Von Menschen und anderen Geistern - Nana Nauwald - E-Book

Von Menschen und anderen Geistern E-Book

Nana Nauwald

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Beschreibung

Seit über drei Jahrzehnten widmet sich Nana Nauwald der Bewusstseinsarbeit und der Erkundung geistiger Wirklichkeiten. In ihrem neuen Buch berichtet die Grande Dame des Schamanismus von ihren Abenteuern und Erlebnissen in schamanischen Kulturen. Begegnungen mit dem letzten Schamanen der Ocaina oder den Geistern von Jaguar und Anakonda beim Volk der Shipibo im peruanischen Amazonasgebiet haben sie ebenso geprägt wie ein mit dem Feuergeist verbundener sibirischer Schmied oder die Heil- und Stärkungsrituale einer Burjat-Schamanin. Der Geist der Natur ist nicht nur in Ritualen, sondern auch im Alltag präsent. Nana Nauwalds innere und äussere Reisen führen Menschen, die sich auf den schamanischen Weg begeben wollen, zu den Fragen: Was suche ich im Schamanismus? Was hoffe ich zu finden? Das Buch ist eine Einladung, den eigenen Blick auf die Welt zu hinterfragen und sich für das Abenteuer neuer Selbst- und Welterfahrung zu öffnen.

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NanaNauwald

Von Menschen und anderen Geistern

Meine Reisen in schamanischen Welten

Inhalt

Der Ruf der Zwerge: Suchen – doch wonach?

Schamanische Wirklichkeiten in der Tradition des Volkes der Shipibo

Geist-Bruder Jaguar

Seelenfresser Jaguar

Schadenszauber

Auf dem Rücken der Anakonda

Die Anakonda der Erde

Die Anakonda des Wassers

Die Anakonda der Lagune

Liebeszauber

Rauchen und singen für die Liebe

Geistersex

Schamanische Frauenwirklichkeiten:Die alte Hebamme erzählt

Gesänge – Brücken zwischen Menschen und Geistern

Schamanische Wirklichkeiten:Peru – Mutter Mond und Kaktusgeist

Moche-Geschichte und -Geschichten

Das Mondritual der Frauen

Schamanische Wirklichkeiten:Mapuche, die Menschen der Erde

Trommelgeist

Menschengemeinschaft und Erntegeister

Schamanische Wirklichkeiten:Feuergeist und Trommelflug

Im Land der Geister

Der Lama und die Steine des Übels

Die Perle des Planeten

Die Schamanin

Auf dem Schamanenhügel

Die Wandelkraft des Dschingis Khan

Das Tor zum Himmel

Schmied und Feuergeist

Die Zwergin im Weltenbaum

Danksagung

Zur Autorin

Literatur

Bin in mir selbst verwurzelt, bin Anteil am Lebensgewebe aller Wesen in den vielfältigen Welten des Bewusstseins, den Welten des Seins.

Der Ruf der ZwergeSuchen – doch wonach?

Magische Dschungel-Baumwelten.

Beim Nachspüren des Anfangs und der Beweggründe meiner Sehnsucht nach der Erfahrung von »Anderswelten« fiel mir ein Text von Dr. Albert Hofmann, einem Öffner von Türen zur Wahrnehmung von »anderen« Bewusstseinsräumen, in die suchenden Augen:

»Kindliches Staunen hat mir meinen Weg beschert. Meine Autobiographie beginnt ja nicht mit dem LSD-Erlebnis, sondern mit diesem Spaziergang, den ich als kleines Kind im Wald unternommen hatte. Plötzlich gehörte ich zum Wald, ein unerhörtes Glücksgefühl. Ich wünsche allen, dass ihnen das Bewusstsein des Wunders der Schöpfung offenbar wird.«1

Als ich diese Zeilen las, öffnete sich eine Erinnerungstür: Auch mir machte kindliches Staunen schon früh die Sinne für ein anderes Sehen zugänglich. Während der fast täglichen Aufenthalte im Wald bei der Nahrungs- und Feuerholzsuche – begleitet von der märchenerzählenden Tante Mie – erwachte meine Sehnsucht danach, meine geheimen Vorstellungen von »Leben« eines Tages leben zu können:

Ich wollte zum Zirkus gehen und reisen,

ich wollte Zwerg sein und einen Rucksack haben,

ich wollte unter der Erde im Wurzelgeflecht eines Baumes leben,

ich wollte fliegen wie ein Rabe,

ich wollte, wie in den Märchen, meine Gestalt wandeln können.

Aus dem »Ich wollte« ist geworden: Ich will und ich bin.

Bin Zwergin und Riesin, bin Rabin und Ameise,bin Buche und Grashalm,bin Wind und bin Erde, bin Wasser und bin die Feuersonne. Ich bin bewusster Anteil vom Geist der Mutter der ersten Schöpfung.

Bin in mir selbst verwurzelt, bin Anteil am Lebensgewebe aller Wesen in den vielfältigen Welten des Bewusstseins, den Welten des Seins.

Ich habe erfahren: Der Himmel ist in mir!

Ich habe sieben Rucksäcke – und meine Lebensbewegung ist durch Reisen in äußeren und inneren Welten gekennzeichnet.

