Der Geschmack des Sommers - Sarah Ockler - E-Book

Der Geschmack des Sommers E-Book

Sarah Ockler

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Delilahs Leben fällt überall auseinander: ihre schulischen Leistungen sind miserabel, sie hat einen Nicht-Freund, mit dem sie nichts außer der Möglichkeit zu vergessen verbindet, und die Beziehung zu ihrer Mutter Claire ist alles andere als harmonisch. Vor allem der große Familienstreit vor acht Jahren steht zwischen ihnen. Als ihre Großmutter plötzlich stirbt, kehrt Delilah mit Claire in das Haus zurück, in dem sie früher jeden Sommer verbracht haben. Und dort begegnet sie nicht nur der Vergangenheit, sondern auch Patrick – ihrem gut aussehenden Freund von damals …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 401

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DIE AUTORIN

© Rachel Lynn Miller

Sarah Ockler lebt mit ihrem Mann in New York, und weil sie immer noch an den Spätfolgen ihrer turbulenten Teenagerjahre leidet, hat sie sich aufs Verfassen von Jugendbüchern spezialisiert. Ihre Romane wurden in der Presse gefeiert und haben zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. ALA’s Best Fiction for Young Adults.

Von Sarah Ockler ist außerdem bei cbt lieferbar:

Verlieb dich nie in einen Vargas

Sarah Ockler

Der Geschmack

des Sommers

Aus dem Englischen

von Bernadette Ott

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. cbt ist der Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Juli 2014

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2010 by Sarah Ockler

Die englische Originalausgabe erschien

unter dem Titel »Fixing Delilah« bei

Little, Brown and Company, a division of

Hachette Book Group, Inc., New York

This edition published by arrangement

with Little, Brown and Company, New York,

New York, USA.

All rights reserved.

© 2014 cbt Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Bernadette Ott

Umschlagbild: Shutterstock/Anastasiia Markus

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin

kg · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-10728-4V002

www.cbt-jugendbuch.de

Für meine Mutter, Sharon Ockler,

Hüterin der Familiengeschichten,

der Fotos und Schätze;

und für meinen Vater, Steven Ockler,

dessen Liebe zu Ahornsirup den Weg

nach Red Falls gefunden hat.

1. Kapitel

»Claire? Hier ist Rachel. Ich hab eine schlechte Nachricht.«

2. Kapitel

Mom und ich haben letzte Nacht nicht geschlafen. Sie verbrachte die frühen Morgenstunden damit, zu packen und E-Mails zu schreiben und mit Filzstiften in verschiedenen Farben alle möglichen Listen zu machen, während ich auf der Couch lag, kalten Kaffee trank und erst mal lieber nicht so viele Fragen stellte. Ich hatte auch so genug Ärger – und das schon, bevor Tante Rachel mit ihrem Anruf bei meiner Mutter diese Hektik auslöste und alle meine Pläne für den Sommer durcheinanderwirbelte.

»Na, dann wollen wir mal«, sagt Mom, lässt den Motor an und lenkt den dunkelblauen Lexus Sedan schwungvoll rückwärts aus der Einfahrt hinaus. Bis vor Kurzem war er eigentlich nicht dunkelblau, sondern saphirschwarz metallic. Die Rechnung für das Neuspritzen in der Werkstatt hängt an meiner Pinnwand über dem Schreibtisch und erinnert mich ständig daran, dass ich Mom was schuldig bin für den Kratzer und die Delle, die ich dort am Kotflügel hinterlassen habe, als sie letzten Monat auf Geschäftsreise war.

Für den ganzen Sommer – diesen Unglückssommer – habe ich nur drei Taschen gepackt, den Rucksack dazu gezählt, den ich jetzt im Auto zwischen meinen Füßen habe, sowie die Tüte mit dem schwarzen Kleid für die Beerdigung. Der Rest des immer noch saphirschwarz metallic lackierten Kofferraums und des in Kaschmirbeige und Leder gehaltenen Innenraums ist vollgestopft mit Moms farblich passendem Reisegepäck, ihren sorgfältig beschrifteten Plastikcontainern mitsamt Aktenordnern, Leuchtmarkern, Computerkabeln, einem Drucker-Scanner-Fax-Gerät sowie – für den Fall, dass während unseres ungeplanten Familienausflugs auf einmal irgendwo ihre Topmanagerin-Qualitäten gefragt sein sollten – mit einer Auswahl an elegant geschnittenen Hosenanzügen und Kostümen in Graubraun, Marineblau und, ganz klassisch, in Schwarz.

»In. Vierhundert. Metern. Links. Abbiegen.«

Von ihrem fernen Planeten Monotonia aus, in dem alles ruhig und geordnet zugeht, steuert uns eine unsichtbare elektronische Frau in Richtung Highway, doch Mom hört ihr gar nicht zu. Als Vizepräsidentin für den Bereich Marketing der DKI Group – »der renommiertesten Branding-Agentur an der Ostküste« – ist Mom ein Profi in Multitasking. Sogar mit geschlossenen Augen könnte sie gleichzeitig einen Bagel essen, die neuesten Schlagzeilen überfliegen und den Weg zur Interstate 78 finden. Selbst ohne eine einzige Stunde Schlaf fährt sie mühelos Auto, die eine Hand am Steuer und mit den perfekt manikürten Fingern der anderen auf dem Touchscreentelefon am Armaturenbrett herumtippend. Sie benötigt acht Anrufe bei ihrer Assistentin, um ihr auf der Mailbox zu erklären, wofür ich mit einer einzigen SMS an meinen Ich-weiß-nicht-ob-er-mein-Freund-ist-oder-nicht-Freund Finn auskomme:

großes familiendrama. bin den ganzen sommer in vermont. man sieht sich!

»Nach. Zwei. Kilometern. Rechts. Abbiegen.«

Mom blickt in den Rückspiegel und zieht den Lexus lässig auf die rechte Fahrbahn rüber. »Den Blick auf die Straße gerichtet, stets das Ziel vor Augen und alles wird gut«, sagt sie und tätschelt dabei das Lenkrad. Diesen Slogan hat sie immer für den Überlebenskampf auf der Straße bereit und auch heute Morgen hat sie ihn bereits drei Mal verkündet. Mit ihren Sprüchen könnte man Kalender füllen. Mom über mich und meine Hausaufgaben, bei denen sie mir nicht helfen will: Je mehr man investiert, desto mehr bekommt man raus. Mom über ihre vielen Wochenenden, an denen sie durcharbeitet: Nur wer dem Samenkorn einen fruchtbaren Boden bereitet, kann einen zufriedenen Kunden ernten. Mom über gemeinsames Kochen zu Hause: Ich muss noch länger im Büro bleiben, Del. In der Kaffeedose ist Geld für Pizza oder den Inder.

Heute würde ich ihr den Spruch ja nur zu gern glauben, aber vom Beifahrersitz aus sind die Aussichten nicht gerade rosig.

Auch wenn es vielleicht nicht so gewirkt haben mag: Ich bin nicht die Sorte Mädchen, die ein Auto halb zu Schrott fährt. Genauso wenig wie die Sorte Mädchen, die Lippenstifte klaut, Unterricht schwänzt, sich mit einem Jungen, den sie kaum kennt, im Wald rumtreibt oder wegen eines Handyfotos in einem beschissenen Blog ihre Würde verliert. Aber so sieht es für Mom nun mal aus, alle Beweise sprechen gegen mich, und ich komme mir gerade vor wie der Täter in einer Krimiserie, den sie mit Handschellen an den Flugzeugsitz gefesselt haben. Nur dass ich nicht eine hübsche Polizistin-mit-harter-Schale-aber-weichem-Kern als Flugbegleiterin neben mir habe, sondern eine siebenstündige Autofahrt mit Commander Mom und ihrem gesamten Equipment an mobilen Kommunikationsgeräten auf mich wartet.

