Der Gesang des schwarzen Jaguars - NANA NAUWALD - E-Book

Der Gesang des schwarzen Jaguars E-Book

Nana Nauwald

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Beschreibung

Neuauflage Aufbruch in eine andere Welt Mit vielen bohrenden Sinnfragen im Herzen macht sich Nana Nauwald auf die Suche nach einer neuen inneren Orientierung. Sie taucht tief ein in die magischen Welten der Schamanen im Dschungel Amazoniens. In nächtlichen Ritualen in vollständiger Dunkelheit mit extremen Sinneswahrnehmungen und außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen erschließt sich ihr eine Welt, die jenseits ihrer Vorstellungen und Erwartungen liegt. Aber in der Welt der Schamanen erlebt sie auch Kampf um Macht, Schadenszauber, Krankheitsfluch und Totengeister. Neugier, Wissensdurst, Mut und Lebensfreude sind die Ausrüstung, mit der Nana Nauwald diese Bedrohungen übersteht.

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Seitenzahl: 465

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nana Nauwald, geb. 1947, Künstlerin, Buchautorin, Dozentin fur Rituale der Wahrnehmung, erfährt und erforscht seit über 32 Jahren schamanische Bewusstseinswelten indigener Völker [Südamerika, Sibirien, Nepal]. Diese Erfahrungen haben sie gelehrt und inspiriert, sich tiefer mit den den Wurzeln alter schamanischer Kulturen in Europa zu beschäftigen und das alte Wissen durch ihre kreative Ritualarbeit neu wachsen zu lassen und das alte Wissen in unsere heutige Zeit einzuweben.

Zu diesem Thema hat sie elf Bücher veröffentlicht. Auch in ihren farbenprächtigen, sehr fein gearbeiteten Gemälden geht sie der Frage nach, die sich durch ihr vielfältiges Lebenswerk zieht: „Was ist der Geist des Lebens?" Seit über 30 Jahren unterrichtet sie „Rituelle Körperhaltungen und Ekstatische Trance nach Dr. Felicitas Goodman"® und ist Begründerin des deutschen Felicitas-Goodman-Instituts. Ihre Seminar- und Vortragsarbeit führt sie nach Spanien, Österreich, Schweiz und Russland, wo sie seit vielen Jahren lehrt und dort auch schamanische Rituale mit sibirischen Schamaninnen und Schamanen erfahren hat.

www.visionary-art.de – www.ekstatische-trance.de

Für meinen Mann Bruno Martin

 

Alle Reisen haben einen geheimen Bestimmungsort, von dem der Reisende nichts weiß.Martin Buber

Vorbemerkung

Dieser Sachroman fasst die Erfahrungen, Begebenheiten und Begegnungen von fünf Reisen in das peruanische Amazonasgebiet zusammen. Personen und Orte wurden teilweise umbenannt.

Alle Informationen über Pflanzen und ihre Anwendung sowie über Gebräuche und Lebensart der Bewohner Amazoniens beruhen auf eigener Erfahrung und mündlichen Informationen. Dieses Wissen gebe ich wieder, ohne dabei auf ethnologische oder botanische Fachkenntnisse Anspruch zu erheben.

Ich friere. Kalte, klamme Feuchtigkeit ist in die letzten Windungen meiner Glieder gedrungen. Im Herzen des tropischen Regenwalds, im Flussgebiet des Amazonas liege ich in meiner Hängematte und zittere vor Kälte. Die mondlose Nacht ist von einer undurchdringlichen Dunkelheit. Mühsam steige ich aus der Hängematte, fingere den Verschluss des Moskitonetzes auf und taste mich im Schein meiner kleinen Taschenlampe vorsichtig durch das Gewirr der anderen Moskitonetze zu meinem Rucksack. Ich ziehe alles an Kleidungsstücken heraus, was Wärme verspricht. Das ist nicht viel, denn beim Packen zuhause in Deutschland hatte ich mich auf ein feucht-heisses Klima eingestellt, nicht auf Kälte. Meine Taschenlampe hat Ricardo aufgeweckt, der aus seiner Hängematte steigt und meine Not schnell erkennt.

"Warte, hier habe ich noch Decken für dich."

Er bückt sich, greift unter die grobgezimmerte Holzbank, scheucht dabei ein empörtes Huhn auf und zieht ein Bündel undefinierbarer Stoffteile hervor, auf denen es sich das Huhn bequem gemacht hatte. Zurück in meiner Hängematte, breitet Ricardo sorgsam die Lumpen über mich und meinen Kleidungsstücken aus.

"Denk' an mich, dann wirst du wärmende Träume haben."

Grinsend verschliesst er wieder mein Moskitonetz von außen und verschwindet geräuschlos in seiner Hängematte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Gedanken an Ricardo mich weder wärmen noch in einen süßen Schlaf fallen lassen werden und versuche stattdessen, mich auf die Nachtgeräusche des Dschungels zu konzentrieren.

Vielleicht tragen sie mich ja wieder in das Reich des Schlafes. Das vielfältige Stimmenkonzert glucksender, brüllender, schwirrender, pfeifender Tiere jedweder Art ist dazu jedoch auch nicht sehr geeignet. Auf keinen Fall darf ich auf die unzähligen juckenden und brennenden Insektenbisse achten und auch nicht daran denken, welche unliebsamen Gäste sich aus den Lumpen herausstehlen werden, um mich zu beglücken. Die Stofflagen über mir bewirken bald eine Erwärmung meiner müden Glieder. Ich spüre, wie sich mein Körper wohltuend entspannt und falle immerhin noch vor Anbruch der frühen Morgendämmerung in den Schlaf.

Die singende Stimme der abuela, der Großmutter, weckt mich. Ich habe das Gefühl, nicht länger als eine Stunde durchgehend geschlafen zu haben, befreie mich aus den von der Nachtfeuchtigkeit klammen Stofffetzen und verlasse die Privatsphäre meines Moskitonetzes.

Ricardo, seit meiner Ankunft in Iquitos mein aufmerksamer Führer in der Stadt, auf dem Fluss und durch den Dschungel, hat sein Moskitonetz schon über der Hängematte hochgeschlungen und schaukelt mit der abuela schwatzend und lachend in seiner Matte hin- und her. Ernesto, Ricardos älterer Bruder der gestern Nacht zu Besuch kam, liegt zwar noch unter dem Moskitonetz in seiner Hängematte, aber regelmäßig aufsteigende Tabakwolken zeigen an, dass auch er schon wach ist.

Ich setze mich auf die oberste Stufe der Leiter des Pfahlbauhauses, das jetzt in der Trockenzeit einige Meter über dem Erdboden zu schweben scheint, und sinne den Ereignissen der letzten Woche nach. Unglaublich, dass es erst zehn Tage her ist, dass mir die feucht-heisse Tropenluft beim Verlassen des Flugzeugs fast den Atem raubte. Doch seit diesem Moment meiner Ankunft in Iquitos hat das gewohnte Zeitmaß eine neue Qualität bekommen.

Iquitos – "die Mitte von nirgendwo" im Herzen des peruanischen Dschungels, in dem etwa 750 000 Menschen aus 67 unterschiedlichen Ethnien auf einer Fläche leben, die ungefähr so groß ist wie Deutschland, vergessen von Regierungen und Wirtschaftsverbänden. Diese Stadt am großen Strom, durch die immer noch ein Hauch der Sehnsucht nach dem Glanz und Reichtum der vergangenen Kautschukzeiten schwebt, ist Ausgangspunkt meiner Suche nach der Erkenntnis meiner Wirklichkeit.

Ich bin an einem Punkt in meinem Leben angekommen, an dem ich mich meiner Vorstellung von mir und den Wirklichkeiten meiner Welten stellen muss und will. Ich will es, weil ich diesen tief an mir nagenden, alles hinterfragenden Zweifel an der Wahrheit meines Denkens und Tuns in die Ruhe einer Gewissheit bringen möchte. Ich muss es, weil die brisante Mischung von Zweifel und professionellen, sicheren Antworten auf die Fragen des Zweifels meine Lebenskraft ausgebrannt haben.

Ich habe nicht lange überlegen müssen als ich nach dem Ort suchte, an dem nicht nur die Aussicht besteht, mein brennendes Herz und meinen müden Geist zu erfrischen, meine Seele zu füttern. Einem Ort, von dem ich erhoffe dass ich dort so durchgeschüttelt werde, dass alle verqueren Denkmuster und verknoteten Gefühle wieder eine neue Ordnung erfahren können: am Amazonas.

Alles, wonach ich mich sehne und alles, was ich fürchte, beinhaltet das Amazonasgebiet für mich: die magische Welt der Schamanen – vertraut und fremd zugleich, lockend und ängstigend. Die Konfrontation mit einer faszinierenden und zugleich lebensbedrohenden Pflanzen- und Tierwelt. Die Fremdheit der indigenen Kulturen, in denen ich nichts weiter bin als eine unbekannte Besucherin aus einem reichen Industrieland. Niemand, der mich kennt. Niemand, der von mir kluge Dinge erwartet. Niemand, für den ich Verantwortung tragen muss – außer für mich selbst. In einer außerordentlichen Extremsituation zu erfahren, dass ich bin und was ich bin, rechtfertigt für mich alle Anstrengungen die notwendig waren, um jetzt hier auf der obersten Stufe des mit Palmblättern gedeckten Pfahlhauses zu sitzen und die süße, schwere Luft des neuen Tages im Dschungel zu atmen.

