Der Gesang der Berge - Nguyễn Phan Quế Mai - E-Book
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Der Gesang der Berge E-Book

Nguyễn Phan Quế Mai

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Beschreibung

Huʾoʾng wächst bei ihrer Großmutter auf, mitten im vom Krieg gebeutelten Hanoi der frühen 1970er Jahre. Der Vater ist auf den Schlachtfeldern verschollen, ihre Mutter folgte ihm in der Hoffnung, ihn zu finden. Und die Großmutter erzählt Huʾoʾng an den vielen langen Abenden die Geschichte ihrer Familie, eine Geschichte, die in Frieden und Wohlstand ihren Anfang nimmt, aber im Zuge fremder Besatzung, Landreform und Krieg eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und unsäglichem Leid wurde. Doch die Frauen ihrer Familie sind stark und entschlossen, dem Schicksal eine lebenswerte Zukunft abzutrotzen.

Ein Familienepos, das ein ganzes Jahrhundert atmet, die bildgewaltige Geschichte eines leidgeprüften Volkes, ein beeindruckender historischer Roman, erzählt von einer vietnamesischen Autorin – so hat man von Vietnam im zwanzigsten Jahrhundert noch nicht gelesen.

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Seitenzahl: 519

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Titel

Nguyễn Phan Quế Mai

Der Gesang der Berge

Roman

Aus dem Englischen von Claudia Feldmann

Insel Verlag

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel The Mountains Sing bei Algonquin Books of Chapel Hill, einem Imprint von Workman Publishing, New York.

eBook Insel Verlag Berlin 2021

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2021.

Erste Auflage 2021© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2021© Nguyê˜n Phan Quê´ Mai 2020Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags von Mumtaz Mustapha; Fotos: Ô Quy Hồ, Việt Nam (Trần Vũ Quang Duy, Getty Images), Blätter (Tamashi-Elegant-Graphic-Collection)

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

eISBN 978-3-458-77065-7

www.suhrkamp.de

Widmung

Für meine Großmutter, die an der großen Hungersnot verstarb; für meinen Großvater, der ein Opfer der Landreform wurde; und für meinen Onkel, dem der Vietnamkrieg die Jugend nahm. Für die Millionen von Menschen, Vietnamesen und Nicht-Vietnamesen, die im Krieg ihr Leben verloren. Möge unser Planet nie wieder eine bewaffnete Auseinandersetzung erleben.

Dieses Buch ist ein Roman. Obwohl die geschilderten historischen Ereignisse der Wahrheit entsprechen, sind die Namen und Figuren sowie die Handlung frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Die höchsten Berge

Rot auf den weißen Körnern

Der Wahrsager

Aufstehen und wieder hinfallen

Der Große Hunger

Das Geschenk meines Vaters

Die Landreform

Der Weg nach Süden

Der Marsch

Das Geheimnis meiner Mutter

Ankunft

Der Junge vom Land

Der Weg zum Glück

Mein Onkel Minh

Im Angesicht des Feindes

Die Lieder meiner Großmutter

Danksagung

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Die höchsten Berge

Hà Nội, 2012

Meine Großmutter hat mir oft erzählt, dass unsere Vorfahren, wenn sie sterben, nicht einfach verschwinden, sondern weiter über uns wachen. Und jetzt spüre ich, wie sie mir zusieht, während ich ein Streichholz nehme und die drei Weihrauchstäbchen anzünde. Auf dem Familienaltar, hinter der hölzernen Glocke und den Tellern mit dampfendem Essen, leuchten ihre Augen auf, als eine orange-blaue Flamme hochzüngelt. Ich schüttele die Weihrauchstäbchen, um die Flamme zu löschen, und aus der Glut steigt eine duftende Rauchspirale gen Himmel, um die Geister der Toten zurückzurufen.

»Bà ơi«, flüstere ich und hebe den Weihrauch über meinen Kopf. Durch den Dunst, der die Grenze zwischen unseren beiden Welten verhüllt, lächelt sie mir zu.

»Du fehlst mir, Großmama.«

Ein Windhauch weht durch das offene Fenster herein und umfasst mein Gesicht, wie Großmamas Hände es früher immer getan haben.

»Hương, meine geliebte Enkelin.« Die Bäume draußen vorm Fenster rascheln ihre Worte. »Ich bin immer bei dir.«

Ich stelle die Stäbchen in die Schale vor Großmamas Bild. Ihre sanften Züge schimmern im Duft des Weihrauchs. Ich betrachte die Narben an ihrem Hals.

»Weißt du noch, was ich dir gesagt habe, Liebes?«, raunt ihre Stimme aus den unruhigen Zweigen. »Die Herausforderungen, die das vietnamesische Volk im Lauf der Geschichte meistern musste, sind so groß wie die höchsten Berge. Wenn du zu nah davorstehst, kannst du ihre Gipfel nicht sehen. Doch wenn du von den Strömungen des Lebens zurücktrittst, wirst du alles überblicken …«

Rot auf den weißen Körnern

Hà Nội, 1972-1973

Großmama hält meine Hand, während wir zur Schule gehen. Die Sonne sieht aus wie ein großes Eidotter, das zwischen den Häusern mit den Blechdächern hindurchspäht. Der Himmel ist so blau wie das Lieblingshemd meiner Mutter. Ich frage mich, wo meine Mutter wohl ist. Ob sie meinen Vater gefunden hat?

Ich halte den Kragen meiner Jacke zusammen, als der Wind uns entgegenbläst und eine Staubwolke aufwirbelt. Großmama beugt sich zu mir herunter und drückt mir ihr Taschentuch auf die Nase. Meine Schultasche baumelt an ihrem Arm, als sie sich die Hand vor das Gesicht hält.

Sobald sich der Staub gesetzt hat, gehen wir weiter. Ich lausche, aber ich höre keinen Vogel. Ich blicke mich um, aber nirgends ist eine Blume zu sehen. Auch kein Gras, nur Haufen aus zerbrochenen Ziegeln und verbogenem Metall.

»Sei vorsichtig, Guave.« Großmama zieht mich von einem Bombenkrater weg. Sie spricht mich mit meinem Spitznamen an, um mich vor den bösen Geistern zu schützen, die, wie sie glaubt, über der Erde schweben und nach hübschen Kindern Ausschau halten, um sie zu entführen. Sie hat gesagt, mein richtiger Name Hương – »Duft« – würde sie anlocken.

»Wenn du nach Hause kommst, gibt es dein Lieblingsessen, Guave«, sagt Großmama.

»Phở-Nudelsuppe?« Ich hüpfe vor Freude.

»Ja … Während der Bombenangriffe konnte ich nicht kochen, aber heute ist es ruhig, und das sollten wir feiern.«

In dem Moment zerstört eine Sirene unseren Augenblick des Friedens. Aus einem Lautsprecher, der an einem Baum befestigt ist, schallt eine Frauenstimme: »Achtung, Bürger! Achtung, Bürger! Amerikanische Bomber im Anflug auf Hà Nội. Entfernung einhundert Kilometer.«

»Ôi trời đất ơi!« Großmama ruft Himmel und Erde an. Sie läuft los und zieht mich mit sich. Überall strömen Menschen aus ihren Häusern wie Ameisen aus ihren kaputten Bauen. In der Ferne heulen die Sirenen vom Dach des Opernhauses.

»Da!« Großmama stürzt auf einen Luftschutzbunker zu, der in die Straße hineingegraben ist, und zieht den schweren Betondeckel hoch.

»Kein Platz«, ruft jemand von unten. In der runden Grube, die nur für eine Person vorgesehen ist, kauert ein Mann. Schlammiges Wasser reicht ihm bis zur Brust.

Sofort schließt Großmama den Deckel wieder. Sie zieht mich zu einem anderen Bunker.

»Achtung, Bürger! Achtung, Bürger! Amerikanische Bomber im Anflug auf Hà Nội. Entfernung sechzig Kilometer. Bewaffnete Truppen in Kampfbereitschaft gehen.« Die Frauenstimme klingt jetzt drängender. Die Sirenen sind ohrenbetäubend.

Ein Bunker nach dem anderen ist voll. Die Leute rennen kopflos vor uns hin und her und lassen Fahrräder, Karren und Taschen zurück. Ein kleines Mädchen steht ganz allein da und schreit nach seinen Eltern.

»Achtung, Bürger! Achtung, Bürger! Amerikanische Bomber im Anflug auf Hà Nội. Entfernung dreißig Kilometer.«

Vor lauter Angst stolpere ich und stürze.

Großmama zieht mich hoch. Sie lässt meine Schultasche fallen und bückt sich, damit ich auf ihren Rücken springen kann. Dann läuft sie los, die Arme um meine Beine geschlungen.

Ein Dröhnen kommt näher. In der Ferne donnern Explosionen. Ich klammere mich mit schwitzigen Händen an Großmamas Schultern und drücke das Gesicht an ihren Hals.

»Achtung, Bürger! Achtung, Bürger! Weitere amerikanische Bomber im Anflug auf Hà Nội. Entfernung einhundert Kilometer.«

»Lauft zur Schule. Die werden sie nicht bombardieren«, ruft Großmama ein paar Frauen zu, die kleine Kinder im Arm und auf dem Rücken tragen. Trotz ihrer zweiundfünfzig Jahre ist sie stark. Sie läuft an den Frauen vorbei Richtung Schule, und ich werde bei jedem Schritt auf und ab geworfen. Ich vergrabe das Gesicht in ihrem langen schwarzen Haar, das genauso riecht wie das von meiner Mutter. Solange ich ihren Duft riechen kann, wird mir nichts passieren.

