Der Goldene König - Alexander Kopplow - E-Book

Der Goldene König E-Book

Alexander Kopplow

0,0

Beschreibung

Macht. Ehrgeiz. Verrat. Arvid, jüngster Prinz des Königreichs Iskaldur, hat nur ein Ziel: Sein Name soll für alle Zeiten unvergessen sein. Er will mehr als nur ein Leben im Schatten seiner drei Brüder. Mehr als Zeremonien, höfische Zwänge und gut gemeinte Ratschläge. Er will Geschichte schreiben. Als der König von Iskaldur schwer erkrankt, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Während sich Hofintrigen verdichten, Hohepriester über die Zukunft des Reiches orakeln und seine Brüder ihre Rollen fest eingenommen haben, sieht Arvid seine letzte Chance gekommen, seinem scheinbar vorherbestimmten Dasein in Bedeutungslosigkeit zu trotzen - und seinen Platz im Stammbaum der Geschichte zu erzwingen. Ein bildgewaltiger Roman über den brennenden Wunsch nach Größe, die Abgründe der Macht - und den einsamen Weg zur Krone.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 283

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Epilog

Prolog

In seiner frühesten Erinnerung wohnte Arvid einer Zeremonie in der dem Sonnengott geweihten Kathedrale des Schlosses bei. Seine drei älteren Brüder waren ebenso herausgeputzt wie er. Alle standen sie gerade, die Blicke nach vorne gerichtet, alle erschienen sie dem jungen Arvid überwältigend weise in ihrem Wissen und ihrer körperlichen Reife. Er wusste, dass sie die Kinder der ersten Frau des Königs waren, während seine eigene Mutter nur die zweite Ehefrau war. Doch was genau dies für ihn und seine Halbbrüder bedeutete, das verstand Arvid noch nicht.

Die Zeremonie, welche vom Hohepriester persönlich geleitet wurde, zog sich für den Jungen ewig hin. Er gähnte mit weit aufgerissenem Mund. Sofort spürte er die Hand seiner Mutter, die mahnend seine Schulter drückte. Eilig schloss Arvid den Mund und blickte zu seiner Mutter hoch. Sie wirkte gestresst, wie immer, wenn sie Arvids drei älteren Halbbrüdern begegnete. Zu diesem Zeitpunkt war der Grund für den jüngsten Prinzen noch unmöglich zu verstehen.

Unauffällig versuchte Arvid, über seine Schulter in die Menge zu blicken, die sich in der Kathedrale versammelt hatte. Ihre Gesichter wurden vom Licht der kürzlich installierten, elektrischen Lampen erhellt. Er wusste, dass irgendwo hinter ihm sein bester Freund Iver stand und ihm wahrscheinlich gerade die Zunge herausstreckte. Sicherheitshalber streckte Arvid ihm ebenfalls die Zunge heraus, selbst wenn er Iver nicht sehen konnte.

Arvids ältester Bruder Johan zischte mahnend und sofort blickte Arvid wieder nach vorne. So langweilig die Zeremonie auch sein mochte, für einen Prinzen war es Pflicht, daran teilzunehmen und sich angemessen zu verhalten, hatte seine Mutter gesagt. Und Arvid wollte ein guter Prinz sein wie seine Brüder.

In diesem Moment erhob sich König Henning und trat vor den Hohepriester. Aller Augen richteten sich sofort auf den Monarchen und auch Arvid musste sich schwer beherrschen, um vor Aufregung nicht auf und ab zu springen. Sein Vater, König Henning, war ein stattlicher Mann. Stattlich, dieses Wort hatte Arvid kürzlich erst gelernt, doch er kannte niemanden, auf den es so gut gepasst hätte wie auf seinen Vater.

Der Hohepriester und König Henning rezitierten in rhythmischem Sprechgesang ein Gebet, doch Arvids Aufmerksamkeit galt einzig und allein seinem Vater. Beinahe vier Wochen waren schon wieder vergangen, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Eine Ewigkeit für Arvids kindlichen Verstand.

Der König sei ein wichtiger und vielbeschäftigter Mann, hatte seine Mutter Nora gesagt, und deshalb dürfe Arvid ihn auch nur einmal im Monat besuchen. Bei diesen Gelegenheiten stellte Arvid unter Beweis, wie gut er schon rechnen und buchstabieren konnte. Manchmal erzählte er seinem Vater auch vom Reitunterricht oder vom Fechten, wobei Arvid letzteres gerne ausließ, denn im Gegensatz zu seinem besten Freund Iver verfügte Arvid über keinerlei Talent darin.

An guten Tagen lobte der König seinen jüngsten Sohn für seine Fortschritte. An anderen Tagen brummte er nur anerkennend, während seine Gedanken woanders waren. Arvid akzeptierte dies; sein Vater war schließlich der König und auch weit über die Landesgrenzen hinaus kannte jeder seinen Namen. Wenn so viele Menschen große Heldentaten von einem erwarteten, dann konnte man sich nicht mit Matherätseln und Reitunterricht beschäftigen.

Nur als Arvid damals zum Spaß die alte Feuerglocke geläutet hatte, war er persönlich gekommen, um Arvid zu bestrafen. Eine Feuerglocke durfte man nur im Brandfall läuten, das wusste Arvid jetzt.

Die Menschen um ihn herum verbeugten sich alle, also machte Arvid es ihnen eilig nach. Dies war ein gutes Zeichen; meistens endeten die Zeremonien des Sonnengottes nach der Verbeugung. Und tatsächlich begannen die Menschen, sich zu zerstreuen und zum Ausgang zu streben. Arvid wartete, bis seine Mutter ihn aus den Augen ließ, um mit einer Bekannten zu plaudern. Dies tat sie immer, denn sie hatte viele Bekannte.