Die Sonne hat die letzten dampfenden Nebelfetzen der feucht-kalten Nacht verjagt und lässt ahnen, dass trotz des entsprechenden homöopathischen Anti-Feucht-Heiss-Mittels Natrium sulfuricum schon bald mein Schweiß in Bächen rinnen wird.

Vor mir liegt die Lichtung, auf der das gastliche, nach allen Seiten offene Pfahlhaus von Ricardos Großeltern steht. Lediglich der Verschlag, in dem die Großeltern schlafen, ist notdürftig mit Bretterwänden von der sonst wandlosen Aufenthaltsfläche aus harter Palmrinde abgetrennt. Die Kochhütte ist mit dem "Wohnhaus" über einen kleinen Steg verbunden. Angenehme Gerüche dringen von dort in meine Nase. Während ich noch schlief, hat die abuela das Feuer entfacht, Wasser vom Fluss geholt, Tee gekocht und Fisch gebraten. Der abuelo rumort unter der Hütte, scheucht die Schweine herum. Die Hühner sind schon freiwillig von ihrem Schlafplatz auf den Ästen des Mango-Baumes heruntergeflogen und scharren unermüdlich nach Futter suchend in Gräsern und Blättern.

Der leuchtend hellblau gestrichene Küchentisch ist ist stets der zentrale Platz. Essen im Dschungel ist für Tier und Mensch eine wahrhaft konzentrierte Aktion nach dem Motto: man weiß nicht, wann es wieder etwas gibt.

Die abuela ruft mich, die Männer sitzen schon erwartungsvoll am Tisch. Gebratener Fisch zum Frühstück – etwas gewöhnungsbedürftig, aber für mich weitaus besser zu verkraften als die Fischsuppe mit Fischköpfen, die es gestern morgen gab. Großzügig habe ich gestern die Fischköpfe, die in meiner Portion schwammen, an die anderen verteilt – zu deren Freude. Alle essen mit den Fingern vom Fischteller, der in der Tischmitte steht. Nur ich habe einen eigenen Teller vor mir stehen und esse mit Gabel und Messer. Das Besteck und meine Brille retten mich vor dem mehrfachen Erstickungstod, der mir ohne diese technischen Helfer angesichts der feinen Gräten bestimmt gedroht hätte. Der aus frischen Cocablättern aufgebrühte Tee spült nicht nur erfolgreich die Fischreste herunter, sondern vertreibt auch den letzten Rest an Müdigkeit.

Schon bald schaukeln die drei Männer wieder laut palavernd in den Hängematten, heftige Wolken des schwarzen Dschungeltabaks steigen zum Palmblätterdach empor. Ich nutze die Gunst der Stunde, klemme mir mein Handtuch unter den Arm und versuche, mich möglichst unauffällig zum Waschplatz unten am kleinen Fluss davonzustehlen. Meine bislang von mir als durchaus ungebrochen empfundene Naturverbundenheit ist hier schon in diesen ersten Tagen sehr ins Wanken geraten. Die Waschstelle der ganzen Familie liegt in einer Biegung eines kleinen Schwarzwasserflusses, umgeben von engstehendem Gebüsch und hohen Bäumen. Mir gefällt das durchsichtige, colafarbene Wasser gut, dessen Farbe auf Mineralauswaschungen zurückzuführen ist.

Aber ich fühle mich hier am Fluss unsicher und beobachtet, überall scheinen Augen in den Blättern zu sein. Ricardos Geschichte vom Jaguar, den er hier in der Nähe schon einmal gesehen haben will, und von der großen Anakonda, die auch während der Trockenzeit etwas flussaufwärts im Wasser verborgen leben soll, haben ihre Wirkung bei mir nicht verfehlt. In Windeseile wasche ich mich notdürftig. Mit meinem akrobatischen Akt des Kleiderwechselns ohne mich ganz ausziehen zu müssen, könnte ich jeder Zirkusnummer zur Ehre gereichen. Gut, dass mich niemand von denen sehen kann, die mich nur als souveräne, dem Geist der Natur verbundene Frau kennen. Die Geräusche von knackenden Zweigen im Gebüsch versuche ich zu ignorieren und trete mit forschem Schritt den Rückweg zur Hütte an. Ich komme aber nur wenige Meter weit, da wird mein forscher Schritt von einem heftigen Rumoren in meinen Gedärmen gebremst: ich brauche dringend ein baño.

Nicht, dass ich nicht gewohnt sei, mit allen Arten der Mutter-Natur-WC's umgehen zu können. Nur – diese kleinen, schwarzen Schweine hier haben mich seit meiner Ankunft im Haus auf der Lichtung schon an den Rand meiner Natur-Gelassenheit gebracht: kaum verschwinde ich elegant hinter einem Busch, galoppieren sie schon schnaubend heran. Sie bremsen kurz vor, bzw. hinter mir ab und warten gespannt auf das, was ich ihnen hinterlassen werde. Und fressen es dann genüsslich auf. Eines weiß ich jetzt schon: Schweinefleisch werde ich hier ganz bestimmt nicht essen.

Ricardo hält schon nach mir Ausschau – gut zu wissen, dass sich jemand bei längerer Abwesenheit auf die Suche nach mir machen würde. Immerhin bin ich ja seine sichere Verdienstquelle für die nächste Zeit.

In den ersten Tagen hier auf der Lichtung San José hat mich Ricardo auf kleinen Wanderungen durch den Dschungel und bei Besuchen im nahen Dorf am Fluss mit der Umgebung vertraut gemacht.

Ricardo, Ende Zwanzig, mit einem offenen, weichem Gesicht und den ersten körperlichen Anzeichen seiner "Lieblingsdiät: Hamburger und Coca Cola, hat sich meine Wünsche bei der "Auftragsannahme" in Iquitos gut gemerkt: viel Natur pur, Begegnungen mit Schamanen und der Geistes- und Geisterwelt des Dschungels. Nun hockt er sich neben mich auf die Holztreppe und will mir seinen heutigen Tagesplan unterbreiten. Wie immer, wenn er mir etwas wichtiges sagen will, fängt er den Satz an mit "Nanita, hör' mir zu." Als ob mir je etwas anderes in den Sinn käme.

Heute höre ich aber wirklich besonders genau zu, denn er sagt, er hätte eine Überraschung für mich: "Nanita, du hast gesagt, du willst Schamanen kennenlernen. Ernesto, mein Bruder ist ein großer Schamane. Er ist gestern extra gekommen, um dich kennenzulernen und dir seine Schamanenarbeit zu zeigen. Wenn du willst, wird er dein Meister sein."

Bei diesen mit viel Ernst und Wichtigkeit vorgetragenen Worten versuche ich, auch möglichst ernst auszusehen, obwohl es mir schwer fällt, ein Grinsen zu unterdrücken. Irgendwie kann ich diesen Ernesto als Schamane nicht so ganz ernst nehmen – trotz seines Namens. Erstens erscheint mir viel zu jung, höchstens Ende Dreißig. Zweitens ist er mir für einen Schamanen viel zu schön. Sein drahtiger, gut durchtrainierter, bronzefarbener Körper ist der Körper eines Läufers. Seine glatten, pechschwarzen Haare erinnern sind die Mähne eines Pumas, die funkelnden dunklen Augen sind die Augen eines Jägers. Er hat ein markantes, ausdrucksstarkes Gesicht, es ähnelt einer gemeißelten Skulptur. Ernesto erscheint mir sehr selbstgefällig, es fällt mir schwer, bei so viel äußerer Attraktivität Vertrauen in sein heilerisches Können zu haben. Außerdem habe ich sowieso nicht vor, von einem Schamanen zu lernen. Ich will durch die Begegnung mit der Natur und mit der Heilarbeit der Schamanen zur Begegnung mit mir kommen, einen neuen Zugang zu meinem Wesenskern finden, mehr nicht.Lehrling bei einem Schamanen zu werden steht nicht auf meinem Programm, ich bin müde vom Lernen jeglicher Art – auch deshalb bin ich hier. Na gut, jetzt hat Ricardo seinen Schamanenbruder herbeigeschleppt – da will ich ihn mir wenigstens einmal ansehen. Außerdem ist weit und breit niemand außer mir zu sehen, die oder der willens scheint, Schülerin beim Meister Ernesto zu werden – also soll es so sein. Ich spiele kurz mit dem verlockenden Gedanken, zu Hause meine Biografie mit dem Zusatz: "Meisterschülerin’’ zu versehen und lächle belustigt. Und so laufe ich lächelnd in meine erste Selbstüberschätzungsfalle, der noch so einige selbstgebauten Ego-Fallen folgen sollen.