»Komm mit, Hương.« Großmama bückt sich keuchend. Ich klettere hinunter, und sie zieht mich auf den Schulhof. Neben einem der Klassenräume ist ein leerer Bunker. Sie springt hinein, und als ich ihr folge, umklammert mich eisiges Wasser bis zum Bauch. Es ist so kalt, schon fast Winter.

Großmama zieht den Deckel zu. Dann drückt sie mich an sich, und ich spüre die Trommel ihres Herzschlags in meinem Blut. Ich danke Buddha für das Geschenk dieses Bunkers, der groß genug für uns beide ist. Ich habe Angst um meine Eltern, die irgendwo auf den Schlachtfeldern sind. Wann werden sie zurückkommen? Haben sie Onkel Đạt, Onkel Thuận und Onkel Sáng gesehen?

Die Explosionen kommen näher. Der Boden schwingt wie ein Hängematte. Ich halte mir die Ohren zu. Wasser schießt hoch und spritzt mir ins Gesicht, sodass ich nichts mehr sehe. Durch einen Spalt über meinem Kopf rieseln Staub und kleine Steine herab. Das Geräusch von Flakfeuer. Hà Nội wehrt sich. Wieder Explosionen. Sirenen. Schreie. Etwas stinkt verbrannt.

Großmama legt die Hände vor der Brust aneinander. »Nam Mô A Di Đà Phật, Nam Mô Quan Thế Âm Bồ Tát.« Eine Flut von Gebeten an Buddha strömt von ihren Lippen. Ich schließe die Augen und folge ihrem Beispiel.

Immer wieder Bombendonner. Dann herrscht Stille. Plötzlich ein schrilles Kreischen. Ich zucke zusammen. Eine mächtige Explosion schleudert Großmama und mich gegen den Deckel des Bunkers. Vor Schmerz wird mir schwarz vor den Augen.

Im Fallen trete ich versehentlich gegen Großmamas Bauch. Ihre Augen sind geschlossen, die Hände liegen wie eine knospende Lotosblume vor ihrer Brust. Sie betet weiter, während der Donner verstummt und Schreie erklingen.

»Großmama, ich hab Angst.«

Ihre Lippen sind blau und zittern vor Kälte. »Ich weiß, Guave … Ich auch.«

»Großmama, wenn sie die Schule bombardieren, stürzt der Bunker dann ein?«

Sie richtet sich mühsam auf und schließt mich in ihre Arme. »Ich weiß es nicht, Liebes.«

»Und wenn er einstürzt, müssen wir dann sterben?«

Sie drückt mich an sich. »Guave, wenn sie die Schule bombardieren, dann stürzt vielleicht der Bunker ein, aber wir sterben nur, wenn Buddha uns sterben lässt.«

Wir starben nicht an jenem Tag im November 1972. Als die Sirenen verkündeten, dass die Gefahr vorüber war, kletterten Großmama und ich aus dem Bunker, zitternd wie junges Laub, und stolperten zurück zur Straße. Mehrere Gebäude waren eingestürzt, und überall lag Schutt. Hustend bahnten wir uns unseren Weg. Wolken aus Rauch und Staub wirbelten umher und brannten mir in den Augen.

Ich hielt Großmamas Hand umklammert, während um uns herum Frauen schreiend neben Toten knieten, deren Oberkörper mit abgewetzten Strohmatten abgedeckt waren. Nur die Beine ragten heraus, zerfetzt und voller Blut. An einem kleinen Bein hing noch ein rosafarbener Schuh. Das tote Mädchen musste ungefähr so alt gewesen sein wie ich.

Klatschnass und schlammverschmiert zog Großmama mich mit sich, immer schneller, vorbei an Leichenteilen und eingestürzten Häusern.

Unter dem großen bàng-Baum jedoch stand unser Haus friedlich im Sonnenlicht. Es war auf wundersame Weise unversehrt geblieben. Ich riss mich los und umarmte die Haustür.

Großmama half mir eilig, etwas Trockenes anzuziehen, und steckte mich ins Bett. »Bleib hier, Guave. Falls die Flugzeuge kommen, spring da hinein.« Sie deutete auf die Grube, die mein Vater neben dem Eingang des Schlafzimmers in den Lehmboden gegraben hatte. Sie war groß genug für uns beide, und sie war trocken. Hier fühlte ich mich sicherer, unter den wachen Augen meiner Vorfahren, die vom Familienaltar auf unserem Bücherregal herabschauten.

»Wo gehst du denn hin, Großmama?«, fragte ich.

»Zu meiner Schule, um zu sehen, ob meine Schüler Hilfe brauchen.« Sie zog die dicke Decke bis hoch zu meinem Kinn.

»Aber das ist doch gefährlich …«

»Es ist nur zwei Blocks entfernt, Guave. Sobald ich die Sirenen höre, laufe ich sofort nach Hause. Versprichst du mir, dass du hierbleibst?«

Ich nickte.

Großmama ging zur Tür, kam jedoch noch einmal zurück und legte mir ihre warme Hand aufs Gesicht. »Versprichst du mir, dass du nicht nach draußen gehst?«

»Cháu hứa.« Ich lächelte, damit sie sich keine Sorgen machte. Sie hatte mir noch nie erlaubt, allein irgendwohin zu gehen, selbst in den Monaten ohne Bomben. Sie hatte immer Angst, ich könnte verloren gehen. Ob es wohl stimmte, was meine Onkel und Tanten sagten? Dass Großmama sich so um mich sorgte, weil ihren Kindern schlimme Dinge zugestoßen waren?

Als sie die Tür hinter sich zuzog, schlüpfte ich aus dem Bett und holte meinen Schreibblock. Ich tauchte die Spitze meiner Schreibfeder in das Tintenfass. »Liebste Mutter, liebster Vater«, begann ich und fragte mich, ob meine Briefe sie wohl je erreichen würden. Die beiden zogen mit ihren Truppen umher und hatten keine feste Anschrift.

Ich las wieder einmal Bạch Tuyết và bảy chú lùn und war ganz in die Geschichte von Schneewittchen und ihren Freunden, den sieben Zwergen, versunken, als Großmama mit meiner Schultasche am Arm zurückkam. Ihre Hände bluteten, weil sie versucht hatte, Leute zu befreien, die unter dem Schutt vergraben waren. Sie zog mich in ihre Arme und hielt mich ganz fest.

An dem Abend kroch ich unter unsere Decke und lauschte auf Großmamas Gebete und den rhythmischen Klang ihrer hölzernen Glocke. Sie betete dafür, dass Buddha und der Himmel halfen, den Krieg zu beenden, und für die unversehrte Rückkehr meiner Eltern und Onkel. Ich schloss die Augen und tat es ihr gleich. Lebten meine Eltern noch? Vermissten sie mich ebenso sehr wie ich sie?

Wir wären gerne zu Hause geblieben, aber aus den Lautsprechern auf den Straßen schallte der Befehl, dass alle Bürger Hà Nội verlassen sollten. Großmama sollte ihre Schüler und deren Familien zu einem abgelegenen Ort in den Bergen führen und dort mit dem Unterricht fortfahren.

»Wohin gehen wir, Großmama?«, fragte ich.

»In das Dorf Hòa Bình. Dort werden uns die Bomben nicht finden, Guave.«

Ich fragte mich, wer einen so schönen Namen für das Dorf ausgewählt hatte. Hòa Bình stand auf den Flügeln der Tauben, die in meinem Klassenzimmer in der Schule an die Wand gemalt waren. Hòa Bình war in meinen Träumen blau – die Farbe, die meine Eltern nach Hause brachte. Hòa Bình bedeutete etwas Schlichtes, Ungreifbares und doch überaus Kostbares: Frieden.

»Ist das weit weg? Wie kommen wir dorthin?«

»Zu Fuß. Es sind nur einundvierzig Kilometer. Zusammen schaffen wir das doch, oder?«

»Und was ist mit Essen?«

»Oh, keine Sorge. Die Bauern werden uns etwas geben. In schweren Zeiten halten die Menschen zusammen.« Großmama lächelte. »Wie wär's, wenn du mir beim Packen hilfst?«

Während wir uns auf die Reise vorbereiteten, begann sie neben mir zu singen. Sie hatte eine wunderschöne Stimme, genau wie meine Mutter. Früher hatten sie sich oft alberne Lieder ausgedacht und gesungen und gelacht. Ach, wie ich diese fröhlichen Momente vermisste. Als Großmama jetzt sang, öffneten mächtige Reisfelder ihre Arme für mich, Störche hoben mich auf ihren Flügeln in die Luft, und Flüsse trugen mich mit ihren Strömungen davon.

Großmama breitete ihr Reisetuch aus. Sie legte unsere Kleider in die Mitte, darauf kamen mein Schreibblock, meine Schreibfeder und das Tintenfass, dann ihre Schulbücher und ganz obendrauf ihre Gebetsglocke. Dann knotete sie jeweils die beiden gegenüberliegenden Ecken zusammen, sodass sie sich das Bündel über die Schulter hängen konnte. An ihrer anderen Schulter hing ein langes Bambusrohr, das mit ungekochtem Reis gefüllt war. In meine Schultasche hatte sie bereits Wasser und Proviant gepackt.

