Wo die Asche blüht - Nguyễn Phan Quế Mai - E-Book

Wo die Asche blüht E-Book

Nguyễn Phan Quế Mai

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Beschreibung

Vom Schicksal der vergessenen Kinder des Vietnamkrieges

Vietnam, 1969: Die beiden Schwestern Trang und Quỳnh wachsen in einem kleinen Dorf im Mekongdelta auf. Als junge Frauen bestellen sie die Reisfelder ihrer verarmten Eltern, der Vater ist als Invalide aus dem Krieg heimgekehrt. Als eine Freundin ihnen erzählt, in Saigon wäre es für Mädchen wie sie leicht, Arbeit als Barmädchen zu finden, fassen sie den Entschluss, in die Stadt zu gehen. Trang lernt dort einen amerikanischen Soldaten kennen und stürzt sich mitten in den Wirren des Krieges in eine Affäre mit ihm, die nicht ohne Folgen bleibt …
Jahrzehnte später kehrt ein amerikanischer Veteran zurück nach Ho-Chi-Minh-Stadt in der Hoffnung, sich von den Schatten der Vergangenheit befreien zu können. Er trifft auf Phong, den Sohn einer Vietnamesin und eines ehemaligen GIs, der in einem Waisenhaus aufwuchs und verzweifelt seine Eltern sucht – kann Phong ihm helfen, seine alte Schuld wiedergutzumachen?

Der atmosphärisch dichte neue Roman der internationalen Bestsellerautorin ergründet das bewegende Schicksal der Kinder vietnamesischer Frauen mit amerikanischen Soldaten – und erzählt eine unvergessliche Geschichte von Schuld und Vergebung.

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Seitenzahl: 556

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Cover

Titel

Nguyễn Phan Quế Mai

Wo die Ascheblüht

Roman

Aus dem Englischen von Claudia Feldmann

Insel Verlag

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien erstmals 2023 unter dem Titel Dust Child bei Algonquin Books of Chapel Hill, einem Imprint von Workman Publishing, New York.

eBook Insel Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024.

© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024© Nguyễn Phan Quế Mai 2023

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Illustration von Twins Design Studio/Shutterstock

eISBN 978-3-458-77964-3

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Amerasier*innen und ihre Angehörigen, die mir ihre Lebensgeschichte erzählt und mich mit ihrem Mut inspiriert haben. Für die Millionen von Männern, Frauen und Kindern, die in den Strudel des Vietnamkriegs gezogen wurden. Für alle, deren Leben von Gewalt gezeichnet wurde. Möge unsere Welt mehr Mitgefühl und Frieden erleben.

Motto

Während des Vietnamkriegs entsprangen Zehntausende von Kindern aus den Beziehungen zwischen amerikanischen Soldaten und vietnamesischen Frauen. Durch tragische Umstände wurden die meisten dieser amerasischen Kinder von ihren Vätern und später auch von ihren Müttern getrennt. Viele haben einander nie wiedergefunden.

Dieses Buch ist ein Roman. Obwohl die geschilderten historischen Ereignisse der Wahrheit entsprechen, sind die Namen und Figuren sowie die Handlung frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Inhalt

Kind des Feindes.

H

-Chí-Minh-Stadt, 2016

Rückkehr ins Land der Angst.

H

-Chí-Minh-Stadt, 2016

Eine unmögliche Entscheidung.

Phú Mỹ, Provinz Kiên Giang, März 1969

Ein Vogel findet sein Nest.

Lâm Đ

ng – H

-Chí-Minh-Stadt, 1984-1993

Die Hitze von Sài Gòn.

H

-Chí-Minh-Stadt, 2016

Sài-Gòn-Tee.

Sài Gòn, 1969

Ein Hoffnungsschimmer.

H

-Chí-Minh-Stadt, 2016

Auf der Suche nach der Vergangenheit .

H

-Chí-Minh-Stadt, 2016

Das Hinterzimmer.

Sài Gòn, 1969

Der Baum der Liebe.

H

-Chí-Minh-Stadt, 2016

Das Geheimnis.

H

-Chí-Minh-Stadt, 2016

Die Gefahr des Feuers.

Sài Gòn, 1969

Der Preis der Hoffnung.

H

-Chí-Minh-Stadt, 2016

Der Lachende Buddha.

Sài Gòn, 1969

Krieg und Frieden.

H

-Chí-Minh-Stadt – Mekongdelta, 2016

Wie wird man eine Mutter?

Sài Gòn – Hóc Môn, 1970

Eine Nadel am Grund des Ozeans finden.

Bạc Liêu, 2016

Vergangenheit und Zukunft.

Mekongdelta, 2016

Rache und Vergebung.

C

n Th

ơ

, 2016

Süße und Bitterkeit.

Bạc Liêu, 2018

Liebe und Ehre.

Bạc Liêu, 2019

Nachwort

Danksagung

Fußnoten

Textnachweis

Informationen zum Buch

Kind des Feindes

Hồ-Chí-Minh-Stadt, 2016

»Das Leben ist wie ein Boot«, hatte Schwester Nhã, die katholische Nonne, die ihn großgezogen hatte, einmal zu Phong gesagt. »Sobald du dich von deinem ersten Anker löst – dem Schoß deiner Mutter –, wirst du von unerwarteten Strömungen davongetragen. Doch wenn es dir gelingt, dein Boot mit genügend Hoffnung, Selbstvertrauen, Mitgefühl und Neugier zu füllen, wirst du allen Stürmen standhalten können.«

Während Phong im amerikanischen Konsulat saß und wartete, spürte er das Gewicht der Hoffnung in seinen Händen – seinen Visumsantrag und den seiner Frau Bình, seines Sohns Tài und seiner Tochter Diễm.

Um ihn herum warteten viele Vietnamesen stehend oder auf Stühlen sitzend darauf, mit einem der Visumsbeamten zu sprechen, die hinter den Glasscheiben der Schalter saßen. Einige der Vietnamesen schauten neugierig zu Phong herüber, und er spürte die Hitze ihrer Blicke. »Mischling«, meinte er sie flüstern zu hören. Von klein auf hatte man ihn als Staub des Lebens, Bastard, schwarzamerikanischen Imperialisten oder Kind des Feindes bezeichnet. Als er ein Junge gewesen war, hatte man ihm diese Beschimpfungen mit solcher Heftigkeit entgegengeschleudert, dass sie sich tief in sein Innerstes gegraben und sich dort festgesetzt hatten. Damals hatte er mit Schwester Nhã im Neuen Wirtschaftsgebiet in Lâm Đồng gelebt, und eines Tages war er in einen großen Eimer geklettert, den er mit Wasser und Seife gefüllt hatte, und hatte sich mit einem Luffa-Schwamm abgeschrubbt, um die schwarze Farbe von seiner Haut zu bekommen. Als Schwester Nhã ihn fand, hatte er geblutet, und er hatte sich gefragt, warum er ausgerechnet als Amerasier zur Welt gekommen war.

»Keine Sorge, anh, du musst nur an dich glauben, dann schaffst du das schon«, flüsterte Bình und strich ihm mit ihrer schwieligen Hand über den Arm. Phong nickte, lächelte nervös und nahm ihre Hand in seine. Diese Hand hatte für ihn gekocht, seine Kleider gewaschen und geholfen, die zerbrochenen Teile seines Lebens zu kitten. Diese Hand hatte ihn und seine Kinder gehalten, mit ihnen getanzt, neue Ernten auf ihren Reisfeldern hervorgebracht. Er liebte diese Hand und ihre Schwielen, so, wie er alles an Bình liebte. Er musste sein Versprechen einlösen, Bình nach Amerika zu bringen. Fort von den Müllhalden, auf denen sie arbeitete, um Plastik, Papier und Metall zu trennen.

Auf der anderen Seite neben Bình saßen Tài und Diễm und winkten ihm zu. Sie waren erst vierzehn und zwölf, aber schon fast so groß wie ihre Mutter. Beide hatten Bìnhs große Augen und ihr strahlendes Lächeln geerbt. Ihre Hautfarbe und das lockige Haar stammten von ihm. »Vergesst nicht, dass ihr schön seid«, hatte er zu ihnen gesagt, als sie sich zu der fünfstündigen Busfahrt hierher aufmachten. Das sagte er ihnen oft, denn er kannte die verächtlichen Blicke der Vietnamesen, die fast alle helle Haut bevorzugten.

Tài beugte sich wieder über sein Buch, und seine schiefe Brille rutschte ihm über die Nase; das Metallgestell wurde nur noch von Klebeband zusammengehalten. Phong nahm sich vor, noch einmal mit seinen Nachbarn zu reden und ihnen einen höheren Preis anzubieten, um ihr Reisfeld zu pachten. Dann könnte er dort Mungbohnen für das Neujahrsfest anbauen, und die Ernte würde genug einbringen, um Tài eine neue Brille und Diễm ein neues Kleid zu kaufen. Diễm trug Tàis abgelegte Sachen, und die Hose war zu kurz, sodass ihre Knöchel hervorschauten.

An einem der Schalter gab ein amerikanischer Visumsbeamter einer jungen Frau ein blaues Papier. Phong kannte die Farbe gut. Blau bedeutete Ablehnung. Als die Frau sich vom Schalter abwandte, stieg Panik in ihm auf.

Er versuchte sich an die Befragungsübungen zu erinnern, die er mit seiner Familie durchgeführt hatte. Er hatte sich die richtigen Antworten ins Gedächtnis geschnitzt, wie Tischler Vögel und Blumen ins Holz schnitzten, aber jetzt waren sie alle wie ausgelöscht.

»Nummer fünfundvierzig, Schalter drei«, verkündete der Lautsprecher.