Vielfache Wandlung erfuhr ich in einer vielfarbigen »Zirkuswelt«. In Farben und Formen ließ ich diese Weltenvielfalt aus mir heraus sichtbar werden.

Also habe ich mein Lebensziel fast erreicht.

Fast – denn da war und ist immer noch ein schon sehr früh in mir aufgewachter »Such-Samen«: der Tod und sein Geheimnis.

Es war und ist nach wie vor eine abenteuerliche Lebensreise, die Wege des Erspürens und Erkennens des eigenen Seins als Anteil des Lebensgeflechts allen Seins zu finden und zu beschreiten. Die Welten des Bewusstseins zu entdecken und zu erfahren, mit denen ich verbunden bin, die mein geistiges Zuhause sind. Kein leichter Weg, sich aus der Enge der von Familie und Gesellschaft in den 1960er-Jahren an junge Menschen gestellten Erwartungen und Vorstellungen zu lösen, wie und was »frau« werden und sein sollte. Zur Zeit meiner Jugend erforderte es vor allem für Mädchen und junge Frauen viel Mut und Eigensinn, Wege zu finden und sie zu beschreiten, die zur Erfüllung der Sehnsucht nach einem sich selbst entsprechenden Leben führen konnten.

Welch ein weites Befreiungsfeld von den engen gesellschaftlichen Lebensvorstellungen öffnete sich mit dem Erblühen der Hippiezeit: Leben in Gemeinschaft, in Kommunen, Freizügigkeit in Geist und Körper, hoffnungsvolles Vertrauen in die Veränderung der »Geld-Gesellschaft« zu einer von sozialem Gemeinschaftsgeist geprägten Gesellschaft. Schon vor der ersten Bekanntschaft mit wahrnehmungsverändernden Pflanzen breitete sich in mir durch diese neue Lebensart der Duft von »Anderswelt« mehr und mehr aus. Und mehr und mehr ermutigte er mich, meine eigene, bunt schillernde Wandlungskraft zu entfalten, unterstützt durch das Leben in Gemeinschaft von Suchenden.

Nachdem ich von enggläubigen Christen zurechtgewiesen worden war, dass mich die Feder an meinem Ohrring als »Hexe« kennzeichnete, traute ich endgültig keiner herkömmlichen Gottesvorstellung und keinem Religionsdogma mehr. Vielmehr betrachtete ich von da an meine Feder im Ohr als ein Ritualobjekt, das meine Haltung zum Leben ausdrückte: große Weite, mit dem Wind tanzend und singend, Verbindung von Himmel und Erde!

Erst viele Jahre später begegnete mir der Ausspruch des buddhistischen Lehrers Bodhidharma: »Offene Weite – nichts von heilig.« So verloren auf meinem Lebensweg mehr und mehr an Personen und Religionen gebundene Heiligkeitszuschreibungen ihre Wichtigkeit, ihre Glaub-Würdigkeit. Ich wurde und bin zunehmend erfüllt vom Staunen über die unserer alltäglichen Wahrnehmung oft verborgene Intelligenz aller Wesen.

Ich glaube, ein Grashalm ist nicht geringerals das Tagwerk der Sterne.

– WALT WHITMAN

Dieses Erspüren, dass alle Erscheinungen von Leben einen Geist und ein ihrem Wesen entsprechendes Bewusstsein hatten, füllte mich mehr und mehr aus, fand in den Anfängen meiner Malerei zaghaften Ausdruck – und ermutigte mich zunehmend, bisher unerkannte Pforten der Wahrnehmung zu öffnen und zu durchschreiten. Ich verschlang die Gedanken William Blakes und verleibte sie mir ein: »Würden die Pforten der Wahrnehmung gereinigt, erschiene den Menschen alles, wie es ist: unendlich.« Unendliches Sein – das wollte ich erlangen, und ich will es immer noch.

Vorstellen konnte ich mir diesen Zustand als junge Frau nicht, aber ich erahnte ihn. Und ich erahnte, dass dieser Seinszustand das Ziel meiner Suche war, die Suche nach Sein ohne Anbindung an Materie oder Glaubensdogmen. Auf meinen Lebenswanderungen durch die Vielfalt von Bewusstseins- und Lebenswirklichkeiten wandelte sich dieses Ahnen mehr und mehr in ein durch meine Erfahrungen erworbenes Wissen, das mir die Zugänge zu meinem Sein, meinem Geist und meinem geistigen Zuhause öffnete.

Wurzelwelt.

Der Raubdruck, den mir Anfang der 1970er-Jahre ein Freund in die Hand drückte, barg alle weiteren Schlüssel zur Öffnung meines suchenden Wahrnehmungsgeistes: Carlos Castanedas Die Lehren des Don Juan. Don Juans Aussage »Reisen auf Wegen, die Herz haben« war ein Wegweiser, nach dem ich verlangte, den ich annehmen konnte. Ich wollte auch eine Wissende werden wie er. Dass »wissend« kein Dauerzustand ist, dass die von Castaneda beschriebenen Erkenntnisreisen eine ständige Erneuerung meines Bestrebens nach Sein erforderten, das weiß ich erst heute.

Und dass dieser Weg von lebenslangem Erfahrungslernen bestimmt ist, das ist für mich auch heute noch so. Täglich erfahre ich die Vielfalt und Intelligenz aller Naturlebensformen mit wachsendem Staunen, Respekt und Dankbarkeit und mit neuem Blick.

