Der Grashüpfermond - Andreas Collin - E-Book

Der Grashüpfermond E-Book

Andreas Collin

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Beschreibung

Schon bescheuert. Atarí Braun ist ein ganz normaler Junge aus dem Jahr 2097 und eigentlich möchte er nur seine Ruhe. Doch dann wird er ungewollt zum Androidenkiller. Als kurz darauf auch noch der Mond vom Himmel fallen soll, steckt Atarí richtig in der Klemme. Zum Glück trifft er auf Olivetta, die ihren verschollenen Onkel sucht. Zusammen versuchen sie zu retten, was zu retten ist. Aber was einmal geschehen ist, kann man nicht mehr ändern. Oder etwa doch?

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Seitenzahl: 219

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1. Herr Ende
2. Wie man einen Androiden tötet
3. Hilfe aus der Wildnis
4. FINIS LUNAE
5. Ein längst vergangenes Orakel
6. Ein Wiedersehen
7. Das wahrscheinlich beste Versteck der Welt
8. Der Nob’lp’eisträ’her
9. Rovers Geständnis
10. Drei gehörige Überraschungen
11. Das Tagebuch
12. Feuerfrei!
13. Es wird gefährlich
14. Hinter dem Schrank
15. Der Anfang

Der Grashüpfermond

© 2023 Andreas Collin

Satz, Layout und Covergestaltung: A. Collin

Verwendete Illustration: A. Collin

Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung nur nach ausdrücklicher Genehmigung durch den Autor

ISBN 978-3-944359-77-9

Andreas Collin

Der

Grashüpfermond

1. Herr Ende

Der Spätsommer 2097 war ungewöhnlich warm. SONORA, eine Art intelligenter und sprechender Supercomputer, hatte zwar die Sonnenwinde umgeleitet und für die Nacht Regenschauer und sogar ein paar kleinere Gewitterchen versprochen. Doch bislang war davon weit und breit nichts zu sehen. Keine Wolke trübte den Himmel. Die riesigen zweibeinigen Wachroboter am Schultor standen reglos in der flimmernden Hitze. Nahe der Aula, gleich neben der Ladestation für die Androidenlehrer, hing ein Schwarm Kolibridrohnen träge zwischen den Kronen der Schulpalmen. Die Fenster des Schulgebäudes, ein unansehnlicher Betonklotz aus dem letzten Jahrhundert, spiegelten die Strahlen der Mittagssonne. Es war heiß.

Die Luft im Klassenzimmer der 5b stand still. In ihren grau-weißen Uniformen sahen die Schüler umgekippten Mehlsäcken nicht unähnlich. Lustlos hingen sie über ihren PING-MUs (so hießen die altmodischen und äußerst unhandlichen Schulbuchmonitore). Gerade eben hatte Herr Ende, der Lehrer für praktische Planetenkunde, die gesamte Klasse zur Lektüre einer Comicgeschichte verdonnert. Darin wimmelte es von gewaltigen außerirdischen Raumkreuzern, alles verschluckenden schwarzen Löchern, eisigen Monden und weit, weit entfernten Galaxien. Die Schüler tauschten stumm verzweifelte Blicke. Um der Gerechtigkeit genüge zu tun, sollte man erwähnen, dass die Weltraumgeschichte nicht sooo übel war. Aber leider schaffen es Schulbücher auf geheimnisvolle Weise immer wieder, dass einem sogar die Reise zu unbekannten Welten vermiest wird.

Das Raumschiff unter dem Kommando von Kapitän D’Arc hatte die Nebel der Schöpfung hinter sich gelassen und nahm Kurs auf einen nicht verzeichneten Geisterplaneten. Doch Herr Ende zeigte kein Erbarmen. In der Mittagshitze verschwammen die Bilder und Buchstaben auf den Monitoren zu einem graugrünen Brei. Leise tickte die Klassenzimmeruhr. Tick tack. Tick tack. Herr Ende saß aufrecht an seinem Lehrerpult und korrigierte mit ernster Miene einen Stapel Klausuren. Von Zeit zu Zeit hob er seinen Kopf und ließ den Blick über seine Schüler wandern. Niemand wagte, sich zu rühren. Tick tack. Tick tack. Irgendwann hatte aber auch Herr Ende genug. Er seufzte kurz. Dann legte er seinen Korrektor aus der Hand.

„Für meinen Geschmack ist es hier entschieden zu warm!“, verkündete er und schritt zum Fenster.