»Das sind wir«, sagte Bình. Während Phong mit seiner Frau und seinen Kindern zum Schalter ging, versuchte er sich zu beruhigen. Solange er seine Familie bei sich hatte, würde er sich nicht einschüchtern lassen. Er würde um die Chance kämpfen, Bình, Tài und Diễm ein besseres Leben zu bieten.

Phong nickte der Visumsbeamtin zu, die genauso aussah wie die amerikanischen Frauen in den Filmen, die er gesehen hatte: blondes Haar, helle Haut, hohe, schmale Nase. Die Frau reagierte nicht, sondern blickte auf ihren Computer. Phong betrachtete das Gerät und fragte sich, welche Geheimnisse es wohl enthielt. Wenn er nach Amerika kam, würde er hart arbeiten und Tài und Diễm einen Computer kaufen. Die beiden waren mit ihm in der Stadt gewesen, in einem Internetcafé, um ihm zu zeigen, wie Computer funktionierten. Sie hatten gesagt, eines Tages würde er damit vielleicht eine Nachricht an seine Eltern schicken können, übers Internet. Doch würde es je dazu kommen? Er wusste nicht einmal, ob seine Eltern noch lebten.

Die Visumsbeamtin wandte sich ihm zu.

»Gút mó-ninh«, sagte Phong und hoffte, dass er good morning richtig ausgesprochen hatte. Vor Jahren hatte er ein wenig Englisch gelernt, doch seine Kenntnisse der Sprache waren verschwunden wie Regentropfen auf ausgedörrtem Boden. »Chào bà«, fügte er hinzu, damit die Amerikanerin nicht dachte, er beherrsche ihre Sprache fließend.

»Cho xem hộ chiốu«, erwiderte sie.

Ihr Vietnamesisch war gut, aber ihr nördlicher Akzent beunruhigte Phong. Er erinnerte ihn an die kommunistischen Soldaten, die ihn damals vor knapp dreißig Jahren in den Umerziehungslagern in den Bergen geschlagen hatten.

Vorsichtig nahm er ihre Pässe aus der Mappe und legte sie in das Fach unter der Scheibe. Er und seine Frau hatten Quang, dem Visumsmakler, ihre gesamten Ersparnisse gegeben, damit er ihnen diese Pässe besorgte und die Anträge ausfüllte und einreichte. Quang hatte sie überzeugt, dass sie sich in Amerika keine Gedanken mehr um Geld machen müssten, weil sie eine monatliche Summe von der Regierung bekommen würden.

Die Frau sah die Dokumente durch und tippte etwas in den Computer. Dann wandte sie sich um und rief eine junge Vietnamesin herbei, mit der sie sich auf Englisch unterhielt. Phong spitzte die Ohren, aber die Laute waren wie schlüpfrige Fische, die so schnell davonschossen, dass er keinen einzigen davon zu fassen bekam.

»Was ist los?«, fragte Bình leise. Phong legte ihr beruhigend die Hand auf den Rücken. Bình hatte solche Angst gehabt, diesen Termin zu verpassen, dass sie darauf bestanden hatte, schon am Vortag den Bus aus ihrer Heimatstadt Bạc Liêu zu nehmen und ab vier Uhr morgens vor dem Konsulat zu warten.

Die Vietnamesin sah ihn an. »Onkel Nguyễn Tấn Phong, Sie beantragen ein Visum nach dem Amerasian Homecoming Act?«

Wie nett, dass sie ihn mit einem respektvollen Titel angesprochen und ihm Hoffnung gegeben hatte, indem sie den Namen des Programms nannte. Homecoming – dieses Wort war heilig, und der Klang ließ sein Herz flattern. Er war berechtigt, nach Hause zu gehen, in sein Vaterland. Es prickelte in seinen Augen.

»Ja, Miss«, sagte er.

»Sie werden von einem anderen Beamten befragt. In dem Raum dort drüben.« Sie zeigte auf eine Tür zu seiner Rechten. »Ihre Angehörigen sollten draußen warten.«

Bình beugte sich vor. »Mein Mann kann nicht lesen. Darf ich ihn bitte begleiten?«

»Ich werde dabei sein, um zu helfen«, erwiderte die Frau und ging zu der Tür.

Der Raum war groß und von Neonröhren beleuchtet, aber er hatte kein Fenster, und Phong tat der Mensch leid, der dort arbeiten musste. Sein eigenes Haus machte sicher nicht viel her, aber es gab jede Menge frische Luft. Sie wehte das ganze Jahr zu den offenen Fenstern herein und trug den Duft der Blumen und den Gesang der Vögel mit sich.

Der bemitleidenswerte Mensch war ein dicker weißer Mann, der hinter einem wuchtigen braunen Schreibtisch saß, bekleidet mit einem blauen Hemd und passender blauer Krawatte.

Die Frau stellte sich neben den Schreibtisch, und Phong setzte sich auf den Stuhl, der davorstand. An der Wand zu seiner Rechten hing ein großes Bild von Mr Obama. Vor einigen Jahren waren Phongs Kinder ins Haus gestürmt und hatten gerufen, er solle mitkommen. Sie liefen zum Haus ihres Nachbarn, stellten sich an den Zaun und spähten durch das offene Fenster, um den Fernsehbericht zu sehen, der verkündete, dass Mr Obama der erste schwarze Präsident der Vereinigten Staaten geworden war. »Amerika ist eine Nation von Einwanderern«, sagte Mr Obama unter dem Jubel der Menschen.

Schon seit Jahren hatte Phong nach Amerika gehen wollen, aber in diesem Moment wurde es zu seiner Lebensaufgabe. Ein Land, das einen schwarzen Präsidenten wählte, musste besser sein als dieses, wo Schwarze manchmal als mọi bezeichnet wurden – »unzivilisiert« oder »wild«. Der Besitzer eines Imbissstands hatte ihn einmal ausgelacht, als er sich dort um eine Stelle als Tellerwäscher beworben hatte. »Sieh dir doch deine Haut an«, hatte er gehöhnt. »Meine Kunden würden weglaufen, weil sie denken, du machst die Teller noch schmutziger.«

Der Visumsbeamte am Schreibtisch klappte einen Pass auf. »Nguyễn Tấn Phong«, rief er. Er hatte alle auf- und absteigenden Betonungen in Phongs Namen weggelassen, und so, wie er ihn aussprach, bedeutete er »ein aufgelöster Windstoß« und nicht »Kraft von tausend Windstößen«, wie Schwester Nhã es beabsichtigt hatte, als sie ihm den Namen gab.

Phong erhob sich. Der Mann sagte etwas zu ihm. Phong bemühte sich, die Töne zu fassen zu bekommen, doch wieder entwischten sie ihm.

»Heben Sie die Hand und schwören Sie, dass Sie eine gemischtrassige Person amerikanischer Abstammung sind und dass Sie nicht lügen werden«, übersetzte die Vietnamesin.

Darauf hatte Quang, der Makler, Phong vorbereitet. Er hob beide Hände. »Ich schwöre, dass ich ein trẻ lai bin. Ich schwöre, dass ich nicht lüge und dass alles, was ich heute sage, die Wahrheit ist.«

»Woher wissen Sie so genau, dass Sie Amerasier sind?«, fragte der Mann, und die Frau übersetzte es.

»Sir, die Farbe meiner Haut … Seit ich klein war, haben mich alle als Schwarzamerikaner bezeichnet.«

»Aber Sie könnten doch auch von den Khmer abstammen, oder?«

»Nein, Sir. Khmer-Mütter hatten keinen Grund, ihre Kinder zurückzulassen. Ich wurde … Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen.«

»Haben Sie denn einen Beweis, dass Sie das Kind eines US-Soldaten sind?«

»Ich weiß nicht, wer meine Eltern sind, Sir. Ich bin Amerasier, Sir. Khmer sind klein. Ich bin einen Meter achtzig groß. Und mein Bart, Sir … Khmer-Männer haben keine solchen Bärte.« Er berührte das dichte Haar, das die ganze untere Hälfte seines Gesichts bedeckte. Obwohl das Jucken manchmal kaum auszuhalten war, hatte Quang darauf bestanden, dass er es mindestens zwei Wochen vor der Befragung wachsen ließ.

»Haben Sie früher schon mal ein Einwanderungsvisum für die Vereinigten Staaten beantragt?«

Phong schluckte. Verdammt. Quang hatte ihm versichert, dass sie das nicht überprüfen würden.

»Haben Sie schon einmal ein Einwanderungsvisum für die Vereinigten Staaten beantragt?«, wiederholte der Beamte.

»Ich … Ich kann mich nicht erinnern.« Phong umklammerte die Mappe mit den Dokumenten. Seine Handflächen waren feucht.

»So?« Der weiße Mann schüttelte den Kopf. »Dann will ich Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Auf Ihrem Formular steht, dies sei Ihr erster Antrag, aber ich habe hier einen früheren Antrag von Ihnen.« Er hielt ein Blatt Papier hoch.

Phong lief es kalt den Rücken hinunter. Das Papier war vergilbt, aber er erkannte den jungen Mann auf dem Foto, das daran geheftet war. Es war er selbst, damals, als er gedacht hatte, er hätte eine gute Familie für sich gefunden. Er sah darauf erwartungsfroh aus und voller Hoffnung. Kurz bevor Mr Khuất das Foto gemacht hatte, hatte Phong sich eine Freudenträne aus dem Gesicht gewischt.

»Das ist doch Ihr früherer Visumsantrag, oder?«, fragte der Weiße.