Als allererstes aber laufe ich Ernesto hinterher. Ich in knöchelhohen Stiefeln, langen Hosen und nach Citronella und Teebaumöl duftend, er in Gummilatschen, kurzen Hose und mit einer alten Flinte. Ein Szenario wie in einem amerikanischen C-Film: weiße Frau folgt Dschungelmann ins große Abenteuer.

Wir überqueren die Lichtung mit den Bananenpflanzen und Ananasstauden, steuern auf den dichten Wald zu. Von der Hütte her höre ich Ricardo etwas rufen. Ich drehe mich um, stolpere dabei in ein Erdloch. Schnell ziehe ich meinen Fuß wieder heraus und frage „serpiente”? Ernesto lacht und ein gestenreicher Wortschwall bricht über mich herein bis es mir langsam dämmert, dass er mir ein Gürteltier beschreibt, das in diesen Erdlöchern lebt. Einer meiner häufigsten Sätze auf Spanisch lautet nicht nur in dieser Situation: "Könntest du bitte etwas langsamer sprechen, damit ich dich besser verstehen kann?"

Schweigend gehen wir weiter, häufig die Richtung wechselnd, auf für mich kaum erkennbaren kleinen Pfaden durch den immer dichter werdenden Dschungel. Es ist für mich unmöglich, mir die Richtung, aus der wir gekommen sind, zu merken. Diese mächtigen Bäume mit ihren aufgefälteten Stämmen und verschlungenen Wurzeln sehen irgendwie alle gleich auffällig aus. Immer wieder versperren wuchernde Lianen den Weg. Ernesto schlägt ruhig und kraftvoll mit seiner Machete unseren Weg durch das Dickicht. Eines wird mir schnell klar: wenn mich Ernesto hier alleine stehen lassen würde, wäre ich verloren. Er wirft er mir einen prüfenden Seitenblick zu, als ob er um meine steigende Verwirrung wüsste. Ich erinnere mich an die bewährten Seminarübungen „Vertrauen haben" und „einfach nur im Moment sein" und folge ihm weiter ohne zu fragen, wohin. Mehr und mehr weicht die Anspannung aus meinem Körper, mein Denken verlangsamt sich, ich werde ruhiger. Ich suche nicht mehr nach Orientierungspunkten sondern sehe mir einfach das an, was da ist. Mein Blick hat sich verändert. Es ist, als ob ich aufwache aus einer lähmenden Benommenheit und sehe: Grün überflutet meine Sinne, die Nase erlebt einen Rausch von intensiven Gerüchen, die Ohren sind erfüllt von einem Konzert der vielfältigsten Töne und Geräusche, der Boden unter mir bewegt sich, ist durchwoben von einem unzählbaren Heer von Kleinstlebewesen – der Dschungel ist ein lebendiger Körper.

Ernesto scheint meine Veränderung zu bemerken. Er sieht mich an und ich fühle mich, als ob sein Blick mein Innerstes abscannt. Irgendetwas verändert sich, irgendetwas geschieht mit mir.

Es durchfährt mich wie ein Blitz: wenn das hier der Anfang ist von meiner Suche nach Erkenntnis durch Erfahrung, dann wartet ein weiter, mir noch unbekannter Raum darauf, betreten zu werden.

Ganz versunken in diese Einsicht, trete ich Ernesto fast in seine Gummilatschen, als er plötzlich stehenbleibt. Uns versperrt ein Baum den Weg, der sich für mich in nichts von den anderen Bäumen unterscheidet. Für Ernesto muss aber etwas Besonderes an diesem Baum sein, den er mit prüfendem Blick umrundet. Der Stamm des Baumes ist von einem dichten, buschartigen Lianengewirr mit kleinen, dunkelgrünen Blättern umschlungen. Ernesto murmelt etwas vor sich hin, zieht mit zufriedenem Gesichtsausdruck eine mapacho aus seiner Hosentasche, eine Zigarette aus schwarzem Dschungeltabak, und bläst geräuschvoll Rauchwolken in das Lianengewirr. (1)

Mit seiner Machete schabt er einen der herumliegenden, gestürzten Baumstämme etwas sauber, deutet mir an, mich hinzusetzen. Ich setze mich. Kaum sitze ich, spüre ich höllisch brennende Bisse auf der rechten Wade unter meinen langen Hosen. Ich zerre das Hosenbein aus meinem Stiefel – kein Tier fällt heraus. Die roten Male brennen wie Feuer.

Interessiert schaut Ernesto mir zu und mein nur trocken: "pucacuros", kleine hellbraune Feuerameisen.

Und da sehe ich doch wirklich ein paar winzige Ameisen-Gesellen frech an meinem Stiefel hochsteigen. Ich versuche, sie mit einem Blatt vom Stiefel zu entfernen - vergeblich. Seelenruhig zündet sich Ernesto wieder eine mapacho an und hüllt meinen Stiefel und mein Bein in dicken Rauch ein. Dann holt er aus seiner Hosentasche etwas losen, schwarzen mapacho heraus, kaut ihn durch und streicht die Tabak-Speichelmischung auf die höllisch brennenden, roten Flecken.

"Fertig", ist sein einziger Kommentar. Ich stopfe das Hosenbein wieder in den Stiefel und bemühe mich, eine beherrschte Mine aufzusetzen.

Ameisen – die wirklichen Herrscher des tropischen Regenwalds. Sie regieren mit ihren angriffslustigen, aggressiven Heerscharen unter der Erde, auf der Erde, auf den Bäumen – überall. Dreissig Prozent der Biomasse in Amazonien sind Ameisen. Sie leben in ausgeklügelter Symbiose mit ihrer Wirtspflanze und schützen sie vor der Zerstörung durch andere Insekten. Dafür spendet die Wirtspflanze den Ameisen den Saft, den sie zum Leben brauchen. Es gibt richtige Ameisengärten, in denen Ameisen in einer hochkomplizierten Symbiose mit Blütenpflanzen leben. Mir fallen die Warnungen dschungelerfahrener Freunde ein, nie ohne bedeckte Körperteile durch das Dickicht des Regenwaldes zu gehen. Jeder Zustand an Hitze und Schweiß sei angenehmer zu ertragen als der Schmerz des Brennens, den diese Ameisen verursachen, die vorzugsweise auf den Blättern der kleinen tachyglia-Bäume leben.

Ernesto setzt sich neben mich. Es ist das erste Mal seit seiner Ankunft gestern abend, dass er mit mir redet.

"Nanita, hör' mir zu."

Diese Redewende scheint ein Familienerbe zu sein ...

"Ich weiß nicht, ob es bei dir in Deutschland Schamanen gibt und was die machen. Du willst etwas von mir lernen. Du musst wissen, hier bei uns in Peru gibt es Schamanen, die sind Hexer, und es gibt Schamanen, die sind gute Schamanen und heilen die Leute. Ich bin ein guter Schamane. Alles, was ich weiß, habe ich von meinem Schamanenmeister gelernt und von der Meisterin aller Pflanzen, der Ayahuascaliane.(2) Sie zeigt und lehrt mich immer wieder neu, was ich wissen muss. Es gibt noch andere Meisterpflanzen,(15) aber die Liane ist die mächtigste. Wir haben viele Namen für sie: yahé, yage, sacha-huasca, caapi, natem, la purga, la soga, el Hane, nishi, cuchi-ayahuasca, cushi rao – und noch einige mehr.Wir nennen sie nicht einfach ayahuasca, sondern haben viele andere Namen für sie, um ihren Geist nicht zu verletzen. Wenn man bei uns 'die Liane' sagt weiß jeder, welche Pflanze gemeint ist. Sie wird auch Liane der Seele, Rebe der Geister, die Schnur, die Reinigende, Leiter zur Milchstrasse, Trank der wahren Wirklichkeit, Zeigefinger des Gottes der Weisheit oder Liane des Todes genannt. Sie kann machen, das du stirbst und wieder geboren wirst. Wenn du es willst wird sie auch dich lehren, was du wissen musst."(2)

Ernesto hat sich bemüht, langsam zu sprechen. Mit jedem Wort, das ich verstanden habe, ist mir unwohler geworden. Das geht mir alles etwas zu schnell, ich hatte nicht vorgehabt, schon jetzt gleich so tief in den Schamanen-Dschungel einzutauchen. Irgendwo in mir regt sich ein Funken Angst. Ich staune über dieses aufsteigende Gefühl, schließlich beschäftige ich mich schon seit fast 20 Jahren mit schamanischen Welten – und nicht nur durch Bücherlesen. Aber zum ersten Mal überfällt mich eine kleine Panik, dass hier genau das geschehen könnte, wonach ich suche: die direkte Erfahrung dessen, was ich bin, ohne mich hinter meinem beobachtenden, alles wertenden und interpretierenden Verstand verstecken zu können.

Ernesto ist aufgestanden und hat einige Blätter von der Liane gepflückt.

"Heute zeige ich dir nur die Liane. Sie muss sich erst mit dir vertraut machen, sie ist eine menschenscheue Pflanze. Deshalb wachsen die stärksten und heilkräftigsten Pflanzen immer dort, wo nicht viele Menschen vorbeikommen. Damit du anfängst, klarer zu sehen und dein Geist sich schon etwas mit dem Geist der ayahuasca vertraut machen kann, tröpfele ich dir jetzt den Saft ihrer Blätter in die Augen."