Ich drehe mich von ihr weg und setze die Sonnenbrille auf, damit sie nicht die Tränen sieht, die mir in die Augen schießen. Zu spät.

»Delilah, wir haben das doch schon alles durchdiskutiert. Du kannst nicht hier in Key bleiben. Punkt.« Sie sagt das, als handle es sich um eine Verordnung des allerhöchsten amerikanischen Gerichts. Und mir bleibt nur die Sonnenbrille, wenn ich nicht die Wenn-mein-Vater-noch-hier-wäre-wäre-alles-anders-Karte ausspielen möchte.

Während sie weiterredet, klopft Mom mir auf den Oberschenkel, um die Bedeutung ihrer Worte zu unterstreichen. »Es geht nicht nur darum, dass du dich nachts heimlich aus dem Haus schleichst oder in Läden Dinge klaust.« Klopfklopfklopf.

»Wie oft soll ich es dir denn noch sagen?«, frage ich. »Es war ein Versehen!« War es tatsächlich. Ich habe überhaupt nicht bemerkt, dass ich immer noch den Lippenstift in der Hand hatte, als ich gestern aus dem Kosmetikladen rausspaziert bin. Ich war einfach nur total müde und gelangweilt, weil ich genug davon hatte, immer allein durch das Einkaufscenter zu bummeln.

»Ein Versehen?«, wiederholt Mom. »Und das mit dem Auto? Und deine schlechten Noten?« Sie schüttelt missbilligend den Kopf. »Aber lassen wir das. Es gibt im Moment Wichtigeres, Delilah. Wir werden beide dort gebraucht.« Klopfklopfklopf. »Abgesehen von allem anderen, würdest du jetzt ja in jedem Fall mitkommen.«

Dazu sage ich nichts. Ich lasse sie im Glauben, dass sie in unserem Mutter-Tochter-Krieg eine strategisch wichtige Schlacht gewonnen hat. Und wenn es zwischen uns anders wäre, vielleicht eher so, wie es sein sollte, dann würde ich wahrscheinlich auch wirklich mitkommen wollen – nicht nur, weil ich unbedingt eine Auszeit von Finn und so ziemlich allen Leuten, die ich in ganz Pennsylvania kenne, brauche, sondern weil mir nichts wichtiger wäre, als meiner Mutter und meiner Tante in dieser schweren Situation beizustehen. Damit wir die Fäden und losen Enden der Tragödie in unserer Familie wieder zusammenflechten könnten. Wir, die drei übrig gebliebenen Frauen der Hannafords. Gemeinsam sind wir stark. Die Familie, ein unsinkbares Schiff. Was man eben so sagt.

Aber zwischen uns ist es nicht so. Mom ist Mom und ich bin ich. Sie und mich umgibt inzwischen ein Ozean an Chaos und Missverständnissen, und die Piraten und Haie warten nur darauf, wer von uns beiden zuerst über Bord geht.

»Bleiben. Sie. Für. Die. Nächsten. 80. Kilometer. Auf. Der. Autobahn.«

Nach dieser Anweisung der elektronischen Stimme bringt Mom die unnatürlich ruhige GPS-Frau zum Schweigen und dreht die Klimaanlage auf. Jetzt gibt es hier auf unserem Chaos-Planeten nur noch uns beide, und die künstliche Kälte macht alles, was zwischen uns schon so lange unausgesprochen geblieben ist, noch unerträglicher.

»So, und weil du mir jetzt nicht davonlaufen kannst«, sagt sie, während sie den Tempomaten einstellt, »mit wem hast du dich da gestern Abend eigentlich getroffen?«

Gestern Abend.

Ich finde ja, dass ein Junge, der ein Mädchen schon halb nackt gesehen hat, sich vielleicht etwas mehr Mühe geben sollte, rechtzeitig am verabredeten Treffpunkt zu erscheinen. Nicht so Finn Gallo, auch bekannt als »Ich komme immer eine Dreiviertelstunde zu spät«. Und als es dann endlich so weit war, saß er in seinem alten silbernen Toyota 4-Runner einfach nur da, drückte eine Kippe im Aschenbecher aus, stellte das Radio leiser und blies zwischen seinen Lippen eine blaue Rauchfahne hervor. Und sagte kein Wort. Kein »Danke, dass du hier im Dunkeln so lange auf mich gewartet hast« oder »Tut mir leid, dass ich dich durch mein Zuspätkommen in Lebensgefahr gebracht habe« oder »Darf ich mich bei dir mit diesem wunderschönen lavendelblauen Rosenstrauß entschuldigen?«. Er zog mich nur an sich, seine Hand fühlte sich an meinem Nacken kalt an, kalt und unnachgiebig, und mit seinem Kuss schien er alles gutmachen zu wollen, was jemals in seinem Leben schiefgelaufen war.

An unserer Stelle draußen im Wald, in der Nähe von Seven Mile Creek, parkte er dann zwischen zwei großen Kiefern und stellte den Motor ab. Er fragte mich, was los war, und ich zuckte nur mit den Schultern. Ich hatte mich den ganzen Abend wegen der Sache mit dem Lippenstift mit Mom gestritten und mir war nicht nach Reden zumute. Außerdem können wir das beide sowieso nicht so gut, Finn und ich. Das Miteinanderreden.

Deshalb ließen wir es auch.

Tante Rachel sagt, dass das Universum uns immer etwas mitzuteilen versucht und dass es keine Zeit mit Dingen verliert, die wir selbst nicht direkt beeinflussen oder ändern können. Doch wenn das stimmt, dann braucht es für mich deutlichere Signale, damit ich unterscheiden kann, was was ist. Sonst verstehe ich die Botschaft des Universums an mich nicht. Sobald Finn mich nämlich küsst, gierig und hastig, als könnte jeder Kuss der letzte sein, verschwimmt in mir alles. Man muss sich das so ähnlich wie die Wälder von New England im Morgennebel vorstellen: grau-weiß, dunstig und so gut wie nicht mehr vorhanden.

Gestern Abend habe ich Finns Körper auf meinem gespürt, schwer und irgendwie vertraut. Es war fast Mitternacht und die Luft strich kühl über meine Wangen, unter mir spürte ich Steinchen und Zweige und zerdrückte kleine Lebewesen, und durch die Äste der Kiefern fiel Mondlicht auf uns herab. Als alles vorüber war, zündete Finn sich eine Zigarette an und streckte mir seine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen. Ich schüttelte die Decke aus und rollte sie auf und er klaubte mir die Blätter aus den Haaren. Eines nach dem anderen schwebte und trudelte vor meinen Füßen auf den Boden, und als er dann sein schräges, leicht rätselhaftes Lächeln lächelte, das Gesicht weich und vom Mondlicht blau umhüllt, hätte ich für immer mit ihm dort im Wald bleiben können. Mich verstecken. Einfach vergessen. Den dumpfen Schmerz in mir betäuben, weil mir immer etwas fehlte. Meine Mutter und ihr teures Auto und ihre langen Überstunden im Büro einfach auslöschen. Die Leere ausfüllen, die mein Vater hinterließ, als er starb, bevor ich geboren wurde. Mehr in mir spüren als endlos wiedergekaute, unbeantwortbare Fragen.