Phong rieb sich die schweißfeuchten Hände an seiner Hose ab. »Ja, Sir … Aber das ist viele Jahre her.«

»Über zwanzig Jahre. Warum haben Sie denn damals kein Visum bekommen?«

Phong starrte auf den Schreibtisch. Die Oberfläche war glatt und glänzend wie ein Spiegel. Eine sehr gute Arbeit. Wenn er es nach Amerika schaffte, würde er seine Fähigkeiten als Tischler perfektionieren. Von seiner monatlichen Unterstützung würde er Holz kaufen und daraus Möbel bauen, damit er seine Kinder auf die besten Schulen schicken konnte. Er liebte den Geruch von frisch gesägtem Holz und das Gefühl, etwas mit seinen Händen herzustellen. Es hieß, in Amerika konnte man alles schaffen, was man sich erträumte.

Wenn er die Wahrheit enthüllte, würde er niemals in das Land seiner Träume kommen. »Ich weiß nicht, warum ich kein Visum bekommen habe, Sir. Ich … hatte wohl nicht alle Unterlagen dabei.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Damals haben wir nicht viele Unterlagen verlangt. Amerasier bekamen aufgrund ihres Aussehens ein Einwanderungsvisum. Allein mit Ihren Gesichtszügen hätten Sie eins bekommen. Sagen Sie mir den wirklichen Grund.«

Phong hatte eine trockene Kehle. Er wünschte, er könnte dem Mann das vergilbte Papier wegschnappen und es zerreißen, mitsamt allem, was dieser Betrüger von Khuất darauf geschrieben hatte.

Der Mann runzelte die Stirn. »Sie denken vielleicht, wir wüssten es nicht, aber laut unserem Vermerk haben Sie beim letzten Mal versucht, andere Leute mitzunehmen. Sie haben Fremde als Ihre Angehörigen ausgegeben.«

Die Worte nagelten Phong zu Boden. Er konnte sich nicht rühren. Konnte nicht mal den Kopf heben.

»Onkel Phong, Sie müssen etwas sagen. Erklären Sie sich«, sagte die Vietnamesin.

Phong presste die Mappe mit den Dokumenten an die Brust. Der Schmerz um seiner Frau und seiner Kinder willen pulsierte in ihm. Er musste um sein Recht kämpfen, sie nach Amerika zu bringen. »Sir … Ich kann nicht lesen und schreiben. Die Khuấts haben diesen Antrag ausgefüllt. Sie hatten mir versprochen, mir in Amerika zu helfen, wenn ich sie mitnehme. Ich war jung und töricht, Sir, aber damals haben viele Amerasier dasselbe getan.«

Seine Kehle schnürte sich zusammen.

»Indem Sie versucht haben, Fremde mitzunehmen, haben Sie das Wohlwollen unserer Regierung ausgenutzt. Sie haben gegen das Gesetz verstoßen.« Der Mann sah ihm in die Augen. »Damit wir Ihren Visumsantrag in Erwägung ziehen, müssen Sie uns handfeste Beweise liefern. Gesichtszüge reichen nicht mehr aus.«

»Beweise? Was für Beweise, Sir?«

»Dass Sie tatsächlich das Kind eines amerikanischen Soldaten sind. Zum Beispiel das Dienstzeugnis Ihres amerikanischen Vaters und das Ergebnis eines DNA-Abgleichs zwischen Ihnen und ihm.«

»DNA?«, fragte Phong. Das Wort klang nicht vietnamesisch. Vielleicht hatte die Frau es nicht richtig übersetzt.

»Es gibt einen speziellen Test, den so genannten DNA-Test«, erklärte ihm die Frau. »Damit kann man feststellen, wer Ihre biologischen Eltern sind.«

Phong hatte mit vielen Leuten darüber gesprochen, wie er seine Eltern finden könnte, aber einen DNA-Test hatte nie jemand erwähnt. Gerade als er fragen wollte, wo er diesen Test machen konnte, erklärte der Mann: »Wenn Sie einen amerikanischen Vater haben, müssen Sie ihn finden, und dann reichen Sie beide das Ergebnis des DNA-Tests ein, als Beweis, dass Sie miteinander verwandt sind.«

»Sie sagen, dass ich erst meinen Vater finden muss, Sir? Wenn Sie mich nach Amerika gehen lassen, kann ich ihn finden.« Er wusste, dass Amerika ein großes Land war, aber er hatte auch gehört, dass dort alles möglich war.

Der Beamte griff nach einem blauen Formular.

»Sir … Meine Kinder haben keine Freunde in der Schule. Die Kinder in unserer Nachbarschaft reden nicht mit ihnen. Sie haben hier keine Chance. Bitte …« Phong zeigte dem Mann ein Foto von seinen Kindern, vor ihrem Haus aufgenommen. Tài und Diễm lächelten scheu, die Köpfe zueinander geneigt. Es stimmte nicht so ganz, dass sie gar keine Freunde hatten, aber er musste sein Plädoyer möglichst überzeugend klingen lassen.

Der Mann beachtete das Foto nicht. Er unterzeichnete das blaue Formular und reichte es Phong. Phong starrte auf die vielen gedruckten Wörter. Schwester Nhã hatte versucht, ihm das Lesen beizubringen, aber geschriebene Wörter machten ihm nur Angst. Er schloss die Augen, schüttelte den Kopf und gab der Frau das Papier. »Bitte, was steht da?«

Sie räusperte sich. »Das Konsulat der Vereinigten Staaten von Amerika in Hồ-Chí-Minh-Stadt bedauert, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Antrag auf Ausstellung eines Einwanderungsvisums nach einem persönlichen Gespräch nicht die Anforderungen gemäß Abschnitt 584 des Public Law 100-202, ergänzt durch Public Law 101-167, Public Law 101-513 sowie Public Law 101-649, dem Amerasian Homecoming Act, erfüllt. Sollten Sie zukünftig neue Nachweise vorweisen können, die Ihren Status als Amerasier belegen, werden wir Ihren Fall erneut prüfen. Um ein Amerasier-Visum zu erhalten, müssen Sie dem zuständigen Konsulatsbeamten nachweisen, dass Ihr Vater ein amerikanischer Soldat war. Die gemischtrassige Abstammung allein ist nicht ausreichend, um Sie für das Programm zu qualifizieren.«

Die Frau gab Phong das Formular zurück.

»Die Tatsache, dass Sie in Ihrem Antrag unwahre Angaben gemacht haben, könnte dazu führen, dass eventuelle zukünftige Anträge nicht mehr zugelassen werden«, sagte der Mann. »Ich weiß nicht, wie gut Ihre Chancen sind, aber falls Sie Nachweise erbringen können, schicken Sie sie uns zu. Auf Wiedersehen.«

Auf Wiedersehen? Nein, noch nicht. Phong trat einen Schritt vor. »Sir, es tut mir leid, dass ich einen Fehler begangen habe, aber ich bin jetzt ein anderer Mensch –«

Der Mann hob die Hand. »Wenn Sie einen Nachweis haben, schicken Sie ihn uns. Auf Wiedersehen.«

Rückkehr ins Land der Angst

Hồ-Chí-Minh-Stadt, 2016

»Meine Damen und Herren, wir beginnen jetzt mit dem Landeanflug. Bitte vergewissern Sie sich, dass Ihr Sicherheitsgurt angelegt und Ihr Handgepäck unter dem Sitz vor Ihnen oder im Gepäckfach über Ihnen verstaut ist.«

Dan atmete tief durch, drückte die Nase an die kalte Scheibe und blickte nach unten.

»Siehst du was?«, fragte Linda und beugte sich vor.

»Zu viele Wolken.« Dan lehnte sich zurück, damit seine Frau besser sehen konnte.

»Wir sind da, bevor du überhaupt etwas davon merkst.« Sie lächelte und drückte seine Hand.

Dan nickte und küsste Lindas Haar, das tröstlich nach Pfirsich duftete. Ohne sie hätte er es nicht geschafft. Er hatte sich geschworen, dass er nie wieder hierher zurückkehren würde.

Das Flugzeug rumpelte durch eine dichte Wolkendecke. Linda blätterte durch die Hochglanzseiten des Heritage-Magazins der Vietnam Airlines und betrachtete Fotos von luxuriösen Villen auf üppig grünen Hügeln, umgeben von weißen Sandstränden und tiefblauem Meer. Sie waren beide in kleinen, beengten Verhältnissen aufgewachsen, und er verstand ihre Sehnsucht nach schönen Häusern – eine Besessenheit, die dazu geführt hatte, dass sie Immobilienmaklerin geworden war. Doch Linda war nicht nur hinter dem Geld her, sondern sie suchte oft nach Leuten oder Projekten, die Kriegsveteranen bei den Hypotheken für ihre neuen Häuser halfen. Oder nach bezahlbaren Mietwohnungen für ehemalige Soldaten, die in Vietnam, Afghanistan oder im Irak gekämpft hatten. »Zu viele von ihnen sind obdachlos«, hatte sie zu ihm gesagt. Dafür liebte er sie.

Draußen war immer noch alles voller Wolken, die näher und näher zu kommen schienen. Ihre Dunkelheit weckte etwas tief in seinem Innern. Die alte Angst. Sein Körper spannte sich an. Er blickte zum Notausgang. Nur zwei Schritte. Einer, wenn er sprang.

Am Flughafen war er zum Leiter des Check-in gegangen. »Bitte, ich muss neben dem Notausgang sitzen.«

»Wie bitte, Sir?«

Er hatte seinen Kriegsversehrtenausweis vorgezeigt. Dennoch hatte der Leiter den Kopf geschüttelt. »Alle Plätze neben den Notausgängen sind bereits vergeben.«

Er war näher an den Mann herangetreten und hatte mit zusammengepressten Zähnen geflüstert: »Hören Sie, ich muss beim Notausgang sitzen, sonst kann ich nicht fliegen.«

Er war froh, dass er darum gekämpft hatte und dass der Notausgang vor ihm war, nicht hinter ihm.