Es gibt nur zwei Weisen, die Welt zu betrachten:Entweder man glaubt, dass nichts auf der Welt ein Wunder sei,oder aber, dass es nichts als Wunder gibt.

– ALBERT EINSTEIN

So wurden meine weisesten Lehrerinnen die Vögel und Ameisen, der Wind und das Feuer, das Wasser, die Erde und die Pflanzen. Dass ich sie heute »lauschend verstehe«, verdanke ich Bewusstseins-Aufweckern wie Carlos Castaneda. Wie »wahr« seine Don-Juan-Geschichten sind, ist nicht mehr wichtig für mich.

»Bewusstheit der Absicht« – diesen zentralen Punkt aller durch bewusste Wahrnehmung gekennzeichneten spirituellen Wege erfahre ich immer noch als große Herausforderung. Was will ich erfahren? Wozu bin ich bereit? Was suche ich?

Auch eine andere Herausforderung, der ich mich bis heute stelle, ist angeregt worden durch die Lehren des Don Juan: zu erkennen, ob ein mich lockender, anziehender Weg auch ein Weg des Herzens ist. Nicht wenige der Spirit-Mainstream-Angebote sind von Geld und Ego-Wichtigkeit bestimmt. Seminar- oder Retreat-Preise sind teilweise so teuer, dass man sich schon allein als auserwählt und besonders wähnt, wenn der hohe Preis bezahlt werden kann … Miss Marple als Beispiel vor Augen, schaue ich seitdem bei allen Erleuchtungs- und Heilsversprechen immer vorsichtig hinter die Vorhänge der Erscheinung: Lebt der Mensch, der diesen Weg anbietet, auch das, was er sagt?

Der Weg des Herzens bedeutet für mich auch, als Lehrerin Menschen zu den ihnen entsprechenden eigenen Wegen anzuregen, ihren »Frei-Geist« zu stärken, sie nicht in Abhängigkeit von festgelegten Weltanschauungen und deren Vertreterinnen und Vertreter zu bringen.

Was ein Raubdruck so alles anrichten kann … Worte, die aus Erfahrung entspringen, können Welten verändern. Meine haben sie verändert. Doch die Grundlage zur Bereitschaft an Wachstum durch Bewusstheit und Mut zum »Lebens-Wandel« haben die »Wurzelzwerge« in mir gelegt.

Und Zwerge haben einen Rucksack – also reisen sie. Auch das habe ich von ihnen schon früh gelernt: der Sehnsucht nach »Reisen« nachzugehen – als Verwandlungskünstlerin mit vielerlei Gestalt. Schon im Kindergartenalter büxte ich oft aus und stand still an der Dorfstraße … und wartete. Worauf?

Lebensreise, mit offenem Herz und offenem Geist und wachen Sinnen. Neugierig folgend der Vielfalt anderer Manifestationen von Leben, um mehr und mehr mich selbst zu erfahren.

Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.

– FRANZ KAFKA

Also ging ich, Schritt für Schritt, und erschuf mir Wege, erfüllt von neuen Erfahrungen, neuen Einsichten in die für mich immer unerklärlicher, geheimnisvoller werdenden Welten des Bewusstseins.

Wurzelt mein Bewusstsein in diesem alles umfassenden, alles enthaltenden Mysterium »Bewusstseinsuniversum«? Vielleicht sind die Bewusstseinsfelder, von denen alle spirituellen Richtungen mit unterschiedlichen Begriffen sprechen, nur Wunschvorstellungen? Entwickelten wir Menschen solche Vorstellungen, weil wir Angst haben, dass nach unserem körperlichen Tod nichts mehr ist? Und vielleicht sind die Erfahrungen, die wir in den durch vielfache Zugänge möglichen Veränderungen der Wahrnehmung machen, nur Auswirkungen von körpereigenen, biochemischen Abläufen, besonderen Vernetzungen im Gehirn?

Mit diesem Gedankengepäck beladen, ging und gehe ich meinen Lebensweg, kann manchmal Frage-Gedanken gegen Antwort-Erfahrungen austauschen. Manchmal.

Dr. Felicitas Goodman in ihrer Kiva in New Mexico.

Neugierig und auch mutig setzte ich meine Antwort-Erfahrungen als Trittsteine zu einem Finde-Weg zusammen. Ein durchaus stolpriger Pfad mit vielen Sackgassen und bedrohlichen Haarnadelkurven.

Die wohltuenden, heilsamen Feuer und Gemeinschaften in Schwitzhütten erwärmen mich heute noch. Sie waren und sind auch Bewusstseins-Türöffner, die die in ihrer spirituellen Tradition verwurzelten Männer aus nordamerikanischen Ethnien zu uns brachten. Durch ihr Wirken erinnerten und verbanden sie uns auch mit unserem alten nordeuropäischen Erbe von Schwitzhütten. Archäologische Funde weltweit zeugen von Formen der rituellen Reinigung in Gemeinschaften durch Feuer und Wasser.