„Ding Dong! Das Öffnen der Fenster während des Unterrichts ist aus Sicherheitsgründen untersagt. Ding Dong!“, erklang prompt die ewig freundliche Stimme SONORAs.

„Aber bei dieser Hitze kann doch kein Mensch normal denken!“, entgegnete Herr Ende entrüstet und entriegelte kurzerhand das Fenster.

Es dauerte nicht lange, bis sich SONORA wieder meldete.

„Ding Dong! Wettervorschläge können nur über die autorisierten Meldestellen eingereicht werden. Diene den Regeln, dann dienen die Regeln dir. Ding Dong!“

Augenblicklich schloss sich das Fenster wieder wie von Zauberhand. Stattdessen erklang eine sanfte Musik, die an Wellenrauschen erinnerte. Herr Ende schüttelte verständnislos den Kopf. Ein paar Schüler schauten grinsend auf. Aber ihr Lehrer machte nur ein müdes Gesicht und murmelte unwirsch:

„Ihr habt es gehört. Also, weiterlesen! Und bitte ohne Geplätscher!“

SONORAs Hintergrundmusik verstummte. Aus der hintersten Reihe erklang ein verhaltenes Stöhnen. Doch Herr Ende achtete nicht darauf. Nachdenklich kehrte er zurück an sein Lehrerpult.

Eigentlich mochten die Schüler Herrn Ende. Er war einer der letzten Menschenlehrer an der Schule. Und anders als die Androidenlehrer machte er nie jemanden zur Schnecke oder vergab fiese Noten, nur weil er es konnte. Auch die Stunde hatte im Grunde recht harmlos angefangen. Das von SONORA vorgegebene Thema lautete ‚Exotische Materie‘. Zu Beginn hatte Herr Ende einen Schüler aus dem Schulbuch vorlesen lassen.

„Exotische Ma...Materie nimmt, ähm, aufgrund ihrer ... negativen Energie eine besondere Stellung in der Kosmo...logie ein. Neben der Dunklen Ma...Materie und der Dunklen Energie gehört sie zu den rätselhaft..., ähm, rätselhaftesten Stoffen unseres Universums ...“, las ein Junge mit schwarzen, krausen Haaren.

An dieser Stelle wippten bereits einige Schüler gedankenverloren auf ihren Stühlen oder starrten sehnsüchtig aus dem Fenster, wo gerade eine andere Klasse Drohnenkunde auf dem Pausenhof hatte. Herr Ende wartete geduldig, bis alle ausgewippt hatten. Dann räusperte er sich zum ersten Mal an diesem Tag.

„Ich verstehe, meine Damen und Herren“, sagte er mit gespieltem Ernst, „Es ist Freitag Mittag. Vielleicht erlauben Sie mir trotzdem, Ihre ungeheure Neugier zu stillen!“

Aber niemand in der Klasse lachte. Herr Ende seufzte und erklärte:

„Exotische Materie hat die sonderbare Eigenschaft, alles abzustoßen, was ihr in den Weg kommt. Sogar die Zeit! Deshalb ist sie ein ernstzunehmender Kandidat für ... Zeitmaschinen!“

Ein paar Schüler gähnten herzhaft. Herr Ende ließ sich nicht beirren und erklärte, dass Exotische Materie niemals direkt zu sehen sei, da sie sich gewissermaßen rückwärts durch die Zeit bewege. Vorzugsweise reichere sie sich in uralten Gegenständen an. Diese hätten dann die Fähigkeit, Zeitreisen zu ermöglichen! Hinter ihm erschien wie von Zauberhand ein Zeitstrahl auf der Tafel.

„Solch ein Objekt bezeichnet man als Portikus. Er funktioniert wie ein Tunnel. Allerdings nicht zwischen zwei Orten, sondern zwischen zwei Zeitpunkten. Betritt oder berührt man einen Portikus, reist man eine bestimmte Zeit in die Vergangenheit. Um zurückzukehren betritt oder berührt man den Portikus erneut und landet ziemlich exakt an dem Zeitpunkt, von dem aus man gestartet ist.“

Hinter ihm hüpfte ein kleines Strichmännchen auf dem Zeitstrahl umher. Herr Ende hielt inne. Das Strichmännchen erstarrte. Ein paar Schüler nickten geistesabwesend.

