen Aktionen der Gruppe beteiligen. Zusehends verliert Alex die Kontrolle über die Situation und erkennt: Den wahren Rückhalt findet er zu Hause, wo seine Mutter und Tante immer für ihn da sind — ganz gleich, was passiert. Ein eindrücklicher Roman über falsche Entscheidungen, ihre Konsequenzen und die Hoffnung auf einen Neuanfang.

Gabriele Clima

Der Geruch von Wut

Aus dem Italienischen von Barbara Neeb und Katharina Schmidt

Hanser

Für meine Mutter (1939—2019)

Kristall, Fixpunkt, Anwesenheit

Wer hätte vorhersehen können, bevor er wirklich in den Krieg kam, zu was allem die dreckige, heldenhafte und träge Seele des Menschen imstande ist?

Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht

1

Niemand sagt dir, wie du das machen sollst. Mit einem Verlust umgehen, meine ich, wenn jemand stirbt, wie du darüber hinwegkommen sollst. Keiner sagt dir das, weil es tatsächlich niemand weiß, nicht einmal die Pfarrer, die doch eigentlich ein bisschen mehr als alle anderen über die Seele, über den Tod wissen müssten, über die, die von uns gehen. Als Oma von uns gegangen ist, war das Einzige, das der Priester zu meiner Mutter sagte: »Denken Sie daran, dass die Erinnerung an Ihre Mutter immer bei euch sein wird.« Vielen Dank auch, das wusste meine Mutter auch so, dafür hätte sie keinen Pfarrer gebraucht.

Letzten Endes weiß keiner, wie man das machen soll, das musst du ganz alleine herausfinden. Und auch wenn einer sagt, dass er dir helfen kann, weil er dasselbe durchgemacht hat, dann lügt er, denn du bist du, und er ist jemand anderer, daher kann er nicht wissen, was du durchmachst.

Der Beschiss ist, dass du es selbst herausfinden musst. Nur eins ist klar, dass es einen Weg gibt, dass es immer einen Weg gibt; also eigentlich sind es zwei, die leichte und die harte Tour. Und aus irgendeinem verdammten Grund ist es am Ende immer die harte Tour, die funktioniert.

2

Ferenc war eingetroffen, ciao, Ferenc, hatte Teo ihn begrüßt. Ferenc hatte nichts darauf erwidert, er hatte die Schlüssel aus der Tasche gezogen, den Raum aufgesperrt und war reingegangen.

Teo hatte gegrinst, ganz ruhig, Alex, hatte er mir zugeflüstert und mir auf die Schulter geschlagen. Wir waren dann ebenfalls reingegangen, hatten die Metalltür hinter uns zugezogen und gewartet, bis Ferenc seine Sachen abgelegt und sich eine Zigarette angezündet hatte.

Er hatte aufgeschaut, mich lange gemustert und dabei den Rauch einmal, zweimal ausgestoßen. »Du bist also Alex«, sagte er schließlich.

Ich sah, wie Teo nickte, ganz ruhig, gab er mir zu verstehen.

»Ja, ich bin Alex.«

Ferenc reckte das Kinn vor, schaute zu Teo, der sofort zu ihm ging. Ferenc legte ihm den Arm um die Schultern, und dann entfernten sie sich ein paar Schritte.

Sie redeten schnell und leise unter dem Fenster, durch das von der Straße Licht hereinfiel. Ich drehte mich weg und sah mich um: Stühle in der Mitte des Raumes; ein rotes Banner mit einem schwarzen Kreuz darauf hing unter dem Fenster; hinten im Raum Metallschränke, mit Vorhängeschlössern abgesperrt. Es roch nach Schweiß und nach Wut.

Ich betrachtete Ferenc und das Tattoo, das er am Kehlkopf hatte, wie es sich in die Länge zog, wenn er sprach, es zog sich in die Länge und der Totenschädel schien dabei die Kiefer aufzureißen.

Teo hatte recht, der Typ wirkte wirklich knallhart.