Spricht und lässt den ausgequetschten Saft der Blätter in meine weit geöffneten Augen tropfen. Er ist angenehm kühl, riecht grün und brennt entgegen meiner Erwartung nicht. Wir treten wieder den Rückweg an und ich bemühe mich herauszufinden, ob ich schon klarer sehen kann. Ohne Zweifel sehe ich schon mehr als auf dem Hinweg, aber ob das am Saft der Blätter liegt oder daran, dass ich mich schon etwas an den Dschungel gewöhnt habe, vermag ich nicht zu entscheiden.

Als wir aus der feuchten Hitze des Waldes auf die Lichtung treten, brennt die Sonne fast senkrecht auf uns herunter.

Die wachsamen Hunde des abuelo kommen uns mit wildem Gekläff entgegen. Ein Wort von Ernesto lässt sie verstummen. Nach diesem Wort muss ich ihn nachher unbedingt noch fragen, denn das Gekläffe der beiden Hunde bei jeder meiner Bewegungen nervt.

Ricardo liegt schon wieder – oder immer noch – in seine Hängematte und hebt etwas verschlafen den Kopf, als er uns kommen hört. Es scheint ihn bei seinen Ruheübungen nicht sehr gestört zu haben, dass die abuela neues Holz und frisches Wasser in die Kochhütte geschleppt hat. Einige würzig riechende, kleine Fische bräunen auf dem Rost über dem Feuer, gekochte yuca dampft in der Schüssel.(3) Jetzt erst merke ich, wie groß mein Hunger ist. Der abuelo kommt mit einer frisch abgeschlagenen Ananasfrucht – welch ein köstliches Essen. Das scheint ein Anlass zu sein, für den es sich lohnt, dass sich Ricardo aus seiner Hängematte erhebt. Ernesto hockt mit dem Großvater im Schatten des großen, blühende Mango-Baumes, rauchend und in ein Gespräch vertieft. Der abuelo ist ein kleiner, drahtiger Mann mit flinken Augen in seinem tief zerfurchten, dunklem Gesicht. Sein castellano ist das von jemandem, der eine Fremdsprache spricht. Wenn er sich mit den Angehörigen seiner Familie unterhält, sprechen sie meist in ihrer Sprache, der Sprache der amahuaca, die zum Volk der ashaninca gehören.

Am blauen Tisch geht es, wie eigentlich immer, sehr fröhlich zu. Es wird viel gelacht, schon aus dem in meinen Augen nichtigsten Anlass. Einen unerschöpflicher Anlass zum Lachen haben sie in mir und meiner Dschungel-Unkenntnis gefunden. Die abuela verschluckt sich fast vor Lachen an einer Gräte, als Ernesto von meiner kleinen Ameisenbekanntschaft erzählt. Mir bleibt einfach nichts übrig, als mitzulachen, obwohl ich meine nun sehr abenteuerlich mit roten Flecken und schon leicht entzündeten Mücken- oder "sonstwas" Stichen übersäten Füße und Waden gar nicht so lustig finde. Immerhin, ich halte mich tapfer an das Gebot: "Du sollst nicht kratzen."

In Gedanken danke ich jeden Tag meinem klugen Mann für die umsichtige Zusammenstellung meiner Apotheke, die hauptsächlich aus homöopathischen Mitteln besteht. Die abuela will unbedingt die Spuren meiner überstandenen Ameisenattacke sehen, also krempele ich meine Hosen hoch: der Anblick ist wirklich atemberaubend, eine Komposition von Stichen in Größen und Färbungen aller Rottöne – wobei die Ameisenbisse mittlerweile noch am harmlosesten aussehen.

Rosaura schüttelt ihr Haupt: "Nanita, das ist ja eine ganze Sammlung von Stichen, da müssen wir etwas dagegen unternehmen."

Ich erspare mir die Hinweise auf die schon erfolgte homöopathische Behandlung, und lasse sie handeln. Die abuela Rosaura verschwindet hinter dem Haus, kommt mit einer Handvoll von Blättern und Blüten zurück.

"Die sind vom Strauch mullaka, der wird dir helfen."

Sie zerrupft die Blüten und Blätter in ein Taschentuch, drückt den Saft auf eine Untertasse aus. Sorgsam betupft sie jeden einzelnen Stich, nur nicht die Ameisenbisse.

"Wenn du wieder einmal in den Wald gehst, reibst du dir am besten vorher Arme und Beine mit den kleinen Termiten ein. Das ist das sicherste Mittel, um nicht von Ameisen gebissen zu werden."Ich behalte meine Skepsis für mich und nicke höflich zustimmend.

Als ich kurz darauf in meiner Hängematte liege und die wohlverdiente Mittagsruhe genieße, spüre ich kaum noch das Jucken und Brennen an meinen Beinen. Diese Pflanze muss ich mir unbedingt merken.

Rosaura ist wieder in der Küchenhütte verschwunden. Meine Versuche, ihr bei Küchenarbeit zu helfen, habe ich schon nach den ersten Tagen aufgegeben. Sie hat es fast als Beleidigung angesehen. So zart die kleine Frau auch aussieht, sie ist eine energische, zähe Frau. Obwohl sie bestimmt schon 70 Jahre alt ist, hat sie pechschwarzes, glattes, schulterlanges Haar, das sie manchmal offen trägt. Wie macht sie es nur, noch so schwarzes Haar zu haben, ohne die geringsten Spuren von Grau darin?

Im Schatten des Palmdaches ist die Mittagshitze einigermaßen auszuhalten, kein Wind weht, nur das Schaukeln der Hängematten erzeugt die Illusion einer leichte Luftbewegung. Erstaunlicherweise ist Ricardo schon wieder in der Lage, schlafen zu können.

Bald sinke auch ich in einen tiefen Schlaf, durch meine Träume schlängeln sich Myriaden von kleinen dünnen, knallgrünen Schlangen mit feuerroten Augen.

Am späten Nachmittag wache ich auf. Das Licht hat sich verändert, ist von einem warmen Gelb. Die anderen Hängematten sind leer, auch in der Kochhütte ist es still. Ich klettere aus der Hängematte und überlege, ob ich nicht schnell ein erfrischende "Dusche" am Fluss nehmen soll, da höre ich Stimmen hinter der Hütte. Im kleine Garten hinter dem Haus stehen die abuela und Ernesto in einem anregenden, von vielen Gesten begleitetem Gespräch. Es scheint um eine Pflanze zu gehen, die Ernesto in der Hand hält. Das interessiert mich nun doch mehr als die Dusche, deren erfrischende Wirkung sowieso nicht lange anhält. Die beiden Hunde folgen mir, diesmal nicht kläffend, um die Hütte herum in den Garten. Hier steht ein großer Busch voll von Pampelmusen, ein Kakaobaum mit den unreifen, grünen und den reifen, gelben Kakaofrüchten, zwei Baumwollbüsche, etliche blühenden Büsche und viele Grünpflanzen, die ich nicht kennen.

"Ah, Nanita, gut dass du kommst. Wenn du wirklich etwas lernen willst, zeige ich Dir jetzt einige Pflanzen. Aber vorher muss ich von dir ganz eindeutig wissen, ob du bereit bist zu lernen. Wenn du nur "Dschungelkino" sehen willst indem du ayahuasca trinkst, wie die meisten Europäer und Amerikaner, die für einige Tage in den Dschungel fahren, ist das auch kein Problem für mich. Aber wenn du wirklich den Geist der Liane und etwas von unserer Welt kennenlernen willst, dann brauchst du Zeit."

Zeit? Ja, ich habe Zeit, zum ersten Mal seit langen Jahren. Nicht nur, weil ich das Datum meines Rückflugs offen gelassen habe und in den nächsten Monaten weder Seminarverpflichtungen noch einen Ausstellungstermin habe. Auch nicht nur deshalb, weil mein Mann meinen Weg unterstützt und befürwortet, obwohl er in anderen geistigen Welten als im Schamanismus zu Hause ist. Ich habe Zeit, weil ich mich dafür entschieden habe, an diesem Punkt meines Lebens die Zeit zu haben, die ich brauche um meinen Lebensweg meinem Wesen entsprechend weiter gehen zu können.

Es ist schon gut, Ernestos Frage als Anlass zu nehmen mich noch einmal – vor Ort sozusagen – zu prüfen, ob und wieweit ich mich darauf einlassen will, in die Dschungelwelt einzutauchen, in ein mir fremdes Denken und Leben. Die Fremdheit in allen Bereichen lässt mich fast schon wieder zu Hause fühlen, denn das Gefühl der Fremdheit in mir und außer mir war es, das mich hierhergeführt hat. Homöopathisch gesehen habe ich hier also die besten Chancen, "nach Hause" zu kommen, wenn ich mir das Prinzip "Ähnliches mit Ähnlichem zu behandeln" als Ratgeber nehme.

Ernesto und die abuela scheint es nicht zu stören, dass ich lange nicht antworten, sie sind mit irgendwelchen Pflanzen beschäftigt.