»Wie lange werden wir fort sein, Großmama?«

»Ich weiß es nicht. Ein paar Wochen vielleicht?«

Ich ging zum Regal und strich mit der Hand über die Buchrücken. Vietnamesische Märchen, russische Märchen, Die Tochter des Vogelverkäufers von Nguyễn Kiên, Die Schatzinsel von einem ausländischen Autor, dessen Namen ich nicht aussprechen konnte.

Großmama lachte, als sie den Bücherstapel in meinen Händen sah. »Die können wir nicht alle mitnehmen, Guave. Such dir eins davon aus. Wir können uns dort bestimmt welche ausleihen.«

»Aber lesen Bauern denn Bücher?«

»Meine Eltern waren doch auch Bauern, und sie hatten alle Bücher, die du dir vorstellen kannst.«

Ich ging noch einmal das Regal durch und entschied mich für den Roman Das Land und die Wälder im Süden von Đoàn Giỏi. Vielleicht war meine Mutter ja im miền Nam, dem Land im Süden, angekommen und hatte meinen Vater gefunden. Ich wollte mehr über dieses Land wissen, das uns erst die Franzosen weggenommen hatten und das nun von den Amerikanern besetzt war.

Großmama klebte einen Zettel an die Haustür, dass wir in Hoà Bình waren, für den Fall, dass meine Eltern und meine Onkel zurückkamen. Bevor wir aufbrachen, berührte ich die Tür noch einmal. In meinen Fingerspitzen spürte ich das Lachen meiner Eltern und meiner Onkel. Im Rückblick frage ich mich immer noch, was ich mitgenommen hätte, wenn ich gewusst hätte, was mit uns geschehen würde. Vielleicht das Schwarzweißfoto von der Hochzeit meiner Eltern. Aber ich weiß, am Rand des Todes ist kein Raum für Nostalgie.

Bei Großmamas Schule stießen wir zu der Schar von Lehrern, Schülern und deren Familien, von denen manche schwer beladene Fahrräder dabeihatten, und zusammen schlossen wir uns dem Menschenstrom an, der Hà Nội verließ. Alle trugen dunkle Kleider, und die Metallteile der Karren und Fahrräder waren abgedeckt, damit sie kein Sonnenlicht reflektierten und uns an die Bomber verrieten. Niemand sagte etwas. Alles, was ich hörte, waren Schritte und hier und da das Weinen eines Säuglings. Angst und Sorge hatten tiefe Furchen in die Gesichter der Menschen gegraben.

Ich war zwölf Jahre alt, als wir uns auf diesen Fußmarsch von einundvierzig Kilometern machten. Die Reise war anstrengend, aber Großmamas Hand wärmte meine, wenn der Wind uns seine bittere Kälte entgegenschlug. Damit ich nicht hungern musste, gab sie mir ihr Essen und tat so, als wäre sie schon satt. Sie sang zahllose Lieder, um meine Angst zu vertreiben. Wenn ich müde war, trug sie mich auf ihrem Rücken, und ihr langes Haar schmiegte sich um mein Gesicht. Wenn es regnete, legte sie ihre Jacke um mich. Ihre Füße waren blutig und voller Blasen, als wir schließlich in Hòa Bình ankamen, das versteckt in einem Tal lag, von Bergen umschlossen.

Wir wohnten bei Herrn und Frau Tùng, einem alten Bauernpaar. Die beiden ließen uns auf dem Fußboden in ihrem Wohnzimmer schlafen; sonst war in ihrem kleinen Haus nirgendwo Platz. An unserem ersten Tag in Hòa Bình entdeckte Großmama am nächstgelegenen Berg einen ausgetretenen Pfad, der im Zickzack zu einer Höhle hinaufführte. Einige Leute aus dem Dorf nutzten die Höhle als Bunker, und Großmama beschloss, dass wir es ihnen gleichtun sollten. Obwohl Herr Tùng meinte, die Amerikaner würden das Dorf bestimmt nicht bombardieren, übten Großmama und ich den ganzen nächsten Tag, den Weg hoch- und runterzuklettern, bis meine Beine sich anfühlten, als hätte sie jemand mit dem Hammer weichgeklopft.

»Guave, wir müssen es jederzeit schaffen, hier raufzuklettern, selbst mitten in der Nacht und ohne Licht«, sagte Großmama keuchend, als wir in der Höhle standen. »Und du musst mir versprechen, dass du immer an meiner Seite bleibst, hörst du?«

Ich sah den Schmetterlingen zu, die im Eingang umherflatterten. Ich sehnte mich danach, die Gegend zu erkunden. Ich hatte gesehen, wie die Dorfkinder nackt in einem Teich badeten, auf Wasserbüffeln durch schlammige Felder ritten und auf Bäume kletterten, um an Vogelnester heranzukommen. Wie gerne hätte ich Großmama gefragt, ob ich mit ihnen spielen durfte, aber sie sah mich mit solcher Sorge an, dass ich nickte.

Als wir uns in unserem vorübergehenden Zuhause einrichteten, gab Großmama Frau Tùng unseren Reis und etwas Geld, und wir halfen ihr, die Mahlzeiten zuzubereiten, holten Gemüse aus dem Garten und wuschen das Geschirr. »Du bist wirklich eine große Hilfe«, sagte Frau Tùng zu mir, und ich fühlte mich gleich ein bisschen erwachsener. Ihr Zuhause war anders als unseres in Hà Nội, aber auch hier waren die Fenster mit schwarzem Papier zugeklebt, damit die amerikanischen Bomber nachts kein Lebenszeichen von uns sehen konnten.

Großmama sah anmutig aus, wenn sie im Innenhof des Tempels unterrichtete. Die Schüler hockten mit wacher Miene vor ihr auf der Erde, und am Ende jeder Lektion brachte sie ihnen eines ihrer Lieder bei.

»Der Krieg zerstört vielleicht unsere Häuser, aber unseren Mut kann er nicht brechen«, sagte Großmama, und ihre Schüler und ich sangen so laut, dass wir ganz heiser wurden und so klangen wie die Frösche in den umliegenden Reisfeldern.

Die Geschichte in dem Buch Das Land und die Wälder im Süden, die 1945 spielte, packte mich von der ersten Seite an. Der Süden war üppig und grün und die Menschen dort glücklich und großzügig. Sie aßen Schlangen und Hirsche, jagten Krokodile und sammelten Honig in den dichten Mangrovenwäldern. Ich unterstrich schwierige Wörter und Ausdrücke aus dem Süden, und Großmama erklärte sie mir, wenn sie Zeit dazu hatte. Ich weinte mit An, der auf der Flucht vor den grausamen französischen Soldaten seine Eltern verlor, und fragte mich, warum immer wieder fremde Armeen in unser Land einmarschierten. Erst die Chinesen, dann die Mongolen, die Franzosen, die Japaner und nun die amerikanischen Imperialisten.

Während ich auf meiner Fantasiereise in den Süden floh, fielen die Bomben auf Hà Nội, das Herz unseres Nordens. Ob Tag oder Nacht – sobald der Gong erklang, nahm Großmama meine Hand und zog mich den Berg hinauf. Der Anstieg dauerte eine halbe Stunde, und ich durfte nie eine Pause machen. Wenn wir bei der Höhle ankamen, donnerten riesige Metallvögel über uns hinweg. Ich hielt mich an Großmama fest und war froh über die Höhle, aber zugleich hasste ich sie auch, denn von dort aus konnte ich sehen, wie meine Stadt in Flammen aufging.

Eine Woche nach unserer Ankunft wurde ein amerikanischer Flieger abgeschossen. Der Pilot steuerte seine brennende Maschine genau auf Hòa Bình zu und sprang dann mit dem Fallschirm ab. Andere Flugzeuge versuchten ihn zu retten und ließen Bomben herabregnen. Als wir schließlich die Höhle verließen, lagen überall auf den Dorfstraßen zerfetzte Körperteile, und aus den Zweigen der Bäume hing menschliches Gedärm. Großmama hielt mir die Augen zu.

Wir kamen am Tempel vorbei, der nur noch ein Haufen Schutt war. Auf einmal ertönte Geschrei, und eine Gruppe von Leuten kam uns entgegen, die einen weißen Mann vor sich herstieß. Der Mann trug einen schmutzigen grünen Overall, und seine Hände waren hinter dem Rücken gefesselt. Obwohl er den Kopf hängen ließ, war er immer noch größer als alle um ihn herum. Blut lief ihm übers Gesicht, und seine hellen Haare waren schlammbespritzt. Drei vietnamesische Soldaten gingen hinter ihm, die langen Gewehre auf seinen Rücken gerichtet. Das Rot-Weiß-Blau der kleinen amerikanischen Flagge auf dem Arm seiner Uniform brannte mir in den Augen.

»Giết thằng phi công Mỹ. Giết nó đi, giết nó!«, rief jemand plötzlich.

»Tötet ihn! Tötet diesen elenden amerikanischen Piloten!«, brüllte die Menge.

Ich ballte die Fäuste. Dieser Mann hatte meine Stadt bombardiert. Der Angriff seines Landes hatte mir meine Eltern entrissen.