Er atmete erneut tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Nach ein paar bewussten Atemzügen erkannte er, wie albern die Szene war, die er gemacht hatte. Warum musste er immer den typischen durchgeknallten Vietnamveteranen spielen? Was wollte er denn tun – die Tür auftreten und mitten im Flug rausspringen?

Er setzte gerade seinen Kopfhörer auf, um etwas beruhigende Musik zu hören, als das Flugzeug in ein Luftloch sackte. Gemurmel von den Passagieren um ihn herum. Der Sitz unter ihm schien plötzlich verschwunden zu sein, und er warf den Kopf zurück und klammerte sich an die Armlehnen. Der Airbus verlor an Höhe. Zu schnell. Hitze schoss durch seinen Körper. Die Maschine machte ein donnerndes Geräusch, als sie hin und her geworfen wurde, und die Kabine bebte heftig.

Der Kapitän meldete sich über die Lautsprecher und bat die Passagiere erneut, sich anzuschnallen.

Das Beben hörte nicht auf.

In Dan wand sich die alte Angst wie eine Schlange, die sich entrollte.

Er schloss die Augen, und mit einem Mal war er wieder im Cockpit seines Militärhubschraubers, und statt der Wolken sah er den dichten vietnamesischen Dschungel, der sich wie wild vor der Windschutzscheibe drehte. »Wir sind rechts gleich mit dem Heckrotor in den Bäumen«, schrie Hardesty in seinem Kopfhörer. Vom Dschungelboden blitzte Maschinengewehrfeuer auf. Rappa schoss mit seiner M-60 zurück, dass seine Schultern bebten. Kugeln trafen den Hubschrauber, und direkt über Dans Kopf war plötzlich ein Loch in der Plexiglasscheibe. »Schwerer Beschuss auf neun Uhr! Schwerer Beschuss auf neun Uhr!«, brüllte McNair panisch ins Funkgerät. Dann, mit ruhigerer Stimme: »Dan?« Eine Hand tätschelte seine Wange. »Alles in Ordnung?«

Er öffnete die Augen. Einige Passagiere lachten vor Erleichterung. Die Turbulenzen waren vorbei. Dan schluckte; sein Gesicht glühte vor Zorn und Scham.

Er schüttelte den Kopf, versuchte, die Bilder seiner Crew loszuwerden. Doch er sah sie immer noch vor sich: seinen Bordschützen Ed Rappa, der sich nach jedem überstandenen Einsatz bekreuzigte und den Boden küsste; seinen Crewchef Neil Hardesty, der immer mit offenem Mund Kaugummi kaute; und seinen Co-Piloten Reggie McNair, der bei jedem Flug seine zerlöcherten Glücksbringersocken trug. Dan wünschte, er könnte ihnen sagen, wie leid es ihm tat.

Warum waren sie tot, und er lebte? Diese Frage hatte er sich in den letzten siebenundvierzig Jahren zahllose Male gestellt.

»Brauchst du deine Tabletten?« Die Falten auf Lindas Stirn vertieften sich. Er hatte sie in den fünfundvierzig Jahren ihrer Ehe um einiges mehr altern lassen. Seine Wutanfälle, gefolgt von hemmungslosem Schluchzen. Seine Blackouts. Seine Alpträume. Die Geister seines Krieges.

»Es geht schon, danke.« Tränen traten ihm in die Augen. Er legte den Arm um Linda und zog sie an sich. Sie war sein Fels.

»Deine Tabletten sind hier, gleich in Reichweite.« Sie deutete auf ihre Handtasche, die unter dem Sitz vor ihr lag.

Er nickte und blickte aus dem Fenster, sehnte sich danach, festen Boden zu sehen. Er wünschte sich nichts mehr, als aus diesem Flugzeug herauszukommen. Vor langer Zeit hatte er den Kitzel des Fliegens geliebt, das Gefühl unendlicher Freiheit, unendlicher Möglichkeiten.

Mit neunzehn war er zur Armee gegangen und hatte sich um eine Ausbildung zum Piloten beworben, obwohl er sich keine großen Chancen ausrechnete. Viele von seinen Freunden waren entweder bereits eingezogen worden oder hatten ihren Einberufungsbescheid bekommen, sodass er ohnehin bald an der Reihe gewesen wäre. Und er hatte sich gedacht, dass er bei der Armee die Gelegenheit bekommen würde, etwas von der Welt zu sehen und ein Studium zu absolvieren. Als der Brief kam, der ihm mitteilte, dass ihn acht Wochen Grundausbildung, ein Monat Spezialinfanterieausbildung und dann neun Monate Pilotenausbildung erwarteten, hatte er einen so lauten Freudenschrei ausgestoßen, dass seine Mutter vor Schreck das Sieb mit den Nudeln fallen ließ, die es zum Abendessen geben sollte. Sie fragte ihn, was los war, und er las ihr den Brief vor. Er erzählte ihr, dass er viele Tauglichkeitsprüfungen über sich hatte ergehen lassen müssen, sie aber zu seiner Überraschung bestanden hatte. Der Rekrutierungsoffizier hatte gesagt, die Armee brauche dringend Hubschrauberpiloten in Vietnam, aber Dan hatte angenommen, dass sich sehr viele darum bewerben würden.

Als seine Mom sagte, sie wolle nicht, dass er dorthin ging, schließlich könne er getötet werden, hatte er erwidert, sie solle sich keine Sorgen machen, Gott werde schon auf ihn aufpassen. Wie so viele Neunzehnjährige hatte er sich für unbesiegbar gehalten. Doch ein Monat in Vietnam hatte gereicht, um ihm diese Illusion zu nehmen. Er war erst dreiundzwanzig gewesen, als er die Armee verlassen hatte, aber er hatte sich wie sechzig gefühlt. Das Wissen um den Tod hatte ihm die Jugend geraubt.

Wieder kam eine Ansage aus dem Lautsprecher, diesmal von einer Frauenstimme, und sie sprach Vietnamesisch. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Klang. So lyrisch, fast wie ein Lied. Wie die Schlaflieder, die Kim ihm vorgesungen hatte.

Etwas kam ihm bekannt vor. »Xin vui lòng.« Hieß das nicht »bitte«? Vor der Reise hatte er versucht, sich wieder mit der Sprache vertraut zu machen, aber offenbar hatte es nicht viel genützt.

Linda öffnete ihre Tasche, nahm eine Cremedose heraus und rieb sich das Gesicht ein. Dann legte sie rosa Lippenstift auf; ihre Lieblingsfarbe. Dieses Jahr wurde sie sechsundsechzig, aber wenn er sie anschaute, konnte er immer noch die junge Frau sehen, in die er sich damals verliebt hatte. Sie hatten dieselbe Highschool besucht, und sie war ihm in seinem vorletzten Jahr aufgefallen. Er sah sie noch vor sich, wie sie über das Basketballfeld rannte, das Gesicht gerötet und voller Entschlossenheit, die gebräunten Beine in der Luft, als sie nach dem Ball sprang. Wie froh war er gewesen, dass seine jüngere Schwester Marianne in der Mannschaft mitspielte, denn so hatte er einen Vorwand gehabt, Linda zuzusehen.

»Genug«, hatte Linda vor einigen Monaten gesagt, als er bei den Nachrichten über die Kriege im Irak und in Afghanistan geweint hatte. »Jetzt ist es endgültig genug, Schatz. Genau genommen ist es schon seit Jahren mehr als genug.« Sie zeigte ihm den Provisionsscheck, den sie für den Verkauf einer Eigentumswohnung bekommen hatte. »Ich will, dass wir mit diesem Geld endlich deine Probleme angehen.«

Genau genommen ist es schon seit Jahren mehr als genug. Sie brauchte gar nicht zu sagen, dass diese Reise über den Fortbestand ihrer Ehe entscheiden würde; das hörte er in ihrer Stimme. Er wusste, dass sie es verdiente, glücklicher zu sein, aber er wusste auch, dass es die Hölle sein würde, dorthin zurückzukehren. Alle seine schlimmen Erinnerungen würden wieder lebendig werden. Doch er war es Linda schuldig, sich seinen Dämonen zu stellen. Sie waren verlobt gewesen, als er nach Vietnam ging, und sie hatte auf ihn gewartet, als er zurückkam. Sie war trotz allem bei ihm geblieben. Aber was, wenn sie die Wahrheit über Vietnam erfuhr? Und über Kim?

Er nahm seinen Pass aus Lindas Handtasche und blätterte darin. Seine Finger begannen zu zittern. »Wo zum Teufel ist es?«

»Was denn?«

»Das Visum.«

Sie zeigte ihm die Seite mit dem leuchtend roten Stempel. »Siehst du? Es ist immer noch da und immer noch gültig.«

Er schüttelte den Kopf. Vietnam verunsicherte ihn auf eine Weise, die er nicht in den Griff bekam.

»Ach, das hätte ich ja fast vergessen.« Mit einem Zwinkern zog Linda einen Zwanzig-Dollar-Schein aus ihrem Portemonnaie und legte ihn zwischen die Seiten seines Passes. Sie erklärte ihm, dass ihre vietnamesischen Freunde Duy und Như ihr das geraten hatten. Sie waren zwar nie wieder in Vietnam gewesen, weil sie ihr Land an die Kommunisten verloren hatten, wie sie sagten, aber offenbar wussten sie, wie es dort lief.