Aber es war höchste Zeit. Finn setzte mich an der Straßenecke ab. Er nannte mich Lilah, immer noch mit demselben Lächeln, und schüttelte den Kopf, so als würde er damit »Boah, ey! Du bist mir eine« meinen, wovon ich immer Gänsehaut kriege. Aber er sagte zum Abschied nichts. Winkte nicht. Wartete auch nicht, bis ich bei unserem Haus war. Er fuhr einfach nur weg, während ich in die entgegengesetzte Richtung davonging, und die Entfernung zwischen uns – zwischen den beiden Punkten, die sich da auseinanderbewegten – wurde immer größer. Kälter.

Als ich in mein Zimmer kam, saß Mom auf meinem Bett und zog die Augenbrauen so weit hoch, wie ich es bei einem Menschen nie für möglich gehalten hätte. Sie warf mir einen Blick zu, den sie sich extra für eine solche Gelegenheit aufgespart zu haben schien – für den Tag, an dem ich um zwei Uhr morgens durchs offene Fenster hereingeklettert kam, die Haare voller Blätter und Kiefernnadeln.

»Ich seh wohl nicht recht, Delilah«, rief sie. Wo zum Teufel hast du gesteckt? Nur dass sie die Frage gar nicht laut stellen musste. Ich kletterte ganz ins Zimmer, setzte mich aufs Bett und kaute auf den Fingernägeln herum, während sie mir mit viel Zeigefingerdrohen und Mit-dem-Fuß-Aufstampfen die Ereignisse der vergangenen Viertelstunde erzählte. Sie hatte hier in meinem Zimmer (Fußstampfen) auf mich gewartet (Zeigefingerdrohen), eine geschlagene Viertelstunde lang (Fußstampfen), nachdem Tante Rachel angerufen hatte.

Ich spuckte ein Stückchen Fingernagel aus und sah sie an. Einen Moment lang entdeckte ich in ihren Augen eine ungewohnte Verzweiflung, als sie mir mitteilte, was sie von ihrer Schwester soeben erfahren hatte. Tante Rachel hatte einen Anruf aus dem Maple Valley Hospital in Vermont erhalten.

Elizabeth Rose Hannaford – meine Großmutter, die Mom acht Jahre lang mit keinem Wort mehr erwähnt hatte – war gestorben.

»Hab ich dir doch schon lang und breit erklärt«, sage ich und öffne das Fenster einen Spalt, um die Eiseskälte im Auto etwas aufzutauen. »Ich hab mal frische Luft gebraucht.«

Die Stimme meiner Mutter wird jetzt gleich eine Oktave hochschnellen. Ich bereite mich schon mal darauf vor und flehe insgeheim, dass Mom irgendwo zwischen all ihren eleganten Business-Outfits auch eine großzügige Ration Beruhigungsmittel eingepackt hat. Das Leben könnte so viel schöner sein, denke ich, und zwar für uns beide, wenn die Frau vom GPS-Gerät auch gleich noch die Moralpredigten übernehmen könnte.

»Delilah. Ich. Musste. Gestern. Das. Büro. Früher. Verlassen. Um. Dich. Beim. Kosmetikladen. Abzuholen.« In. Zehn. Kilometern.

»Und?«

»Du hattest Hausarrest! Du bist gestern beinahe im Gefängnis gelandet!«, ruft sie, als könnte ich den Vortrag des Detektives über den Sittenverfall bei uns amerikanischen Jugendlichen vergessen. »Nur ein Dollar mehr«, hatte er mich gewarnt, während er mich mit hartem Griff an der Schulter packte, »wenn der Lippenstift nur einen Dollar mehr gekostet hätte, wärst du nicht so glimpflich davongekommen.«

»Dürfen Gefangene nicht auch mal an die frische Luft?«, frage ich. »Warum reißt du mir zur Strafe nicht gleich die Fingernägel aus?«

»Unglaublich, Delilah. Ich hab wirklich gedacht, ich könnte mich auf dich verl–«

Brrrrrrr.

»Augenblick. Ich muss da unbedingt rangehen.« Mom drückt einen Knopf auf dem Armaturenbrett und knipst ihr berufliches Ich an. »Ja, hier Claire Hannaford?«

In ihrem Büro hat sie neben dem Telefon auf dem Schreibtisch ein Schild, auf dem steht:

LÄCHLE, bevor du zum Hörer greifst! Mit einem LÄCHELN auf den Lippen geht vieles leichter!

Sie macht das auch jetzt. Sogar hier im Auto. Kein Wunder, dass sie ein Genie im Marketing-Relaunch ganzer Firmengruppen ist. Sie erfindet ja sich selbst alle fünfzehn Minuten neu.

Ich lasse das Seitenfenster ganz herunter und halte den Arm hinaus.

Der Wind fährt mir durch die Finger und lässt meine Hand über den Highway flattern. In schwungvollen Linien gleite ich damit an orangefarbenen Pylonen und Baustellenschildern entlang, bis Mom mir mit ihrem Ellenbogen in die Seite stößt. »Ich telefoniere«, bewegt sie lautlos die Lippen, immer noch lächelnd. Aber sie hat die Augen bedrohlich weit aufgerissen und blickt mich böse an, während sie mit dem Zeigefinger eine Kreisbewegung macht, das internationale Zeichen für: »Bitte das Fenster hochkurbeln!« Ich tue so, als würde ich die nichtvorhandene Fensterkurbel an der Innenseite der Tür betätigen. Mom lässt per Knopfdruck mein Fenster hochfahren und verriegelt anschließend die Bedienung auf meiner Seite.

»Entschuldigung für das Hintergrundgeräusch«, spricht sie in ihr Headset. »Ja, die endgültige Abrechnung haben wir Ihnen Donnerstag geschickt, mit einer Zahlungsfrist von dreißig Tagen.«

Die Sonne ist inzwischen aufgegangen und der Himmel verblasst von Orange-Rosa zu einem blassen, traurigen Weiß. Wie ein Leichentuch, so weiß. Es ist immer noch aberwitzig früh und das Tageslicht blendet mich in den Augen und stört meine Gedanken. In der Nacht hat es sintflutartig geregnet – kurz nachdem Mom mir von dem Ereignis erzählt hatte, das meine bisherigen Ferienpläne ruck, zuck über den Haufen warf, war es losgegangen. Wie passend. Auch jetzt ist die Straße vom Regen noch nass und glänzend, und die Autoreifen machen darauf ein leises, flüsterndes Geräusch, raunend und hypnotisch wie der Ozean. Das Geräusch erinnert mich an den Ausflug, den Mom und ich einmal am Memorial Day zur Küste von Connecticut unternommen haben, nur wir beide. Damals war ich sechs Jahre alt, und es war bisher das einzige Mal, dass ich den Ozean gesehen habe. Am ersten Tag konnten wir nicht schwimmen gehen, weil es regnete. Deshalb sind wir einfach nur am Strand von New London entlangspaziert. Wir hatten beide über unseren Badeanzügen gelbe Regenmäntel an und suchten nach Muscheln und Glaskieseln und schläfrigen kleinen Einsiedlerkrebsen. Am nächsten Tag regnete es immer noch, und wir blieben im Hotelzimmer, aßen Doritos aus dem Automaten und guckten alte Filme im Fernsehen – ein Luxus, den Mom sich in ihrer Zeit vor DKI noch gegönnt hat. Sogar als ich aus Versehen den Sicherungsbolzen aus dem Feuerlöscher zog und weißen Schaum auf dem Fußboden versprühte, lachte sie nur und jagte hinter mir her, als ich mich mit weißen Fußabdrücken ins Badezimmer flüchtete. Am letzten Tag kam dann endlich die Sonne heraus, und wir wagten uns in den Ozean, ohne dass dabei irgendwo Rettungsschwimmer in Sicht gewesen wären. Nur Moms Hand war ganz fest um meine gelegt, während die Wellen ringsum an den Strand donnerten.