„Vielleicht fragt ihr euch jetzt, warum wir dann nicht alle in den Ferien eine Zeitreise unternehmen.“

Aufmunternd schaute er sich um. Doch niemand schien sich diese Frage zu stellen. Herr Ende nickte nur und an der Tafel erschien das Wort ZEITREISEGESETZ.

„Nun, das hat damit zu tun, dass Zeitreisen äußerst gefährlich sein können. Unter allen Umständen gilt nämlich das Zeitreisegesetz. Es besagt, dass man als Zeitreisender in die Vergangenheit niemandem die Zukunft enthüllen darf! Wenn man gegen dieses Gesetz verstößt, verändert sich unsere Gegenwart. Schlimmstenfalls hört man auf zu existieren. Man verschwindet. Stück für Stück und auf ziemlich gruselige Art!“

Das Strichmännchen an der Tafel röchelte dramatisch und fasste sich an den Hals. Dann taumelte es und fiel leblos hin. In der hintersten Reihe tuschelten einige Schüler mit gebeugten Köpfen. Herr Ende räusperte sich zum zweiten Mal an diesem Tag. Diesmal schon etwas lauter. Das Tuscheln erstarb und die Schüler setzten sich gerade. Herr Ende wischte über sein PING-Mu und ein weiteres Wort erschien auf der Tafel: ZEITRISS.

„Doch es gibt noch mehr Gefahren im Zusammenhang mit Exotischer Materie und Zeitreisen. Stellt euch vor, jemand reist aus der Vergangenheit in unsere Zeit. Was er aber hier vorfindet, gefällt ihm nicht. Und so beschließt er, zurückzureisen und die Zukunft zu verändern. Die Folge für ihn selbst wären harmlos. Doch wir bekämen es mit einem Zeitriss zu tun. Wissenschaftler haben berechnet, dass die meisten Menschen auf der Stelle alles vergessen würden, was sie bislang erlebt hätten. Ausgenommen sind übrigens Kinder bis zum 13. Lebensjahr. Seltsam nicht wahr?“

Doch offenbar fanden alle Schüler das normal. An der Tafel hatte das Strichmännchen derweil den Zeitstrahl mit einer gewaltigen Schere abgeschnitten und kramte nun in einer unsichtbaren Tasche. Herr Ende fuhr mit seiner Erläuterung fort:

„Zweifelsfrei nachgewiesen wurde Exotische Materie schon in einem antiken Nachttopf, in einer Hängematte und in einer Kuckucksuhr. Aufgrund ihrer Kräfte werden diese Portikusse natürlich streng geheim gehalten! Nicht auszudenken, wenn sie in falsche Hände gerieten!“

Er machte eine Pause und wartete, bis das Strichmännchen alle Gegenstände in seiner Tasche gefunden und warnend präsentiert hatte. Dann wischte er es samt Zeitstrahl zur Seite und fragte, in welche Zeit die Klasse am liebsten einmal reisen würde. Die Stille zog sich wie Kaugummi. Endlich meldete sich ein pummeliger Junge aus der dritten Reihe.

„Ich weiß es nicht, Herr Ende. Aber Toschiba hat gerade gesagt, er habe gestern ein Schwarzes Loch gesehen!“

„Soso, Toschiba hat gestern also ein Schwarzes Loch gesehen.“

Herr Ende seufzte und setzte ein mitleidiges Gesicht auf.

„Ja! Es wohnt in der Toilette!“, rief Toschiba aus der letzten Reihe.

„Guck noch mal nach. Das ist kein Schwarzes Loch. Schwarze Löcher stinken nämlich nicht so eklig!“, feixte ein anderer Schüler und warf Toschiba einen Sonor-Ex - das war eine Art Radiergummi - an den Kopf.

Die ganze Klasse brach in Gelächter aus. Kurz darauf hatte jeder das dringende Bedürfnis, etwas ähnlich Gescheites über schwarze Löcher und Toiletten kundzutun. Herr Ende holte tief Luft. Eine Weile hörte er dem Treiben zu. Dann aber wurde es ihm doch zu bunt. Er räusperte sich zum dritten Mal an diesem Tag – diesmal sehr laut. Kurze Zeit später hing die ganze Klasse wie begossene Pudel über ihren aufgeklappten PING-MUs und folgte den lehrreichen Fahrten von Kapitän D’Arc und seiner Crew.