Dann hörte er auf zu reden, starrte mich an, winkte mich zu sich. Ich ging rüber. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und stieß den Rauch aus, fest wie eine Klinge, grau wie ein Strahl Schmutzwasser.

»Teo hat mir das von deinem Vater erzählt«, sagte er. »Schlimme Sache, was?« Er nahm einen weiteren Zug.

»Hm«, erwiderte ich.

Er zog die Lippen nach hinten und bleckte die Zähne, legte den Kopf in den Nacken; der Totenschädel riss sein Maul auf.

»Teo hat dir erzählt, was wir hier machen?«, sagte er. »Er hat dir erklärt, was ich als Gegenleistung von dir will?«

»Na sicher hat er mir das gesagt.«

»Und?«

»Geht klar für mich.«

Ferenc nickte. »Du willst den Bastard wirklich finden, was?« Er zog noch einmal an der Zigarette, warf sie dann auf den Boden und ging zu den Schränken.

Ich sah ihm zu, wie er die Vorhängeschlösser aufsperrte und die Metalltüren aufzog.

Ich hörte, wie Teo zu mir kam. »Und?«, fragte er leise. Er sah zu Ferenc, dann zu mir, grinste mich an und boxte mich freundschaftlich in die Schulter. »Na, Bro, du sagst ja nichts.«

Ich sah ihn an, grinste zurück.

»Du bist dabei, Bro«, sagte er, »du bist dabei.« Er boxte mich noch einmal. »Du bist jetzt bei den Black Boys*1!«

3

Im flackernden Licht der Neonröhre stiegen wir die Treppen wieder nach oben. Ferenc sperrte die Metalltür ab, und wir traten auf die Straße.

Wir gingen weiter raus, zum Fluss, zur alten Brauerei, durch Straßen, die nach Nässe und nach Pisse rochen. Ferenc brachte die Neuen immer dorthin, wegen der Prüfung, also zur Brauerei, weil dort immer irgendein Schwarzer zu finden war, der zwischen Kartonlagen schlief. Irgendwann hatte es geheißen, dass aus diesem Ort ein Kulturdenkmal werden sollte, einmal war auch ein Politiker vorbeigekommen, er hatte das Gelände einzäunen lassen, und dann war er gegangen und keiner hatte mehr was daran getan. Ein Schlaflager und ein Pissoir, das war aus der alten Brauerei geworden.

Wir drückten gegen das Tor, das Holz gab nach. Schlüpften in die Halle, in der einmal die Fässer und die ganzen Maschinen gestanden hatten und wo sie jetzt Kartons auf den Boden legten, um darauf zu schlafen.

Wir blieben stehen, Ferenc drehte sich um. »Siehst du den da?«

»Wo?«

»Da in der Ecke.«

Jemand schlief auf einem Karton, zugedeckt mit einer Plane. Er sah nicht einmal aus wie ein Mensch, eher wie ein Tier, wie ein Hund, der auf der Straße lag.

Ich sah zu Ferenc. »Los, Alex«, sagte er, »zeig’s mir, zeig mir, dass du einer bist, der bei den Black Boys bleiben darf.«

Ich dachte an Mbaye, Moussa Mbaye, an Mama, an Papa, vor allem an Papa, denn das alles tat ich doch nur für Papa, wegen dem, was Moussa Mbaye ihm angetan hatte.

Beim ersten Mal trat ich blindlings irgendwohin. Ich hörte jemanden aufstöhnen, trat noch einmal zu, unter der Plane kam ein Bein hervor, Teo zerrte ihm den schweren Schuh vom Fuß, schmiss den auf ihn, das Bein zog sich zurück.

Ich drehte mich um, schaute zu Ferenc. Und, Alex? Ist das alles, was du draufhast? Ich drehte mich um, trat noch einmal zu, die Plane rutschte weg, ich sah ein schwarzes Gesicht, einen offenen Mund, zwei Hände, die leer in die Luft griffen.