Linda kannte Duy und Như aus der Kirche – derselben Kirche, die Ende der Siebzigerjahre Decken, Kleider, Spielsachen und Nahrungsmittel für die ersten vietnamesischen Flüchtlinge, die so genannten boat people, gesammelt hatte. Linda sah sie jede Woche beim Gottesdienst, aber Dan war seit Jahren nicht mehr mitgegangen. Vietnam hatte ihn überzeugt, dass Gott nur wenig Macht über eine Welt hatte, die so kriegsversessen war.

Sosehr Dan seine Frau liebte, fragte er sich doch, ob diese Reise nicht ein Fehler war. Ein Jahr zuvor hatten Bill und Doug ihn gefragt, ob er mit ihnen noch einmal nach Vietnam fliegen wollte. Er hatte es nicht über sich gebracht. Jetzt erkannte er, dass es vielleicht besser gewesen wäre, mit seinen Veteranenfreunden herzukommen. Sie würden seine Gefühle, seine Ängste verstehen. Nun, da er gleich landen würde, fürchtete er, dass er sich nicht gut genug auf die Reise vorbereitet hatte. Er war in der öffentlichen Bibliothek von Seattle und in seiner örtlichen Buchhandlung gewesen und hatte stapelweise Bücher von vietnamesischen Autoren mit nach Hause gebracht. Im Lauf der Jahre hatte er verschiedene Bücher von ehemaligen amerikanischen Soldaten gelesen, um das, was mit ihm geschah, besser zu verstehen und sich zu vergewissern, dass er damit nicht allein war. Doch vor allem die vietnamesische Literatur hatte ihm die Augen geöffnet. Das Buch, das ihn am meisten berührt hatte, war Die Leiden des Krieges von Bảo Ninh, seinem früheren Feind. Es zu lesen war, wie in einen Zerrspiegel zu blicken. Er hätte ohne weiteres Kiên sein können, der nordvietnamesische Veteran aus dem Roman. Der Titel sagte alles. Als er seinen Veteranenfreunden davon erzählte, waren sie überrascht, dass er Bücher von Leuten las, die einst versucht hatten, ihn zu töten. Die sie einst versucht hatten zu töten. Aber es war ihm wichtig, diejenigen zu verstehen, die er während des Krieges zu Objekten gemacht hatte. Indem er nach ihrer Menschlichkeit suchte, hoffte er, seine eigene zurückzubekommen.

Während der ersten Jahre nach seiner Rückkehr hatte Linda ihn mehrfach nach dem Krieg gefragt, wie es dort gewesen war, was er gesehen hatte. Doch er hatte nur erwidert, dass er nicht darüber reden wollte. Dann, in einer Sommernacht 1983, hatte er von einem Angriff der Vietcong geträumt. Mehrere Männer sprangen ihn an. Er kämpfte mit einem von ihnen, versuchte ihn zu erdrosseln, da hörte er Linda husten und würgen. Als er zu sich kam, pressten seine Hände ihre Kehle zusammen.

Linda hätte ihn verlassen, wenn er nicht am nächsten Morgen einen Psychiater angerufen und einen Termin vereinbart hätte. Bis zu dem Zwischenfall hatte er sich geweigert, einen Psychiater aufzusuchen, weil er nicht als gestört diagnostiziert werden wollte und womöglich einen Teil seiner Rechte einbüßte oder sogar seinen Führerschein abgeben musste. Dr. Barnes hatte ihm erklärt, dass er nicht der einzige Veteran mit Problemen war, und ihn gebeten, zum Treffen einer geheimnisvollen Gruppe 031 zu kommen; den nichtssagenden Namen hatte er gewählt, um die Mitglieder zu schützen. Dan war dafür dankbar, denn er wollte nicht, dass andere erfuhren, dass er zu einer PTBS-Gruppe ging. Dort hatte er Bill und Doug kennengelernt. Nach etlichen Therapiesitzungen und Gruppentreffen ging es ihm besser, aber es dauerte Jahre, bis Linda wieder bereit war, mit ihm in einem Bett zu schlafen.

In ihren gemeinsamen Sitzungen mit Dr. Barnes hatte Linda einiges über seine Zeit im Krieg erfahren – aber nicht das Wichtigste. Nicht das mit Kim. Nicht das mit seiner toten Crew. Nicht das mit den Schulkindern, deren Blut er in der Erde hatte versickern sehen. An seinen besten Tagen war es Dan sogar gelungen sich einzureden, dass nichts davon wirklich passiert war.

Vor kurzem hatte Linda sich in einer Gruppe für Ehefrauen von Vietnamveteranen mit Dr. Edith Hoh angefreundet, die Linda nur »Dr. E.« nannte und deren Mann ebenfalls in Vietnam gekämpft hatte. Linda hatte darauf bestanden, sie vor dieser Reise zu besuchen. Bei dem Treffen hatte Dr. Hoh ihnen Mut gemacht. Sie sagte, sie sei mit ihrem Mann in Vietnam gewesen und es habe geholfen. Sie riet ihnen, über ihre Gefühle und Erwartungen zu sprechen, was die Reise anging, sich Zeit zu geben, ihre Eindrücke zu verdauen, wenn sie dort angekommen waren, und sich nicht zu viel vorzunehmen. Und sie schrieb ihnen ihre private Telefonnummer auf die Visitenkarte. »Rufen Sie mich an, falls es zu einer Krise kommt«, sagte sie. »Ganz gleich, zu welcher Tages- oder Nachtzeit.«

Das Flugzeug befand sich weiter in steilem Landeanflug, und als sie die Wolken hinter sich gelassen hatten, blickte Dan nach unten. Reisfelder. Obwohl eine Ewigkeit vergangen war, leuchteten die Felder immer noch im gleichen Smaragdgrün. Wenn die Sonne auf das Schachbrett aus überfluteten Quadraten fiel, funkelten sie immer noch wie Messer. Und die Flüsse, die sich durch all das Grün wanden, sahen immer noch aus wie giftige Schlangen.

Linda spähte an ihm vorbei. »Oh, ist das schön.«

Nach und nach kam Saigon, jetzt Hồ-Chí-Minh-Stadt, in Sicht. Einst so vertraut wie seine Handfläche, war ihm die Skyline der Stadt jetzt vollkommen fremd mit ihren verglasten Hochhäusern und den vom Verkehr verstopften Straßen.

»Sieh doch nur, die ganzen Wolkenkratzer!«, rief Linda aufgeregt.

Er wollte ihr von den Rauchsäulen erzählen, die damals in den Himmel stiegen, vom Pfeifen der Raketen, die auf die Stadt zuschossen, von den Leuchtgranaten, die die Nacht erhellten, von den Bettlern auf den Straßen, die keine Arme und Beine mehr hatten, aber er hatte Angst davor, die Erinnerungen hervorzuholen.

Er beugte sich vor und hielt Ausschau nach dem Flughafen Tân Sơn Nhứt, der jetzt Tân Sơn Nhất hieß, wo er damals stationiert gewesen war. Anfangs hatte er nur hohe Tiere und berühmte Leute herumgeflogen und ihnen ein wenig das Land gezeigt. »Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt, Warrant Officer«, hatte der First Sergeant zu ihm gesagt. »Sie waren der Beste in Ihrer Klasse, und Sie sind fotogen, genau wie die es mögen. Seien Sie froh.« Einmal hatte er sogar einen bekannten Hollywoodstar zu einem Artilleriestützpunkt geflogen. Sein Vorgesetzter und die anderen Crewmitglieder waren vor Ehrfurcht schier erstarrt, aber für ihn verstärkte der Besuch des Schauspielers nur das seltsame Gefühl, eine Rolle in einem Film zu spielen, anstatt wirklich am Krieg teilzunehmen. Einerseits war er dankbar, nicht im Kampfgeschehen zu sein, andererseits hatte er ein schlechtes Gewissen und das Bedürfnis, sich im Einsatz zu bewähren; dafür war er doch schließlich hier.

Schließlich wurde er als Pilot und Crewchef dem Hubschraubertrupp der Kompanie zugewiesen. Mit seinem Huey, einem Bell-UH-1D/​H-Hubschrauber, unternahm er Angriffs- und Versorgungsflüge, brachte Lebensmittel, Munition oder Soldaten rein und manchmal auch gefallene oder verwundete Soldaten raus. Damals hatte er keine Ahnung gehabt, wie sehr diese Einsätze sein Leben für immer verändern würden.

Unter ihm breitete sich der Flughafen aus. Er sah ganz anders aus als früher, und ihm fiel ein Stein vom Herzen. Er sollte sich nicht so verrückt machen, schließlich war er jetzt nur ein Tourist. Ein schwabbeliger Amerikaner mit Bauchtasche in Begleitung einer Frau mit Selfiestick. Niemand brauchte zu wissen, dass er ein ehemaliger Soldat war.

Er sah, wie die Flugbegleiterin schräg gegenüber sich in ihrem Sitz zurücklehnte und ihren áo dài zurechtzupfte, und erneut überfluteten ihn die Erinnerungen. Kim hatte auch oft dieses kleidartige Oberteil getragen, mit Stehkragen und aus weichem Stoff, der ihr bis zu den Knien reichte. An einem Tag vor vielen Jahren hatte er bewundernd zugesehen, wie sie sich in einem weißen áo dài für eine buddhistische Zeremonie bereitmachte, die in einer Pagode in der Nachbarschaft stattfinden sollte. Sie waren gerade in die Wohnung eingezogen, die er für sie gemietet hatte. Sie stand am Fenster, und ihre Hand fuhr mit dem Kamm durch den Fluss ihres Haars. Er saß auf dem Bett und staunte über diesen Widerspruch: die Schönheit und Eleganz inmitten des Grauens.