Tick tack. Tick tack. Die Klassenzimmeruhr tickte leise und unbarmherzig vor sich hin. Kapitän D’Arc hatte den Geisterplaneten noch immer nicht gefunden. Zäh wie Kleister tropften die Minuten. Einige Schüler warfen sich verstohlene Blicke zu. Der Unterricht war bald vorbei. Und bis jetzt hatte ihr Lehrer keine Hausaufgaben an die Tafel projiziert! Jemand musste ihn ablenken!

„Herr En-de!“

Ein sommersprossiger Schüler meldete sich und setzte ein ungemein interessiertes Gesicht auf. Herr Ende schaute auf und legte seinen Korrektor zur Seite.

„Ähm, ich würde gerne mehr wissen über ...“ Der Blick des Jungen fiel auf ein altes, krisseliges Mondhologramm an der Wand hinter dem Lehrerpult, „über den Mond!“

Herr Ende nickte. Kapitän D’Arc war wirklich lange genug durch das Weltall geirrt. Außerdem hatte er keine Lust mehr, verärgert über die Klasse zu sein.

„Soso, der Mond. Was genau möchtest du wissen, Seti?“

Seti warf einen raschen Blick auf die Klassenzimmeruhr. „Ähm, stimmt es, dass niemand den Mond betreten darf?“

Herr Ende wiegte den Kopf hin und her.

„Das ist richtig. Allerdings war das nicht immer so. In früheren Zeiten gab es durchaus Menschen auf dem Mond. Unsere Vorfahren besuchten den Erdtrabanten schon vor über einhundertfünfzig Jahren. Sie nannten es die Apollo 11 Mission!“

Seti nickte geistesabwesend und blinzelte sicherheitshalber noch einmal in Richtung Klassenzimmeruhr. Der Minutenzeiger hatte sich kaum bewegt. Glücklicherweise war Herr Ende nicht fertig.

„Danach haben Menschen immer wieder den Mond besucht und Spuren hinterlassen. Etwa die Ruinen der Asteroidenfangflotte oder die Reste des Radioteleskops im Bezerra-Krater. Auf der dunklen Seite befinden sich übrigens die verlassenen Gold- und Diamantminen.“

Der Minutenzeiger hatte noch immer ein gutes Stück bis zum Ende der Stunde. Ein Mädchen aus der ersten Reihe kam Seti zur Hilfe.

„Meine Eltern sagen, das wäre gelogen. Ohne SONORA hätten man all das gar nicht schaffen können!“, wandte sie spitzfindig ein.

Herr Ende nickte.

„Das glauben viele Menschen, Milka. Und natürlich hatten die Ingenieure damals Unterstützung durch Roboter und Maschinen. Doch ...“, er hielt kurz inne, „es brauchte noch etwas, um zum Mond zu reisen. Etwas, das auch ein Supercomputer nicht berechnen kann!“

Er trat vor das Lehrerpult und zählte nacheinander die Finger seiner rechten Hand ab.

„Man benötigt Mut, Neugierde und ... Geschichten!“

„Hä?“

Milka und die anderen starrten ihren Lehrer verwundert an. Manchmal war es wirklich schwierig, zu entscheiden, ob er sie zum Besten hielt. Doch diesmal lächelte Herr Ende nicht.

„Geschichten können die Welt verändern! Jahrhundertelang haben sich die Menschen alles Mögliche über den Mond erzählt“, fuhr er fort, „bis eines Tages ein paar Wagemutige aufgebrochen sind. Kennst du vielleicht eine Geschichte über den Mond?“

Milka schüttelte verwirrt den Kopf.

„Warum dürfen wir jetzt nicht mehr dorthin?“, erkundigte sich ein anderer Junge mit schwarzen Locken.

Herr Ende spitzte nachdenklich die Lippen. „Das hat mit den Mondkriegen zu tun ...“

„Was sind Kriege?“, unterbrach ihn ein anderes Mädchen.

Herr Ende hielt kurz inne.

„Es gab Streit, wem der Mond gehört, Nintenda“, erklärte er geduldig, „Zum Schluss einigten sich die Menschen, SONORA die Geschicke unseres Planeten zu überlassen. Eine ihrer ersten Entscheidungen war es, den Mond zu einer verbotenen Zonen zu erklären.“

Ein paar Schüler zeigten betroffene Gesichter. Doch die meisten blinzelten weiter in Richtung Klassenzimmeruhr. Ein anderes Mädchen mit pinkfarbenen Zöpfen und verträumten Augen meldete sich.