Auf dem Rückweg nach Pennsylvania, als wir durch die Nacht fuhren, hielt sie ihre Hand an meine Wange geschmiegt und sang alte Rocksongs mit, die leise aus dem Radio kamen. Und ich tat so, als würde ich schlafen, damit sie nicht aufhörte zu singen.

Als Mom jetzt mit Telefonieren fertig ist, stellt sie das Radio an und ich drehe mich weg. Ich hauche mit warmem Atem gegen das Seitenfenster und beobachte, wie das Glas kurz beschlägt. Während der 24-Stunden-Nachrichtensender die neuesten Börsentrends verkündet, entdecke ich einen letzten großen Regentropfen, der mit nasser Spur an der Kante entlangrinnt. Manchmal bin ich kurz davor, Mom zu erzählen, wie schrecklich ich es finde, jeden Nachmittag allein zu Hause zu sein und den Fernseher anzumachen, nur um das Gefühl zu haben, dass noch jemand da ist. Oder die vielen Abende mit Essen vom Lieferservice und den leeren Stühlen am Esstisch, auf denen unsichtbare Gäste sitzen, die unsichtbare Speisen essen und nicht vorhandenen Rotwein trinken. Ich möchte Mom in diesem Moment am liebsten schütteln und sie anschreien und ihr sagen, dass sie zwar für uns beide hart arbeitet, dass es aber doch nicht richtig sein kann, wenn die Agaven bei uns im Hauseingang mehr über mich wissen als sie. Und dass ich sofort ohne mit der Wimper zu zucken ein Streichholz anzünden und die ganze verdammte Villa bis auf die Grundmauern niederbrennen würde, wenn wir dafür ein neues Leben anfangen könnten, in dem es nur uns beide, den Ozean, einen Automaten mit Kartoffelchips und einen Fernseher gäbe.

Andererseits kann ich eine Anklage wegen Brandstiftung im Augenblick überhaupt nicht gebrauchen.

»Bei dem Tempo kommen wir nie an«, sagt Mom, während sie in den Rückspiegel blickt, um von der Überholspur wieder auf die rechte Fahrbahn zu wechseln. Zwischen all dem Kaschmirbeige wirkt sie schwach und verletzlich. Zehn Jahre älter als gestern, bevor sie die Nachricht vom Tod ihrer Mutter erhielt. Ihre dünne Schicht von unerschütterlicher Entschlossenheit und Tatkraft trägt sie jeden Morgen wie ein Make-up auf. Und jetzt wird diese Schicht auf einmal rissig und brüchig und darunter scheint alles auseinanderzufallen.

»Mom, ich … es, es tut mir wirklich leid, dass –«

Brrrrrrr.

»Augenblick, Delilah.« Mom behält die eine Hand am Lenkrad und sucht mit der anderen nach dem richtigen Knopf, tappt mit den Fingern auf dem Armaturenbrett herum wie ein Vogel, der nach Würmern pickt, und das unausgesprochene Ende meines Satzes bleibt in der Luft hängen. Ich schlucke es wieder hinunter. Kein Mitleid. Am Telefon lässt Ja-hier-Claire-Hannaford sich nichts anmerken, sondern widmet sich mit ihrer geballten Immer-ein-Lächeln-auf-den-Lippen-Kompetenz dem Anrufer. Und ich spüre, wie ein gewisses Etwas, das mir wie ein Wackerstein im Magen liegt, immer größer und schwerer wird.

Beklommenheit.

Ein kalter, regloser Klumpen, von dem sich dunkel und undeutlich Erinnerungen an den Ort ablösen, zu dem wir unterwegs sind. Den Ort, an dem meine Mutter und Tante Rachel zusammen aufgewachsen sind – und wo ich selbst auch einen Teil meiner Kindheit verbracht habe, obwohl ich damals noch so klein war, dass ich mich nur verschwommen daran erinnere. Seit dem Begräbnis meines Großvaters aber, und das ist jetzt mehr als acht Jahre her, hat Mom diese Vergangenheit totgeschwiegen. Es gab diesen Ort für sie und für mich einfach nicht mehr. Und jetzt meldet sich alles wieder zurück, bricht aus dem finsteren Keller auf, in den es verscharrt worden war – die Erinnerung an das Haus in Red Falls und an die Familiengeheimnisse der Hannafords, die wie riesige, undurchdringliche Spinnennetze an ihm kleben.

Mich fröstelt und ich bekomme Gänsehaut.

In meinem Rucksack wühle ich nach einem Snickers und halte es Mom hin, vielleicht will sie davon ja den ersten Bissen. Aber sie wedelt nur abwehrend mit ihrer Hand, als würde sie eine Fliege verscheuchen. Nach dem Anruf stößt sie einen langen, tiefen Seufzer aus, reißt sich das Freisprechteil vom Ohr und tippt nervös auf dem GPS herum.

»Neuberechnung der Route nach. Red Falls. Vermont.«

»Mom?«

»Nicht jetzt, Delilah. Ich sitze am Steuer.«

»Berechnung durchgeführt«, verkündet die GPS-Lady. »In. Dreihundert. Dreißig. Kilometern. Erreichen Sie. Den Zielort.«

3. Kapitel

Mom ist nicht da.

Die Autofenster sind heruntergelassen und ein sanfter Wind streicht über meine Haut, lässt die Zweige einer riesigen Trauerweide sacht baumeln und sich verwirren. Wir haben an einer fremden Zufahrt gehalten. Ich löse meine festgeklebte Wange vom kaschmirbeigen Ledersitz und schüttle die Schläfrigkeit der langen Autofahrt ab. Dann greife ich nach meinem Rucksack und steige aus.

Am Ende der Auffahrt steht mit unerschütterlichem Ernst ein großes Haus vor mir, senfgelb und mit weißem Rand. An beiden Seiten wird es von riesigen Ahornbäumen gesäumt, die bis in den Himmel hoch zu reichen scheinen.

Ich kenne diese Bäume.

Dies hier ist das Haus am Red Falls Lake, in dem ich bis zu meinem achten Lebensjahr jeden Sommer verbracht habe. Das Haus meiner Großeltern. Wir sind da.

Der alte Ort wirkt immer noch unverändert. Nur ich bin seit damals gewachsen und deshalb ist alles andere nicht mehr ganz so groß. Ich bin älter geworden. Das Haus aber ist richtig alt, das bemerke ich, als ich näher komme. Es hat noch dieselbe Farbe, doch knapp über dem Boden blättert der Anstrich ab, wellt sich müde wie verwelkte Osterglocken. Die Fensterläden hängen schief in den Angeln, manche sind nach beiden Seiten aufgeklappt, andere ganz oder halb geschlossen. Die Fenster werfen mir verstohlene Blicke zu, als würde mich das Haus nach so vielen Jahren nicht mehr wiedererkennen.

Ich ziehe die Riemen des Rucksacks fester und gehe an den Ahornbäumen entlang um das Haus herum. Warm und in der Sonne honiggelb leuchtend erstreckt sich der Rasen den Hügel hinunter bis zum Red Falls Lake. Der See hat weder rotes Wasser noch einen Wasserfall, sondern liegt wie ein riesiger Blauwal da und schimmert friedlich. Am Westufer kann ich Zuschauertribünen erkennen. Früher gab es an den Wochenenden häufig Motorbootregatten, dann wimmelte es dort von Menschen, es war laut und die Motoren stießen schwarze Rauchwolken aus. Ich erinnere mich daran, wie ich mich mit Little Ricky, dem Nachbarsjungen, unter den Bankreihen versteckte. Wir krochen dort im Staub herum und suchten nach weggeworfenen Getränkedosen, die wir dann gegen Fünfcentstücke tauschten, um damit bei Crasner’s, dem kleinen Lebensmittelladen in der Ortschaft, Süßigkeiten zu kaufen.