Arvid wusste, wohin sein Vater und der Hohepriester nach der Zeremonie gingen, da er sich in der Vergangenheit einmal mit seinen Brüdern hinterher geschlichen hatte. Im Anschluss an solche Zeremonien hielt sich sein Vater meistens mit dem Hohepriester in einem separaten hinteren Bereich der Kathedrale auf, dem „Baumraum“, wie Arvid ihn nannte.

Arvid nutzte das Gedränge, um sich unbemerkt von seiner Mutter und seinen Brüdern zu entfernen. Er sah, wie Iver einige Meter weiter dasselbe versuchte. Er war zwei Jahre älter als Arvid selbst und deshalb weniger unauffällig. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht stieß Iver zu seinem besten Freund.

Im Gedränge unbemerkt schlichen die beiden Jungen aus dem Hauptschiff der Kathedrale und schielten den Gang hinab. Hier gab es nichts außer bunten Fenstern mit schweren Gardinen und einer einzigen, mit Metall beschlagenen Tür. Man konnte die Eintönigkeit förmlich schmecken. Arvid hatte richtig vermutet; vor der Tür am Ende des Ganges standen zwei gelangweilte Wachen mit Musketen und aufgesteckten Bajonetten. Das elektrische Licht ließ ihre Haut unnatürlich gelb aussehen.

„Weißt du, was du zu tun hast?“ flüsterte Arvid seinem besten Freund zu.

„Verlass dich ganz auf mich“, entgegnete Iver ebenfalls flüsternd. Seine Augen blitzten bei dem Gedanken an den Streich, den sie den beiden Wachen spielen würden.

Iver legte sein ernstestes Gesicht auf. Aufgeregt sprang er hinter der Ecke hervor und rannte mit falschen Tränen in den Augen auf die beiden Wachposten zu.

„Hilfe!“, brüllte er und schreckte die beiden Männer aus ihrer Langeweile auf. „Schnell, meine Mama wurde angegriffen!“

Der Trick funktionierte wie erwartet. Iver war ein überzeugender Schauspieler und die Wachen nicht gewillt, das Risiko einzugehen, dass eine Dame des Hochadels oder vielleicht sogar die Königin selbst tatsächlich verletzt worden sein könnten. Die List würde die beiden Männer wahrscheinlich keine ganze Minute ablenken, aber dies war genug Zeit für Arvid, sich in den Saal zu schleichen. Iver würde wahrscheinlich Ärger dafür bekommen. Das war es den beiden Jungen wert.

Arvid flitzte den Gang hinunter, kaum dass die beiden Wachen an ihm vorbei gerannt waren. Er musste sich strecken, um die Türklinke erreichen zu können. Lautlos öffnete sich die reichlich verzierte Holztür, sodass Arvid sich hineinschleichen konnte. Seine Hände fühlten sich vor Aufregung ganz schwitzig an. Kaum dass die Tür sich hinter ihm wieder geschlossen hatte, verschwanden all die Geräusche der Außenwelt.

Selbst mit seinen fünf Jahren konnte Arvid spüren, welch besonderen Ort er betreten hatte. Das Licht der Mittagssonne fiel durch große Buntglasfenster herein. Hier drinnen gab es noch keine elektrischen Lampen. Aus dem dichten Teppich wirbelte bei jedem von Arvids vorsichtigen Schritten Staub auf und tanzte im Sonnenlicht. Selbst die Luft schmeckte altehrwürdig.

Im Baumraum existierten keinerlei Sitzgelegenheiten, nur hohe Wände mit prächtigen Malereien und reich verzierte Teppiche. In der Mitte des Raums stand auf einem steinernen Sockel eine massivgoldene, stilisierte Sonne, die so groß war, dass Arvid sie nicht mit beiden Armen hätte umfassen können. Natürlich war es ohnehin streng verboten, die Sonne anzufassen. Es handelte sich dabei um eine Reliquie, wie sein Vater ihm erklärt hatte. Was genau eine Reliquie war, hatte Arvid noch nicht herausfinden können. Er wollte seine Unwissenheit aber auch nicht eingestehen, indem er fragte, also tat er einfach so, als wisse er genau, weshalb eine Reliquie so kostbar war.

König Henning Wergland stand direkt vor dieser ganz besonderen Sonne und unterhielt sich mit gedämpfter Stimme mit dem Hohepriester. Selbst auf diese Entfernung hin konnte Arvid erkennen, wie angespannt sein Vater wirkte. Für Arvid war dies nicht verwunderlich; der Hohepriester war ein unangenehmer Mann, der Arvid immer für irgendetwas zurechtwies, wann immer er dem jungen Prinzen begegnete.

Vorsichtig, damit die beiden ins Gespräch vertieften Männer ihn nicht bemerkten, schlich Arvid sich näher. Zurück konnte er ohnehin nicht; inzwischen hatten die Wachen den Streich bestimmt durchschaut und ihre Posten vor dem Eingang wieder eingenommen.