Die Art der Heilarbeit eines Medizinmannes in Nigeria, die mir lange Zeit mit Furcht in den Knochen saß, war eine Sackgasse für mich, erfüllt mit Ängsten. Doch die mir wohltuenden Erfahrungen in einem Umbanda-Tempel in Brasilien mit einer afrobrasilianischen spirituellen Weltsicht, in der Geistwesen (Orishas) durch ein Medium im Trancezustand hilfesuchenden Menschen Antworten auf Fragen geben und Heilung vollziehen, waren ein stimmiger Trittstein auf meinem Weg. Und aus den tiefen Erfahrungen im Zustand einer durch Rhythmus und besondere Körperhaltungen bewusst hervorgerufenen Wachtrance, erforscht von der Anthropologin Dr. Felicitas Goodman, wuchsen und wachsen immer noch Erkenntnis-Trittsteine für meinen Finde-Weg.

Dr. Felicitas Goodman und Dr. Albert Hofmann 2008, ECBS-Konferenz, Heidelberg.

Heimische, sanfte und dennoch tief wirkende Weggefährten wurden mir die kleinen Pilzfreunde, die sogar auf der Kuhwiese am Rande meines Dorfes wachsen, Psilocybe, Spitzkegelige Kahlköpfe.

Doch weder die Zauberpilze noch andere psychoaktive Substanzen stillten meine Sehnsucht danach, mein ganzes Sein zu erfüllen, »nach Hause« zu kommen. Diese Erfahrungen weiteten meinen Geist, ließen mein Ego kleiner werden, machten mich von Materie unabhängiger. Und vor allem: Sie ließen mich erspüren, dass ich auf dem richtigen Weg war. Das wirkliche Sehen als ein Moment der Erkenntnis ist nicht von Augen und Bildern abhängig – dieses Wissen nährt bis heute meinen suchenden Geist mit Antworten.

Als ich es endlich hören konnte, das zischelnde Gepfeife, den monotonen Gesang, um Geistwesen heranzurufen, und die sanfte, meine inneren Welten öffnende Wirkung des Kaktus San Pedro erfuhr im Ritual des peruanischen Curanderos (Heilers) Eduardo Calderón Palomino von der Küste im Norden Perus, im Bregenzer Wald und in der Lüneburger Heide, da wusste ich: Ich muss dorthin gehen, wo sie leben, diese mit spezieller Pflanzenkraft wirkenden Heiler, Schamanen. Ich wollte ihre Gesänge, die wahrnehmungsverändernde Pflanzenkraft, die Anwesenheit und das Wirken von Geist und Geistern dort mit allen Sinnen in Geist und Körper erfahren, wo dieser schamanische Geist lebte und gelebt wurde.

Wohin ich auch ging, wie lange ich auch in einigen Ethnien Südamerikas oder Sibiriens war – bei allem Reiz des Unbekannten, Exotischen wurde mir immer wieder sehr bald klar: Ich war und bin Gast in der alltäglichen und der geistigen Welt der noch im Schamanismus lebenden Ethnien – doch ich lebe nicht in ihrer geistigen und alltäglichen Wirklichkeit. Respekt und Dankbarkeit hüten mich davor, die geistigen Rituale der Ethnien zu »imitieren«. Ich bin von einem anderen Geist.

So sagte der alte Shipibo-Schamane Reshin Nika zu mir, als ich mich während meiner jährlichen Aufenthalte in neunzehn Jahren in der Shipibo-Dorfgemeinschaft am Ucayali bemühte, seine Lieder in Shipibo nachzusingen: »Du bist von einem anderen Geist. Du musst in deinem Geist singen.«

So ist es. Das sind die wichtigsten Erkenntnisse meiner über dreißigjährigen Wanderungen in inneren und äußeren Bewusstseinswelten: Ich bin Anteil der Schöpfung, bin selbst Natur, verbunden mit der Vielfalt aller sichtbaren und nicht sichtbaren Erscheinungen von Leben.

Ich muss meinen eigenen Geist, mein geistiges Zuhause erspüren, erfahren, erkennen und vor allem: leben! Zu meinem Wohl und dem Wohl der Menschen und Wesen in meinem Lebensgewebe.

Zufall »Zwergenwege«? Bei einem meiner Aufenthalte beim Volk der Shipibo erzählte mir ein alter Mann aus der Familie des Schamanen eine Zwergengeschichte! In dieser alten Geschichte ist es ein Zwerg, der Bäume und dorniges Gestrüpp abholzte, um einer Familie einen Garten zu erschaffen. Er brannte die so entstandene Fläche ab, pflanzte Bananen und Maniok, streute Maiskörner aus – und alles wuchs sofort! Schon am nächsten Morgen waren die Pflanzen und Früchte erntereif. Dieser Zwerg war in Wirklichkeit der Geist eines großen Eichhörnchens, das ein Meister im Stehlen war und alle Setzlinge und Körner aus dem Garten eines geizigen Herrschers gestohlen hatte.

So führten mich einige meiner »Zwergenwege« nach Peru, zu ebenjenem Volk der Shipibo am Río Ucayali, zu Curanderos an der Küste, zum Volk der Ocaina am Amazonas, zum Volk der Mapuche im Süden Chiles.