»Deinetwegen ist meine ganze Familie tot. Stirb!«, schrie eine Frau und schleuderte einen Stein auf den Amerikaner. Ich zuckte zusammen, als er gegen seine Brust schlug.

»Aufhören!«, rief einer der Soldaten. Großmama und einige andere liefen zu der schluchzenden Frau, nahmen sie in den Arm und führten sie weg.

»Der Gerechtigkeit wird Genüge getan, Brüder und Schwestern«, sagte der Soldat zu der Menge. »Bitte, wir müssen ihn nach Hà Nội bringen.«

Ich beobachtete den Piloten, als er an mir vorbeiging. Er hatte keinen Ton von sich gegeben, als der Stein ihn traf, nur den Kopf noch weiter gesenkt. Ich war mir nicht sicher, aber ich meinte, ein paar Tränen auf seinen Wangen zu sehen, die sich mit dem Blut vermischten. Während die Menge ihm schimpfend und schreiend folgte, fragte ich mich schaudernd, was meinen Eltern zustoßen würde, wenn sie auf den Feind trafen.

Um die Angst zu verjagen, versenkte ich mich in mein Buch, das mich meinen Eltern näher brachte. Ich sog den Duft der Mangrovenwälder ein und schnupperte den Wind von den Flüssen, die voller Fische und Schildkröten waren. Nahrung schien es im Süden in Hülle und Fülle zu geben. Das würde meinen Eltern helfen zu überleben, wenn sie ihr Ziel erreichten. Aber würde der Süden noch so üppig sein, nun, da die amerikanische Armee ihn besetzt hatte? Sie schien alles zu zerstören, was ihren Weg kreuzte.

Als ich zu den letzten Seiten kam, hielt ich den Atem an. Ich wollte, dass An seine Eltern fand, doch stattdessen schloss er sich den Guerillatruppen der Việt Minh an, um gegen die Franzosen zu kämpfen. Ich wollte ihn davon abhalten, doch er war bereits in ein Sampan gesprungen und ruderte davon, bis er in dem weißen Nichts verschwand, das sich hinter dem letzten Wort des Romans ausbreitete.

»An hätte sich mehr bemühen sollen, seine Eltern zu finden«, sagte ich zu Großmama und schob das Buch weg.

»Nun, in Zeiten des Krieges sind die Menschen patriotisch, bereit, ihr Leben und das ihrer Familie für die gemeinsame Sache zu opfern.« Sie sah von meiner zerrissenen Bluse auf, die sie gerade flickte.

»Du klingst genau wie meine Lehrer.« Ich musste an die vielen Geschichten von Kindern denken, die als Helden galten, weil sie sich mit Bomben in die Luft gejagt hatten, um französische oder amerikanische Soldaten zu töten.

»Willst du wissen, was ich wirklich denke?«, fragte Großmama und beugte sich zu mir. »Ich halte nichts von Gewalt. Niemand von uns hat das Recht, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen.«

Mitte Dezember kursierten Gerüchte, dass man jetzt gefahrlos nach Hause zurückkehren könne, weil der amerikanische Präsident Nixon eine Kriegspause einlegen würde, um über die Weihnachtszeit Frieden und christliche Nächstenliebe walten zu lassen. Die Menschen verließen ihre Verstecke und strömten wieder auf die Straßen, die sie zurück in unsere Hauptstadt führten. Wer es sich leisten konnte, mietete sich einen von Wasserbüffeln oder Kühen gezogenen Karren oder ließ sich von jemandem mitnehmen. Alle anderen mussten den ganzen Weg zu Fuß gehen.

Doch wir schlossen uns dem Zug nicht an. Großmama bat ihre Schüler und deren Familien zu bleiben, wo sie waren. Offenbar hatte Buddha ihr das eingegeben, denn am 18. Dezember 1972 sahen wir von der Höhle aus zu, wie unsere Stadt sich in einen Feuerball verwandelte.

Im Gegensatz zu den vorherigen Angriffen nahm die Bombardierung diesmal kein Ende. Es ging den ganzen nächsten Tag und die Nacht hindurch weiter. Am dritten Tag machte sich Großmama mit ein paar von den anderen Erwachsenen auf den Weg, um Wasser und etwas zu essen zu holen. Es dauerte ewig, bis sie zurückkam, und sie brachte Herrn und Frau Tùng mit. Während Frau Tùng stöhnte, dass ihr die Knie wehtäten, berichtete Herr Tùng, dass die Amerikaner in Hà Nội ihre mächtigste Waffe zum Einsatz brachten: die B-52-Bomber.

»Es heißt, sie wollen uns in die Steinzeit zurückbomben«, sagte er mit grimmiger Miene. »Aber das werden wir nicht zulassen.«

Zwölf Tage und Nächte brannte Hà Nội unter dem Bombenhagel. Als die Explosionen endlich verstummten, war es so still, dass ich die Bienen an den Zweigen summen hörte. Und wie die fleißig arbeitenden Bienen kehrte Großmama zu ihrem Unterricht zurück und die Bauern auf ihre Felder.

Eine Woche später kamen ein paar Soldaten in das Dorf. Einer von ihnen stellte sich auf die Stufen des zerstörten Tempels und rief mit einem breiten Lächeln auf dem ausgemergelten Gesicht und erhobener Faust: »Wir haben diese elenden Bomber besiegt! Unsere Verteidigungseinheiten haben einundachtzig feindliche Flugzeuge abgeschossen, vierunddreißig davon B-52-Bomber.«

Alles brach in Freudenschreie aus. Nun konnten wir endlich nach Hause. Die Leute fielen sich weinend und lachend in die Arme.

»Ich werde Ihre Freundlichkeit niemals vergessen«, sagte Großmama zu unseren Gastgebern. »Một miếng khi đói bằng một gói khi no.« Für einen Hungernden zählt ein einzelner Bissen ebenso viel wie ein ganzes Mahl für einen Satten.

»Lá lành đùm lá rách«, erwiderte Frau Tùng. Heile Blätter schützen zerrissene Blätter. »Sie sind uns jederzeit herzlich willkommen.« Sie schüttelte Großmama die Hand.

Ich lächelte, denn ich liebte Sprichwörter. Großmama hatte mir erklärt, dass Sprichwörter die Essenz der Weisheit unserer Vorfahren waren und schon lange, bevor es unsere Schriftsprache gab, mündlich von Generation zu Generation weitergegeben worden waren.

Die Herzen voller Hoffnung, machten wir uns auf den langen Marsch zurück nach Hà Nội.

Ich hatte den Sieg erwartet, doch stattdessen gab es nur Zerstörung, wohin ich auch sah. Ein großer Teil meiner schönen Stadt lag in Schutt und Asche. Die Bomben waren auch auf die Khâm Thiên gefallen – unsere Straße – und auf das nahe gelegene Bạch-Mai-Krankenhaus, in dem meine Mutter gearbeitet hatte, und hatten viele Menschen getötet. Als ich später wieder zur Schule ging, fehlten alle meine fünfzehn Freunde und Freundinnen.

Und unser Haus! Es war weg, und unser bàng-Baum lag auf den Trümmern. Großmama sank auf die Knie. Schreie stiegen tief aus ihrem Innern auf, durchbrachen den Gestank nach verwesenden Leichen und vermischten sich mit ihm zu einem klagenden Meer aus Schmerz.

Weinend hievten Großmama und ich zerbrochene Steine und Betonplatten zur Seite und suchten mit blutenden Fingern nach allem, was noch zu retten war. Wir fanden ein paar von meinen Romanen, zwei von Großmamas Lehrbüchern und ein wenig verstreuten Reis. Großmama hob jedes Korn auf, als wäre es ein kostbarer Edelstein. An dem kalten, windigen Abend kauerten wir uns auf dem Schulhof mit lauter anderen Leuten zusammen, die auch ihr Haus verloren hatten, und kochten gemeinsam einen Topf Reis, vermischt mit Erde und befleckt von Blut.

Wer Großmama in dem Moment sah, hätte sich niemals vorstellen können, dass sie mal als cành vàng lá ngọc gegolten hatte – ein Jadeblatt an einem Zweig aus Gold.

Drei Monate zuvor, als meine Mutter sich für den Weg zu den Schlachtfeldern bereit machte, hatte sie mir erzählt, dass Großmama in eine der reichsten Familien der Provinz Nghệ An hineingeboren worden war.

»Sie hat viel Schweres durchgemacht und ist die zäheste Frau, die ich kenne. Wenn du in ihrer Nähe bleibst, kann dir nichts passieren«, sagte meine Mutter, während sie ihre Kleider in einen grünen Rucksack packte. Sie war Ärztin und hatte sich freiwillig für den Einsatz im Süden gemeldet, um meinen Vater zu suchen, der mit seiner Truppe irgendwo tief im Dschungel war und von dem wir seit vier Jahren nichts mehr gehört hatten. »Ich finde ihn und bringe ihn dir zurück«, versprach sie mir, und ich glaubte ihr, denn sie hatte immer erreicht, was sie sich vorgenommen hatte. Doch Großmama meinte, das sei unmöglich, und versuchte meine Mutter davon abzubringen. Vergeblich.