„Der König von Ostmarken befürchtet einen Überfall Vistovias auf sein Land“, sagte König Henning gerade. „Ich denke nicht, dass wir die angespannte Lage unserer Nachbarn weiterhin ignorieren können. Wenn wir nicht eingreifen-“

„Ich verstehe natürlich Eure aktuelle Lage, Euer Majestät“, unterbrach der Hohepriester Arvids Vater. Arvid verzog das Gesicht. Niemand sonst sprach jemals so mit dem König. Jeden Tag bläuten Arvids Lehrer dem jungen Prinzen ein, Respekt vor Älteren zu zeigen; und dieser Hohepriester war nicht einmal halb so alt wie der König und wagte es trotzdem, diesem ins Wort zu fallen! Arvids Lehrer hätten dem Hohepriester dafür bestimmt auch auf die Finger gehauen.

„Aber die Zeichen deuten nicht darauf hin, dass der Sonnengott im Augenblick auf Iskaldurs Seite steht“, fuhr der Hohepriester fort, ohne vom König gemaßregelt worden zu sein. „Wenn wir uns einmischen, provozieren wir möglicherweise einen Krieg anstelle einer unangenehmen, aber letztendlich harmlosen Auseinandersetzung am äußersten Ende der ostmärkischen Landesgrenze.“

Der König blickte unzufrieden zur Seite und war gerade dabei, etwas zu erwidern, als er Arvid bemerkte. Sofort streckte der junge Prinz die Arme aus und lief seinem Vater entgegen.

„Papa!“ rief er und umarmte die Beine des Königs.

„Was machst du denn hier, Arvid?“ entgegnete sein Vater mit einem kleinen Lächeln. „Du weißt doch, dass du hier nicht alleine rein darfst.“

Arvid spürte die stechenden Blicke des Hohepriesters genau. Am liebsten hätte er dem Priester die Zunge heraus gestreckt, aber erstens gehörte sich dies für einen Prinzen nicht und zweitens hätte sein Vater ihn dann bestimmt umgehend des Raumes verwiesen.

„Ich wollte dich sehen, Papa“, antwortete Arvid wahrheitsgemäß und streckte die Arme aus, bis sein Vater ihn schließlich auf die Schultern nahm.

Von hier oben aus konnte Arvid – sehr zu seiner Genugtuung – auf den Hohepriester herunterschauen. Vielmehr noch konnte er nun auch den Baum sehen, nach dem Arvid den Raum benannt hatte.

Der Baum war natürlich kein richtiger Baum; es gab keine Bäume, die im Inneren von Kathedralen wuchsen. Bei dem Baum handelte es sich um den Stammbaum der Königsfamilie, der sich als ein aus purem Gold gefertigten Relief über die gesamte Ostwand des Raums erstreckte.

In der Gegenwart des jungen Prinzen schienen die beiden Männer ihr Gespräch nicht weiterführen zu wollen und zu Arvids großer Erleichterung verabschiedete der Hohepriester sich mit knappen Worten. Diesmal musste Arvid sich auf die Lippe beißen, um der Versuchung zu widerstehen, ihm die Zunge herauszustrecken.

„Können wir den Baum angucken?“ fragte er stattdessen. Und tatsächlich erfüllte sein Vater diesen Wunsch und trug ihn zu dem gewaltigen Relief hinüber. Arvid streckte den Arm aus, soweit er konnte, doch es reichte nicht, um das Relief berühren zu können.

„Weißt du, wer diese Leute sind, Arvid?“ sagte sein Vater mit einem gutmütigen Schmunzeln über die vergeblichen Bemühungen des Jungen.

„Meine Vorfahren“, erwiderte Arvid ernsthaft.

„Ganz genau. Du stammst von großartigen Männern ab, von Generälen, Helden und Königen. Siehst du diesen Mann dort?“

Er deutete ganz nach oben auf den Beginn des Stammbaums. Der dort dargestellte Mann blickte ebenso grimmig drein wie alle anderen Leute auf dem Relief.

„Das ist Henning I., nach dem mein Vater mich benannt hat“, erklärte der König.

„Er hat all die verstreuten und verfeindeten Stämme Iskaldurs unter seinem Banner vereint und wurde der erste König unseres Landes. Über achthundert Jahre ist das schon her, aber von seinen herausragenden Taten erzählen wir uns noch heute.“

Mit großen Augen blickte Arvid zu seinem Ahnen hinauf und für einen Moment bekam er den Eindruck, der Mann blicke aus grimmigen Augen zu ihm hinab. Sofort wandte Arvid den Blick ab. Er fühlte sich nicht würdig, vor einem so großartigen König zu stehen. Ein Mann wie dieser interessierte sich bestimmt nicht für Arvids Leistungen im Reiten, Fechten und Rechnen.

„Sind achthundert Jahre viel?“ fragte er stattdessen seinen Vater. Der König nickte.

„Achthundert Jahre sind sehr viel. 35 Könige kamen nach ihm und obwohl viele von ihnen Großartiges vollbracht haben, hat doch keiner jemals den unsterblichen Ruhm erlangt wie dieser erste König.“

Arvid staunte. 35 Könige waren sehr viel. Sein Vater war der König und hatte vier Kinder. Also musste es in diesen achthundert Jahren mindestens hundert Prinzen wie Arvid gegeben haben, die an dieser Stelle gestanden und ehrfürchtig zu ihren Ahnen aufgeblickt hatten. Und all diesen Prinzen hatten ihre Väter von den Leistungen des ersten Königs erzählt.

„Hier unten sind meine erste Frau und ich“, fuhr Arvids Vater fort und deutete auf das Relief, das sein Gesicht zeigen sollte. Arvid fand, es sah seinem Vater gar nicht ähnlich. Die Frau war Arvid völlig fremd. Sie war lange vor seiner Geburt gestorben. „Diese Stelle unter mir ist frei für den nächsten König, wahrscheinlich deinen ältesten Bruder Johan, und die Frau, die einmal seine Königin werden wird.“

„Bin ich gar nicht auf dem Baum?“ wollte Arvid wissen.