Der Funke zum Beginn meines inneren Finde-Wegs für meine jahrelangen Reisen zu einigen indigenen Ethnien in Südamerika wurde in einem Ayahuasca-Ritual am Río Negro in Brasilien entzündet. Es war meine erste Erfahrung mit dem bewusstseinsöffnenden, heilsamen Trank der Ayahuasca mit Chacruna. Es geschah in einer Situation, in der ich noch massiv mit den Folgen einer Lösungsmittelvergiftung zu tun hatte. Ich konnte die Finger nur unter Schmerzen bewegen, meine Bronchien waren geschädigt, die Herzkranzgefäße belastet und verengt. Freunde, die einen Schamanen in einem Dorf am Río Negro kannten und ihm vertrauten, stellten den Kontakt zu ihm her und begleiteten mich im Ritual. Mein Erleben war so »unglaublich«, aber wirklich: Von der Erde hoch kroch durch jeden meiner Füße eine große Schlange. Die Tiere zermalmten von innen für mich hörbar alles und fraßen es auf. Ich konnte genau spüren, wie sie Stück für Stück meine Beine hinaufkrochen, bis in meinen Bauch hinein. Als beide Schlangen in meinem Bauch waren, musste ich elendig erbrechen.

Danach war es ganz ruhig in mir, ich spürte, wie die zwei Schlangen zu einer wurden und sich in mir auflösten. In meinem Kopf wurde es leicht und hell, als ob jemand eine Lampe angezündet hätte. Es ging mir nach diesem Ritual anhaltend wesentlich besser, auch mit meinem geschädigten Magen und den Schmerzen in den Fingern.

Diese Erfahrung in meinem ersten Ayahuasca-Heilungsritual öffnete mir innerlich die Wege, äußerliche Wege in die Bewusstseinswelten einiger der schamanisch geprägten Ethnien Südamerikas zu finden und zu gehen. So erfuhr ich mehr und mehr durch äußere Wirklichkeiten meine eigene innere Wirklichkeit – weitete mein Bewusstsein, lebte mehr und mehr mein bewusstes Sein.

Wirklichkeit – Gedanken von Albert Hofmann

»Wirklichkeit – die offensichtlich durch eine Wechselbeziehung zwischen innerer und äußerer Welt zustande kommt.«

»Mit der äußeren Welt ist das gesamte materielle und energetische Universum gemeint, zu dem auch wir mit unserer Körperlichkeit gehören. Als innere Welt wird das menschliche Bewusstsein bezeichnet.«

»Es gibt zwei grundlegende Unterschiede zwischen äußerer und innerer Welt. Während nur eine äußere Welt existiert, ist die Zahl der inneren geistigen Welten so groß wie die der menschlichen Individuen. Ferner ist die Existenz der äußeren materiellen Welt objektiv nachweisbar, während die innere Welt eine rein subjektive geistige Erfahrung darstellt.«2

1Zitiert nach Rühle, Alex: »LSD-Kongress in Basel. Kinners, mir wird so blümerant«, Süddeutsche Zeitung vom 11.5.2010, www.sueddeutsche.de/kultur/lsd-kongress-in-basel-kinners-mir-wird-so-bluemerant-1.433626 (Zugriff am 29.5.2022).

2Liggenstorfer, Roger und Broecker, Mathias (Hg.): Albert Hofmann und die Entdeckung des LSD. Auf dem Weg nach Eleusis, Baden 2006.

Auch die noch in dieser Erdenwelt lebenden Menschen sind Teil der wirklichen Welt, der Geistwelt des Anfangs, und sie tragen diese kosmischen Muster in sich.

Schamanische Wirklichkeitenin der Tradition des Volkes der Shipibo

Geist-Bruder Jaguar

Es brauchte viele Wirklichkeitserfahrungsreisen, bis ich in Peru in einem kleinen Dorf des Volkes der Shipibo am Ucayali in neunzehn Jahren die Weltsicht Schamanismus als gelebte innere und äußere Wirklichkeit erfahren konnte. Im sechsten Sommer, in dem ich zu Gast war in der Familie des alten, mit den Geistern und Pflanzen in seiner Tradition lebenden Schamanen Reshin Nika – »Mann mit großer Stärke« –, sagte er: »Jetzt können wir dir vertrauen!« Und er gab mir einen Namen: Reshin Mea – »ehrbare Frau, die immer hilft, ohne etwas dafür zu erwarten«.

Im sich mehr und mehr vom traditionellen Leben mit der Natur-Umwelt und ihren Geistern entfernenden Volk der Shipibo und der auch bei ihm wachsenden Wichtigkeit des Geldes verändert sich auch die Rolle des Schamanen.

Der für seine Gemeinschaft wirkende »klassische« Schamane ist nicht nur ein Meister der Pflanzenmedizin, sondern auch ein Hüter der alten Bräuche und Geschichten des Volkes und verantwortlich für das soziale, seelische und körperliche Wohl der Menschen seiner Gemeinschaft.