Als meine Mutter uns verließ, weinte der Himmel zum Abschied dicke Regentropfen. Sie streckte den Kopf aus dem Armeetransporter und rief: »Hương ơi, mẹ yêu con!« Es war das erste Mal, dass sie mir sagte, dass sie mich liebte, und ich hatte Angst, dass es auch das letzte Mal sein würde. Der Regen schob sich zwischen uns und verschlang sie mit seinem wirbelnden Schlund.

An dem Abend und an vielen Abenden danach öffnete Großmama mir, um meine Tränen zu trocknen, die Tür zu ihrer Kindheit. Ihre Geschichten hoben mich hoch und trugen mich nach Nghệ An, wo ich den Duft der Reisfelder einsaugen, meinen Blick im Fluss Lam versenken und ein grüner Tupfen auf den Bergen von Trường Sơn werden konnte. In ihren Geschichten schmeckte ich die Süße der sim-Beeren auf meiner Zunge, spürte Grashüpfer zwischen meinen Händen springen und schlief in einer Hängematte unter einem Himmel, der aus funkelnden Sternen gewoben war.

Ich war sehr überrascht, als Großmama mir erzählte, dass ihr Leben unter einem Fluch gestanden hatte: Ein Wahrsager hatte ihr prophezeit, dass ihr viel Schlimmes widerfahren würde, und in der Tat hatte sie die französische Besatzung, die japanische Invasion, die große Hungersnot und die Landreform durchgemacht.

Während der Krieg weiterging, hielten Großmamas Geschichten mich und meine Hoffnung am Leben. Ich begriff, dass die Welt tatsächlich ungerecht war und dass ich Großmama in ihr Dorf zurückbringen musste, damit sie Gerechtigkeit einfordern, sich vielleicht sogar rächen konnte.

Der Wahrsager

Provinz Nghệ An, 1930-1942

Guave, weißt du noch, wie wir früher durch das Alte Viertel von Hà Nội gegangen sind? Wir sind oft vor einem Haus in der Hàng Gai, der Seidenstraße, stehen geblieben. Obwohl ich niemanden kannte, der dort wohnte, standen wir vor dem Haus und spähten durch das Tor. Erinnerst du dich, wie schön alles war? Die Holztüren waren mit prächtigen Schnitzereien von Blumen und Vögeln verziert, die lackierten Fensterläden glänzten in der Sonne, und von den geschwungenen Dachrändern erhoben sich Drachen aus Keramik. Das Haus war ein traditionelles fünfteiliges năm gian aus Holz, und der Platz davor war mit roten Ziegelsteinen gepflastert.

Jetzt kann ich dir verraten, warum ich immer dorthin wollte: Es sieht genauso aus wie das Haus meiner Kindheit in Nghệ An. Wenn ich mit dir davorstand, konnte ich beinahe die fröhlichen Stimmen von meinen Eltern, meinem Bruder Công und Tante Tú hören.

Ah, du willst wissen, warum ich dir nie gesagt habe, dass ich einen Bruder und eine Tante habe. Ich erzähle dir bald von ihnen, aber willst du nicht erst das Haus meiner Kindheit besuchen?

Um dorthin zu kommen, müssen wir dreihundert Kilometer weit reisen. Wir verlassen Hà Nội und folgen der Nationalstraße durch die Provinzen Nam Định, Ninh Bình und Thanh Hóa. Dann biegen wir bei einer Pagode namens Phú Định ab und durchqueren mehrere Ortschaften, bis wir nach Vĩnh Phúc kommen, ein Dorf im Norden von Vietnam. Der Name dieses Dorfes ist etwas Besonderes, Guave, denn er bedeutet »Auf ewig gesegnet«. In Vĩnh Phúc wird dir jeder mit Freuden das Tor zum Heim unserer Vorfahren zeigen – dem Haus der Familie Trần. Sie werden mit dir die Dorfstraße entlanggehen, vorbei an einer Pagode, deren Dachecken sich nach oben biegen wie die Finger einer anmutigen Tänzerin, und an Teichen, in denen Kinder und Wasserbüffel herumplanschen. Im Sommer wirst du die Wolken von purpurnen Blüten an den xoan-Bäumen bestaunen und die roten gạo-Blumen, die durch die Luft segeln wie brennende Boote. Während der Reisernte wird das Dorf seinen goldenen Teppich aus Stroh ausbreiten, um dich willkommen zu heißen.

In der Mitte des Dorfes steht ein großes Anwesen, das von einem Garten voller Obstbäume umgeben ist. Wenn du durch das Tor spähst, wirst du ein ganz ähnliches Haus erblicken wie das, das wir an der Seidenstraße gesehen haben, nur noch schöner und viel größer. Die Leute, die dich dorthin führen, werden dich fragen, ob du mit der Familie Trần verwandt bist, und wenn du ihnen die Wahrheit sagst, Guave, werden sie überrascht sein, denn alle Mitglieder der Familie Trần sind entweder gestorben, getötet worden oder verschwunden. Du wirst erfahren, dass seit 1955 sieben Familien in diesem Haus gelebt haben, aber keine davon war mit uns verwandt.

Meine geliebte Enkeltochter, sieh mich nicht so erschrocken an. Verstehst du, warum ich beschlossen habe, dir von unserer Familie zu erzählen? Wenn unsere Geschichten überleben, werden wir nicht sterben, selbst wenn unsere Körper nicht mehr auf dieser Erde weilen.

Das Haus der Familie Trần ist der Ort, wo ich geboren wurde, geheiratet habe und deine Mutter Ngọc, deine Onkel Đạt, Thuận, Sáng und deine Tante Hạnh zur Welt gebracht habe. Du wusstest nichts davon, aber ich habe noch einen Sohn, Minh. Er ist mein Erstgeborener, und ich liebe ihn sehr. Aber ich weiß nicht, ob er tot ist oder noch lebt. Er wurde mir vor siebzehn Jahren genommen, und seither habe ich ihn nicht mehr gesehen.

Ich werde dir später erklären, was mit ihm passiert ist, aber zuerst lass uns zu einem bestimmten Tag im Mai 1930 zurückkehren, als ich zehn Jahre alt war.

Mitten in der Nacht wurde ich von einem lauten, rhythmischen Klopfen wach. »Wer macht denn um diese Zeit so einen Lärm?«, rief ich erschrocken und setzte mich auf. Neben mir lag Frau Tú, unsere Haushälterin, und schnarchte. Tú bedeutet »anmutige Schönheit«, aber wenn du sie sehen könntest, würdest du vielleicht Angst bekommen, denn sie hatte eine tiefe, gezackte Narbe vom Mund bis zum linken Auge, und an ihrer rechten Wange war das Fleisch zu einer faltigen Masse verschmolzen. Aber Frau Tú hatte nicht immer so ausgesehen. Einige Jahre vor meiner Geburt gab es ein großes Feuer in Vĩnh Phúc, bei dem das Haus von Frau Tú in Flammen aufging. Ihr Mann und ihre beiden Söhne kamen dabei ums Leben, und sie selbst wäre auch beinahe verbrannt. Meine Mutter holte Frau Tú in unser Haus und pflegte sie gesund, und als es Frau Tú wieder besser ging, beschloss sie, bei uns zu bleiben und für uns zu arbeiten. Im Lauf der Zeit wurde sie zu einem Teil der Familie.

Jahre später war sie es, die ihr Leben riskierte, um meins und das meiner Mutter zu retten, Guave.

In jener Nacht jedoch beruhigte der Anblick unserer Haushälterin das panische Flattern in meinem Magen. Ich war froh, dass sie eingewilligt hatte, mir für ein paar Nächte Gesellschaft zu leisten.

»Wach auf, Tante Tú. Was ist das für ein Lärm?«, flüsterte ich, doch sie schnarchte weiter.

Das Klopfen wurde lauter. Gähnend stand ich auf und tastete in der Dunkelheit nach meinen Holzschuhen. Klappernd verließ ich das Zimmer und ging den Flur entlang, vorbei an dem großen Raum, in dem die Ernte unserer Felder lagerte. Vorsichtig tastete ich mich vorwärts. Obwohl ich aufpasste, stieß ich mit dem Kopf an die đàn nhị und erschrak über den Ton, den die zwei Saiten machten. Ich verfluchte meinen Bruder, weil er das Instrument so tief gehängt hatte – als wären die scheußlichen Jaulgeräusche, die er darauf produzierte, nicht schon schlimm genug. Im Wohnzimmer brannte eine Petroleumlampe auf dem Tisch, in deren Lichtschein das lackierte, mit Intarsien aus Perlmutt verzierte Sofa schimmerte. Daneben erhob sich eine hölzerne Plattform auf vier kräftigen Beinen – der phản, auf dem mein Vater oft saß, wenn er Gäste hatte. Mächtige Säulen aus kostbarem lim-Holz reichten vom Steinfußboden bis zur Decke. Von hoch oben auf dem Familienaltar beäugte mich eine zweite Petroleumlampe. An den Wänden hingen zwei Lackplatten mit kunstvoll gemalten Gedichten in Nôm, der alten vietnamesischen Schrift.

Ich folgte dem Lärm und trat hinaus in den Innenhof. Dort stand mein Vater im Mondschein und stieß mit einem großen hölzernen Knüppel immer wieder in eine flache Steinschale. Sein kantiges Gesicht und seine muskulösen Arme glänzten vor Schweiß. Er drosch Reis, aber warum hatte er seine Arbeiter nicht gebeten, ihm zu helfen?