„Auf diesem Baum sind nur die Könige und Königinnen unseres Landes abgebildet“, erklärte sein Vater geduldig. „Aber ein König allein genügt nicht, um ein Land zu regieren. Er braucht außerdem treue Gefolgsleute und kluge Berater, damit sein Land reich und bedeutend wird. Das ist eine sehr wichtige Aufgabe für Prinzen wie dich.“

Arvid nickte, doch eigentlich hörte er kaum noch zu. Der Gedanke, dass Johan eines Tages auf diesem Relief abgebildet sein würde, aber nicht Arvid selbst, brach ihm das Herz.

In diesem Moment fiel ein Sonnenstrahl durch das Buntglasfenster und tauchte das Gesicht seines Vaters auf dem Relief in goldenes Licht. Arvid starrte auf die leere Stelle darunter.

Dann blickte er wieder hinauf zu dem grimmigen Gesicht von Henning I. Und unter den wachsamen Augen seines Ahnvaters leistete Arvid einen Schwur: eines Tages würde Arvids eigenes Gesicht auf diesem Relief zu sehen sein, umringt von seinen Vorfahren. Alle zukünftigen Prinzen würden an genau dieser Stelle stehen, aber ihre Väter würden ihnen stattdessen von Arvids Taten berichten.

Er würde mehr leisten als der erste König Iskaldurs, Könige würden nach ihm benannt werden, selbst die Hohepriester würden sich voller Respekt vor ihm verneigen.

Arvid schloss die Augen und versprach seinen Ahnen, bis ans Ende aller Zeiten unvergessen zu werden.

Kapitel 1

15 Jahre später

Einer der Wachposten kündigte Arvids Eintreffen an, bevor der jüngste der vier Prinzen in das Schlafzimmer des Königs treten durfte. Sein Vater wirkte noch blasser und dünner als bei Arvids letztem Besuch vor drei Tagen. Arvid hatte kaum geglaubt, dass dies überhaupt möglich sei. Die Tuberkulose zehrte in zwei Wochen mehr an seinen Kräften, als ein Leben als Staatsoberhaupt es in zwanzig Jahren geschafft hatte.

Der persönliche Leibarzt des Königs von Iskaldur regelte die Besuchszeiten streng und mahnte diejenigen, die das Privileg erhalten hatten, König Henning überhaupt sehen zu dürfen, ausreichend Abstand zu dem Erkrankten zu halten. Dies hatte Arvids Bruder Bernhard offenbar nicht davon abgehalten, die ganze Nacht über Wache am Bett ihres gemeinsamen Vaters zu halten. Der zweite Sohn des Königs wirkte erschöpft und blass wie sein Vater, doch wie üblich lächelte er, als Arvid eintrat und sich verbeugte.

Das Schlafzimmer des Königs war abgesehen von einem modernen, luxuriösen Bett schlicht eingerichtet. Nicht einmal elektrisches Licht hatte König Henning in seinen besseren Tagen installieren lassen. Er bevorzugte den schwachen Schein des Kerzenlichts. Möbel befanden sich nur wenige im königlichen Schlafzimmer. Bernhard hatte sich für seine Krankenwache einen bequemen Sessel bringen lassen.

König Henning hielt die Augen geschlossen und atmete rasselnd. Vor drei Tagen hatte Arvid seinen Besuch abbrechen müssen, da ein heftiger Hustenanfall seinen Vater geplagt hatte.

„Ist er wach?“ wandte Arvid sich leise an seinen Bruder. Nur Bernhard wachte Tag und Nacht beim König. Johan übernahm in der Zwischenzeit die wichtigsten Staatsgeschäfte und Olaf fürchtete die Schwindsucht so sehr, dass er sich vom Krankenbett ihres gemeinsamen Vaters fern hielt.

„Ich bin wach und noch bei vollem Verstand“, meldete sich König Henning umgehend und versuchte, einen weiteren Hustenanfall zu unterdrücken, während er sich aufsetzte. „Also sprich nicht über mich, als wären meine Tage schon gezählt.“

Bernhard war sofort an der Seite seines Vaters. Unter seinen stets verträumt dreinblickenden, braunen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet.

„Langsam, Vater. Ihr wisst, wie es Eurem Kreislauf beim letzten Mal erging, als Ihr Euch so ruckartig aufgesetzt habt.“

Arvid verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schwieg. Er wartete, bis sein Vater aufgehört hatte zu husten, dann sagte er ruhig, aber bestimmt: „Ihr müsst in eine Heilstätte, Vater. Seit zwei Wochen könnt Ihr das Bett nicht verlassen und eine Aussicht auf Besserung besteht nicht, solange Ihr hier bleibt.“

„Ich kann nicht einfach gehen“, widersprach sein Vater sofort. „Unser Verbündeter Ostmarken benötigt Iskaldurs Unterstützung. Um die Front ist es weit schlimmer bestellt, als die Zeitungen berichten; letzte Woche erst bat ein Bote uns um weitere 10.000 Pferde für die ostmärkische Kavallerie.“ Er hustete erneut.

Zum ersten Mal in seinem Leben dachte Arvid, dass sein Vater alt und schwach aussah. Er presste die Lippen zusammen und versuchte, die aufkeimenden Gefühle über diese Erkenntnis zu unterdrücken. Schweigend sah er zu, wie Bernhard den König dazu drängte, sich wieder hinzulegen.