Trotz der die geistigen Traditionen indigener Ethnien – nicht nur im Amazonasgebiet – zerstörenden mehrhundertjährigen Missionsarbeit christlicher Kirchen aus Europa und den USA haben die Shipibo es über die Jahrhunderte verstanden, sich ihre spirituellen Stützpfeiler der Dorfgemeinschaft nicht zerschlagen zu lassen: Immer noch sind es die Schamanen, die als Wissende und Sehende zwischen der Welt der Menschen und der spirituellen Welt vermitteln. Doch den jahrelangen, durchaus schweren Lernweg mit vielen Diäten und Rückzug von der Gemeinschaft, um ein Schamane zu werden, nimmt kaum jemand mehr auf sich. Dennoch ist das Wissen um die Wirklichkeiten von sichtbaren und nicht sichtbaren Geisterwelten immer noch lebendig. Aber da die Notwendigkeit des Besitzes von Geld zum Überleben gewachsen ist, arbeiten viele der heutigen »Buch-Schamanen« in Ayahuasca-Ritualen hauptsächlich mit vorbeiziehenden Touristinnen und Touristen.

Hinweise von traditionell arbeitenden Shipibo-Schamanen zur Pflanze Ayahuasca und ihrer rituellen Nutzung

•Das Kochen darf nie dort geschehen, wo auch Essen für Menschen gekocht wird.

•Die vorher mit einem Hammer zu Brei geschlagene Ayahuasca-Liane wird in wechselnden Lagen im Topf aufgeschichtet, die unterste Lage bildet die Pflanze Chacruna.

•Die Stärke des Ayahuasca-Tranks hängt ab von der Stärke des Feuers. Auf einem starken Feuer circa acht Stunden lang kochen, bis etwa 1 Liter Flüssigkeit übrig ist; sonst wird der Trank zu schwach.

•Beim Kochen wurden früher bestimmte icaros (Lieder) gesungen.

•Es gibt einen Vogel, der ist ein Geist der Ayahuasca und kommt, ohne dass er gerufen wird, wenn jemand zum ersten Mal die Ayahuasca trinkt. Der Vogel hat einen kleinen Körper, einen sehr langen Schwanz, viele Farben und rote Augen. Er hilft besonders bei Heilungsanliegen, wenn jemand viel »schlechte Luft« im Körper hat. Dann reinigt der Vogel den Körper wie mit einem Besen. Er kommt, wenn er mit einem besonderen icaro gerufen wird.3

Traditionelle Keramiken Mann/Frau.

»Buch-Schamanen« werden die Männer und Frauen, die sich heute als Schamane oder Schamanin verdingen, von den traditionellen Schamanen genannt, weil sie aus Büchern lernen statt aus ihren langjährigen Erfahrungen. So sagen es jedenfalls die Alten …

Ethnologischen und archäologischen Forschungen zufolge arbeiten Schamaninnen und Heiler wahrscheinlich schon seit schätzungsweise 5000 Jahren in den Regenwäldern Südamerikas mit Ayahuasca, um Heilung zu bewirken, Wissen und Kraft zu erlangen, die Ursachen von Krankheiten und Spannungen in der Gemeinschaft zu erkennen.

Die Besonderheit der Shipibo-Schamanen ist es, dass sie in der Lage sind, in den Heilritualen das »Muster« des Patienten zu sehen. Der Schamane webt sich mit seinen Gesängen in das Muster des Kranken ein und singt ihm ein »Heilmuster« wie einen Mantel über den Körper.

Keramikfunde weisen darauf hin, dass diese heute noch typischen geometrischen Muster der Shipibo mindestens seit 1200 Jahren von den am Ucayali lebenden Volk ausgeführt wurden.

Je bewusster ich mich mit ihrer Alltags- und ihrer geistigen Wirklichkeit durch mein Leben in der Familie des alten, aus seiner geistigen Tradition heraus wirkenden Schamanen verband, so war ich doch immer Besucherin aus einer anderen Welt. Und auch seine Bemerkung an die vorbeiziehenden Besucher aus westlichen Ländern, die ein Ayahuasca-Ritual erwünschten, erinnerte mich immer wieder an die Absicht meiner jährlichen Besuche im Dorf. »Was willst du von meiner geistigen Wirklichkeit wissen, wenn du nichts von meinem Alltag weißt?«, sprach Reshin Nika, schulterte seine Hacke und ging auf sein kleines Feld.

So half ich ihm, Wasser aus dem Brunnen zu holen, Yucca auszugraben, den Weg von Pflanzen mit der Machete zu reinigen, um den kleinen giftigen Schlangen und Skorpionen kein Versteck zu bieten … und einige andere Kleinigkeiten der Arbeitswirklichkeit zu erledigen.

Tagsüber sind die Schamanen in den Dörfern, die nicht überwiegend für Touristen, sondern für die Menschen in ihrem Dorf arbeiten, in materieller Hinsicht genauso arm wie alle anderen.

Ihre Besonderheit und Wichtigkeit für die Gemeinschaft besteht traditionell in der Gabe, nach mehrjähriger Lehrzeit, einem Rückzug in den Dschungel und nach Pflanzendiäten in der Lage zu sein, eine Verbindung von Menschen, Tieren und Pflanzen zu unabhängigen Geistern herzustellen.

»Die Geister kommen nicht von den Pflanzen, sie sind aus anderen Welten. Sie sind nicht von der heutigen Welt, sie sind von der Zeit der Schöpfung der Welt. Sie geben der Natur Kraft, sie sind Natur.

In den Tälern der hohen Berge gibt es einen Brunnen. Aus ihm heraus fließt ein Fluss, darin gibt es Gold. Dort leben die Geister aus der ersten Welt der Schöpfung. Sie unterscheiden sich sehr von den Geistern der Pflanzen, denn sie haben ganz bestimmte Lieder und sind unabhängig von den Menschen. Sie kommen nicht immer, wenn ich sie rufe. Sie leben in ihrer eigenen Welt, ich kann ihnen nicht befehlen.