„Ich würde so gerne einmal zum Mond reisen! Das muss wunderbar sein!“

Herr Ende schaute kurz auf die Uhr und nickte ernst.

„Das verstehe ich sehr gut, Chanela. Meine erste Mondreise war sehr aufregend. Damals plante ich sogar, eines schönen Tages dort zu wohnen! Denkt nur mal! Ich müsste nie wieder vor einer unaufmerksamen und lärmenden Schar Kinder sitzen!“

Wie gesagt, manchmal wurde man nicht recht schlau aus Herrn Ende. Die Klasse sah ihn verblüfft an.

„SIE waren auf dem MOND?“

Herr Ende nickte gedankenversunken.

„Eine abenteuerliche Reise. Sie begann mit einem Schneesturm, hoch oben in den weißen Bergen. Ihr wisst doch, was Schnee ist? Nun, es war uns gelungen, eine Phiole mit ...“

Er überlegte einen Augenblick. Dann fiel es ihm ein.

„... Exotischer Materie aus den Geheimlaboren tief im Inneren der weißen Bergen zu entwenden. Die Verfolger hatten wir in dem weitläufigen Tunnelsystem abgehängt. Doch dann machte uns der tosende Sturm einen Strich durch die Rechnung. Unser Raumkreuzer der Sega-Klasse war nicht an der verabredeten Stelle!“

Er hatte langsam und geheimnisvoll gesprochen. Die Klassenzimmeruhr, die Bildergeschichte und die drohenden Hausaufgaben waren vergessen. Alle Schüler starrten gebannt auf ihren Lehrer. Herr Ende überlegte kurz, dann fuhr er fort:

„Wir warteten geduckt hinter einer Schneeverwehung. Die Kälte kroch uns in die Knochen. Fast hätten wir aufgegeben. Glücklicherweise entdeckte ich zwischen den eisigen Böen das Blinken der Navigationslichter. Der Pilot hatte es durch den Sturm geschafft. Bald darauf erklommen wir die Leiter, die aus dem Inneren des Raumkreuzers herabgelassen wurde. Unsere Reise zum Mond hatte begonnen!“

Zufrieden lehnte sich Herr Ende zurück.

„Wollten Sie sich auf dem Mond verstecken?“, fragte aufgeregt ein Junge mit glattem, kastanienbraunem Haar.

Herr Ende nickte bedächtig.

„Sehr richtig, Atarí. Auf den Mond konnten uns unsere Feinde nicht folgen. Ich wusste aus Erzählungen von einer verlassenen Raumstation am Rande des Meeres der stillen Gefahren. Aber dort war eine Landung unmöglich. ‚Zu gefährlich!‘, sagte der Pilot. Stattdessen setzte er uns am Eingang zum Tal des Todes ab ...“

„Das Tal des Todes!“, hauchte jemand in der letzten Reihe. Niemand lachte.

„Wir marschierten einen ganzen Mondtag. Über unseren Helmen das schwarze Weltall und um uns herum nichts als gräulich-weiße Gebirge. Wir hatten es beinahe geschafft. Die Kameraden waren schon in einer ausgelassenen Stimmung und achteten nicht mehr auf die Gefahren, die uns umgaben. Da hörte ich über den Kopfhörer ein leises Knacken und Knirschen. Es kam immer näher und mein Freund, der mit der Phiole in der Hand direkt vor mir marschierte ... “

„Ding Dong! Der Unterricht ist für heute beendet. Ich wünsche allen Schülern ein angenehmes Wochenende. Ding Dong!“

Das war wieder die ewig freundliche Stimme. Verdutzt schauten die Kinder auf.

„Wie ging es weiter? Was ist passiert?“, riefen sie aufgeregt durcheinander.

Herr Ende schüttelte den Kopf.

„Das werdet ihr nächste Woche erfahren. Und bis dahin ...“, er zwinkerte, „möchte ich, dass ihr euch als Hausaufgabe ein eigenes Mondabenteuer ausdenkt. Ihr könnt schreiben, soviel ihr möchtet. Hauptsache, es ist spannend. Viel Spaß!“

Aus den anderen Klassenzimmern strömten Scharen von Schülern lärmend und feixend auf die Flure und über den Schulhof, vorbei an der Ladestation für Androidenlehrer und den stummen, zweibeinigen Wachrobotern. Nur aus der 5b tröpfelte es langsam und ziemlich wortkarg. Herr Ende beruhigte indes noch zwei furchtbar aufgeregte Mädchen und versicherte ihnen, dass sie selbstverständlich auch zusammen ein Mondabenteuer schreiben durften. Dann packte er seine Tasche und verließ als Letzter den Raum.