„Johan kann die Staatsgeschäfte führen, während Ihr Euch auskuriert“, entgegnete Arvid in demselben, ruhigen Tonfall, um seinen Vater nicht noch weiter zu reizen. „Ihr habt ihn ausreichend darauf vorbereitet. In der Zwischenzeit könnte ich unsere Soldaten an die ostmärkische Front führen.“

Bei diesen Worten hob Bernhard mit sichtlichem Erstaunen den Kopf, doch Arvid ließ sich nichts anmerken. Auf so eine Gelegenheit hatte er lange gewartet. Vor drei Jahren hatte er seinen Vater einmal an die Front begleitet und seinem Sieg über einen für Iskaldur bedeutenden Handelshafen beigewohnt. Seitdem jedoch hatte der König es dem jüngsten Prinzen verweigert, sich weiter am Kriegsgeschehen zwischen Ostmarken und deren ewigem Rivalen Vistovia zu beteiligen, sehr zu Arvids Unmut.

„Das werde ich nicht tun, Arvid“, sagte der König und blickte seinen Sohn von unten her an. „Du bist zu jung und unerfahren, um solch eine Schlacht alleine bestreiten zu können. Abgesehen davon wird deine Anwesenheit beim Fest zur Sommersonnenwende verlangt.“

Die beiden höchsten Feiertage Iskaldurs lagen einmal im Hochsommer zur Sommersonnenwende, sowie im tiefsten Winter zur Wintersonnenwende. An beiden Tagen wurde dem Sonnengott, welcher den höchsten in Iskaldur verehrten Gott darstellte, am königlichen Hof gehuldigt. Es war Aufgabe der Prinzen, ein gewaltiges Fest auszurichten, sowie dem Hohepriester in den uralten Zeremonien zu assistieren, deren genaue Bedeutung wohl auch nur dieser selbst kannte. Arvid verabscheute diese Veranstaltung und hatte in den vergangenen Jahren jede Ausrede genutzt, um nicht daran teilnehmen zu müssen.

„Bernhard und Olaf wären doch hier, um dieser Pflicht nachzukommen“, wandte er ein. „Und General Bjornson würde mich nach Ostmarken begleiten. Unter seiner Anleitung wird mir nichts zustoßen.“ Doch sein Vater hob nur eine Hand und gebot ihm zu schweigen.

In diesem Moment wurde ihre Diskussion durch eine eintretende Wache unterbrochen. Der Mann kündigte das Eintreffen von Arvids ältestem Bruder Johan an und nur wenige Sekunden später erschien der Kronprinz selbst im Schlafzimmer des Königs. Ein weiteres Mal setzte der König sich mühsam auf, um seinen Sohn zu begrüßen, während Bernhard ihn behutsam stützte.

Dem Kronprinz folgte zu Arvids Missfallen der Hohepriester Kristan Blixrud. Der Hohepriester des Sonnengottes war ein hochgewachsener, braunhaariger Mann mit einem Blick, der direkt in die Seele seines Gegenübers zu sehen schien. Mit seinem bartlosen Gesicht und den hohen Wangenknochen sah er in gleichem Maße streng wie charismatisch aus. Er neigte einmal den Kopf, um die versammelten Prinzen zu begrüßen, dann trat er direkt ans Krankenbett des Königs.

„Euer Majestät, die Zeichen, die der Sonnengott mir geschickt hat, sind eindeutig“, erklärte er in gewichtigem Tonfall. „Das Ende Eurer Herrschaft steht bevor.“

Bernhard stieß einen erschrockenen Laut aus und auch Johan, der sonst immer so professionell und reserviert reagierte, zeigte sich überrascht darüber, wie direkt der Hohepriester sprach. Arvid rollte nur die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Jedoch“, sprach Kristan in diesem Moment weiter, „bedeutet das Ende Eurer Herrschaft nicht zwingend Euren Tod. Ihr habt Eurem Volk viele Jahre lang gut gedient. Ich bitte Euch, folgt ab jetzt den Anweisungen Eures Arztes und begebt Euch für einige Zeit in eine Heilstätte. Eure Söhne sind alt genug, Euch zu vertreten, bis Ihr eine Entscheidung über die weitere Zukunft des Königreichs getroffen habt. Aber einen von Krankheit geschwächten Herrscher kann sich Iskaldur nicht leisten.“

Arvid hasste es, wie sein Vater und seine Brüder an den Lippen des Hohepriesters hingen. Es gab keine ungewisse Zukunft, über die eine Entscheidung gefällt werden müsste: mit dem Ableben Hennings IV. würde Johan den Thron besteigen und nach ihm sein ältester Sohn, wie es ihre Vorfahren seit achthundert Jahren getan hatten.

„Ihr seid anmaßend, dem König Anweisungen erteilen zu wollen“, ergriff Arvid das Wort. Sein Tonfall war kalt wie Eis. Blixrud musste es bemerkt haben, reagierte jedoch nicht darauf. „Die Zeichen des Sonnengottes sind seit jeher schwer zu lesen; vielleicht irrt Ihr Euch, Hohepriester.“

„Arvid!“ stieß sein Vater keuchend hervor. Seine Stimme klang so rasselnd, als hätte eine Hälfte seiner Lunge bereits aufgegeben. „Zeig mehr Respekt vor dem höchsten Diener unseres Gottes.“

Widerwillig neigte Arvid den Kopf, doch sein Blick blieb auf Kristan Blixrud gerichtet.