Aus jedem Pflanzengeist entspringen unterschiedliche Lieder, jene icaros. Geht es den Pflanzengeistern gut und sind sie gut genährt, dann können sie Lieder mit verschiedenen Worten und Melodien singen, fröhliche Melodien, leichte Worte mit einer tiefen Melodie und einem tiefen Ton. So sind sie, die Heilpflanzen-Geister. Die mächtigen Geister vom Anfang der Welt, so wie der Geist des Jaguars – der Jaguar wird von dem Schamanen, der Schamanin als ›Bruder‹ (hermano) bezeichnet – oder der Anakonda, können auch sehr zerstörerisch sein.«

Mit diesen Worten versuchte der alte Schamane mir die Geister und ihre Zuordnung aus seiner Sicht zu erklären. »Dass Menschen sich in Geister verwandeln und herumwandern«, so sagt er noch, nachdem er geraucht hat, »das gibt es erst seit dem Einfall des Christentums in unsere Welt.«

Bis heute bin ich mir nicht sicher, wie und ob ich Geister empfinde, wahrnehme und verstehe, ohne philosophische oder esoterische Ansichten zu übernehmen oder Fantasievorstellungen zu erliegen – oder übernehme ich meine Geistervorstellungen aus im Geist der Natur verwurzelten indigenen Ethnien?

Haben Geister etwas mit Geist zu tun? Entspringen meine Vorstellungen und die Erfahrungen in anderen Bewusstseinszuständen wirklich aus mir, aus meinem Geist? Bin ich im großen Bewusstseinsfeld allen Seins, wenn ich in einem veränderten Bewusstseinszustand – Psychedelika, Trance, tiefe Meditation – bin?

Gehört alles, was ich in einem veränderten Bewusstseinszustand erfahre, zu mir, entspringt es aus mir?

Auf meinem »Geist-« und »Geisterfindungsweg« stolpere ich staunend über einen Gedanken von Goethe. Der alte Shipibo-Schamane würde diese Gedanken verstehen:

» … denn ich habe die feste Überzeugung, dass unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur. Es ist ein fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet.«4

In der Weltsicht der Shipibo hat alles, was ist, einen Geist – und jeder Geist hat eine Mutter. In den nächtlichen Ritualen verbinden die Schamaninnen und Schamanen ihren eigenen Geist mit speziellen Liedern, dem Tabakrauch und dem bewusstseinsöffnenden Ayahuasca-Trank mit dem mächtigen Geist aus der Geistfamilie, zu der sie gehören.

Auch die Verbindung mit geistigen Energien aus der Pflanzen- oder Tierwelt ist wichtig, da sie für die Absicht des Schamanen hilfreich sein können, die seelische, geistige und körperliche Gesundheit eines Menschen wiederherzustellen.

Gesundheit in der Tradition der Shipibo bezeichnet das Gleichgewicht des Menschen mit seinem eigenen Geist, seiner sozialen Gruppe, der Natur und den Geistern und Kräften, die diese beherrschen. Der Verlust dieses Gleichgewichts ist Krankheit, bringt Leid und die unbedingte Notwendigkeit der Wiedergutmachung. Das erfordert einen sehr vorsichtigen, bewussten Umgang der Schamanin oder des Schamanen mit Menschen, der Natur und geistigen Kräften. Dazu gehört auch das Wissen über die Regeln und ihre Einhaltung.

In der Tradition der Shipibo haben das Bewahren und die Wiederherstellung von Gesundheit durch bestimmte Diäten und Reinigungskuren einen hohen Wert, auch die Beachtung der sozialen Werte der Gemeinschaft spielt bei der Wiederherstellung von Gesundheit eine große Rolle. Gesundheit wird als ein Zustand der Normalität angesehen, ein Zustand der Balance, in dem sich der Mensch im Verhältnis zu seinem eigenen Geist, seiner Familie, seiner sozialen Gemeinschaft, mit der ihn umgebenden Natur und mit den Geistern und Kräften des Lebensursprungs befindet. Der Verlust dieses Gleichgewichts bringt Leid und die Notwendigkeit der Wiederherstellung. Das Zusammenspiel von Kräften und Beziehungen erfordert viel Aufmerksamkeit, um dem Ungleichgewicht entgegenzuwirken.

Schwere Krankheiten werden von Shipibo-Schamanen aus ihrer geistigen Welt heraus mit einer mächtigen Pflanzen-Geist-Medizin behandelt, zum Beispiel Ayahuasca, Toé oder Piñón colorado. 5

Geister aus allen geistigen Welten – Pflanzen, Tiere, Berge, Wasser – können Krankheiten verursachen. Anlass dafür bilden oft mangelnder Respekt eines Menschen und falsches Verhalten gegenüber den Geistwesen der Natur, etwa die Übertretung der ihnen zugeordneten Regeln.