Little Ricky. Ich blicke über den Rasen zum Haus auf dem Nachbargrundstück, blau-weiß gestrichen und im für New England typischen viktorianischen Stil erbaut. Ob seine Familie wohl immer noch dort lebt? Wir waren damals ein Herz und eine Seele – immer die allerbesten Freunde, so lange wie der Sommer gedauert hat. Sogar jetzt erinnere ich mich noch an dieses Gefühl, unzertrennlich zu sein, aneinander zu kleben wie Kühlschrankmagnete. Schon seltsam, wie jemand so sehr Teil deines Lebens sein kann – man lacht über dieselben Witze, schleckt sein Eis genau auf dieselbe Weise, teilt die Spielsachen, die Träume und überhaupt alles miteinander – und dann, eines Tages, nichts mehr. Man teilt gar nichts mehr. Als wäre das alles nie gewesen.

Aber ich weiß, es hat das alles wirklich gegeben. Ich weiß es ganz sicher. Die Erinnerungen steigen beim Anblick des Hauses auf einmal mit aller Gewalt in mir hoch. Mir wird beklommen zumute, ein Kloß sitzt mir im Hals und ich möchte am liebsten alles herausschreien, damit meine Mutter es hört. Sie ist schuld daran, dass meine Großmutter hier einsam und verlassen sterben musste. Sie ist schuld daran, dass unser Alltag zu einem trüben Klumpen des immer Gleichen verschmilzt, zu einem einzigen dicken grauen Brei. Rühr das nicht alles auf. Nicht heute Abend. Nicht jetzt. Ich blicke auf die Bäume und das Gras und den See und frage mich: Wird es später bei mir auch so sein? Werde ich in zwanzig Jahren auch mit meiner Tochter eine lange Fahrt zum Haus meiner Mutter machen, um zu begraben, was ich schon seit Langem zu vergessen versucht habe?

Als ich mich umdrehe und meine Mutter neben dem Haus entdecke, wische ich mir hastig mit dem Handrücken über die Augen und steuere auf sie zu. Alles, was zwischen uns während der Fahrt von Pennsylvania hierher ungesagt geblieben ist, werde ich jetzt herausbrüllen. Doch als ich sie dann auf dem Gras sitzen sehe, wie sie auf den See schaut, schwindet in mir alle Streitlust. Stattdessen verspüre ich nur noch eines.

Furcht.

Denn in diesem Moment ist Claire Hannaford nicht mehr ganz von dieser Welt; sie wirkt weit weg und verletzlich. Eine Weile betrachtet sie mich mit schräg gelegtem Kopf. Haarsträhnen wehen ihr ins Gesicht und ich entdecke bei ihr die ersten weißen Haare. Ich frage mich, ob sie gerade an ihre tote Mutter denkt oder an Tante Rachel oder an ihre jüngste Schwester, die als Teenager gestorben ist. Vielleicht blickt sie auch gedankenverloren auf das Schilf und die Rohrkolben am Seeufer, die sie früher mit dem Taschenmesser abschnitt, um mich dann damit zu jagen. Großvater saß währenddessen in seinem Rollstuhl, den wir ins Gras geschoben hatten, und sah uns lachend zu. Ab und zu deutete er mit ausgestrecktem Arm auf die Wolken, in denen er fast immer irgendwelche Tiere erkannte.

»Mom?« Ich streiche mir fröstelnd über die Arme, als ich vor ihr stehe. Doch an der Luft kann es nicht liegen.

»Ich hab’s bisher nicht fertiggebracht, reinzugehen«, sagt sie, während sie mit den Händen Grasbüschel herausrupft. »Ich bin die Auffahrt entlang auf das Haus zu, aber dann … dann konnte ich auf einmal nicht mehr.«

Ich setze mich neben sie ins Gras, sage nichts und umarme sie auch nicht. Innerlich zerrissen zwischen meinen Hassgefühlen ihr gegenüber und einer Mischung aus Angst und Mitleid. Noch nie habe ich sie so verunsichert erlebt.

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass meine Mutter wirklich tot sein soll, Mäuschen.«

Mäuschen – ihr alter Name für mich, aus der Zeit als ich noch klein war. Aber er wirkt auf mich genauso befremdlich wie ihre Unsicherheit. Ich glaube, uns beiden wird in diesem Augenblick bewusst, wie lang sie ihn schon nicht mehr benutzt hat. Mom schüttelt den Kopf, wie um das Kosewort abzuschütteln, und schaut dann wieder auf den See hinaus.

Wir sitzen eine Weile still nebeneinander da und beobachten, wie eine Möwe über dem Wasser durch die Luft gleitet, auf der Suche nach irgendeinem Futter, vielleicht nach auf den Wellen treibendem Popcorn. Die Möwen stoßen einsame, traurige Rufe aus, deren Echos vom Strand widerhallen, und ich versuche mir vorzustellen, wie es sich für meine Mutter wohl angefühlt haben mag – acht Jahre lang immer darauf gewartet zu haben, dass irgendwann dieser Telefonanruf kommen wird; ein Klingeln als Totenglocke für jemanden, den man einmal geliebt hat. Ich denke über die Frauen der Hannaford-Familie nach. Ob wir wohl alle gleich sind – ich und meine Mutter, sie und ihre Mutter? Ob alle unsere Probleme ganz ähnlich angefangen haben? Mit einem winzigen Riss im Sich-gegenseitig-Verstehen, dem Vertrauen, das vorher da war. Und aus dem winzigen Riss wird dann irgendwann ein Sprung. Und aus dem Sprung ein Spalt. Und daraus schließlich eine Kluft, groß und leer und unmöglich zu überbrücken.

»Tante Rachel wird bald hier sein.« Mom steht auf, klopft sich das Gras von der Hose und streckt mir ihre Hand entgegen. Ich ergreife sie, weil ich Mom nicht unnötig verletzen will und weil ich froh bin, dass sie wieder so ist, wie ich sie kenne, stark und hundertprozentig selbstbewusst. Kein verlassenes Kind mehr. Weil ich die Zuversicht brauche, dass – den Blick auf die Straße gerichtet und stets das Ziel vor Augen – immer auch wirklich alles gut wird.

Aber da kann ich mir jetzt hier nicht sicher sein und sie sich auch nicht. Das alte Haus am Red Falls Lake gleicht einem Friedhof – ein besonderer Ort, heilig und von Geistern heimgesucht. Nicht gerade ein Ort für kritische, bohrende Fragen.

Ich drücke fest ihre Hand.

Mom holt tief Luft und marschiert mit mir um das Haus herum. Ihre Schwäche hat sie abgestreift wie einen Pullover, der für den Sommer zu warm ist.

»Lass uns unsere Sachen ins Haus bringen«, sagt sie und zieht ihre Hand weg. »Ich möchte mir mein Home Office eingerichtet haben, bevor Rachel eintrifft und die Streiterei anfängt.«

»Wann kommt sie denn?«

»Um zwei, hat sie gesagt. Also um vier.«

Wir gehen an der großen Haustür vorbei und weiter um die Ecke zur Veranda, die auf der Höhe der Ahornbäume beginnt und sich in einem riesigen L die gesamte Rückseite entlangzieht. Die dritte Holzstufe knarzt laut, als wir die Treppe hinaufgehen. Vorsichtig setzen wir Schritt vor Schritt, bis wir die unverschlossene Seitentür erreicht haben. Durch sie betreten wir die Küche.