„Verzeiht, Vater. Ich bin lediglich über Euer Wohlergehen sowie über die Zukunft unseres Königreichs besorgt. Deshalb bitte ich Euch, mir Eure Erlaubnis zu geben, Ostmarken im Kampf gegen Vistovia beizustehen. Wenn unsere freundschaftliche Beziehung zu ihnen abrisse, wäre das für das Königreich-„

„Ich sagte dir bereits, dass du nicht gehen wirst, Arvid“, entgegnete der König barsch. „Du bist zu jung, um dich an diesem Krieg zu beteiligen.“

„Aber Vater-!“

„Belasst es dabei, junger Prinz“, fiel der Hohepriester ihm nun ebenfalls ins Wort. Sein Gesicht war unbewegt angesichts von Arvids offensichtlichem Ärger. „Es wird noch genügend Gelegenheiten für Euch geben, Eurem Land und Eurem Volk zu dienen, aber in dieser Angelegenheit schließe ich mich der Meinung des Königs an. Wenn Ihr unterliegt oder gar getötet werdet, könnte das der Beziehung zwischen Ostmarken und Iskaldur noch mehr schaden, als gar nichts zu tun.“

Arvid setzte an zu protestieren, wurde jedoch ein weiteres Mal unterbrochen, diesmal von Johan, der dem Gespräch bisher nur schweigend beigewohnt hatte.

„Arvid, du stresst Vater. Bitte geh jetzt.“ Es lag keine böse Absicht in seiner Stimme, doch auf dem Gesicht des Hohepriesters glaubte Arvid, Hohn zu erkennen. Mit zusammengebissenen Zähnen verbeugte er sich vor seinen Brüdern und seinem Vater, dann verließ er mit zur Faust geballten Händen das Schlafzimmer. Zweifellos blickten sie ihm alle nach und warteten nur darauf, dass er die Tür hinter sich schloss, damit sie weiter ohne ihn die Staatsgeschäfte diskutieren konnten.

Auf dem Gang vor dem Schlafzimmer wartete Iver, der sich mit gesenkter Stimme mit den Wachen unterhalten hatte. Er verabschiedete sich sofort, als er Arvids Gesicht sah, und obwohl er größer war als der Prinz, musste er rennen, um mit seinem besten Freund mitzuhalten.

„Ist es nicht gut gelaufen?“ fragte er vorsichtig.

„Mein Vater hält mich für zu jung und unerfahren, um an der ostmärkischen Front zu kämpfen“, entgegnete Arvid wutschnaubend. „Und natürlich hat Blixrud ihn in dieser Entscheidung unterstützt. Ich sage dir, dieser verdammte Hohepriester betrachtet mich nicht als Mitglied der königlichen Familie, aber ich hatte nicht erwartet, dass er vor meinem Vater so dreist wäre, mir offen Vorschriften zu machen!“

Iver seufzte schwer. Arvids ewige Beschwerden über den Hohepriester und seinen uneinsichtigen Vater kannte er gut.

„An ihrer Stelle würde ich mich auch wundern, weshalb du so wild darauf bist, in einen Krieg zu ziehen.“

Arvid stapfte die Treppen hinunter in Richtung des Schlosshofes. Ein ihnen entgegenkommendes Dienstmädchen wich sofort zur Seite aus, als es die beiden jungen Männer die Treppe hinabkommen sah, und machte einen höflichen Knicks. Arvid rauschte an ihr vorbei, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.

„Ich studiere die Taten großartiger Herrscher seit meiner Kindheit; und der sicherste Weg, einer von ihnen zu werden, besteht darin, ein Weltreich aufzubauen.“ Er seufzte schwer. „Iver, wenn du König eines Weltreichs wärst, was würdest du dann tun?“

Sein bester Freund zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Die Welt bereisen und mich an meinen Siegen erfreuen, schätze ich.“ Er lächelte Arvid zu. Selbst jetzt, da sie erwachsene Männer waren, überragte Iver den blonden Prinzen um einen Kopf. „Du musst es nicht immer so eilig haben, Arvid. Du hast noch ein ganzes Leben vor dir, um ein Weltreich aufzubauen.“

„Ich kann einfach nicht glauben, dass dieser Scharlatan Kristan mit den höchsten Ehrungen überschüttet wird, während ich nicht einmal einen Platz auf unserem Familienstammbaum finde“, fauchte Arvid anstelle einer Antwort. Iver sagte dazu nichts; dieses Gespräch hatten sie schon ein dutzend Mal geführt. Und mit jedem weiteren Tag seines jungen Lebens wurde Arvid deutlicher, dass sein Vater nicht vorhatte, ihn jemals zu einem potentiellen Regenten Iskaldurs auszubilden. Johan hatte von Kindesbeinen an eine hervorragende Erziehung in allen königlichen Belangen erfahren. Doch so sehr Arvid sich auch darum bemüht hatte, es seinem ältesten Bruder gleichzutun, war er doch immer auf der Strecke geblieben.

„Vielleicht fragst du noch einmal deine Mutter, ob sie ein gutes Wort für dich einlegt. Sie hat nach dir schicken lassen, aber ich habe dem Dienstboten gesagt, du wärst noch beim König“, sagte Iver stattdessen, um das Gespräch in eine erfreulichere Richtung zu lenken.

„Was das angeht, kann sie nichts für mich tun“, entgegnete Arvid mürrisch. Sie hatten den Schlosshof erreicht, den eine prächtige, weiße Marmorstatue des Sonnengottes zierte. Arvids Vater hatte sie anlässlich seiner Krönung dort aufstellen lassen, um den Hohepriester des Sonnengottes milde zu stimmen.