2. Wie man einen Androiden tötet

„Also dann. Zuerst braucht man einen Namen. Wie wäre es mit ...“

Atarí, ein Junge von vielleicht zwölf Jahren, saß im Schneidersitz auf dem Fußboden. Sein Zimmer war ein wohliges Durcheinander. Modellraumschiffe kreisten unter der Decke. Eine Schar überaus lebendig wirkender Spielfiguren spielte Fangen auf dem zugemüllten Schreibtisch und versuchte, sich gegenseitig herunterzuschubsen. Aufgerissene Dropstüten und Klamotten lagen verteilt auf dem Boden. Hochkonzentriert presste Atarí die Lippen aufeinander.

„Die Mondbestie“, diktierte er mit düsterer Stimme.

Wie von Geisterhand blubberten Buchstaben unter dem bläulich schimmernden Glas seines MODs und verschmolzen zu klaren, weißen Wörtern. Nachdenklich betrachtete Atarí den flachen Monitor. Dann schnalzte er kurzentschlossen mit den Fingern. Die Schriftzeichen verschwanden. Stattdessen kam ein lächelndes Strich-Punkt-Gesicht zum Vorschein.

„Die Rache der vermoderten Mondmumie“, versuchte es Atarí erneut.

Das Gesicht verblasste und wieder tauchten Buchstaben auf. Atarí überflog das Geschriebene und schüttelte den Kopf. Nein, zu lang! Abenteuer waren wohl nicht seine Sache. Tatsächlich gehörte Atarí eher zu der Sorte von Kindern, die sich stundenlang in ihrem Zimmer beschäftigen konnten, ohne dass ihre Eltern nur den Hauch einer Ahnung hatten, was sie dort eigent-lich trieben. Und Hausaufgaben für die Schule zu machen, gehörte definitiv nicht dazu.

„SONORA! Ich brauche einen Namen für ein Abenteuer auf ... ach, schon gut!“

Atarí tippte auf seinen Lokator. Das war ein weißes Armband. Blöderweise konnte man es nicht ausziehen. Jedem Kind wurde so etwas ab dem siebten Jahr angelegt. Zum Glück gab es eine große Party mit Geschenken, sobald man diese Prozedur hinter sich hatte. Einmal war Atarís Lokator beim Spielen kaputt gegangen. Nichts Schlimmes, aber trotzdem hatte er drei Tage im Krankenhaus verbringen müssen.

„Ding! Dong! Hausaufgaben helfen dir, das Gelernte zu vertiefen und eine Routine für die Arbeit zu finden. Aus diesem Grund solltest du deine Hausaufgaben stets alleine machen. Ding! Dong!“

Atarí winkte ab. Sein Blick fiel auf eine besonders gruselige Spielfigur, die sich gerade mit einem Stift bewaffnete. „Blutmond“ Ja, das war gut. Sehr gut sogar! Zufrieden mit dem Geleisteten warf er den MOD auf das Bett und schwang sich empor. Draußen hatte es dank SONORA endlich zu regnen begonnen. Lange Tropfennasen krochen und schlitterten die Scheibe hinab. Hier, vom 67. Stock aus, schien es, als sei die ganze Stadt in trübgraue Wolken gehüllt. An einem Ausflug zum Schrottplatz war nicht zu denken. ‚Keine Chance, wenn es heute Nachmittag wirklich regnet!‘, hatte Seti, sein bester Freund und das einzige weitere Mitglied im archäologischen Club der Alienforscher, ihn schon resigniert in der Schule gewarnt, ‚Meine Mutter hat definitiv ein Regenproblem. Die lässt mich nicht raus.‘

Atarí schnippte mit den Fingern. Eine goldene Kugel kam surrend aus einer Zimmerecke angeflogen. Geschickt griff er sie aus der Luft.

„Meister Atarí! Sie müssen noch Ihre Hausaufgaben machen! Das haben Sie Ihren Eltern versprochen. Erinnern Sie sich an Ihr Versprechen?“, rief eine aufgeregte, blecherne Stimme von irgendwoher aus der Wohnung.

„Mhm“

Atarí nahm die Kugel und warf sie gegen die gegenüberliegende Wand, von der sie, ohne sie zu berühren, sanft abprallte, und fing sie wieder auf.