»Unglaublich«, flüstert Mom und stellt ihre Handtasche auf der Küchentheke ab. »Es ist alles genauso, wie es war. Alles ist gleich geblieben. Sogar die Vorhänge sind noch dieselben.« Ich folge ihrem Blick zu den weißen Stoffbahnen, die schlaff hinter der Spüle herabhängen, mit winzigen rotgoldenen Hähnen am unteren Saum, die paarweise vor sich hin spazieren. Die Holzschränke sind ganz altmodisch weiß gestrichen, vorne mit Glasscheiben versehen, sodass man die Tassen und Teller im Innern erkennen kann. Dort, wo die Sonnenstrahlen seitlich auf das Glas treffen, spiegelt sich der schwarz-weiß gekachelte Boden. Mich überläuft wieder eine Gänsehaut, als der Wind durch die geöffnete Verandatür fährt und die rotgoldenen Hähne vor- und zurückmarschieren, je nachdem, wie sich die Vorhänge aufblähen.

Ich überlasse Mom ihren Erinnerungen und fange an, unser Gepäck auszuladen. Weiter als bis in die Küche wage ich mich nicht vor und konzentriere mich ausschließlich auf den Transport der Koffer, Taschen und Plastikbehälter von unserem dunkelblau lackierten Auto zum schwarz-weiß gekachelten Küchenfußboden. Während ich vom Auto über die Auffahrt und die knarzende dritte Verandastufe in die Küche und wieder zurück pendle, verblasst in meinem Kopf allmählich alles, was sich vor der Fahrt hierher in das Haus meiner Großmutter ereignet hat, meine eigenen Schwierigkeiten und Probleme. Stattdessen tauchen Erinnerungsfetzen an unsere letzte Reise hierher auf. Gebrüll. Tränen. Momentaufnahmen eines heftigen Streits zwischen meiner Mutter, Tante Rachel und Großmutter. Die überstürzte Abreise von Mom und mir, am Tag von Großvaters Begräbnis, nach dem Gottesdienst, aber noch vor der Beerdigung. Zu mir hatten sie gesagt, ich sei dafür noch zu klein. Womit sie die Beerdigung meinten. Doch nach dem Streit gingen auch Mom und Tante Rachel nicht mehr auf den Friedhof. Als wir die Auffahrt zur Straße hochfuhren – ich höre noch, wie der Kies damals unter den Reifen knirschte –, sah ich durch das Rückfenster, wie das Haus und die Trauerweide immer kleiner und kleiner wurden, bis sie schließlich aus dem Blickfeld verschwanden.

Es war das letzte Mal, dass eine von uns dreien meine Großmutter gesehen hat.

Am liebsten würde ich jetzt hundert Fragen auf einmal stellen – all die Fragen, die mir bereits im Auto und hinter dem Haus auf der Zunge gebrannt haben. Sie stecken mir halb verschluckt in der Kehle fest und drängen heraus, sobald das Mitgefühl mit Mom und ihrem Schmerz langsam nachlässt. Aber man verlernt hier schnell das Reden. Ich stelle keine Fragen und meine Mutter gibt keine Antworten. Gemeinsam machen wir uns schweigend und zielstrebig an die Arbeit, während der Wind durch die geöffneten Küchenfenster hereinweht. Ich bringe die Koffer, Taschen und Container herein und Mom sortiert deren Inhalt in Schränke und Regale.

Bei meinem letzten Gang zum Auto sehe ich Tante Rachels klapprigen schwarzen Pick-up in die Auffahrt einbiegen, zwei Stunden zu spät, wie von Mom vorhergesagt. Als meine Tante auf mich zukommt, bemerke ich in ihrem Gesicht beim Anblick des Hauses dieselbe Trauer wie bei Mom.

»Tante Rachel!« Ich werfe mich ihr in die Arme und mein Herz macht einen kleinen Hüpfer. Sie reibt mir den Rücken und küsst mich auf den Scheitel, während sie mich fest an sich drückt. Ihre dünnen silbernen Armreifen rutschen ihr klimpernd zum Ellenbogen. Ich höre ein unterdrücktes, leises Schluchzen.

Wir sehen uns alle drei sehr ähnlich, Mom, Tante Rachel und ich. Dieselben haselnussbraunen Augen mit dunklen Einsprengseln. Dieselben Ohren. Dieselben dichten Augenbrauen. Dieselben langen, gewellten schokoladenbraunen Haare. Und wir haben auch alle dieselben Falten um den Mund, die verraten, was wir fühlen, obwohl wir es nicht aussprechen. Seit meinem letzten Besuch bei ihr zu Weihnachten, ohne Mom, habe ich Tante Rachel nicht mehr gesehen. Aber Zeit und Entfernung sind wie ausgelöscht, als sie mich jetzt in die Arme schließt und ich den typischen Tante-Rachel-Duft rieche, nach Ingwer, Zimt und selbst gefertigter Lavendelseife. Ihr langärmliges hellblaues T-Shirt aus den Siebzigern – A woman’s place is on top, Annapurna – ist bald nass von unseren Tränen.

»Ich hab keine Ahnung, wie das alles jetzt laufen soll«, sage ich, als wir uns aus der Umarmung gelöst haben, und kicke mit meinen Flipflops ein paar Kiesel weg. »Mom ist wie immer in totaler Abwehrhaltung.«

Tante Rachel wischt sich mit dem Ärmel über die Augen. »Ach, Liebes, das ist für keine von uns einfach.« Sie versucht zu lachen, aber es klingt so einsam, fern und traurig wie die Schreie der Möwen. Mom und sie haben sich das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen, damals, als Tante Rachel an Thanksgiving bei uns zu Besuch war. Statt der geplanten fünf Tage war sie nur zwei geblieben. Und was Mom betrifft – der Philadelphia International Airport, zu dem sie mich fährt, wenn ich von dort aus nach Washington fliege, ist das Weiteste, was sie an räumlicher Annäherung an ihre Schwester zustande bringt.

Als wir die Veranda erreichen, öffnet Mom die Seitentür. Sie macht zuerst eine Bewegung, als wolle sie ihre jüngere Schwester in die Arme schließen. Doch dann hält sie abrupt inne. Sie steht steif da, und man spürt die Anstrengung, die es sie kostet, dem Impuls nicht nachzugeben. »Rachel?«, sagt sie leise.

Die Ahornbäume nahe der Veranda bewegen im Wind raschelnd ihr grünes Laub. Mom und Tante Rachel bemerken davon nichts. Sie stehen inmitten des Durcheinanders aus Gepäckstücken stocksteif in der halb geöffneten Tür, die Arme hängen seitlich an ihnen herab und sie schauen sich an. Durch ihre Adern fließt das gleiche Blut, aber das tonnenschwere Gewicht Tausender unausgesprochener Worte drückt sie beide nieder und macht eine Umarmung unmöglich.

4. Kapitel

»Komm herein«, sagt Mom und zieht die Tür weiter auf. »Ich hab mich noch nicht überall umgesehen, aber hier in der Küche ist alles gleich geblieben.« Ihr Lachen klingt gezwungen und unbehaglich – ein wenig so, als würde man versuchen, eine Olive durch einen Strohhalm hochzuziehen.

Drinnen dreht meine Tante eine kleine Runde die Küchenwände entlang und fährt dabei mit der Hand über die Arbeitsflächen, die Schränke, die Vorhänge und die Wand. Zwei Ameisen kommen unter dem Herd hervorgekrabbelt, um einen klebrig wirkenden winzigen Flecken auf dem Kachelboden zu untersuchen. Großmutters Tod und alles, was sich davor ereignet hat, kümmert sie nicht im Geringsten.