"Ernesto?"

Er wendet sich zu mir um: "Ja?"

"Ich habe Zeit und will den Geist der Liane und den Geist des Dschungels kennenlernen."

"Ist gut, Nana," ist sein sparsamer Kommentar.

Mich irritiert seine zurückhaltende Reaktion. Immerhin habe ich eine Entscheidung getroffen, die auch ihn betrifft.

Die abuela winkt mich zu sich.

"Komm, setz dich."

Sie deutet auf eine kleine, niedrige Holzbank die bedrohlich wackelt, als ich mich setze. Ernesto hockt sich auf den Boden vor uns. Meine auf Ameisen fixierten Augen sehen als erstes schon wieder eine Kolonne knapp an meinen Füßen vorbeimarschieren, zu meiner Erleichterung sind sie schwarz und groß, nicht klein und hellbraun. Mir fällt der Ausspruch eines Ameisenforschers ein: "Marx hat mit seiner Theorie vom Sozialismus vollkommen recht gehabt – er hat sich nur die falsche Spezies dafür ausgesucht. Er hätte die Ameisen dafür nehmen sollen."

Eine Smaragdeidechse flitzt aus dem Schatten eines Busches hervor und verharrt wie versteinert in der Sonne.

Vom Waldrand her ertönt ein hohes, schrilles Geschrei: die Seidenäffchen scheinen sich um etwas zu streiten.

"Nana, hör' mir zu." unterbricht Ernesto meine Betrachtungen.

"Meine Großmutter Rosaura wird mir helfen, dir unsere Welt der Schamanen zu zeigen. Sie weiß viel mehr als ich von Meisterpflanzen und von Heilpflanzen. Sie ist eine vegetalista.”

Rosaura lächelt mich an. Ich freue mich, dass sie mich bei der Arbeit mit Ernesto begleiten wird, ihr vertraue ich.

"Bevor du mit der Liane und den anderen Meisterpflanzen in Kontakt treten kannst, musst du dich reinigen. Du kommst aus einem anderen Land, an dir hängen viele Energien von anderen Menschen. Ich kann sie sehen."

Rosaura stimmt Ernestos Worten stumm nickend zu.

"Deine Sinne sind wie die einer Blinden und Tauben. Sie müssen klar und wach sein, wenn du etwas erkennen willst."

Das gefällt meiner Malerseele gar nicht, das mir gesagt wird, ich sei blind. Und taub – das bei meinen überempfindlichen, hellhörigen Ohren. Bevor ich, den Mund aufmache um wie gewohnt Widerworte zu geben, erinnere ich mich an meinen Status: Lehrling. Also behalte ich mein unerschütterliches Pokerface bei, warte ab und höre zu.

"Die abuela wird dir ein besonderes Pflanzengetränk zur Reinigung und Verfeinerung deiner Sinne zubereiten, eine dieta. Morgen früh wird sie mit dir die Pflanzen dafür sammeln und dir alles erklären."

Ernesto steht auf, zündet sich eine mapacho an, klopft seine Hose vom roten Staub aus und verschwindet in die Richtung, in der das Dorf San José liegt. Die abuela sieht ihm nach, lächelt: "Ernesto liebt die Frauen".

Da er in der Nacht nicht zurück in die Hütte kommt, verstehe ich spätestens am nächsten Morgen diese Bemerkung.

Noch lange vor dem Frühstück, in der ersten Morgendämmerung, weckt mich Rosaura mit einer Tasse mate de coca Tee auf. Ricardo schnarcht leise vor sich hin. Ich habe mir gestern nach meiner Entscheidung zum Hierbleiben überlegt, mein "Dschungelführer-Verhältnis" zu Ricardo aufzulösen. Er kann mir hier bei meiner "Lernzeit" mit seinen Fähigkeiten nicht weiterhelfen. Außerdem habe ich den Eindruck, dass er anfängt sich zu langweilen. Ich werde nach dem Frühstück mit ihm reden, jetzt gilt meine ganze Aufmerksamkeit erst einmal ausschließlich der abuela. Ich schnappe mir mein Notizbuch, steige die Leiter hinab, umrunde die Hütte und sehe Rosaura schon im Garten hantieren.

"Ah, Nanita, lass' uns anfangen. Für deine camalongadieta brauche ich viele verschiedene Pflanzen. Ich nehme nur Pflanzen, die hier bei uns in der Gegend wachsen. Ein Schamane, der im Hochdschungel lebt und nicht wie wir am Fluss, bereitet diese camalonga-dieta mit anderen Pflanzen zu als ich. Komm, wir suchen die Pflanzen." (4)

Sie ergreift entschlossen ihre Machete, ich bewaffne mich mit einer großen, gelben Plastikschüssel. Es wird eine ausgedehnte Wanderung durch den Garten, über die Lichtung, am Rande des Dschungels entlang. Fast drei Stunden sind wir unterwegs. Um mich schwirren unverdrossen, von keinem noch so ausgeklügelten Mückenmittel abgeschreckt, die sangudos, Stechmücken aller Art und Wirkung – die Natur ist vielfältig. Nicht nur die Moskitos schwirren, auch mein Kopf schwirrt bald von der Fülle der Pflanzennamen, Unterscheidungsmerkmalen und Anwendungsmöglichkeiten. Die hauptsächlichen Wirkungszuschreibungen der Pflanzen sind: zur Reinigung des Blutes; zur Stärkung des Kreislaufs; gegen Entzündungen; für die Reinigung und Stärkung von Leber, Magen, Nieren; gegen Fieber und immer wieder für Kraft, Liebe und Glück. Mir gefällt die Aussicht, bald diese dieta zu machen, mehr und mehr.

Ich nehme mir vor, Rosaura später noch einmal nach allen Namen und Eigenschaften zu fragen und sie mir dann aufzuschreiben. Voller Staunen und Faszination über ihr Wissen trage ich respektvoll die gelbe Plastikschüssel hinter ihr her, die sich langsam mit Blättern, Rinden und Wurzeln füllt.

"Eso es", sagt sie nach Stunden, betrachtet zufrieden die Ausbeute. Wir gehen zurück zur Hütte.

"Und was geschieht jetzt mit den Pflanzen?" frage ich auf dem Rückweg.

Rosaura lacht.

"Warte bis nach dem Frühstück."

Meisterschülerin zu sein heisst wohl vor allem, geduldig zu sein.

Etwas später, als wir mit dem abuelo und Ricardo am hellblauen Tisch gebratene Bananen und Reis essen, kommt auch Ernesto dazu. Der abuelo sagt etwas zu Ernesto, was ich nicht verstehe. Es hört sich ärgerlich an, und Ernestos Mine verfinstert sich. Vielleicht sollte ich lieber den abuelo fragen, ob ich nicht sein Lehrling werden kann. Er scheint hier der heimliche Meister zu sein.

Nach dem Frühstück gehe ich Ernesto lieber aus dem Weg und rede mit Ricardo, solange die abuela Rosaura noch in der Küchenhütte wirtschaftet. Ricardo ist sofort einverstanden als ich ihm erkläre, dass ich jetzt länger hier bleiben werde und so keine Arbeit mehr für ihn als mein gia da ist. Er scheint froh darüber zu sein, wieder zurück ins pulsierende Nachtleben von Iquitos fahren zu können.

"Die Touristinnen warten bestimmt schon wieder auf mich. Nächste Woche kommt eine amerikanische Reisegruppe, für die werde ich übersetzen," meint Ricardo selbstbewusst.

"Aber wenn du mich wieder brauchst, lasse ich natürlich alle anderen Touristen stehen."

Ricardo ist wirklich sehr charmant. Wir beschließen, dass er am nächsten morgen versuchen soll, ein frühes Boot zu bekommen. Dann kann er am Abend vielleicht schon in Iquitos sein.

"Aber dann müssen wir heute abend noch zusammen feiern".

Ich bin gespannt darauf, wie das aussehen wird.

Die abuela kommt mit einem Glaskrug, einer Flasche aguardiente und der Schüssel voll von den gesammelten Pflanzen zu uns in die Hütte hoch.

"Ricardo, lass' mich jetzt mit Nanita alleine, wir wollen arbeiten. Du kannst dem abuelo helfen, die Bananenstauden auszuschneiden."

Gehorsam erhebt sich Ricardo aus seinem Lieblingsaufenthalt, der Hängematte, und geht zur kleinen Bananenpflanzung raus. Er scheint mir nicht der geborene Landarbeiter zu sein.

"Komm, Nanita, setz dich hier zu mir."

Rosaura zieht aus ihrer Kleidertasche ein kleines, braunes Papiertütchen heraus.

"Und das, Nanita, ist das wichtigste für deine dieta, das sind camalonga-Samen."(4)

Sie öffnet das kleine Tütchen, schüttet den Inhalt auf den Tisch. Hellblaue und rosa Papierknöllchen purzeln heraus. Sorgsam wickelt Rosaura die hellblauen Papiere aus. Zum Vorschein kommen Samen, die mich in Größe und Farbe an Muskatnüsse erinnern.

"Das sind die männlichen Samen der camalonga".