Dann zog Teo den Schlagstock aus dem Gürtel und schlug zu, einmal, zweimal, dreimal, während der Schwarze sich einrollte und den Kopf mit den Armen schützte.

»Das reicht«, sagte Ferenc.

Wir traten zurück. Ferenc kam näher, er lächelte, sah mich an. »Sehr gut, Alex,« sagte er, »sehr gut.«

Ich sah ihn an, lächelte ebenfalls, sah Teo an, und in dem Moment sprang der Schwarze auf. Er schnellte hoch, warf mich zu Boden und rannte weg.

Da saß ich nun auf meinem Hintern, Ferenc lachte und Teo auch, und er zog mich auf, der hat dich reingelegt, Bro, der hat dich reingelegt, und er bohrte mir den Schlagstock in den Bauch. Ich riss ihm den Schlagstock aus den Händen und stand wieder auf, während der Schwarze zum Tor rannte, dann schnellte ich vor und lief ihm hinterher.

Keine Ahnung, wieso er sich nicht in die Felder schlug, stattdessen nahm er die Straße, die am Damm entlangführte. Er wusste nicht, dass es eine Sackgasse war, dass am Ende nur der Pfeiler war, der die Brücke trug, und fast zehn Meter tiefer rauschte der Fluss. Als er das merkte, blieb er stehen, schaute zur Brücke, zum Fluss, drehte sich um, war kurz wie erstarrt. Dann fiel er auf die Knie und verbarg sein Gesicht zwischen den Händen.

Ich hörte seine abgebrochenen, unterdrückten Schluchzer, hörte, wie sie sich mit dem Rauschen des Flusses vereinten. Ich kannte dieses Rauschen. Es war das Lied des Windes, der mit dem offenen Fenster spielte. So klang Mama, die zur Musik aus dem Radio sang und uns zum Lachen brachte, weil sie so falsch sang, und jedes Mal sagte Papa ihr das, wie falsch du singst, sagte er zu ihr; so klang Papa, der sich umdrehte, so klang jener Augenblick, die Reifen auf dem Asphalt, das berstende Glas, die lange Stille, so lang, ehe das Auto im Wasser landete, und der Schlamm, der mir in Mund und Nase drang, mich umschlang, mich nach unten zog. Ich hörte Ferenc zu mir sagen: »Es reicht, Alex, es reicht«; ich bemerkte den Schlagstock, den ich in den Händen hielt, und den Schwarzen unter mir, der sich nicht bewegte und mit den Händen vor dem Gesicht einfach liegen blieb. Er bewegte sich auch nicht, als ich aufhörte, als Ferenc hinter mir war, als Teo meine Arme packte und mich festhielt, er bewegte sich nicht, er rutschte nur langsam, bumm, nach unten, prallte aufs Ufer, bumm.

»Heiligescheiße«, sagte Teo. Heiligescheiße. Mehr brachte er nicht heraus.

Ferenc dagegen sagte: »Okay.« Er trat an die Böschung, beugte sich vor, spuckte nach unten. »Ganz ruhig, Alex«, sagte er. »Der ist selbst schuld.«

Es war ganz still, ein paar Sekunden lang, dann hörte man ein Brummen. »Klappe«, sagte Ferenc.

Weiter unten am Damm kam ein Kahn den Fluss hoch, er tuckerte das Stück hoch, das unter der Brücke durchführt. Wir sahen, wie er langsamer wurde, sich dem Ufer näherte, wie ein Scheinwerfer über den Fluss jagte, den Körper am Ufer beleuchtete und dann, wie der Typ am Steuer aufstand.

»Scheiße!«, brüllte Ferenc.

Der Mann schaute hoch. »Hey!«, schrie er. Das Licht traf auf uns.