»Ach, Schwesterherz«, sagt Rachel. »Wie sind wir nur –«

Brrrrr.

»Das ist meins«, sagt Mom und wühlt in ihrer Handtasche.

»Aber ich –«

»Später, Rach.«

»Claire?«

Mom nickt, hält aber den Zeigfinger warnend hoch, damit ihre Schwester nicht weiterredet. Sie fertigt den Anrufer schnell ab. Doch das reicht nicht aus, um Rachel den Wind aus den Segeln zu nehmen, die mit dem Rücken an den Küchenschrank gelehnt dasteht, die Arme vor der Brust verschränkt und innerlich auf Hundertachtzig.

»Rachel, ich hab es dir doch gestern Abend erklärt«, sagt Mom, während sie das Handy wegsteckt und sich wieder ins Gespräch einschaltet, als würden wir auf einer Cocktailparty vor dem Büfett mit Häppchen stehen und lockeren Small Talk betreiben. »Wenn im Büro irgendetwas Wichtiges los ist, muss ich erreichbar sein.«

»Und die Beerdigung deiner toten Mutter, ist die nicht wichtig?«

»Das hab ich so nicht gesagt.«

»Ich kann auch jemand anders um Hilfe bitten, wenn es für dich zu schwierig ist, das alles hier in deinem Terminkalender unterzubringen«, sagt Rachel.

»In meinem Terminkalender unterzubringen? Hör mal, Rachel, du kannst vielleicht kommen und gehen, wie und wohin du willst. Aber dir scheint nicht ganz klar zu sein, dass mein Job ein Stück –«

»Anspruchsvoller und wichtiger ist? Das willst du doch sagen, oder? Weil ein Catering-Service für Filmcrews unwichtig ist? Menschen müssen auch etwas essen, Claire.«

»Ich wollte sagen, ein bisschen mehr Organisation verlangt.«

»Organisation? Was weißt du denn eigentlich über meine Arbeit? Du warst doch noch nie auf einem Filmset, also –«

»Lass uns jetzt nicht damit anfangen.« Mom greift in das vordere Fach ihrer Handtasche und zieht ihre Dose mit den Beruhigungspillen heraus. »Wir haben heute noch so viel zu erledigen. Ich muss weiter auspacken, dann eine erste, vorläufige Musterung des Hauses vornehmen … den Direktor des Bestattungsinstitutes anrufen … ihre Freundinnen …« Sie nimmt ein Glas aus dem Küchenschrank, füllt es mit Leitungswasser und schluckt eine kleine weiße Pille. »Ich hab noch nicht mal Zeit gehabt, Lebensmittel und lauter solches Zeugs zu kaufen.«

»Das mach ich«, sagt Rachel. »Irgendwelche besonderen Wünsche? Milch? Toilettenpapier? Vielleicht etwas Mitgefühl? Ich werd mal von allem etwas besorgen. Vielleicht krieg ich darauf sogar Rabatt. Du weißt ja, dass unorganisierte Leute wie ich ein Abo auf all so was haben.«

»Ich geh mit«, rufe ich. Beide drehen sich zu mir und schauen mich an, als hätten sie ganz vergessen, dass ich auch noch im Raum bin. Und bevor Mom etwas dagegen einwenden kann, hat Tante Rachel auch schon meine Hand genommen, und wir spazieren beide zur Verandatür hinaus.

»Tut mir leid«, sagt Rachel, als wir die Auffahrt zur Straße zurückfahren. »Ich hab mir geschworen, mich nicht so über sie aufzuregen, aber innerhalb von fünf Minuten war es wieder so weit. Die Tarotkarten hatten mich gewarnt, ich solle mich auf einen Konflikt vorbereiten. Warum hab ich den Rat bloß nicht besser befolgt?«

»So ist Mom eben. Ich glaube, das hat mit dem Kompetenztraining zu tun, zu dem sie sie von der Firma andauernd schicken. ›Zielgerichtet handeln‹ und lauter solchen Scheiß.«

»Wirklich so schlimm?«, fragt Rachel.

»Die ganze Zeit«, antworte ich achselzuckend.

»Hier.« Tante Rachel fischt eine Minispraydose aus dem Handschuhfach und drückt ein paar Mal energisch auf den Knopf. »Weihrauch und Orangenöl. Bringt etwas mehr Glück und Frieden in die Welt.«

»Perfekt. Warum besprühst du nicht Mom damit, wenn wir zurückkommen?«

»Wenn du glaubst, dass es hilft, Del. Wenn du glaubst, dass es hilft.«

Kinder halten auf ihren Fahrrädern an, schauen uns nach und winken, während Rachel mit mir durch das »geschäftige« Zentrum von Red Falls fährt. Ich komme mir vor, als wäre ich Teil einer Parade und müsste gleich Bonbons in die Menge werfen. Eine Frau, die sich eine lila Schürze umgebunden hat, kehrt den Gehsteig vor einem flippig wirkenden Café namens Luna’s und hält einen kleinen Plausch mit den Milchkaffee trinkenden Gästen. Der Blick auf den saphirblauen Himmel über der Main Street wird nur an einer Stelle durch ein Transparent behindert, das von Betty’s Chocolate Bar auf der linken Straßenseite zu Bender’s Haushaltswarengeschäft auf der rechten gespannt ist und mit vielen Ausrufezeichen verkündet:

Red Falls Parade zum Nationalfeiertag

und Sugarbush Festival!!!

Am 4. Juli!!!

Mit Flößerstechen, Pony-Reiten

und vielen Köstlichkeiten aus Ahornsirup!

Kosten Sie unsere

WELTBERÜHMTEN Maple Drizzlers!!!!

Wir biegen auf den Parkplatz bei Crasner’s ein, der sich seit meinem letzten Besuch vor acht Jahren von einem bescheidenen Tante-Emma-Laden zu einer Food Dynasty-Filiale gemausert hat, nur dass im Neonschriftzug das d und das Dy offensichtlich erneuert werden müssten. Als Rachel nach einem freien Parkplatz sucht, frage ich sie, was mir auf den Lippen liegt, seit wir hier in Red Falls sind. Die Erinnerung an andere Sugarbush Festivals vor vielen Jahren macht das alles jetzt nur noch bedrückender.

»Sag mal, Rachel, was ist eigentlich am Tag von Großvaters Beerdigung passiert?«

Rachel stellt den Motor ab, lässt den Gurt aufschnappen und starrt endlos auf den CRASNER’S FOO NASTY-Schriftzug. Ihre Hände liegen verkrampft und reglos in ihrem Schoß wie welke Blätter.

»Jeden Tag wachst du auf und denkst, morgen … morgen werden wir alles in Ordnung bringen«, sagt sie, immer noch auf die Neonschrift starrend. »Oder übermorgen. Oder vielleicht überübermorgen. Aber jetzt … jetzt gibt es kein Morgen oder Übermorgen mehr. Mom ist … sie ist jetzt tot. Nicht mehr da. So einfach ist das.« Sie schnippt mit den Fingern.