»Wir sind da!«, sagte Linda, als das Flugzeug zum Halten kam. Dan rieb sich über die Stirn. Er hatte versucht, Kim aus seinem Leben zu löschen. Er hatte alle Fotos von ihr verbrannt. Er hatte sich eingeredet, dass sie nur ein Traum gewesen war, ein Geist. Doch sie war trotz allem in seiner Erinnerung lebendig geblieben, und jetzt stürzte sie auf ihn zu, als er in die Stadt zurückkehrte, in der sie einander begegnet waren.

Wieder sah er ihr schönes, achtzehnjähriges Gesicht. Ihre braunen Augen. Ihre Tränen.

Eine unmögliche Entscheidung

Phú Mỹ, Provinz Kiên Giang, März 1969

Trang hob die Hacke in die Luft und hieb sie mit aller Kraft in den Boden. Ein großer Erdbrocken löste sich, und im selben Moment schoss ihr ein stechender Schmerz in die rechte Handfläche. Offenbar waren ihre Blasen geplatzt. Sie biss die Zähne zusammen.

Ein paar Meter weiter bückte sich ihre siebzehnjährige Schwester Quỳnh und rupfte Wildgras aus. Ihr Gesicht war unter dem kegelförmigen nón lá verborgen. Quỳnh war ein Jahr jünger als Trang und ebenfalls durch die tú-tài-Prüfung gefallen, genau wie Trang zuvor, sodass sie keinen Schulabschluss hatte. Trang war immer überzeugt gewesen, dass ihre jüngere Schwester es schaffen würde, aber es war allgemein bekannt, dass jedes Jahr nur etwa ein Drittel der Schüler die Prüfung bestand.

Trang sehnte sich nach einem Lufthauch, doch die Hitze klebte an ihr wie eine zweite Haut. Ihre Schultern schmerzten. Vier Reisernten zuvor, als sie begonnen hatte, den ganzen Tag auf den Feldern ihrer Familie zu arbeiten, hatte sie gedacht, die ständigen Schmerzen in ihrem Körper kämen von einer schweren Krankheit, wahrscheinlich Krebs. Als sie Hiếu, dem Jungen, in den sie verliebt war, davon erzählt hatte, hatte er gelacht und gesagt, wenn sie einen Büffel hätten, um den Boden zu pflügen, würden ihre Körper nicht so leiden. Hiếu wusste das, weil er auch Reisbauer geworden war.

Obwohl Trang und ihre jüngere Schwester seit Sonnenaufgang arbeiteten, war noch mehr als die Hälfte des Feldes von Wildgras überwuchert, das sie mitsamt der Wurzel herausholen mussten. Dann mussten sie mit dem Eimer Wasser auf das Feld schütten und die Erde immer wieder durchpflügen, bis sie locker und gut durchlüftet war, bereit für die Reissämlinge.

Als die Kürze ihres Schattens Trang verriet, dass es fast Mittag war, griff sie nach dem Flaschenkürbis und trank einen Schluck Wasser. Dann reichte sie ihn Quỳnh. »Noch so viel zu tun.«

»Wir schaffen das schon.« Quỳnh wischte sich den Schweiß von ihrem langen, gebräunten Hals. »Có công mài sắt có ngày nên kim.«

Trang nickte. Es lag viel Weisheit in dem Sprichwort, das Quỳnh zitiert hatte: Beharrlichkeit verwandelt einen Eisenstab in eine Nadel.

Quỳnh blinzelte gegen die Sonne. »Letzte Nacht habe ich wieder geträumt, wir würden von Hubschraubern angegriffen. Direkt hier!« Sie ließ den Blick über die Felder schweifen, die sich bis zum grünen Rand ihres Dorfes erstreckten. Weit und breit war nichts zu sehen, außer ein paar Bauern, die über den Boden gebeugt waren. Ein Schwarm Störche flog auf, und ihre weißen Schwingen sahen aus wie Trauerbänder.

»Weißt du noch, was das Wichtigste ist? Wenn sie kommen, steh still. Lauf nicht weg.« Trang sah zu, wie Quỳnh trank. Sie hatte zu Buddha um Schutz gebetet. Ein paar Tage zuvor hatten amerikanische Soldaten einige mutmaßliche Việt Cộng durch die Felder eines Nachbardorfs verfolgt. Es hieß, amerikanische Hubschrauber hätten drei Bauern erschossen.

»Ha, ich wette, wenn hier etwas passiert, machst du dir vor Angst in die Hose, chị Hai.« Quỳnh trank den Rest Wasser und griff wieder nach ihrer Hacke. Sie nannte Trang »Schwester Nummer zwei«, obwohl Trang die Älteste war. Doch die Leute in ihrer Gegend glaubten, dass böse Geister oft hinter den ältesten Kindern her waren, deshalb wurde das erstgeborene Kind als zweites bezeichnet.

Trang wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn Soldaten ihr Feld stürmten. Immerhin hatte sie ihre Begegnungen mit den Hubschraubern überlebt. Einige waren so tief geflogen, dass sie gefürchtet hatte, der Wind, den sie erzeugten, würde sie wie ein Blatt durch die Luft wirbeln. Dennoch hatte sie es nicht gewagt, sich zu ducken. Sie hatte dagestanden, mitten in der Staubwolke, Augen und Lippen fest zusammengepresst, und gebetet. Ihre Eltern hatten ihr viele Überlebensregeln beigebracht, und eine davon lautete: Hubschrauber schossen und töteten jeden, der weglief.

»Buddha wird über uns wachen. Ob wir leben oder sterben, entscheidet der Himmel«, sagte Trang zu Quỳnh, dann stieg sie auf die Böschung am Feldrand. Das Gras kitzelte sie an den Füßen und vertrieb die Sorgen, die sich wie dunkle Wolken über sie gelegt hatten. Ein Grashüpfer sprang auf und verschwand in einem Mimosenbüschel. Sofort rollten sich die Blätter der Pflanze zusammen, sodass die rosa Blüten herausstanden wie kleine Wattebäusche. Sie fragte sich, ob es ein Bauer gewesen war, der ihr ihren Namen gegeben hatte: cây mắc cỡ – die empfindliche Pflanze.

Quỳnh wischte sich die Füße am Gras ab. Ihre Wangen waren rosig, und einige Haarsträhnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, umrahmten ihr ovales Gesicht. Trang verspürte einen Stich der Eifersucht. Wie schaffte Quỳnh es nur, immer so hübsch auszusehen? Sie hatte so viele Verehrer.

»Má muss wirklich mehr Reis kochen. So hungrig kann ich nicht arbeiten.« Quỳnh schlüpfte in ihre Plastiksandalen.

Auch Trang knurrte der Magen. Am Abend zuvor hatte ihre Mutter nur halb so viel gegessen wie sonst und behauptet, sie könne nicht mehr. Quỳnh hatte mit ihrem Löffel immer wieder den Reistopf ausgekratzt, aber es war kein einziges Körnchen mehr übrig gewesen. Später, als Trang zum Brunnen gegangen war, um das Geschirr abzuwaschen, hatte sie gesehen, wie ihre Mutter vor der Tür stand, vollkommen reglos, als hätte der Himmel sie in die Erde gepflanzt, und zu ihrem einstigen Steinhaus hinüberstarrte. Dem Haus, das sie verloren hatten.

Trang und Quỳnh verließen das Feld. Entlang der Dorfstraße standen die strohgedeckten Häuser still im Schatten der Bäume. Mehrere Bauern trugen Körbe und liefen eilig heimwärts, um der Mittagshitze zu entkommen. Eine Gruppe Soldaten der ARVN, der Armee der Republik Việt Nam, ging an ihnen vorbei, und Trang war dankbar beim Anblick ihrer Gewehre. Keine zwanzig Kilometer von hier hatten die Việt Cộng einige Dörfer teilweise unter ihre Herrschaft gebracht.

In der Schule hatte man ihr beigebracht, der Krieg sei durch die Angriffe von Hồ Chí Minh und den Kommunisten ausgelöst worden. Aber sie wusste, dass die Samen des Konflikts viele Jahre davor gesät worden waren, als Frankreich Việt Nam besetzt hatte. Es war Hồ Chí Minh, der die Franzosen besiegt hatte, und jetzt herrschte seine Regierung über den Norden.

Der Süden, wo sie lebte, stand unter der Regierung des Việt Nam Cộng Hòa und seiner Armee, der ARVN, unterstützt von den amerikanischen Truppen, die helfen sollten, das Volk zu schützen. Doch die Việt Cộng – Kommunisten aus dem Norden, die den Süden infiltriert hatten, und Leute aus dem Süden, die Anhänger von Hồ Chí Minh waren – lauerten überall. Es konnten Männer in schwarzer Kleidung sein, die Gewehre trugen, oder unschuldig aussehende Mädchen mit Handgranaten unter ihren Blusen.

Sie verstand nicht, warum die Menschen kämpfen mussten, aber der Krieg schien immer schlimmer zu werden. Die Amerikaner, die die Regierung im Süden unterstützten, hatten den Norden bombardiert, und dafür würde es bestimmt Rache geben. Bei diesem Gedanken fühlte sich die Hacke auf ihrer Schulter noch schwerer an.

Sie folgte Quỳnh, den Blick auf das lange Haar ihrer Schwester gerichtet, dasselbe Haar, das sie zu dicken Zöpfen geflochten hatte, während sie im Schatten ihrer Bananenpflanzen gesessen und auf die Rückkehr ihres Vaters gewartet hatten.

Vier Jahre zuvor, als er in die ARVN eingezogen worden war, hatte ihr Vater zwei kleine Bananenpflanzen mit nach Hause gebracht, die er im Garten in die Erde setzte.