Ein Stück weiter saß meine Mutter auf einem Hocker und warf den gedroschenen Reis auf einem Bambustablett hin und her, damit die Spelzen herausflogen. Ihre Bewegungen wirkten so anmutig, dass es fast so aussah, als würde sie tanzen.

Da erinnerte ich mich an unsere Familientradition: Meine Eltern bereiteten immer die erste Fuhre der neuen Reisernte selbst zu und opferten sie unseren Vorfahren. Am Tag zuvor hatten sie mit der Ernte begonnen und die Früchte ihrer Arbeit unter dem Longan-Baum aufgeschichtet.

»Mama. Papa.« Ich sprang die fünf Stufen hinunter, die von der vorderen Veranda auf den gepflasterten Hof führten.

»Haben wir dich geweckt, Diệu Lan?« Mein Vater griff nach einem Handtuch und wischte sich damit das Gesicht ab. Aus dem Garten hinter ihm erklang ein Chor aus Insektengezirpe. Auch vom Stall, in dem die Kühe und Wasserbüffel standen, ertönten gedämpfte Geräusche herüber, nur die Hühner in ihren Bambuskäfigen waren still.

»Kätzchen, geh wieder ins Bett.« Im Gegensatz zu meinem Vater war meine Mutter abergläubisch und nannte mich bei meinem Spitznamen, um mich vor bösen Geistern zu schützen.

»So, diese Portion ist fertig.« Mein Vater schüttete den Inhalt seiner Schale in einen Bambuskorb. Köstlicher Reisduft stieg mir in die Nase, als ich ihm dabei half.

Ich trug den Korb zu meiner Mutter, die die weißen Körner auf ihrem Tablett prüfend musterte, bevor sie sie in ein Keramikgefäß füllte.

»Wie geht es Meister Thịnh, Diệu Lan?«, fragte mein Vater, während er mit der nächsten Portion begann. Er hatte in letzter Zeit so viel zu tun, dass wir kaum zum Reden kamen.

»Er ist wunderbar, Papa.« Meister Thịnh war ein Gelehrter, den meine Eltern vor kurzem eingestellt hatten, damit er meinen Bruder Công und mich unterrichtete. Die einzige Schule in unserer Gegend war zu weit weg und nur für Jungen. Công und ich hatten immer bei einem Hauslehrer gelernt. Mein Vater war letztens bis nach Hà Nội gefahren und mit Meister Thịnh zurückgekommen, der einen ganzen Büffelkarren voller Bücher mitgebracht hatte. Während die meisten Mädchen in unserem Dorf nur lernten, wie man kochte, putzte, gehorchte und auf den Feldern arbeitete, durfte ich Lesen und Schreiben lernen, und das bei einem Gelehrten, der weit gereist war, sogar bis nach Frankreich. Und ich begann, die Abenteuer zu genießen, die seine Bücher mir schenkten. Meister Thịnh wohnte bei uns, im Westflügel des Hauses.

»Ich freue mich, dass er dir und Công Französisch beibringt«, sagte mein Vater.

»Aber ich verstehe nicht, warum sie es lernen sollen«, wandte meine Mutter ein, und ich war ganz ihrer Meinung. Schließlich besetzten die Franzosen unser Land. Ich hatte gesehen, wie französische Soldaten auf unserer Dorfstraße Bauern geschlagen hatten. Manchmal kamen sie auch in unser Haus und suchten nach Waffen, weil in unserer Provinz Arbeiter und Bauern gegen sie demonstriert hatten. Meine Eltern hielten sich da heraus. Sie hatten Angst vor Gewalt und glaubten daran, dass die Franzosen uns irgendwann unser Land zurückgeben würden, ohne Blutvergießen.

Mein Vater hielt in seiner Arbeit inne und sagte leise: »Du weißt, dass ich diese verdammten Fremden hasse. Seit über sechzig Jahren sind sie hier, rauben uns mit ihren Steuern das letzte Hemd und töten unschuldige Leute. Aber wir können sie nur verjagen, wenn wir ihre Sprache verstehen.«

»Studiert Bảo Đại deshalb in Frankreich? Um uns von ihnen zu befreien?«, fragte meine Mutter und hielt mir ihr Tablett hin, damit ich den gedroschenen Reis hineinschütten konnte.

»Es heißt, die Franzosen würden ihn zu ihrer Marionette machen. Wäre das nicht ideal für sie, uns durch unseren eigenen Kaiser am Gängelband zu führen?«, entgegnete mein Vater und stieß weiter.

Wir beendeten unsere Arbeit. Im Seitengarten flatterte ein Hahn mit seinen Flügeln und ließ einen munteren Schrei zum Himmel steigen. Die anderen Hähne folgten seinem Beispiel, um die Sonne mit ihrem Chor zu wecken.

Von der Pagode klangen Trommelschläge herüber, die verkündeten, dass es fünf Uhr morgens war.

Frau Tú kam in den Hof gelaufen und schloss mich in ihre Arme. »Warum bist du nicht im Bett, Kätzchen?«

»Ich bin heute eine kleine Bäuerin, Tante«, sagte ich und schnupperte an ihren Kleidern, die einen süßen Duft nach Arecanüssen und Betelpfeffer verströmten.

Sie lächelte und wandte sich zu meiner Mutter. »Entschuldigen Sie, Schwester, ich habe verschlafen.«

»Aber nicht doch, Schwester. Sie haben gestern so lange gearbeitet.«

Frau Tú nahm meiner Mutter das Gefäß ab, das bis obenhin mit weißem Reis gefüllt war, und eilte damit in die Küche.

Im Osten breitete sich ein rosa Schimmer über dem Horizont aus, und auf den Bäumen sangen die Vögel. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf die Spelzen unter meinen Füßen. Ich nahm den Besen und fegte den Sonnenschein zu einem Haufen zusammen.

Meine Mutter brachte meinem Vater, der sich auf die Verandastufen gesetzt hatte, ein Tablett und goss dampfenden grünen Tee in Jadeschalen.

»Guten Morgen.«

Ich blickte auf und sah, dass Meister Thịnh aus dem Haus gekommen war. Seine Augen unter den buschigen Brauen lächelten. »Ach, wie ich es genieße, hier früh aufzuwachen, bei dieser herrlichen Luft«, sagte er und atmete tief ein. Obwohl der Unterricht noch längst nicht anfing, trug er bereits seinen Turban, den schwarzen áo dài – eine Art Tunika – und die weiße Hose.

Mein Vater lachte. »Bitte trinken Sie doch einen Tee mit uns.«

Ich hockte mich zwischen meine Eltern und trank einen Schluck aus der Schale meines Vaters. Ein bitterer Geschmack biss mich in die Zunge, doch in meiner Kehle blieb eine duftige Süße zurück.

»Meister Thịnh, ich dachte gerade an Hà Nội … Es muss eine faszinierende Stadt sein«, sagte meine Mutter und reichte meinem Lehrer eine Schale. Wie die meisten Leute in unserem Dorf war sie noch nie in der Hauptstadt gewesen.

»Hà Nội? O ja, sie ist etwas Besonderes. Und sehr alt – fast tausend Jahre.« Meister Thịnhs Augen bekamen einen verträumten Ausdruck. »Meine Familie lebt im Alten Viertel. Dort winden sich schmale Gassen durch ein Gewirr aus alten, schiefen Häusern. Aber um das Alte Viertel zu kennen, muss man sich die sechsunddreißig Hauptstraßen einprägen. Jede hat ihr ganz eigenes Leben – Seidenstraße, Silberstraße, Zinnstraße, Schuhstraße, Bambusstraße, Kohlenstraße, Kupferstraße, Salzstraße, Sargstraße, Baumwollstraße, Traditionelle-Medizin-Straße …«

Meine Augen wurden immer größer, während mein Lehrer all die Namen aus dem Gedächtnis aufzählte.

Schließlich sagte Meister Thịnh, dass seine Familie ein Haus an der Silberstraße besaß. Sein Vater war Silberschmied und wollte, dass er die Familientradition weiterführte. »Aber das lärmende Stadtleben ist nichts für mich. Zum Glück ist mein jüngerer Bruder Vượng noch da, um diese Aufgabe zu übernehmen, sodass ich das wunderbare Landleben genießen und reizende Kinder unterrichten kann.« Er lächelte mich an.

Ich fand es schlau, dass die Eltern von Meister Thịnh ihre Söhne Thịnh und Vượng genannt hatten, denn zusammengenommen bedeuteten ihre Namen Wohlstand. Während Meister Thịnh von Hà Nội und seiner Familie erzählte, lauschte ich aufmerksam und versuchte, mir jedes Wort zu merken. Ich hatte keine Ahnung, dass genau das mir fünfundzwanzig Jahre später das Leben retten würde.

»Morgen.«

Ich wandte mich um. Mein Bruder stand im Eingang und gähnte und reckte sich wie eine Katze. Công war zwei Jahre älter als ich, groß und gut gebaut. Seine Haut schimmerte goldbraun, weil er viel draußen spielte, auf Büffeln ritt und Grillen fing.

»So früh schon auf?«, fragte Meister Thịnh und nippte an seinem Tee.