»Tut mir leid. Ich wollte nicht –«

»Ich erinnere mich noch daran, wie wir hier früher immer alles für die Schule gekauft haben«, sagt sie und dreht an ihren Silberarmreifen. »Auf dem Weg zurück zum Auto guckten Claire und ich sofort in die Tüte der anderen, um zu sehen, wer mehr bekommen hatte.«

Ich versuche mir Mom und Rachel als kleine Mädchen vorzustellen, wie sie in Tüten mit Buntstiftmäppchen, Heften und Mappen, Radiergummis und Papierkleber herumwühlen. Aber in der Geschichte fehlt jemand. Wir reden nicht oft von ihr, von meiner anderen Tante, Stephanie. Ich habe sie auch noch kein einziges Mal Tante genannt. Sie starb mit neunzehn an einem Herzstillstand und wurde einfach nicht alt genug, um meine Tante sein zu können. Mom hat mich nach ihrer jüngsten Schwester genannt, denn Stephanie hieß mit zweitem Vornamen Delilah. Als ich später dann alt genug war, um Fragen zu stellen, antwortete Mom nur: »Ach, das ist schon so lange her, Del … Ich möchte nicht gern darüber reden.«

Vielleicht kann ich ja Rachel nach Stephanie fragen, aber jetzt ist nicht der richtige Moment.

»Schwierig, mir Mom als kleines Mädchen vorzustellen«, sage ich stattdessen.

»Claire fieberte jedes Jahr auf den Schulanfang hin. Sie hatte ihr ganz eigenes System. Sie hat alles auf dem Bett ausgebreitet und fein säuberlich geordnet. So hat sie dann auch ihren Schulranzen gepackt, immer tipptopp sortiert.«

»Du hättest sie heute früh sehen sollen«, sage ich. »Hast du das ganze Gepäck und die Plastikcontainer bemerkt, alles farblich aufeinander abgestimmt?«

»Yep.«

»Sie hat sogar ihre Hosenanzüge und Kostüme dabei.«

»Ihre Kostüme? Im Ernst?«

»Über so etwas Ernstes wie Hosenanzüge und Kostüme würde ich nie Witze machen.«

Rachel schüttelt den Kopf. »Ein Wunder, dass du überhaupt so lange überlebt hast, Del.«

»Geht so«, antworte ich und muss an Moms Gesicht denken, als sie mich gestern bei dem Kosmetikladen abgeholt hat. »Zu Hause läuft’s zurzeit nicht gerade super.«

Rachel dreht sich zu mir. »Okay, ich frag dich jetzt einfach ganz direkt. Was ist los? Claire hat mir gestern Abend erzählt, dass du Probleme hast.«

Ich lache und schüttle den Kopf. »Mom und du, ihr unterhaltet euch vielleicht einmal im Jahr. Und plötzlich wird sie so gesprächig?«

»Sie macht sich Sorgen um dich, Delilah.«

Ich schiebe die Sonnenbrille in die Haare hoch und beobachte durchs Seitenfenster zwei Männer in ärmellosen Holzfällerhemden, die neben dem Parkplatz einen Weitspuckwettbewerb veranstalten.

»Sie macht sich immer über die falschen Dinge Sorgen«, sage ich, mehr zu den Männern draußen als zu Rachel. »Bei mir ist alles in Ordnung.«

»Na klar. Sie sagte gestern, du hättest dich aus dem Haus geschlichen, wahrscheinlich um irgendeinen Jungen zu treffen.«

»Finn«, sage ich.

»Ist er dein Freund?«

»Nicht wirklich. Wir … wir haben nur … ach, nichts weiter.«

»Verstehe. Nichts weiter. Nicht wirklich dein Freund. Aber hoffentlich bist du so vernünftig, dafür zu sorgen, dass nichts passiert?«

Ich muss daran denken, wie ich im Dunkeln an der Straßenecke auf Finn gewartet habe, der immer viel zu spät kommt; und wie er mich dort wieder abgesetzt hat; und wie ich in der Finsternis den Rest des Wegs nach Hause gegangen bin. Ich höre das Quietschen der Reifen auf dem Asphalt, als er plötzlich abbremst, weil er unbedingt seine Hand unter mein T-Shirt schieben will, noch bevor wir an der Stelle im Wald sind. Ich spüre, wie ich mir die Hände aufschürfe, als ich zu meinem Zimmer im ersten Stock hochklettere. Dass nichts passiert?

Ich schaue sie an. »Rachel! Natürlich haben wir Safer Sex. Ich bin schließlich nicht blöd, egal was meine Mutter über mich denkt.«

»Deine Mutter weiß, dass du nicht blöd bist, Del. Deshalb findet sie ja auch, dass dein Verhalten in der letzten Zeit wenig zu dir passt.«

»Na, super. Jetzt hörst du dich schon an wie sie.« Ich schiebe die Sonnenbrille auf die Nase zurück und drehe mich wieder zum Fenster. Die Männer mit dem Spuckwettbewerb sind verschwunden. »Ich hab immer gedacht, du bist auf meiner Seite.«

»Darum geht es nicht. Ich möchte nur, dass bei dir alles in Ordnung ist. Vielleicht mache ich mir ja auch Sorgen um dich.«

»Dann sei ehrlich zu mir. Was ist damals geschehen? Ich war ja noch klein, aber ich erinnere mich genau, dass ihr mit Grandma gestritten habt, und dann hat Mom die Koffer gepackt und wir sind sofort gefahren. Danach durfte ich Red Falls mit keinem Wort mehr erwähnen. Als wollte Mom alles, was mit ihrer Kindheit und ihrer eigenen Mutter zu tun hatte, auslöschen. Und jetzt sind wir acht Jahre später hier und ich will endlich die Wahrheit wissen.«

Rachel klopft mit den Fingern aufs Lenkrad, aber sie gibt mir keine Antwort. »Wir müssen uns zu dritt zusammensetzen und über alle diese Dinge reden, Schätzchen. Und das werden wir auch tun. Versprochen. Ich will dich nicht abwimmeln. Aber jetzt lass uns erst mal einkaufen gehen, damit wir alles haben, was wir brauchen. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass wir drei wieder zusammen sind, und es wird für keine von uns einfach werden – ganz besonders nicht für deine Mutter.«

»Kann ich mir denken.«

»Versprichst du mir etwas?«, fragt sie. »Du würdest mir damit einen großen Gefallen tun. Versprichst du mir, dass du noch etwas Geduld hast?«

Ich greife nach ihrer ausgestreckten Hand. »Okay, Rach. Ich verspreche es.«

»Gut. Dann wollen wir jetzt mal nachsehen, ob sie bei Crasner’s immer noch diese köstlichen Maple-Walnut-Muffins machen.«

Rachel drückt an der Backtheke auf eine Klingel und lächelt, als eine Frau mit einer weißen Papierhaube hinter dem riesigen Backofen hervor auftaucht.

»Einen wunderschönen Nachmittag, die beiden Damen. Womit kann ich Ihnen eine Freude machen?«, fragt die Verkäuferin, während sie ein Blech mit goldgelben Milchbrötchen nach vorne zur Theke trägt. »Ich hab hier aus dem Ofen ganz frische … Rachel? Rachel Hannaford? Und … o mein Gott!«

Sie lässt vor Schreck das Blech mit den Rachel-Hannaford-und-o-mein-Gott-Teilchen fallen und schlägt die Hände vor den Mund.

Dann schüttelt sie den Kopf und starrt mich mit weit aufgerissenen Augen voller Tränen an, als wäre ich ein Gespenst.

»Eine Sekunde lang habe ich geglaubt, sie vor mir zu sehen«, sagt sie zu meiner Tante.

»Claire?«, fragt Rachel.

»Nein. Stephie.«

»Ich kann gar nicht fassen, dass du schon fast siebzehn bist«, sagt Megan, die mit uns für ein paar Minuten im winzigen Pausenraum der Backwarenabteilung Platz genommen hat. »Ich weiß noch, wie ich dir die Windeln gewechselt habe.«