Grimmig starrte Arvid zu den Spitzen der Kathedrale auf, die sich an an den königlichen Hof anschloss. Nachmittags warfen die Türme des Gebäudes Schatten in den Schlosshof. Wie eine unausweichliche Mahnung dafür, dass selbst der König sich dem Willen des höchsten Gottes zu beugen hätte. Vertreten natürlich durch diesen Widerling Kristan.

Am Fuße der Statue entdeckte Arvid noch weitere Unerfreulichkeiten: seinen vier Jahre älteren Bruder Olaf, den jüngsten Sohn der verstorbenen ersten Frau des Königs. Lachend und in zügigem Tempo eine Weinflasche leerend saß er auf dem Sockel der Statue mit einer jungen Frau auf seinem Schoß. Einer anderen als letzter Woche, wie Arvid beiläufig feststellte.

Und da sein Zorn auf Kristan noch nicht verraucht war, entschied der blonde Prinz, seinen Ärger stattdessen an Olaf auszulassen, ehe Iver Gelegenheit bekäme, ihn zu stoppen.

„Was machst du hier?“ rief Arvid zu Olaf hinüber. Sein Bruder blinzelte zweimal, bevor er realisierte, dass Arvid mit ihm sprach.

„Wein trinken“, antwortete er. Selbst sein Atem roch nach Alkohol; dies war wohl kaum die erste Flasche, die die beiden an diesem Nachmittag geöffnet hatten „Was dagegen?“

„Vater hat nach uns geschickt.“ Arvid warf der Frau einen bösen Blick zu. Sie hielt sich an Olaf fest, als könne sie alleine nicht mehr aufrecht sitzen. Es schien ihr auch völlig gleichgültig zu sein, dass sie sich in der Mitte des Schlosshofs aufhielt, wo jede Magd und jeder Dienstbote sie sehen konnte. „Und du bist nicht aufgetaucht.“

Olaf hob die Schultern.

„Er hat die Schwindsucht, Arvid. Ich will mich nicht anstecken und dann genauso ans Bett gefesselt sein wie er.“

„Und das ist ein Grund, sich den Befehlen des Königs zu widersetzen?“ fuhr Arvid aufgebracht fort. Er spürte, wie Iver sich neben ihm anspannte.

Olaf runzelte die Stirn, als müsste er über eine sehr komplizierte Frage nachdenken. Die Frau auf seinem Schoß sah verunsichert von einem Prinzen zum anderen.

„Für mich ist er in erster Linie mein Vater, und nur in zweiter Linie König“, antwortete Olaf schließlich und stellte die Weinflasche beiseite. „Denn anders als du muss ich mich nicht ständig einschleimen in der Hoffnung, eines Tages mal Kronprinz zu werden. Und soll ich dir sagen, warum?“

Er legte eine dramatische Pause ein, bevor er fortfuhr.

„Weil das niemals passieren wird. Ich bin der Dritt- und du der Viertgeborene, Arvid. Von Geburt an hatte keiner von uns eine Chance auf den Thron. Der Unterschied ist nur, dass ich mich damit abgefunden habe und das Beste aus meiner Situation mache. Ich springe nicht, nur weil Vater das von mir will. Ich bestimme über mein eigenes Leben.“

Arvids Faust traf ihn mitten ins Gesicht. Mit einem erschrockenen Quieken kippte Olaf nach hinten, wobei die entsetzte Frau auf seinem Schoß mit umkippte.

Iver reagierte sofort und ergriff Arvids Arm, doch der blonde Prinz hatte gar nicht vorgehabt, noch ein weiteres Mal zuzuschlagen. Seine Faust pochte vor Schmerz, und der Zorn über Olafs Respektlosigkeit wallte in seinen Adern.

Die Augen vor Schreck weit aufgerissen, rappelte Olaf sich wieder auf. Blut lief aus seiner Nase. Er rief seinem Bruder einige Flüche hinterher, doch Arvid hatte sich bereits abgewandt und ging zum Hauptgebäude hinüber, ohne das Schimpfen zu beachten. Er konnte nur hoffen, dass die Dame so klug gewesen war, das Weite zu suchen, anstatt noch mehr ihrer Zeit an Olaf zu verschwenden.

Iver folgte dem blonden Prinzen kopfschüttelnd.

„Jetzt wird Olaf wieder versuchen, dich an General Bjornson zu verpetzen“, murmelte er.

„Olaf hat immer noch nicht verstanden, dass wir inzwischen erwachsene Männer sind. Geschweige denn, dass General Bjornson genauso genervt von seinen Kindereien ist wie alle anderen am Hof“, antwortete Arvid. Er merkte, dass sein bester Freund sich mit aller Kraft eine Antwort darauf verkniff.

„Soll ich wieder draußen warten?“ fragte Iver stattdessen, als sie das Gebäude erreichten.

Arvid nickte knapp.

„Ich denke, es wird nicht lange dauern.“ Im Laufe der Jahre war Arvid gut darin geworden, seine Mutter abzuwimmeln.

Er richtete seine Kleidung, straffte die Schultern und betrat das Gebäude.

Kapitel 2

Nora Wergland war die zweite Frau König Hennings IV. Sie entstammte einer alten, seit langem jedoch verarmten und letztendlich unbedeutenden Adelsfamilie, die im Laufe der Jahre immer mehr ihrer Ländereien hatte veräußern müssen. Bevor sie den frisch verwitweten König vor über zwei Jahrzehnten kennengelernt hatte, hatte sie eine Karriere als Künstlerin angestrebt. In jedem Wohnraum des königlichen Hofes hing mindestens eines ihrer Landschaftsgemälde.