»Ja, Meister. Am besten lernt man, wenn das Gehirn noch frisch ist.«

»Có công mài sắt có ngày nên kim«, erwiderte mein Lehrer lächelnd. Ah, das Sprichwort hatte ich schon zahllose Male gehört: Beharrlichkeit schärft Eisen zu Nadeln. Als ich es nun erneut hörte, versank das fröhliche Gefühl in mir wie ein Stein im Wasser. Was das Lernen anging, war Công viel fleißiger als ich und bestimmt auch viel besser. Er konnte sich all die verwirrenden vietnamesischen, chinesischen und französischen Zeichen merken. Und er brauchte auch keinen Abakus zum Rechnen.

Wie zu meiner Rettung erschienen neun Männer an unserem Tor. Sie trugen braune Hemden und schwarze Hosen und hielten Sicheln in der Hand. Auf ihren Köpfen saßen nón lá – kegelförmige Hüte, die aus Bambusrohr und Palmblättern geflochten waren. Diese Männer arbeiteten schon seit vielen Jahren für meine Eltern.

»Bitte trinkt einen Tee mit uns«, sagte mein Vater.

Công und ich liefen ins Haus, um noch mehr Schalen zu holen.

Dann krempelten mein Bruder und ich die Hosenbeine hoch und machten uns an die Arbeit. Auf dem Bauernhof, den mein Vater von seinen Eltern übernommen hatte, war Công für die Schweine zuständig und ich für die Hühner. Meine Eltern hatten uns gezeigt, dass die größte Freude eines Bauern darin lag, sich bei der Arbeit mit Pflanzen und Tieren die Hände schmutzig zu machen.

Ich spielte mit den Küken, bis meine Mutter nach mir rief. Sie trug ein mit Essen beladenes Tablett von unserem Familienaltar hinaus auf die Veranda, und hinter ihr folgte Frau Tú, ebenfalls mit einem Tablett.

Im Kreis meiner Familie kostete ich die Süße der neuen Reisernte. Mein Lehrer und die neun Männer nickten immer wieder und lobten Frau Tú und meine Mutter für ihre Kochkünste.

Nach dem Frühstück ging mein Vater mit einigen der Männer auf die Felder, während meine Mutter mit den anderen im Garten arbeitete. Sie hatte gesagt, ich solle wieder ins Bett gehen, aber ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schlug die Bücher auf. Im Studierzimmer unterrichtete Meister Thịnh meinen Bruder. Ich war erst am Nachmittag an der Reihe, und ich wollte, dass mein Lehrer sagte, ich sei klüger als Công.

Ein erfrischender Wind wehte durch das offene Fenster herein. Draußen goss das Sonnenlicht Gold und Silber auf die tanzenden Blätter. Durch die Hecke aus blühendem Hibiskus, die unser Grundstück von der Straße trennte, sah ich einen buckligen alten Mann.

Er bewegte sich mühsam vorwärts, auf einen Stock gestützt. Die Schöße seines weißen áo dài flatterten im Wind wie Schmetterlingsflügel, und sein silbriges Haar war von einem schwarzen Stoffband gekrönt. Es war Herr Túc, der berühmte Wahrsager unseres Dorfes.

Wie alle meine Freundinnen fürchtete und bewunderte ich den alten Mann. Oft schlich ich mich zu seinem Haus und beobachtete die vielen Leute, die von weit her angereist kamen, um sich von ihm ihr Schicksal vorhersagen zu lassen. Manche kamen strahlend vor Glück aus dem Haus, andere mit Tränen in den Augen. Obwohl viele Herrn Túc verehrten, wusste niemand, woher er seine Wahrsagekunst hatte. Es gab Gerüchte, dass er mit sieben Jahren im Dorfteich schwimmen gewesen war, und da hatte der grüne Thủy Quái – der Wasserteufel – ihn an den Beinen gepackt und hinunter in den Schlamm gezogen, um ihn zu ertränken. Keiner von seinen Freunden hatte bemerkt, dass er verschwunden war, bis auf einmal eine Wassersäule in die Höhe schoss, auf der ein Junge mit Füßen und Fäusten um sich trat und schlug. Staunend sahen sie zu, wie Túc zurück ins Wasser fiel und ruhig ans Ufer schwamm. Als er nach Hause kam, eilten viele Leute zu ihm und fragten ihn nach seinem Kampf mit dem Wasserteufel. Später kamen sie immer wieder wegen seiner Wahrsagekunst.

Was wollte er um diese Zeit hier? Warum ließ er seine Kunden zurück?

Ich schwang mich auf die Fensterrahmen und ließ mich vorsichtig in den Garten fallen. Ein paar Grashüpfer sprangen hoch und streiften mit ihrer rauen Haut meine Beine. Geduckt beobachtete ich, wie Herr Túc vor unserem Tor stehen blieb.

»Chào ông Túc«, rief meine Mutter voller Freude und lief zu ihm.

»Chào bà. Wie fleißig Sie sind! Ist die Ernte gut?«

»Sie ist nicht schlecht, Herr Túc. Zumindest ist unser Reis nicht von den Stürmen vernichtet worden, wie letztes Jahr.« Meine Mutter stellte ihren Korb ab und half dem Wahrsager durch das geschäftige Treiben auf dem Hof ins Haus.

Entschlossen, den Grund für seinen Besuch herauszufinden, schlich ich mich ins Wohnzimmer und setzte mich hinter dem Rücken des alten Mannes auf den phản. Meine Mutter schenkte Tee ein und bot ihm eine dampfende Schale an.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Herr Túc. Da unser Geschäft gewachsen ist, müssen wir einen größeren Lagerraum bauen. Vielleicht im Vorgarten?« Sie schenkte sich selbst ebenfalls Tee ein. »Was meinen Sie, ist das ein günstiger Ort?«

In dem Augenblick huschte etwas an mir vorbei.

»Ahhh!«, schrie ich und sprang vom phản.

Der alte Mann zuckte zusammen. »Was war das?«

»Eine dicke Ratte.« Das Tier war verschwunden, aber ich lief trotzdem zu meiner Mutter.

Sie lachte. »Unsere Ernte lockt sie an, Kätzchen. Sie verschwinden bald wieder in ihren Bauen.«

Mit einem Mal richtete sich der Wahrsager auf. »Sagen Sie mir, wer dieses Mädchen ist, werte Frau Trần.« Er musterte mich von oben bis unten.

»Das ist meine Tochter Diệu Lan.«

Ich legte die Hände vor der Brust aneinander und verneigte mich respektvoll vor dem alten Mann.

»Komm mal her, kleines Mädchen.« Der Wahrsager runzelte die Stirn. »Etwas an dir macht mich sehr … neugierig. Setz dich zu mir und zeig mir deine Handflächen. Streck die Finger aus und halte schön still.«

Ich befolgte seine Anweisung. Wellen der Aufregung durchströmten mich. Bestimmt würden meine Freundinnen schrecklich neidisch sein, weil Herr Túc mir von sich aus die Zukunft voraussagte.

Der alte Mann lehnte sich in dem hölzernen Sessel zurück, in dessen Armlehnen Drachenköpfe geschnitzt waren. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er eingehend die Linien in meinen Handflächen. Plötzlich riss er die Augen auf, als hätte er sich erschrocken.

»Nun, Herr Túc, was sagen ihre Hände?« Meine Mutter griff nach einem Papierfächer und fächelte dem Wahrsager und mir Luft zu.

»Moment noch.« Herr Túc hob meine Hände näher an seine Augen. Er musterte die Linien erneut und fuhr mit dem Zeigefinger darüber. Es kitzelte. Hätte er nicht so ernst geschaut, hätte ich gelacht.

Meine Mutter schenkte Tee nach.

»Und?«, fragte sie, als er den Kopf hob.

»Ich glaube nicht, dass Sie das hören wollen.«

»Warum nicht?« Ihre Hände mit der Teekanne hielten mitten in der Luft inne.

»Vielleicht ist es besser, wenn Sie es nicht wissen.«

»Jetzt haben Sie mich aber wirklich neugierig gemacht«, erwiderte sie mit besorgter Miene.

Der alte Mann musterte mein Gesicht, und bei seinem Blick lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. »Nun, werte Frau Trần, wenn Sie es wirklich wissen wollen … Ihre Tochter wird ein sehr hartes Leben haben. Sie wird eine Zeitlang reich bleiben, aber dann wird sie alles verlieren und als Bettlerin durch eine weit entfernte Stadt ziehen.«

Die Teekanne entglitt meiner Mutter und zerschellte auf dem Fußboden.

»Mẹ!« Ich lief zu ihr.

Sie trat aus dem dampfenden Scherbenhaufen und nahm mich in die Arme. »Sind Sie sicher, Herr Túc?«

»Die Hände sagen es, werte Frau Trần. Es tut mir leid.«

Meine Mutter umklammerte meine Schultern.

Meine Mutter sah Herrn Túc nie wieder und verbot mir, auch nur in die Nähe seines Hauses zu gehen. Seine Vorhersage machte ihr solche Angst, dass sie heimlich mit mir in zahllose Tempel und Pagoden ging, um Schutz und Segen zu erbitten. Ich sah zu, wie sie haufenweise Höllengeld für Geister verbrannte und unsichtbaren Teufeln Spanferkel opferte, und war wütend auf den alten Mann.