»Schnell«, sagte Ferenc. Er schob mich vorwärts, ich stolperte gegen Teo. »Weg, los, weg!«

Wir liefen, während der Mann auf dem Boot weiter sein Licht auf uns richtete und schrie: »Hey! Hey! Hey!«

4

»Alles gut, Alex«, hatte Ferenc zu mir gesagt. »Du hast getan, was du tun musstest.«

»Er sollte ihn erschrecken«, hatte Teo ausgerufen, »nur erschrecken!«

»Beruhige dich, Teo. Alex hat seine Pflicht getan.«

»Er hat uns gesehen, Ferenc, der Kerl hat uns alle drei gesehen.«

»Nein, das kannst du nicht wissen.«

»Er hat den Scheinwerfer auf uns gerichtet.«

»Ja und? Drei Schatten, die weglaufen, das hat er gesehen, drei Schatten, die durch die Dunkelheit rennen.«

Ferenc hatte die Metalltür geschlossen, er hatte mir eine Hand auf die Schulter gelegt, alles gut, Alex, hatte er wiederholt, geh nach Hause und denk nicht mehr daran, wir treffen uns hier dann morgen, okay?

Ich hatte nicht geantwortet.

»Okay?«

»Okay.«

Mit diesem Geräusch in den Ohren ging ich nach Hause, bumm, das Geräusch des Körpers, der auf den Asphalt prallte.

»Bist du das, Alex?«

»Ja, Mama, ich bin’s.«

Ich hörte, wie der Stuhl zurückgeschoben wurde, wie ihre Stimme näher kam. »Ich habe dich vor zwei Stunden erwartet.«

»Ich weiß, es tut mir leid.«

Mama kam aus der Küche. »Wo warst du denn? Ich habe mir Sorgen gemacht, hast du denn die Anrufe nicht gesehen?«

»Nein, ich war mit Teo zusammen. Das hatte ich dir doch gesagt, oder?«

Sie sah mich an. »Alex, geht es dir gut?«

Ich spürte, wie mein Magen sich zusammenzog. »Ja, warum?« Mama starrte mich weiter an. »Was denn?«

»Bist du sicher? Du siehst merkwürdig aus.«

»Mir geht’s gut.« Ich lächelte sie an. »Ich muss ganz dringend aufs Klo. ’tschuldigung.«

Ich ließ sie bei der Tür stehen, lief ins Bad und schloss mich ein, das war knapp, dann schoss ein Säurestrahl aus meinem Magen hoch.

Ich kniete noch ein paar Minuten vor der Kloschüssel, wartete, bis mein Magen sich wieder erholt hatte. Stand auf, zog ab, öffnete den Wasserhahn und wusch die Säure und den Schmerz weg.

Ich fand Mama in der Küche, neben dem Tisch, die Servietten in den Händen. »Komm, Essen ist fertig, hilf mir.«

»Hast du noch nichts gegessen?«

»Das hab ich doch gesagt, ich habe auf dich gewartet. Du weißt doch, ich möchte, dass wir zusammen essen. Los, hilf mir beim Tischdecken.«

»Ich bin müde, Mama, ich will nur noch ins Bett.«

»Irgendwas musst du doch essen, nicht?«

Ich spürte, wie sich mein Magen wieder zusammenkrampfte. »Ich hab wirklich keinen Hunger.«

»Dann leistest du mir eben Gesellschaft.« Sie nahm meine Hand. »Los, komm schon.«

»Menno …«

»›Menno‹ ist kein Wort.«

Ich schnaubte, nicht nur, weil ich keine Lust auf Essen hatte, sondern weil es mich nervte, dass Mama diesen Satz sagte. Das hat Papa immer gesagt: »Menno« ist kein Wort; ich wollte nicht, dass sie das sagte.

Wir redeten nicht viel. Mama versuchte es ein paarmal auf ihre Art. »Jessica hat angerufen, du erinnerst dich doch an Jessica?«

»Nein, Mama, ich erinnere mich nicht an sie.«

»Aber ihr habt doch immer zusammengesteckt?«

»Vielleicht, hm, keine Ahnung.«

Wir räumten ab, Mama wollte dann aufs Sofa und ich in mein Zimmer.