In der rosa Verpackung verbergen sich natürlich die weiblichen Camalongasamen, ich lerne schnell. Ohne die hilfreichen Farben des Einwickelpapiers fällt es mir jedoch sehr schwer, die Samen ihrem Geschlecht nach zu unterscheiden. Noch schwerer wird die Unterscheidung, als die abuela die Schalen öffnet und die Samen herausnimmt. Sie nimmt einen Samen, leckt mir ihrer Zunge daran.

"Probier' mal."

Ein bitterer Geschmack bleibt auf meiner Zungenspitze zurück, als auch ich an der camalonga lecke. Nach kurzer Zeit fühlt sich meine Zungenspitze taub an.

"Du musst wissen, Nanita, sie verkaufen auf dem Markt auch falsche Camalonga. Die sehen zwar sehr ähnlich aus, sind aber der Samen vom Baum cedron, bei denen wird die Zunge nicht taub."

Jahrzehntelange Erfahrung mit Zauberpflanzen aller Kulturen hat mich gelehrt, dass eine psychoaktiv sehr wirksame Substanz in den Samen enthalten sein muss, wenn schon beim Daranlecken die Zunge taub wird. Nun bin ich doch sehr gespannt auf diese "Reinigungsdiät".

Die große gelbe Plastikschüssel steht auf dem kleinen, alten Holztisch vor Rosauras Schlafkammer. Die Flasche aguardiente, ein Holzbrett und die Machete vervollständigen die Arbeitsausrüstung zur Bereitung des geheimnisvollen Camalongatrunks. Ich nutze diese übersichtliche Situation und lasse mir von Rosaura die Namen und Wirkungen der einzelnen Pflanzen nennen, schreibe sie mir auf. Es sind immerhin 36.(4)

Rosaura greift zur Machete und schneidet das zuvor gewaschene Grünzeug ohne Ansehen der Art in einem rasantem Tempo klein. Ich darf die kleingeschnittenen Pflanzen in den Krug stopfen, zusammen mit den Camalongasamen. Der Krug ist bald bis zum Hals mit Grün gefüllt, hoffentlich hat noch das kostbare Nass Platz. Rosaura schraubt die Flasche aguardiente auf, riecht genüsslich daran, reicht sie mir. Ich habe das Vergnügen, die Pflanzenteile in aguardiente zu ertränken.

"Eso es." sagt sie zufrieden und zieht aus ihrer Kleidertasche eine mapacho-Zigarette heraus, steckt sie an, bläst über den offenen Krug. Dann verschließt sie den Krug fest mit einem Korken.

Aha, Rosaura weiß also auch mit Tabak umzugehen.

"Möchtest du mal probieren?" fragt sie mich und reicht mir die Zigarette herüber.

Mir wird alleine vom Geruch des starken Tabaks schon schwindelig, ich lehne dankend ab.

"Aah, Nanita, du weißt nichts von unserem Tabak hier. Eines Tages wirst du dich mit dem Tabak treffen und ihn verstehen."

Ich blicke immerhin auf 52 Jahre rauchfreies Leben zurück und kann mir nicht vorstellen, eine Tabakfreundin zu werden. Ich lächle im Bewusstsein meines Nichtraucherdaseins. Doch dieses Lächeln wird mir noch vergehen.

Rosaura scheint meine Gedanken gelesen zu haben.

"Morgen will ich dir von der camalonga erzählen, für heute ist es genug. Für den Tabak bist du noch nicht bereit."

Sie nimmt den Krug, klettert die Hausleiter herunter und steuert auf einen Baumstumpf zu. Dort stellt sie den Krug ab. Ich finde, er steht da sehr ungesichert vor Wind, Regen und Tieren in der Gegend herum und sage das auch Rosaura.

"Aah, Nanita, weißt du, der Geist der Mutter der camalonga wird schon aufpassen, dass nichts passiert. Jetzt wird der Krug hier acht Tage und acht Nächte stehen, dann ist deine dieta fertig. Aber nun muss ich das Essen machen."

Essen – jetzt, wo Rosaura es erwähnt merke ich, wie hungrig ich bin. Es geht schon auf den frühen Nachmittag zu. Ernesto schläft, Ricardo hat die kleine Arbeit an den Bananenstauden auch überlebt und liegt mit seinem Walkman auf den Ohren in der Matte. Matteo, der abuelo, raucht und repariert an einem für mich nicht identifizierbaren Motorteil herum. Er hat im Dorf am Ufer ein kleines Holzboot mit Motor liegen, mit dem er und Ernesto zum Fischen auf den großen Fluss hinausfahren.

Wenn der Meister schläft, darf ich bestimmt auch noch etwas schlafen.

Gedacht, getan. Der Schlaf lässt mich jedoch im Stich, ich dämmere nur vor mich hin, zu viele neue Wörter purzeln durch meinen Kopf. Der Ruf zum Essen befreit mich aus diesem Denkkarussell. Blitzschnell sitzen alle wieder um den hellblauen Tisch, sogar Ernesto ist aufgestanden und sieht nicht mehr so grummelig aus wie morgens.

Mutig spreche ich ihn an: "Wir haben die camalongadieta zubereitet, jetzt steht sie draußen."

"Ist gut, Nanita. Morgen werden wir einen Spaziergang machen."

Ist das jetzt ein Versprechen oder eine Drohung? So ganz sicher bin ich mir nicht.

Im Moment interessiert mich aber viel mehr, was meine durch den Saft der Ayahuascablätter geschärften Augen erblicken: auf einem Blech über dem offenen Feuer, in das von drei Seiten die brennenden Stämme immer in die Mitte nachgeschoben werden, liegt mein Lieblingsessen: tacacho. Goldgelb und knusprig wartet daneben ein großer Fisch darauf, verzehrt zu werden. Wenn es tacacho gibt, könnte ich sogar auf Fisch verzichten – was zum Glück nicht sein muss. Die Orginalversion von tacacho:grüne Kochbananen werden auf dem Grill über offenem Feuer geröstet, zerstampft. Dazu kommt Schweineschmalz, sonst zerkrümelt die Bananenmasse. Gerösteter Schweinespeck wird kleingeschnitten und in die Mitte der Kugel gesteckt, die aus dem trockenen, heissen Bananenmus geformt wird.

Gewürzt wird nach jeweiliger Vorliebe, gerne wird ají als scharfe Würzung dazu gegessen: kleine runde, gelbe, scharfe Peperoni, in Zitronensaft und Salz eingelegt. In Hotels und Restaurants ohne offenes Feuer gibt es die "kommerzielle" Variation von tacacho, die leider oft von Fett trieft. Dafür werden die Kochbananen in Scheiben geschnitten, in Schweineschmalz gebraten und dann zerstampft. In dieser Verarbeitung sind mir sogar die kleinen schwarzen Schweine lieb.

Ich scheine nicht die einzige am Tisch zu sein, die tacacho liebt. Ausnahmsweise wird fast schweigend gegessen, die tacachos verschwinden in Windeseile vom Blech. Nach zwei großen tacachos und ein wenig Fisch könnte ich gut etwas zur Anregung der Verdauung gebrauchen. Ich wende mich an den abuelo, dem ich zutraue, dass er dafür Verständnis hat. "Hast du nicht etwas für mich zum Verdauen, die tacachos liegen mir so schwer im Magen. Aber bitte keinen Tee."

Der abuelo grinst: "Claro, Nanita, ich habe etwas, das ist sehr gut für die Gesundheit."

Er greift hinter die Bank und holt mit geübter Bewegung eine Flasche mit einer dunklen Flüssigkeit hervor. Wie auf ein geheimes Kommando hin trinken die anderen schnell ihr Wasser aus, damit das Glas leer ist. Ich natürlich auch. Der abuelo gießt großzügig ein.

"Weißt du, Nanita, das hier ist das beste Mittel für und gegen alles. Es ist das Lebenselexier der Leute im Dschungel: siete raices. Eigentlich muss es siete raices ycortezas heissen, sieben Wurzeln und Rinden, aber das ist ein zu langer Namen. Bis man den ausgesprochen hat, ist ja die Flasche leer."(6)

Spricht, und leert sein Glas. Als Ernesto trinkt, trinke ich auch. Ich muss schließlich meinem Meister folgen. Es schmeckt sogar gut, etwa wie ein Kräuterlikör mit Honig. Mein Bauch wird gleich wohlig warm, ich spüre fast, wie sich die tacachos auflösen. Nun will ich auch wissen, was ich da getrunken habe.

"Abuelo, por favor, erzähl mir doch, was ich gerade getrunken habe. Wie wird es gemacht?"

"Warte", sagt er und steckt sich erst einmal eine mapacho an.

Ernesto und Ricardo natürlich auch. Rosaura wäscht derweil das Geschirr in einer Schüssel ab.

"Nanita, hör' mir zu."

Aha, von ihm haben es seine Enkelsöhne also diese Befehlsanrede.

"Als erstes braucht man eine Flasche aguardiente."

Langsam beginne ich mich zu fragen, ob es im Dschungel auch ein Heilgetränk ohne Zuckerrohrschnaps gibt.