Die Welt der Geister ist nach Auffassung der Shipibo die wirkliche Welt. Diese wirkliche Welt und der ganze Kosmos sind mit kunstvollen geometrischen Mustern durchwoben. Auch die noch in dieser Erdenwelt lebenden Menschen sind Teil der wirklichen Welt, der Geistwelt des Anfangs, und sie tragen diese kosmischen Muster in sich. Das ist der Grund, warum die geometrische Musterkunst der Shipibo bis heute lebendig ist – in Stickereien, Körperbemalungen, Töpferwaren – und das Volk kennzeichnet.

In dieses Wirklichkeitsdenken einzutauchen, ohne zu urteilen und ohne Wirklichkeitsvorstellungen zu übernehmen, forderte mich sehr heraus und zeigte mir meine Identitäts-, Kultur- und Geistgrenzen auf. Zugleich kam ich durch diese für mich oft unverständlichen und verstörenden Wirklichkeiten im geistigen Leben der Shipibo immer dichter an meine mich seit Jahren zum Finden von Erfahrungs-Antworten antreibenden Frage heran: Was und wonach suche ich?

Gut, dass ich es trotz aller Entscheidungsfähigkeit nicht in der Hand habe, immer genau die Art und Weise des Findens von Antworten zu bestimmen. Vor allem nicht in den geistigen Wirklichkeiten lebendiger schamanischer Welten! So wundert es mich heute nicht mehr, dass meine erste Begegnung mit einem Geist die mit dem mächtigsten Herrscher über alle Geister in der Shipibo-Geist-Kosmologie war: dem Jaguar.

1Bemalen von Keramik mit braunem Ton.

2Ab dem 6. Lebensjahr lernen die Mädchen, die Muster zu sticken.

3Großmutter, Mutter und Töchter sticken.

Shipibo-Muster des Jaguars.

Das geometrische Muster des Jaguars wurde von den Frauen der Shipibo bis vor einigen Jahren nur gestickt, nachdem der Schamane dafür seine Erlaubnis gegeben hatte. Nicht jede Person durfte dieses Muster – ein gleichschenkliges Kreuz – tragen, weder als Körperbemalung noch auf ein Tuch gestickt.

Es gibt auch Pflanzen, die zu den hermanos gehören. Dazu zählt die wichtige Pflanze für »Liebe« namens piri piri para el amor. Sie darf nicht direkt vor eine Hütte gepflanzt werden, da nachts die Hermano-Geister kommen, um diese Pflanze zu schützen. So bewahrt mit der Kraft der hermanos, kann die Pflanze auch Menschen Schutz bieten, speziell bei Problemen mit der Polizei und der Justiz. Ist jemand in einer solchen heiklen Situation, zerreibt er einige Blätter der Pflanze in seinen Händen, achtet darauf, dass auch etwas von seiner Haut sich mit den zerriebenen Blättern vermischt. Gibt er dann einem Polizisten oder Rechtsanwalt die Hand, soll er vor allen Angriffen seitens der Justiz geschützt sein.

Der hermano, diese mächtigste aller geistigen Manifestationen beim Volk der Shipibo, ist kein »Krafttier«. Diese Bezeichnung schwirrt zwar durch unsere Seminar-Schamanismuswelten, zeugt jedoch von Respektlosigkeit und Unwissen in Bezug auf die Wirklichkeit von Geistern als Manifestationen des kosmischen Geistes bei indigenen Ethnien wie den Shipibo.

Dieser bis heute in der geistigen Welt der Shipibo mächtigste Geist wird unter den Alten der Gemeinschaft nicht als Jaguar, sondern mit viel Respekt als Bruder – eben hermano – bezeichnet.

Shipibo-Schamanen gehören oft zur Familie des Geistes des Jaguars, doch sie durften sich früher – vor den Sechzigerjahren, also bevor die Schamanismus-Touristen kamen – nur so nennen, wenn sie nach der erforderlichen langen Lehrzeit allein, mit einem Gewehr bewaffnet, im Dschungel einem Jaguar begegnet waren. Erst wenn sie ihn getötet und von seinem Blut getrunken hatten, durften sie sich als Jaguar-Schamane bezeichnen. Manchmal tötete auch der Jaguar den Schamanen.

Juan Reshin Nika, in dessen Familie ich lebte, war so ein echter Jaguar-Schamane, der im Dschungel einen Jaguar erschossen hatte.

Der Name »Shipibo«

Als ich meinen Shipibo-Bruder José Roque Maynas fragte, woher der Name »Shipibo« kommt, erzählte er mir diese Geschichte:

»Unsere Vorfahren hatten die Angewohnheit, sich mit dem schwarzen Saft der Frucht huito um den Mund schwarz zu bemalen, auch die Lippen, das fanden sie schön. Wenn die Frauen schaumiges masáto zubereiteten, unser Bier aus Yucca, bekamen die Männer beim Trinken vom Schaum weiße Lippen. Die Leute aus anderen Gegenden sagten dann: ›Seht, jene haben das Gesicht des Pichico-Affen!‹ Der heißt in unserer Sprache shipi. So haben uns die anderen den Namen ›Shipibo‹ gegeben, weil um den Mund herum alles schwarz war und die Lippen weiß, ähnlich wie beim Affen pichico.«

Ich bin froh, dass ich in neunzehn Jahren meiner Wege im Dschungel keinem Jaguar in der äußeren Wirklichkeit begegnet bin. Die Begegnung mit einem Geist-Jaguar war und ist immer noch eindrücklich