»Gute Nacht«, sagte ich.

»Gute Nacht? Um zehn?«

»Ich bin müde, das hab ich doch gesagt.«

»Okay.« Sie sah mich lächelnd an. »Aber ich habe noch nie erlebt, dass du so früh ins Bett wolltest.«

»Ich bin einfach bloß müde, okay?«

Mama schloss die Augen. »Okay, aber dann verabschiede dich wenigstens von mir, wie es sich gehört.«

Sie hielt mir die Wange hin und verharrte so. Ich näherte mich ihr, berührte diese von Narben verunstaltete Wange mit meinen Lippen, diese Wange, die ich jedes Mal nicht ansehen wollte, um mich nicht an das zu erinnern, woran ich mich nicht erinnern wollte. Und jedes Mal hielt Mama mir ihre Wange hin und sagte: »Du musst dich daran gewöhnen, Alex, denn von nun an ist das für immer die Wange deiner Mutter.«

Ich gab ihr einen Kuss, rannte aus dem Wohnzimmer und schloss mich in meinem Zimmer ein. Dort warf ich mich aufs Bett.

Ein paar Minuten blieb ich so mit geschlossenen Augen liegen, dann nahm ich meinen Schulrucksack und holte die Karte aus der Tasche.

5

Es waren noch reichlich Gegenden übrig, die ich abklappern musste. Ich hatte gedacht, dass meine Suche schneller gehen würde, doch inzwischen waren — wie viele? — vielleicht fünf, sechs Monate vergangen, und null, niente, ich war immer noch am selben Punkt wie am Anfang. Teo hatte mir gesagt, mit den Black Boys würden sich die Dinge ändern, die hätten es drauf, und dass die sich ab jetzt darum kümmern würden, den Schwarzen zu finden, der mein Leben und das von Mama zerstört hatte und der Papa auf dem Gewissen hatte.

Ich fuhr mit dem Finger über die Karte, über die Gegenden, die ich bereits abgearbeitet hatte, und mir wurde klar, wie wenig das waren. Teo hatte recht, allein würde ich das nie schaffen.

Ich drehte den Stadtplan um, zog das Foto unter der Büroklammer weg, mit der es an der Karte festgemacht war, und betrachtete es. Ich erinnerte mich an dieses schwarze Gesicht und an diese Augen, die mich vom Straßenrand her anstarrten, während die Dunkelheit auf mich fiel, während Arme mich aus dem Wasser hoben und mich auf das Gras am Ufer legten; ich erinnerte mich an diese Augen, während ich Mama rief und Papa, und es kam keine Stimme zurück, und ich wusste nicht, ob sie auch dort am Ufer waren oder noch im Auto unter Wasser auf dem Grund des Flusses. Ich erinnerte mich an diese Augen. Die mich anstarrten, ohne etwas zu sagen, und mir trotzdem verrieten, ehe irgendwer es auf eine andere Art sagen konnte, dass Papa nicht mehr da war.

6

Anders als Papa war ich nach acht Wochen Koma wieder aufgewacht. Das erste, was ich gesehen hatte, als ich die Augen öffnete, war Mama gewesen, die neben mir saß. Sie beugte sich in ihrem Stuhl vor, schlug eine Hand vor den Mund und fing an zu weinen. Und dann Sara, die kam, meinen Puls fühlte und meinen Namen sagte, während Mama weiter weinte, wie ich es noch nie erlebt hatte.