"Dann brauchst du die Rinden und Wurzeln von sieben verschiedenen Lianen und Bäumen. Jeder hat so seine eigenen Zusammenstellungen, oft sind es auch mehr als sieben Zutaten. Einen Monat lang wird alles in aguardiente eingelegt, dann ist es fertig und wird abgegossen. Überall hier im Dschungel kannst du siete raices bei den Leuten kaufen. Wenn du eine Flasche kaufst, stehen oft die Buchstaben 'RZ' darauf. Eigentlich ist das die Abkürzung für siete raices, aber in Iquitos heisst das rompe calzon, "der, der die Damenhosen herunterzieht'."(6)

Die abuela kichert in ihrer Geschirrecke, ihre beiden Enkel können sich vor Lachen kaum wieder beruhigen. Auch der kleine grüne Zwergpapagei Senor Pancho hüpft freudig kreischend auf dem Geländer der Hütte herum. Zwischen den Lachsalven prusten die Brüder eindeutige Bemerkungen zur Wirkung von "RC" heraus, die Zündstoff für neue Lachsalven geben. Dabei fällt Ricardo ein, dass ja heute abend gefeiert werden soll.

"Abuelo, hast du denn noch genügend Flaschen für heute abend? Wir wollen doch feiern, denn morgen fahr' ich wieder nach Iquitos".

"Aah, so ist das. Du fährst wieder. Geh' ins Dorf und kaufe noch drei Flaschen. Ich habe nur noch diese eine hier, ich muss wieder neues siete raices machen. Und bring' auch noch Erdnüsse mit."

Erdnüsse zur Party, das ist ja hier wie zu Hause. Weitere Flaschen in Aussicht, gießt der abuelo neu ein – nur ich streike. In der Hitze auch noch dieses erhitzende Getränk, das haut mich schon etwas um. Erstaunt spitze ich jedoch meine Ohren, als Ernesto den Erklärungen seines Großvaters weitere hinzufügt:

"Du musst wissen, Nanita, wenn du jeden Tag ein kleines Glas davon trinkst, bleibst du vital. Besonders gut ist es für die sexuelle Vitalität." Wenn ich an heute abend denke, an die drei Flaschen und den Begriff "kleines Glas", wird mir etwas unbehaglich zu Mute.

"Außerdem hilft siete raices wenn du Probleme mit den Bronchien hast, oder auch bei Rheumatismus. Manchmal im Juni oder Juli weht hier ein kalter Wind aus Chile hoch in das Amazonasbecken, die 'San Juan-Kälte', da wärmt siete raices sehr gut."

Langsam verstärkt sich in mir die Vermutung, dass hier dauernd ein kalter Wind weht.

Ich bin müde vom Essen und der Alkohol hat mich auch nicht gerade wacher gemacht.

"Ruh' dich aus, Nanita, wir reden morgen weiter ", sagt Rosaura, die mir meine Müdigkeit ansieht.

Tief und fest schlafe ich bis zum Spätnachmittag, niemand stört meine Ruhe. Obwohl ich hier im Verhältnis zu meinem Arbeitstag zu Hause fast nichts tue, bin ich ohne Mittagsschlaf abends immer sehr früh zum Umfallen müde. Sicher ist nicht nur die ungewohnte feuchte Hitze die Ursache dafür. Hier zu sein ist für mich eine innere Arbeit, deren Anstrengung ich doch sehr unterschätzt habe. Aber ich bemerke auch, dass ich immer weniger darüber nachdenke, warum ich hier bin. Es reicht mir, einfach hier zu sein.

Ricardo und Ernesto sind ins Dorf gegangen, die "Party-Einkäufe" zu erledigen. Die beiden Alten sitzen in der Küchenhütte am Tisch, unterhalten sich angeregt. Immer, wenn ich sie in ihrer stillen Eintracht sehe, rührt es mein Herz an. So möchte ich auch gerne alt werden.

Ich habe keine Ahnung, was hier unter einer Party verstanden wird. Ob noch andere Leute kommen, ob ich mich dafür umziehen muss? Na, ich werde mir auf jeden Fall noch einige Schalen voll Wasser über den Kopf schütten, bevor es dunkel wird. Und, etwas Frisches anzuziehen ist auch ohne Party angebracht, nachdem ich hier immer in meinen Kleidern schlafe. Abends, wenn alle in der Hütte versammelt sind und ich schlafen gehen möchte, kann ich mich unmöglich zum Schlafen umziehen. Nur die lange Hose zieh ich aus, das kann ich gerade noch vor mir und meiner Schamhaftigkeit vertreten.

Die Badestelle wird mir immer vertrauter, immer weniger schrecken mich die Einsamkeit des Platzes und die versteckten Dschungelaugen. Mit den Schweinen habe ich mich auch arrangiert, ich beachte sie einfach nicht.

In der Hütte ist Rosaura dabei, die kleinen aus Blechdosen gefertigten Kerosinlampen anzuzünden und auf dem umlaufenden Geländer und dem Tisch zu verteilen. Es wird früh und schnell dunkel hier im tropischen Regenwald.

Matteo und Rosaura haben Stühle und Hocker aus allen Ecken hervorgeholt, auch die hellblaue Küchenbank steht erwartungsvoll da. Aha, es wird also eine Sitzparty, und der Anzahl der Stühle nach wird es auch höchstens noch drei Besucher geben.

Ich habe zwar die Stühle richtig gezählt, aber die Anzahl der Besucher falsch geschätzt.

Laute Stimmen künden die Rückkehr der beiden barones an. In ihrer Begleitung befinden sich nicht nur drei princesas, sondern noch zwei weitere barones. Diese Benennung von Söhnen und Töchtern im Kindesalter gilt auch in der ärmsten Hütte, was mich anfangs doch etwas verwundert hat, jetzt finde ich es eher lustig.

Stolz stellt mir Ricardo seine Freunde vor. Die drei jungen Frauen Sonia, Roxario und Anjela scheinen jedoch mehr auf Ernesto fixiert zu sein als auf ihn. Irgendetwas muss mein 'Meister' an sich haben, das mir bisher entgangen ist. Die nächsten Stunden zeigen mir, was mir bislang entgangen ist. Ernesto ist der ungekrönte König der Runde. Die Großeltern sind sichtlich stolz auf ihn, Ricardo bewundert ihn als sein Vorbild, die beiden Freunde Moises und Alberto sowieso, die drei Frauen himmeln ihn an. Es ist fast unerträglich, aber ich muss gestehen, ich fange auch an, ihn bewundernswert zu finden. Dabei habe ich bislang noch nicht einmal eine Kostprobe seiner schamanischen Fähigkeiten erhalten. Aber irgendwie hat der Kerl Charisma.

Eine der jungen Frauen, Sonia, eine wirkliche Schönheit, wie eine Gazelle mit kirschenroten Lippen, kichert und flüstert mir hinter vorgehaltener Hand zu: "Du weißt, Ernesto kennt viele Liebesmittel."

Danach muss ich unbedingt irgendwann Rosaura fragen, die kennt sich damit bestimmt auch gut aus. Die erste Flasche siete raices ist bald geleert. Rosaura hat noch gebratene Banananchips spendiert und einige Avocados aufgeschnitten. Ricardos Abschiedsparty gewinnt an Fahrt. Der abuelo schaut sich gelassen alles an und raucht vergnügt vor sich hin, immer ein gefülltes Glas in der Hand. Einer der Freunde, Moises, ein großer hellhäutiger Mestizio mit kurzgeschnittenem Haar und freundlichen Augen, hat eine Gitarre mitgebracht. Herzzerreissende Lieder werden gespielt, er singt dazu. Ricardo benutzt einen Hocker als Trommel. Roxario und Sonia tanzen zusammen einen dieser erotischen, rhythmischen Tänze Südamerikas. Ernesto tanzt mit Anjela, deren kurvenreiche Körperform in einen kurzen Rock mit dementsprechend knappen, schwarzem Oberteil eingebettet ist. Ihnen zuzusehen ist ein Genuss, ich vergesse bald, dass hier keine Kapelle und keine CD, sondern nur eine Gitarre spielt.

Während zwei Liedern lässt Ernesto seine Partnerin stehen, kommt zu mir. "Magst du tanzen?"

Oh je, ich tanze schon gerne, aber gegen diese Naturgenies der Körperbewegung komme ich mir vor wie ein Bauerntrampel. Meine Tanzlust siegt. Es macht viel Spaß, sich mit Ernesto zu bewegen. Ich komme mir zeitweilig vor wie in einer dieser verlorenen Kneipen am Ende der Welt aus einem alten Schwarzweißfilm. Ernestos Bewegungen verströmen die Kraft und Geschmeidigkeit eine Wildkatze. Es fällt mir leicht, mich diesen Bewegungen hinzugeben ohne eine andere Absicht als nur die der Freude an der Bewegung. Kurz schießt mir durch den Kopf, dass ein Meisterschülerin Verhältnis doch eigentlich frei von "privatem Kontakt" und irdischen Lustgefühlen sein soll – jedenfalls habe ich das irgendwo gelesen, und vergesse es lieber wieder schnell.