Zwei Jahre später, als ich zwölf wurde, starb Herr Túc. Sein Begräbnis war eines der größten, die unser Dorf je erlebt hatte. Aus allen Ecken des Landes kamen Leute, um ihm ihren Respekt zu erweisen. Immer wieder sprachen sie davon, wie zutreffend seine Vorhersagen gewesen waren.

Dennoch war mir nicht klar, wie er bei mir Recht haben könnte. Wie sollte ich zu einer Bettlerin werden? Meine Familie war mit Abstand die reichste in unserem Dorf. Unsere Ställe waren voller Tiere, unsere Felder voll Reis und Gemüse. Seit neuestem fuhr mein Vater mit unserem Büffelkarren nach Hà Nội, wo er unsere Waren mit hohem Gewinn an ausgewählte Restaurants verkaufte. Wenn ich abends das Klick-Klack vom Abakus meiner Mutter hörte, wusste ich, dass wir viel Geld hatten. Wir mussten zwar alle möglichen Steuern an die Franzosen und den Kaiser entrichten, aber meine Eltern arbeiteten hart.

Irgendwann löste sich Herrn Túcs Vorhersage auf wie ein Tropfen schwarzer Tinte in einem Teich, und ich war wieder fröhlich und sorgenfrei. Mit meinen Freundinnen lief ich über die Felder, jagte Grashüpfer und Heuschrecken, stromerte durch Bäche, Reisfelder und Gärten, kletterte auf Bäume und spähte in Vogelnester, um zu sehen, ob schon Junge geschlüpft waren. Mit meiner Familie stieg ich in den Büffelkarren meines Vaters und fuhr zu bunten Wochenendmärkten oder in den Wald von Nam Đàn, wo Công und ich in der grünen Weite umhertobten. Ach, Guave, wenn ich die Augen zumache und tief Luft hole, kann ich immer noch die Süße der purpurnen sim-Beeren, das saftige Fleisch der Bergguaven und die frische Säure der wilden Bambusfrüchte schmecken.

Manchmal fuhr mein Vater mit uns sogar noch weiter, sodass wir die seidigen Teppiche der Reisfelder sehen konnten, betupft mit den flatternden Flügeln der Störche, den Fluss Lam, der in der Sonne funkelte, und die Berge von Trường Sơn, die in die Höhe ragten wie zum Flug erhobene Drachen. Glaub mir, meine Kindheit war zugleich ganz normal und sehr ungewöhnlich.

Ich lernte fleißig unter der Anleitung von Meister Thịnh, der fünf Jahre bei uns blieb und der beste Freund meines Vaters wurde. Jeden Abend saßen die beiden auf der Veranda, tranken Tee und verfassten Gedichte. Ca dao – unsere Volkslyrik – hatte durch die Wiegenlieder seiner Mutter Wurzeln im Leben meines Vaters geschlagen. Wie bei vielen Bauern war für ihn das Verfassen eines Gedichts ebenso natürlich wie das Pflügen eines Feldes.

Derweil wurden alle meine Freundinnen mit Männern verheiratet, die ihre Eltern ausgewählt hatten. Als meine beste Freundin Hồng dreizehn wurde, musste sie einen Mann heiraten, der doppelt so alt war wie sie. Seine Frau war gestorben, und er brauchte jemanden, der auf seinem Feld arbeitete. So wurden damals die meisten Frauen betrachtet, Guave.

Doch meine Mutter sorgte dafür, dass es bei mir anders war. Sie und mein Vater ermutigten mich dazu, unabhängig zu sein und zu sagen, was ich dachte. Sie waren sogar einverstanden, als ich mich weigerte, meine Zähne zu verfärben. Wusstest du, dass Frauen damals schwarze Zähne haben mussten? Weiße Zähne zu haben, galt als unschicklich. Aber ich war entsetzt über die Schmerzen, die meine Freundinnen ertragen mussten, während ihre Zähne mit Limonensaft weich gemacht und mit schwarzer Farbe lackiert wurden. Die Bücher von Meister Thịnh hatten mir eine andere Vorstellung von Schönheit vermittelt.

Üblicherweise erbte der älteste Sohn das Familienunternehmen, aber mein Bruder Công wollte, dass ich auch daran beteiligt war. Unsere Dorfältesten sagten oft, wenn die Franzosen nicht die offiziellen Prüfungen abgeschafft hätten, wäre Công Mandarin am Hof des Kaisers geworden und hätte unserem Dorf Ehre gemacht. Doch Công schüttelte immer den Kopf, wenn er davon hörte. Er liebte unsere Felder, und er hatte sich in Trinh, die Tochter unseres Dorfvorstehers, verliebt. Die beiden heirateten, als ich sechzehn wurde, und Trinh wurde für mich die große Schwester, die ich mir immer gewünscht hatte.

In unserem Dorf gab es einen Mann, der dafür zuständig war, die Steuern für die Franzosen einzutreiben. Wir nannten ihn nur Böser Geist, und er hatte ein fleischiges Gesicht, schmale Augen und einen kahlen, glänzenden Schädel. Wir hatten alle Angst vor ihm und seiner Peitsche, die aus den stärksten Dschungellianen gemacht war. Böser Geist peitschte diejenigen aus, die nicht pünktlich zahlen konnten, nahm statt des Geldes alles, was sie hatten, und er schlug seine Frau. Ich ging ihm aus dem Weg und wagte es nie, ihn direkt anzusehen. Damals ahnte ich nicht, dass ich es eines Tages mit ihm zu tun bekommen würden.

Als ich siebzehn war, lernte ich einen jungen Mann kennen: Hùng. Meine Eltern kannten seine Familie schon seit Jahren. Nachdem er sein Studium in Hà Nội beendet hatte, kam Hùng in unser Dorf zurück und unterrichtete in einer neuen Schule, die in unserem Bezirk eröffnet worden war.

Bis zu dem Tag, als ich Hùng begegnete, mochte ich Jungen nicht. Ich ärgerte sie nur gerne, so, wie ich meinen Bruder ärgerte. Du kannst dir also denken, wie es war, als Hùng zum ersten Mal zu uns nach Hause kam. Wir stritten uns.

Ja, ganz recht, wir stritten uns.

»Findest du nicht, dass wir die Franzosen sofort rauswerfen sollten?«, fragte Hùng wütend. »Die Grausamkeiten, die sie unserem Volk antun, müssen ein Ende haben!«

»Hast du es nicht gehört?«, schleuderte ich ihm entgegen. »Sie haben versprochen, uns unser Land zurückzugeben. Wenn wir noch ein paar Jahre warten, bekommen wir es ohne Blutvergießen zurück.«

»Ach, Diệu Lan, du vertraust diesen Fremden zu sehr. Sie lullen uns mit Versprechungen ein, die sie nicht halten werden.« Hùng erklärte mir, dass die Franzosen Việt Nam rückständig, unzivilisiert und arm halten wollten. Dass sie uns unsere Bodenschätze raubten und sie zu sich nach Hause transportierten. Dass sie unserem Volk Opium gaben, um es gefügig zu halten. Sie würden uns niemals freigeben.

Je länger wir sprachen, desto mehr staunte ich. Die Männer, die ich außerhalb meiner Familie kannte, scherten sich nicht um die Meinung der Frauen. Sie hielten uns eines Gesprächs für unwürdig und sagten: »Đàn bà đái không qua ngọn cỏ« – Frauen können nicht höher pinkeln als bis zu den Grasspitzen. Deshalb gefiel es mir, als Hùng mir in die Augen sah und sagte, er sei anderer Meinung. Ich erkannte, wie offen und gutaussehend er war. Seine Augen sprühten vor Lebendigkeit, und seine Lippen bogen sich nach oben wie ein halb lächelnder Mond.

An dem Tag habe ich mich in deinen Großpapa verliebt. Und ich sehe seine Liebe immer noch jedes Mal, wenn ich dich anschaue, Guave. Du hast seine Augen, seine Nase, sein Lächeln. Manchmal, wenn ich mit dir rede, habe ich das Gefühl, ich rede auch mit ihm.

Wir heirateten noch im selben Jahr, 1937, im Jahr des Büffels. Auf die Bitte meiner Eltern hin zog Hùng entgegen der Tradition in unser Haus. Unser ältester Sohn, dein Onkel Minh, kam 1938 zur Welt, zwei Jahre später deine Mutter Ngọc und 1941 dein Onkel Đạt.

Wenn ich jetzt zurückschaue, waren das die glücklichsten Jahre meines Lebens. Ich dachte, das Glück hätte sich tief unter meine Haut gegraben und niemand könnte es mir wieder wegnehmen.

Doch dann, eines Tages im Winter 1942, wurde alles anders.

Ich erinnere mich an diesen Tag, als wäre es gestern gewesen, von dem Moment an, als ich mich über meine Kinder beugte und die Petroleumlampe in meiner Hand ihre Gesichter beleuchtete. Minh, der damals vier war, hatte seinen Arm um Đạt geschlungen, der gerade ein Jahr alt geworden war. Beide hatten sich aus ihrer warmen Decke freigestrampelt.

In einer anderen Ecke meines großen Kinderbetts murmelte Ngọc im Schlaf vor sich hin. Guave, du weißt, wie schön deine Mutter heute ist, aber du hättest sie mal als kleines Mädchen sehen sollen – eine Haut wie Milch, lange Wimpern und rosige Lippen. In ihre gesteppte Seidendecke gehüllt sah sie aus wie eine Fee in ihrem Kokon.