»Wenn sie Früchte tragen, komme ich wieder zurück.« Mit einer leeren Kokosnuss schöpfte er Wasser und begoss die Pflanzen damit.

Trang klammerte sich an den starken, muskulösen Arm ihres Vaters. »Geh nicht, Ba … bitte.«

»Du weißt doch, dass er muss.« Quỳnh stieß Trang weg. »Und fang ja nicht an zu weinen. Deine Tränen würden ihm Pech bringen.«

Ihr Vater ließ die Kokosnuss fallen und zog seine beiden Mädchen an sich. »Ich werde an der Seite der am besten ausgebildeten Soldaten der Welt kämpfen. Sie sind den ganzen weiten Weg von Amerika hierhergeschickt worden, stellt euch das mal vor! Sie haben moderne Waffen, und sie werden dafür sorgen, dass mir nichts passiert. Also habt keine Angst.«

Während der folgenden Monate flehte Trang die Bananenpflanzen an, schnell zu wachsen. Sie gab ihnen von dem Kompost aus Büffeldung, den ihre Mutter für die Reispflanzen angelegt hatte. Sie und Quỳnh hüpften vor Freude auf und ab und klatschten in die Hände, als die erste Pflanze blühte. Die zweite Pflanze folgte bald darauf. Die Blüten wurden riesig und hingen herab wie die roten Laternen, mit denen ihr Dorf zum Mittherbstfest geschmückt wurde. Nach und nach öffneten sich die Laternen und fielen auseinander, und darunter kamen Reihen von Bananen zum Vorschein. Jeden Tag nach der Schule setzten sich Trang und Quỳnh unter die Bananen und schauten zum Tor. Um sich die Zeit zu vertreiben, flochten sie einander Zöpfe.

Neue Bananenpflanzen wuchsen und ersetzten die alten. Eines regnerischen Tages fand Trang beim Nachhausekommen ihre Mutter neben einem fremden Mann vor. Sein Gesicht war ausgemergelt und halb von einem ungepflegten Bart bedeckt, seine Augen wirkten müde, sein Blick in sich gekehrt. Als der Mann ihren Namen flüsterte, ließ Trang ihren Bambuskorb fallen, sodass die weißen so đũa – Kolibriblüten, die sie für ihre saure Suppe gesammelt hatte – herausfielen.

Trangs Vater war körperlich unversehrt, aber er lachte nicht mehr. Er wollte nicht darüber reden, was er gesehen und getan hatte. Später erfuhr sie, dass er wegen seiner psychischen Probleme aus der Armee entlassen worden war.

»Puh, ist das heiß. Meinst du, es regnet bald?«, fragte Trang ihre Schwester, die vor ihr herging. Quỳnh wechselte ihre Hacke auf die andere Schulter und blickte auf. »Oh, ist das Hân?«

Trang blinzelte. Ihnen kam ein Radfahrer entgegen, vorgebeugt und mühsam in die Pedale tretend, weil er einen Anhänger zog, in dem Hân und ihre Mutter saßen. Hân war früher Trangs beste Freundin gewesen. Ein Jahr zuvor hatte sie das Dorf verlassen und war nach Sài Gòn gegangen, um eine Stelle bei einer amerikanischen Firma anzutreten, die ihr Onkel ihr vermittelt hatte. Sie schickte so viel Geld nach Hause, dass ihre Mutter sich ein Steinhaus hatte bauen lassen.

»Wir müssen uns verstecken.« Trang zog ihre Schwester am Arm und suchte nach einem Gebüsch. Hân war jetzt ein reiches Mädchen, sie sollte sie nicht in den zerlumpten Bauernkleidern sehen, mit den schlammverschmierten Hacken.

Doch Quỳnh schüttelte sie ab. »Chị Hân, chị Hân«, rief sie zu der Fahrradrikscha. »Wann bist du zurückgekommen?«

Quietschend hielt die Rikscha an. Hân sah todschick aus in ihrer geblümten Bluse und der seidigen schwarzen Hose. »Oh, hallo. Kommt ihr gerade von der Arbeit?«

Trang nickte und wünschte, sie könnte in dem Erdriss zu ihren Füßen verschwinden.

»Chào cô«, begrüßte Quỳnh Hâns Mutter, die ihnen zulächelte.

»Fahr schon mal vor, Má.« Hân sprang aus der Rikscha.

»Vergiss nicht, dass deine Großmutter zum Mittagessen kommt«, rief Hâns Mutter, als die Rikscha sich wieder in Bewegung setzte.

»Du siehst gut aus, Schwester … viel rundlicher.« Quỳnh musterte Hân von oben bis unten.

»Oje, das ist schlecht.« Hân klopfte sich auf den Bauch.

»Wieso denn das?«, fragte Quỳnh.

»In Sài Gòn ist es schick, dünn zu sein.« Hân lachte.

Trang schüttelte den Kopf. Wie konnte das sein? Rundlich zu sein bedeutete, reich zu sein. Nur arme Leute waren dünn.

Quỳnh, Hân und Trang gingen zu der großen trứng cá – einer Jamaika-Kirsche –, die an der Dorfstraße stand und ihre Äste ausbreitete wie eine Henne die Flügel, um ihre Küken zu schützen. Im grünen Laubdach hingen Hunderte kleiner Früchte, einige davon schon reif, wie rote Sterne. Jede von ihnen war gefüllt mit duftender Süße. Trang hätte am liebsten die Hosenbeine hochgekrempelt, sich auf einen Ast geschwungen und wäre hinaufgeklettert, bis sie an sie herankam.

Hân stellte sich auf die Zehenspitzen und sprang, erreichte jedoch nur eine rosafarbene Frucht, die erst halb reif war. Sie schob sie sich dennoch in den Mund. »Und, wie geht’s euch so?«

Quỳnh und Trang ließen ihre Hacken fallen. Quỳnh setzte sich auf einen niedrigen Ast und ließ die Beine baumeln.

»Na ja …« Trang nahm ihren nón lá ab und fächelte sich und ihren Freundinnen damit Luft zu. Der kegelförmige Hut aus Bambusstäben und Palmenblättern war ein Geschenk ihrer Mutter. Trang hatte mit rotem Faden ihren Namen in die Innenseite gestickt, und dazu den ersten Vers aus Das Mädchen Kiều von Nguyễn Du: »In hundert Jahren, die vielleicht ein Leben währt, in dieser Erdenspanne widersprechen oft sich Gabe und Geschick.«

»Ich habe heute Morgen ein paar Freundinnen getroffen. Sie haben erzählt, dass bei euch gestern Leute waren, die herumgebrüllt haben?«, fragte Hân.

Trang biss sich auf die Lippen. Warum tratschten ihre Freundinnen so?

»Die Geldverleiher«, sagte Quỳnh. »Die sollen zur Hölle fahren.«

»Ja, die sollen verdammt noch mal zur Hölle fahren!«, stieß Trang aus. Es tat gut zu fluchen. Die Geldverleiher waren im vergangenen Jahr zum ersten Mal gekommen, als ein Kindheitsfreund ihrer Eltern mit dem Geld abgehauen war, das sie ihm geliehen hatten. Der Mann hatte nicht nur die gesamten Ersparnisse ihrer Eltern mitgenommen, sondern auch noch eine große Summe, die sie als Kredit aufgenommen und ihm gegeben hatten, in der Hoffnung, an den Zinsen zu verdienen. Anfangs waren die Geldverleiher höflich gewesen, aber im Lauf der Zeit hatten sie die Geduld verloren. Sahen sie denn nicht, dass ihre Eltern Opfer waren und gar keine Möglichkeit hatten, ihnen das Geld zurückzuzahlen?

Hân seufzte. »Meine Mutter hat mir von dem Betrüger erzählt, der eure Familie bestohlen hat. Offenbar hat er viele Leute mit dieser angeblich so lukrativen Anlage um ihr Geld gebracht. Ich hoffe, die Polizei erwischt ihn.«

»Er ist schon über ein Jahr fort, ich weiß nicht, ob die Polizei überhaupt noch nach ihm sucht. Und die Geldverleiher drohen damit, uns auch noch die Hütte und das Feld wegzunehmen, obwohl beides nicht viel wert ist.« Quỳnh pflückte eine Frucht und schleuderte sie so heftig weg, dass sie über die Straße hüpfte.

Trang dachte an die langen Reisen, die ihre Mutter zusammen mit den anderen Opfern unternommen hatte, um den Betrüger zu suchen. Als sie das letzte Mal zurückgekommen war, hatte sie den Kopf gegen den steinharten Tontopf geschlagen, in dem sie ihr Wasser aufbewahrten, und gesagt, am liebsten würde sie sich umbringen, weil sie so dumm gewesen war.

»Ich weiß, wie sehr ihr beide euch bemüht habt, Arbeit zu finden.« Hân senkte die Stimme. »Aber habt ihr es schon mal außerhalb dieser Provinz versucht?« Sie wartete, bis ein paar Leute aus dem Dorf vorbeigegangen waren, bevor sie fortfuhr. »Ich sage euch das, weil ihr meine Freundinnen seid … In Sài Gòn könntet ihr viel Geld verdienen.«

»Du hast deinen Onkel, aber wir kennen dort niemanden.« Trang musterte Hâns Haar. Warum hatte sie es so kurz geschnitten? Und irgendwas hatte sie mit ihrer Haut gemacht, sie war so hell, dass sie regelrecht leuchtete.

»Ihr braucht da niemanden zu kennen.« Hân lächelte. »Ihr müsst euch nur ein bisschen … hübsch machen. Ihr seht beide gut aus. Ich bin sicher, dass ihr sehr erfolgreich wärt.«

»Aber was müssten wir denn tun?«, fragte Quỳnh.