Die abuela ist auf dem Stuhl eingeschlafen, die Augen des abuelos blitzen aber noch sehr wach in die Runde. Gut, dass nur drei Flaschen des "Tonikums" da sind, denn die zweite ist auch bald geleert. Moises, der Gitarrenspieler, legt sein Instrument weg, gießt sich sein Glas voll ein. Überhaupt scheinen Moises und Alberto mehr am Alkohol als an den Frauen interessiert zu sein. Wenn ich mir so ansehe, wie sie auf ihren Stühlen hängen, erinnere ich mich daran, was Matteo zur Wirkung von siete raices noch gesagt hat: "Wenn du nicht zu viel davon trinkst, dann wird deine Manneskraft sehr stark. Wenn du aber zuviel davon trinkst, dann wirst du ganz schwach."

Ricardo turtelt heftig mit Roxario herum, Ernesto hat Sonia und Anjela im Arm. Ich habe das Gefühl, es ist Zeit für mich in meine einsame Hängematte zu verschwinden. Als ich mich an Matteo vorbeidrücke, höre ich ihn schon etwas schwankend in der Stimme sagen: "So ist das, die Frauen lieben Ernesto."

Mein Moskito-Privatgemach in der Ecke der Hütte, nur einige Meter vom Geschehen entfernt, nimmt mich schützend auf. Erstaunlicherweise schlafe ich schnell ein, begleitet vom Gemurmel des Partygeschehens.

Gemurmel weckt mich auch wieder auf, nur ist es kein Partygemurmel mehr. Ricardo ist dabei, seine Hängematte und das Moskitonetz einzupacken. Er sieht aus, als wäre er gar nicht schlafen gegangen. Ernesto ist nicht zu sehen, jedenfalls liegt er nicht in seiner Matte. Na ja, das Dorf ist nicht so weit . . . Rosaura redet auf Ricardo ein. Worum es auch immer gehen mag, er scheint nicht hinhören zu wollen. Der abuelo sitzt rauchend in der Küche vor einem Glas Wasser.

Schnell steige ich aus meiner Hängematte, denn ich will Ricardo mit zum Boot bringen.

"Aah, Nanita. Du bist gestern auf einmal verschwunden gewesen. Hat Dir Ernesto etwa schon einen Spruch zum Unsichtbarmachen beigebracht?"

Er lacht, aber ich kann so früh morgens weder lachen noch weinen, ich bin langsam und klamm im Denken und Reagieren.

"Ich hab' noch etwas für Dich. Hier, diese Kiste kannst du für deine Sachen haben. Es ist meine, aber jetzt kannst du sie benutzen."

Das freut mich wirklich, denn die Kiste hat einen Deckel und sieht sehr stabil aus. So kann ich später endlich die Sachen aus meinem Rucksack ausräumen. Ricardo hat seinen Rucksack schnell gepackt, es bleibt noch Zeit für ein kleines Frühstück. Ich esse zwei Bananen, Ricardo schlürft genüsslich einen Teller voller Hühnerbrühe, in der Kochbananen und Reis schwimmen.

Bislang hat Ricardo dafür gesorgt, dass genügend Kanister mit "gutem" Wasser für "mein" Essen da sind. Täglich hat er es mir aus dem Grundwasserbrunnen des Nachbardorfes geholt. Das es mir bis jetzt mit Magen und Darm einigermaßen gut gegangen ist, schreibe ich dem "Extrawasser" und meiner täglichen homöopathischen Kügelchenportion Okubaka zu. Ich hoffe, in einigen Wochen auch das abgekochte Wasser aus dem kleinen Schwarzwasserfluss zu vertragen, dass hier in Rosauras Haus alle trinken. Das vom großen Fluss, vom Ucayali, trinke ich auf keinen Fall, denn fast überall wandern die Inhalte der Abtritte am Fluss sofort und direkt in den Fluss.

Ich spreche Ricardo auf mein "Wasser" an.

"Ricardo, wie bekomme ich jetzt mein Wasser aus dem Dorf, wenn du nicht mehr da bist?"

"Aah, Nanita, sorge dich nicht."

Wenn ich diesen Satz von Ricardo höre, spitze ich mittlerweile immer meine Ohren, denn fast immer weist dieser Satz auf Schwierigkeiten hin.

"Du hast doch gestern meine Freunde kennengelernt, Moises und Pablo. Moises wird dich mit Brunnenwasser aus dem Dorf versorgen."

Was bleibt mir anderes übrig, als zu glauben, das es klappen wird. Ricardos freundliches Gesicht strahlt vertrauenerweckend wie in jeder unklaren Situation.

Es wird Zeit, aufzubrechen, wenn Ricardo das Boot nicht verpassen will. Ich habe ihm bei unserer Geschäftsabmachung in Iquitos für die Begleitung während zweier Wochen schon die Hälfte des vereinbarten Preises gezahlt, jetzt drücke ich ihm das Restgeld in die Hand.

Wir gehen los, die Hütte verschwindet hinter uns im morgendlichen Dunst. Matteo und Ricardo unterhalten sich, ich laufe auf dem schmalen Trampelpfad hinter ihnen durch mannshohes Gras. Auch Matteo redet, wie vorher die abuela, sehr eindringlich auf Ricardo ein. Immer wieder dringt das Wort "Frau" an mein Ohr. Frauen - worum sonst könnte es bei den Männern hier gehen. Wir kommen in das Dorf, in dem schon reges Leben herrscht. Es ist ein Dorf, in dem hauptsächlich Mestizos leben. Sogar eine kleine, hellblau angestrichene Holzkirche gibt es hier. Ich vermute, irgendwann ist hier einmal ein Boot mit hellblauer Farbe gestrandet.

Die Kirche ist der Versammlungsort irgendeiner amerikanischen "Kirche der letzten Tage". Es macht mich immer wieder neu fassungslos, mit welcher Selbstgerechtigkeit, Arroganz und Ignoranz Menschen aus reichen Industriestaaten in die "arme" Welt ziehen um den "Armen" beizubringen, dass westliche Götter und Glaubenssysteme besser und richtiger sind als die der "armen, ungebildeten Wilden". Welch eine die Menschen und deren Lebenszusammenhänge verachtende Haltung, den westlichen Kulturbegriff als Maßstab aller Dinge anzusetzen. Mir schnürt es gerade hier in Südamerika immer wieder den Hals zu, konfrontiert zu sein mit der geistigen und seelischen Knechtung im Namen eines liebenden Gottes oder eines grünen Dollars. In Peru konnten schamanische Ayahuascazeremonien in Gemeinschaften, in denen es auch Priester der katholischen Kirche gab, noch bis vor ca. 30 Jahren nur im Geheimen abgehalten werden. Für die Kirche war es – und ist es größtenteils immer noch – Teufelswerk und Hexenkraft, was in schamanischen Zeremonien geschieht. Hippies, aufgeschlossenen Naturwissenschaftlern und Anthropologen und nicht zuletzt einer reisefreudigen Esoterikbewegung ist es zu verdanken, dass der Schamanismus in Südamerika wieder eine Beachtung findet, die Kirche und Dollarregierungen nicht mehr ignorieren oder verbieten können.

Wir lassen beim Durchqueren des Dorfes zum Fluss hin die hellblaue Kirche kommentarlos links liegen. Wir kommen aber nur langsam voran, denn aus den Hütten ertönt immer wieder der Ruf "Hola, Ricardo, fährst du wieder?" Es gibt noch einige Umarmungen, bevor wir an der Bootsanlegestelle am Ucayali stehen. Obwohl Trockenzeit ist, beeindruckt mich der Fluss durch seine Breite und sein gemächliches Fließen. Jetzt, in der Morgensonne, glänzt er glatt und silbern, während er sonst aussieht wie Milchkaffee. Er ist ein sogenannter "Weißwasserfluss". Seine trübe, schlammige Färbung erhält er durch die Sedimente, die er aus den Anden mit sich führt. Erst seitdem es Satellitenbilder gibt weiß man, wo genau der Amazonas entspringt und dass er nicht eine Quelle hat, sondern aus mehreren Quellen gespeist wird, ca. 5.200 m hoch oben in den Anden, am Monte Mismo. Viele Namen trägt der längste Strom der Welt bis zu seiner Mündung im Atlantik, ca. 6.400 km weit entfernt von seinen Quellen: sein erster Name ist Rio Apurinac, "Brüllender Gott" oder auch "Großer Wahrsager." Rio Ené, Rio Tambo, Rio Ucayali sind seine weiteren Namen, bis er vor Iquitos mit dem Rio Marañon zusammenfließt. 5000 Meter tiefer als seine Quellen heisst er von diesem Zusammenfluss an bis zu seiner Mündung "Amazonas".(7)

Wir sitzen auf einer Holzbank am Fluss und warten auf das große Boot, das zweimal in der Woche den Weg flussabwärts von Pucallpa nach Iquitos zurücklegt. Drei Tage und drei Nächte ist es schon gefahren, bevor es hier hält, um nach einer weiteren Tagesfahrt in Iquitos anzukommen. Viele kleine collectivos