An dem Tag redete Mama fast ununterbrochen. Sie sprach mit mir und achtete genau darauf, welche Worte sie benutzte, sie sollten einfach sein, damit sie zu mir durchdrangen, aber mich nicht verletzten. Sie erzählte mir von sich, von Papa, von dem, was passiert war, von dem Mann im Lieferwagen, der uns von der Straße gedrängt hatte, und davon, wie manche Dinge einfach geschehen, auch diese, und dass im Grunde niemand schuld sei. Das von Papa wusste ich bereits, ich wusste, dass er nicht mehr unter uns war, Mama hätte es mir gar nicht mehr erzählen müssen. Ich ließ sie reden, und während sie redete, lächelte ich, um ihr begreiflich zu machen, dass sie weiterreden sollte, dass ihre Worte mir nicht wehtaten. Dabei betrachtete ich die Narben, die sie vom Unfall davongetragen hatte, auf den Beinen, auf den Händen, auf der Wange, die vom Jochbein bis zum Kiefer genäht worden war. Und ich spürte, wie in mir eine Wut und ein Schmerz aufstiegen, dass die Tränen flossen und nicht mehr aufhören würden. Dann war Sara zurückgekommen und hatte zu Mama gesagt, ich müsse mich jetzt ein wenig ausruhen, Mama hatte das Zimmer verlassen, und ich hatte geschlafen.

7

Mama war sechzig Tage mit mir dort. »Sechzig Tage«, hatte sie lachend gesagt, »ein paar mehr und es wären achtzig gewesen, wie bei In achtzig Tagen um die Welt.« Sie erzählte mir, dass sie, nachdem man sie repariert hatte, wie sie es nannte, mehr Zeit in meinem Zimmer als in ihrem verbracht hatte. Dann war sie aus dem Krankenhaus entlassen worden, man sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, man würde sich schon gut um mich kümmern. Mama hatte versucht, sich dagegen zu wehren, aber da war nichts zu machen, im Krankenhaus durfte sie nicht mehr bleiben. Sie war also nach Hause. Aber jeden Tag kam sie zurück, jeden Morgen und jeden Abend, und blieb bei mir, bis es Nacht wurde und Sara sagte: »Signora, jetzt müssen Sie wirklich gehen.«

Und eines Tages war ich aufgewacht, Mama hatte geweint, bis sie keine Tränen mehr hatte, und noch mal später bin ich dann aufgestanden. Am Morgen, noch bevor Mama kam.

Sara hatte das Zimmer betreten, wie immer mit einem Lächeln auf den Lippen, und hatte mich gefragt: »Na, wie geht es dir heute?« Und ich hatte ihr gesagt: »Gut, ich will zur Toilette.«

Sie war mit der Urinente ans Bett gekommen, aber ich wollte wirklich zur Toilette, also aufstehen, ins Bad gehen und in ein Klo pinkeln, nicht in eine Plastikflasche.

»Ganz sicher, Alex? Meinst du wirklich?«

»Ich möchte das im Stehen machen, Sara, wie ein Mann.«

Sie hatte mich angelächelt.

Ich war aufgestanden, ganz langsam, und hatte mich dabei auf ihren Arm und die Bettkante gestützt.

»Wenn dir schwindelig wird, sag mir Bescheid, ich bin hier.«

Sara war mehr eine Schwester als eine Krankenschwester für mich. Sie half mir ins Bad, führte mich direkt vor die Kloschüssel, zog mir sogar die Schlafanzughose runter. Ich glaube, sie hätte mir sogar den Schwanz gehalten, wenn ich sie darum gebeten hätte.

»Keine Sorge, ich schaff das«, hatte ich gesagt und auf die Tür gedeutet.

Sie war gegangen und ich hatte den tollsten Piss meines ganzen Lebens hingelegt, nicht etwa, weil ich es im Stehen wie ein Mann getan hatte, sondern weil ich es aus eigener Kraft geschafft hatte.

»Du bist wirklich ein Kämpfer«, hatte Sara gemeint, als ich wieder im Bett lag. Ich hatte gelächelt und wiederholt: »Ja, ein Kämpfer.«

8

Genau dieser Satz, du bist ein Kämpfer, hatte etwas in mir ausgelöst. Ja, ich kämpfte, jeden Tag, um mir meinen Körper ganz langsam zurückzuerobern, aber genügte das, um wirklich ein Kämpfer zu sein?