»Sài-Gòn-Tee trinken.« Hân lachte.

»Tee?« Quỳnh sprang von ihrem Ast.

»Ja. Ihr setzt euch in eine Bar, trinkt Sài-Gòn-Tee und verdient gutes Geld.«

»Eine Bar? Was ist das?«, fragte Trang.

»Oh, ein Ort, wo sie Alkohol an amerikanische Soldaten verkaufen. Wir nennen sie GIs.«

Trang schauderte es. Wie konnte Hân ihnen vorschlagen, mit diesen fremden Männern zu trinken? Einige von ihnen hatten Blut an den Händen. Blut, das Trang oft in ihren Träumen verfolgte.

Hân blickte sich um. Obwohl auf der Straße niemand zu sehen war, flüsterte sie. »Schwört ihr, dass ihr niemandem etwas davon sagt? Nicht mal einem Geist?«

Quỳnh und Trang nickten.

»Meine Stelle ist gar nicht bei einer amerikanischen Firma. Ich arbeite in einer Bar. Ich gehe dorthin, trinke Sài-Gòn-Tee und verdiene damit Geld.«

Trang schlug die Hand vor den Mund. »Aber ich dachte, dein Onkel –«

»Hat mir eine gute Stelle vermittelt? Von wegen! Ich habe ihm ein paar Geschenke gegeben, damit er mein Geheimnis für sich behält. Eine entfernte Cousine hat dasselbe getan und mir davon erzählt.« Hân zwinkerte.

»Weiß der Rest deiner Familie davon?«, fragte Quỳnh.

»Natürlich nicht. Ihr seid die Einzigen, die ich eingeweiht habe.«

Trang starrte Hân an. Wenn die Leute im Dorf das herausbekamen, würden sie sie bestimmt als me Mỹ beschimpfen, als Prostituierte für die Amerikaner. Hier durften Frauen niemals mit Männern zusammen trinken, nicht einmal auf einer Party.

Und was würde Hiếu von ihr denken, wenn sie mit amerikanischen Männern trank? Am vergangenen Abend hatte Hiếu im Mondschein ihre Hand genommen. Die Wärme seiner Berührung hatte sie in die Flucht geschlagen.

»Passt auf, es ist nicht so schlimm, wie es klingt«, sagte Hân. »Ich muss nicht unter der brennenden Sonne arbeiten, und ich verdiene ungefähr fünfzehntausend Đồng in der Woche.«

»Was?! Trang und ich haben letztes Jahr in der ganzen Pflanzsaison nur das Doppelte davon eingenommen«, stieß Quỳnh aus.

»Ich weiß.« Hân nickte. »Du bist hübscher als ich, deshalb würdest du bestimmt sogar noch mehr verdienen.«

»Wir sind nicht hübscher als du. Und ich glaube nicht, dass wir das tun können … du weißt schon … in dieser Bar arbeiten.« Trang schüttelte den Kopf. Ihre Mutter hatte ihr und Quỳnh die vier Tugenden einer guten vietnamesischen Frau beigebracht: harte Arbeit, Schönheit, gepflegte Ausdrucksweise und tadelloses Benehmen. Ganz bestimmt würde sie ihnen nicht erlauben, mit Männern zu trinken.

»Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat?« Quỳnh sah Trang an. »Deine Freundin verdient fünfzehntausend Đồng in der Woche. Stell dir mal vor, wenn wir auch nur die Hälfte davon verdienen würden. Dann könnten wir Ba und Má helfen, ihre Schulden zurückzuzahlen.«

Hân nickte. »Mit dem Geld, das ich nach Hause schicke, kann meine Má besser für sich und meine Geschwister sorgen.«

Trang erinnerte sich, wie Hâns Mutter bei der Beerdigung ihres Mannes ohnmächtig geworden war. Er war als Soldat fortgegangen und als Leichnam zurückgekehrt. Doch jetzt schien es ihr so gut zu gehen. Trang wünschte, sie könnte dasselbe für ihre Mutter tun. Und für Quỳnh.

»Siehst du? Und das nur mit Sài-Gòn-Tee,« sagte Quỳnh zu Trang und zupfte sie am Ärmel, dann wandte sie sich wieder zu Hân. »Es ist doch Tee, was du da trinkst, oder?«

»Zum größten Teil … Glaubt mir, das wäre perfekt für euch.«

»Was meinst du mit ›zum größten Teil‹?«, fragte Trang.

»Es ist einfach nur Tee«, erwiderte Hân mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wenn ihr euren Eltern helfen wollt, denkt über das nach, was ich euch gesagt habe. In der Bar, wo ich arbeite, suchen sie neue Mädchen.«

Quỳnh stieß Trang in die Seite. »Das ist eine goldene Gelegenheit, chị Hai.«

Trang schüttelte den Kopf. »Unsere Eltern würden uns niemals dort arbeiten lassen.«

»Glaubst du etwa, meine Mutter würde mir das erlauben?« Hân grinste. »Aber sie wird es nie erfahren. Dieser verdammte Krieg wird immer schlimmer, und wir müssen Geld beiseitelegen, für die Zukunft, versteht ihr?« Sie hielt ihr Handgelenk hoch, an dem eine goldene Uhr funkelte. »Ich muss los. Großmama wartet bestimmt schon.«

»Xe lôi, xe lôi«, rief Hân einer sich nähernden Rikscha zu. Dann wandte sie sich noch einmal um und flüsterte: »Wenn ihr mehr wissen wollt, kommt heute Abend zu mir. Und denkt dran: Kein Wort zu niemandem.«

»Na klar. Dann bis heute Abend«, sagte Quỳnh, als wäre sie die ältere Schwester, die Entscheidungen für sie beide treffen konnte.

Hân stieg in die Rikscha. Der Fahrer betätigte die Klingel und fuhr los. Trang stand im Schatten des Baums und sah Hân nach; die Blumen auf ihrer Bluse leuchteten wie Flammen auf der Dorfstraße. Sie hatte oft von Sài Gòn geträumt, der großen Stadt mit den berühmten Universitäten und den Bürojobs. Aber das hier war etwas anderes. Bars und amerikanische »GIs« konnte sie sich nicht vorstellen.

»Sie sieht glücklich aus, und sie ist reich. Wir können das auch sein.« Quỳnh starrte auf die Schrammen an ihren Füßen und ihre Zehennägel, die vom ständigen Kontakt mit dem Schlamm gelb verfärbt waren. Dann nahm sie ihre Hacke und machte sich wieder auf den langen Heimweg.

»Về rồi đó hả? Nước chanh đó, uồng đi con!«, rief ihre Mutter, als Trang und Quỳnh hereinkamen – sie sollten die Limonade trinken, die sie frisch gemacht hatte. Sie hatten sich am Brunnen im Garten gewaschen, und auf Trangs Gesicht, Armen und Beinen saßen noch Wassertropfen. Sie genoss ihre kühlen Küsse.

Ihre Mutter hockte in der Ecke ihrer Hütte und kochte.

»Was gibt’s zu essen, Má?«, fragte Quỳnh und leerte ihr Glas mit Limonade in einem Zug.

»Du hast doch gestern Abend danach gefragt.« Ihre Mutter hielt ein Stück golden gebratene Reiskruste hoch.

Quỳnh nahm es und biss krachend hinein. »Lecker!«

Trang lief das Wasser im Mund zusammen. Sie fand es wunderbar, wie ihre Mutter es schaffte, die Flammen des Herds und ihren Tontopf so zu beherrschen, dass der Reis immer wieder eine andere Textur bekam: knusprig zu gebratenen Schalotten, zart und luftig zu Trockenfisch, weich und schmelzend zu den kleinen Krebsen, die sie in Flüssen und Teichen fing und mit Fischsauce und Pfeffer kochte.

»Trang, ich kann mich gar nicht sattsehen. Du bist so talentiert.« Ihr Vater, der auf seinem Bambusbett lag, hielt ein Notizbuch hoch, und ein breites Lächeln erhellte sein hageres Gesicht.

»Wo hast du das gefunden, Ba?« Trang griff danach. Es enthielt ihre Zeichnungen des menschlichen Körpers. Biologie war ihr Lieblingsfach gewesen. Sie hatte immer Ärztin werden wollen.

»Deine Mutter hat nach Altpapier gesucht, um es zu verkaufen …«

»Als dein Vater dein Notizbuch sah, hat er darauf bestanden, Rahmen für deine Zeichnungen zu machen und sie aufzuhängen.« Trangs Mutter stellte dampfende Schalen mit Reis und Spinat auf ein Bambustablett.

Trang blickte auf die getrockneten Kokosblätter, aus denen die Wände der Hütte bestanden. In dem Steinhaus, das ihre Eltern hatten verkaufen müssen, um einen Teil ihrer Schulden zu bezahlen, würden ihre Zeichnungen viel besser aussehen.

»Herr Ánh war heute hier. Die sind für dich.« Ihr Vater gab Trang einen Stapel Papiere. Übungsaufgaben für die tú-tài-Prüfungen. Trang nickte voller Dankbarkeit für ihren früheren Lehrer. Wie ihre Eltern glaubte auch er, dass Trang und Quỳnh die Prüfung noch bestehen und studieren konnten.

»Wir üben heute Abend, Ba.« Trang blätterte durch die Aufgaben. Die meisten Schüler hatten private Nachhilfelehrer. Sie und Quỳnh mussten sich ganz besonders anstrengen, aber sie waren immer vollkommen erschöpft, wenn sie abends die Kokosöllampen anzündeten und sich auf ihr Bett setzten, um zu lernen.