Arvids Vater hatte seine erste Frau aus politischen Gründen geheiratet, Nora jedoch hatte er aus Liebe zu seiner Königin gemacht. Wegen ihrer wenig vorzeigbaren Herkunft hatten die Alteingesessenen am königlichen Hofe Arvid als störendes Übel anstelle eines Prinzen angesehen. Einige dieser Leute hatten ihre Einstellung bis heute nicht geändert, wie Arvid äußerst schmerzhaft hatte herausfinden müssen.

Nora selbst dagegen hatte stets gewusst, in welch heikler Lage sie sich befand. Um keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hatte sie nach ihrer Eheschließung mit dem König stets den Kopf niedrig gehalten, war ihren Pflichten als Repräsentantin des Landes in diplomatischen Situationen nachgekommen und hatte sich mit persönlichen Meinungen zurückgehalten.

Auf diese Weise war sie jeglichem Skandal in den letzten zwanzig Jahren entgangen. Im Herzen jedoch war die Königin ihrer eigenen Aussage nach noch immer eine verträumte Künstlerin, die ihre Tage am liebsten allein mit einem Pinsel und einer Leinwand verbrachte. Mit ihrem Sohn war sie darüber schon häufiger aneinander geraten.

Arvid ließ sich durch eine Dienstbotin ankündigen, bevor er die Gemächer seiner Mutter betrat. Hätte König Henning nicht unter einer ansteckenden Krankheit gelitten, wäre er in seiner Freizeit häufig in diesen Räumlichkeiten anzutreffen gewesen. Als die Königin damals eingezogen war, hatte sie die Gemächer renovieren und neu einrichten lassen und seitdem nichts mehr daran verändert. Als Kind hatte Arvid sich hier immer wohl gefühlt. Jetzt jedoch wirkten die Räume seiner Mutter still und einsam. Der Geruch von öliger Farbe war noch immer allgegenwärtig und durch die dicken Wände wurde der Alltagslärm des königlichen Hofes vollständig ausgesperrt.

„Du hast nach mir verlangt, Mutter?“ erhob Arvid zur Begrüßung die Stimme.

Seine Mutter war in einen Brief vertieft gewesen, der aufgeklappt neben ihrem Stuhl auf einem Beistelltisch lag. Arvid konnte das Siegel einer iskaldischen Adelsfamilie darauf erkennen.

„Wie schön, dass du so schnell gekommen bist“, entgegnete seine Mutter lächelnd und bedeutete ihrem Sohn, sich auf den Stuhl gegenüber von ihrem zu setzen. „Möchtest du etwas trinken? Ich schicke das Dienstmädchen.“

„Nein, danke“, antwortete Arvid. „Ich bin etwas in Eile.“

Nora neigte den Kopf, hinterfragte seine Aussage jedoch nicht. Stattdessen nahm sie den Brief wieder in die Hand.

„Der Fürst von Makholm hat mir geschrieben“, sagte sie und schlug dabei den Tonfall an, mit dem sie Arvid als Kind ins Bett geschickt hatte: sanft, aber ohne Widerworte duldend. Arvid bereitete sich auf das Schlimmste vor.

„Wir stehen schon seit einer Weile in Kontakt“, fuhr Nora fort. „Er hat eine Tochter in deinem Alter, Astrid.“

Arvid atmete hörbar aus. Daher wehte der Wind also.

„Ich bin nicht daran interessiert, mir eine Frau zu suchen“, sagte er, ehe Nora fortfahren konnte. Es wäre nicht das erste Mal, das seine Mutter versuchte, ihn unter die Haube zu bringen. Sie wirkte in dieser Hinsicht sehr besorgt um ihr einziges Kind, obwohl Arvid erst in wenigen Monaten 21 werden würde. Es gäbe noch viel Zeit für ihn, sich nach einer geeigneten Gemahlin umzusehen, sobald er in seinem eigenen Namen Ruhm und Ehre erworben hätte.

„Du hast sie noch nicht einmal kennengelernt.“ Nora klang ernsthaft betrübt über die harsche Absage, also bemühte Arvid sich, einen diplomatischeren Tonfall einzuschlagen.

„Ich bin sicher, Astrid wäre eine gute Ehefrau für mich. Aber die Insel Makholm liegt so weit im Norden, dass es nahezu unmöglich wäre, außerhalb des Sommers regelmäßig an den königlichen Hof zu reisen. Du weißt, ich will nicht als Verwalter irgendeiner Provinz enden, während meine Brüder hier am Hofe die Staatsgeschäfte regeln.“

So oft er dieses Gespräch mit seiner Mutter auch führte, er schien nur auf taube Ohren zu stoßen.

„Es ist nichts falsch daran, Verwalter eines Fürstentums zu sein und sich um das Wohlergehen der Leute dort zu kümmern“, hielt sie ihm entgegen. „Ich bin mir sicher, du wärst sehr gut darin.“

„Ich sagte dir, ich strebe nach mehr als einem solchen Leben.“ Arvids Knöchel fingen wieder an zu pochen, als er an Olafs Aussagen dachte. Er wusste sehr wohl, dass Nora nur das Beste für ihn wollte, doch die Ansicht seiner Mutter, was das Beste für Arvid wäre, unterschied sich stark von Arvids eigener Ansicht. „Mutter, was würdest du tun, wärst du Königin eines Weltreichs?“