Noch am selben Abend, Mama hatte sich gerade verabschiedet, war ich auf Instagram gegangen. Da im Netz fand ich noch die Meldung von jenem Tag; der Unfall, Posts, Fotos vom Fluss, von der Straße, dem Abschnitt der Brücke, an dem der Lieferwagen das Auto in den Fluss abgedrängt hatte, und Fotos von ihm, dem Fahrer des Lieferwagens, von seinem schwarzen Gesicht, das mich immer noch anstarrte, vom Bildschirm anstarrte wie damals vom Straßenrand.

Unter sein Foto hatte jemand einen Kommentar geschrieben, dass dieser Schwarze kein Recht hätte, noch am Leben zu sein; der hätte nicht einen einzigen Tag dafür im Gefängnis gesessen, und wenn es nach ihm ginge, also er würde ihn finden und ihn dafür bezahlen lassen.

Mir hatte es den Magen zusammengezogen, und ich hatte gedacht, dass ich genau das tun müsste, nicht nur für Papa, sondern auch für Mama, und dass ich dann wirklich ein Kämpfer wäre. Ich würde diesen Mann suchen und ihn dafür bezahlen lassen.

Als ich einige Wochen später aus dem Krankenhaus entlassen wurde und Sara mich umarmte und zu mir sagte: »Ciao, Alex, wirst schon sehen, es wird alles gut« — danach umarmte sie auch meine Mutter, und die beiden sahen einander an und sagten sich noch tausend Dinge bloß mit den Augen, wie es nur Frauen können —, da wusste ich schon, was ich tun würde, wenn ich wieder zu Hause war.

Ich wartete nicht einmal ab, bis Mama zu mir sagen konnte: Na, Alex, bist du froh wieder hier zu sein?, sondern ging gleich in mein Zimmer und ließ Mama und meine Tante, die mich zusammen mit ihr abgeholt hatte, allein, damit sie sich all das erzählen konnten, was sie sich zu sagen hatten.

Ich schaltete den Computer ein und suchte auf Google. Dort fand ich weitere Fotos, von mir, von Mama, Papa, von uns dreien. Ich las nicht, was dabei stand, keine einzige Zeile, nichts über die ganze Sache, das tat zu weh; ich suchte nur nach dem Namen des Mannes. Mbaye. Moussa Mbaye. Ich druckte sein Foto und eine Karte von unserer Stadt aus und heftete sie mit einer Büroklammer zusammen. Auf dem Stadtplan kreiste ich die Viertel ein, in denen ich jemand wie Mbaye vermutete, und stellte mir eine Tour zusammen. Am nächsten Tag war ich bereit, um mit meiner Jagd loszulegen.

Aber ich tat es nicht. Ich tat es nicht, weil ich merkte, dass Mama mich brauchte. Sie brauchte mich, und damit hatte ich nicht gerechnet. Im Krankenhaus war sie mir so stark vorgekommen. »Denk jetzt an dich, Alex«, hatte sie jedes Mal gesagt, wenn sie mich besuchte. »Denk an dich, wenn wir wieder zu Hause sind, geh aus, hab Spaß, nimm dein altes Leben wieder auf, mach dir keine Sorgen um mich, mir wird es prima gehen.« Sie hatte sogar die Unterstützung abgelehnt, auf die sie ein Anrecht hatte; nach den ersten paar Malen hatte sie gesagt: Es reicht, und hatte die Leute, die jede Woche kamen, nicht mehr gewollt. Alles in allem hatte sie so stark und gefestigt gewirkt, stattdessen sah ich nun, dass sie zerbrechlich und hilflos war.

Die Tante zog bei uns ein. Sie kümmerte sich um Mama, um mich, blieb eine Woche bei uns. Mit der Tante quatschten und lachten wir, erfanden uns einen Alltag neu, den es inzwischen nicht mehr gab. Als sie ging, sagte sie zu mir: »Kümmere dich um deine Mutter, Alex, sie braucht dich.«