„Meister Atarí?“, erklang die blecherne Stimme erneut. Die Zimmertür glitt mit einem leisen Zischen zur Seite.

„Ja?“, stöhnte Atarí.

„Denken Sie bitte an die Hausaufgabe für Praktische Kosmologie, die Sie bis Montag fertig schreiben müssen!“

Die Stimme gehörte zu einem strahlend weißen, ein wenig zu lang geratenen Androiden. Aufgeregt wippte er im Türrahmen hin und her. Seine Kameralinsen wanderten über das Durcheinander auf dem Fußboden.

„Gewiss haben Sie schon angefangen. Ich möchte nur sicherstellen, dass Sie Ihre Zeit gut einteilen ... Haben Sie sich für einen Anfang entschieden?“, erkundigte er sich höflich.

„Jaja, ich habe schon eine Idee ...“, erwiderte Atarí mürrisch.

„Aha! Eine Idee! Das ist eine vortreffliche Vorgehensweise!“

Atarí antwortete nicht. Die Degravitationskugel hatte er auf dem Schrottplatz gefunden. Offenbar hatte sie aber einen Defekt. Jetzt zum Beispiel hüpfte sie wirr unter der Zimmerdecke und reagierte nicht auf sein Schnipsen.

Der Androide verharrte in der Tür.

„Was ist denn noch?“

Atarí klang gereizt.

„Oh, bitte verzeihen Sie vielmals, Meister Atarí, es ist nur ... ich bin mir sicher, dass Ihnen gewiss eine Menge einfallen wird. Und vielleicht können Sie Ihre Idee, wenn sie dann mal eine Geschichte geworden ist, Ihren Eltern vorlesen? Vielleicht haben Sie bereits schon einen kleinen ... Entwurf geschrieben?“

Atarí verdrehte die Augen. Der Androide konnte einem gehörig auf die Nerven gehen. Und seine Eltern würden sowieso erst am Abend von der Arbeit kommen. Bis dahin war also noch viel Zeit.

„Meister Atarí?“, hakte der Androide nach.

„Die Geschichte ist fast fertig, Long John.“

„Oh! Das ist ja toll! Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich einen kurzen Blick darauf werfe?“, erkundigte sich Long John.

„Ich sagte doch, sie ist FAST fertig. Ich brauche nur noch ein wenig Zeit ...“, antwortete Atarí unwirsch.

Er schloss die Augen und hoffte, Long John würde sich in Luft auflösen. Aber Herr und Frau Braun, Atarís Eltern, hatten sich nicht umsonst nach langem Suchen für genau dieses Modell entschieden. Dessen Hersteller, die Tripod & Co Ltd., hatte den Androiden nicht nur als umwerfend günstig, sondern auch als außergewöhnlich gewissenhaft, ordnungsliebend und bei Bedarf verständnisvoll belehrend beworben. Also genau das, was Eltern benötigten, wenn sie bis spät abends im Museum für ausgestorbene Computerviren arbeiteten und nur wenig Zeit für ihren Sohn hatten. Atarí erinnerte sich gut an den Tag, an dem sein Vater in einer feierlichen Zeremonie die Kiste mit dem in Folie eingeschweißten Androiden geöffnet hatte. Sein vollständiger Name war Long John Silver AT-09, ein ‚toller Kamerad für die spannenden Abenteuer Ihres Nachwuchs‘. Wie die meisten Kinder hatte Atarí keine Geschwister. Anfangs hatte er sich daher tatsächlich über den neuen Spielgefährten gefreut. Er hatte ihn sogar einmal zu ihrer Ausgrabungsstätte hinter den Schrottplatz mitgebracht. Aber nachdem Long John eine Sicherheitswarnung nach der anderen von sich gegeben und zudem die Existenz außerirdischer archäologischer Artefakte bezweifelt hatte, fand Seti, Atarí sollte seinen Androiden besser zuhause lassen.

„Selbstverständlich, Meister Atarí, das verstehe ich sehr gut. Aber ich habe den Auftrag, Sie an Ihre Pflichten zu erinnern und kann deshalb leider nicht ...“

Atarí setzte zu einer unwirschen Antwort an, als ihm plötzlich eine Idee kam. Eine ziemlich gute Idee sogar. Langsam drehte er sich um.

„Das verstehe ich, Long John. Und du machst das wirklich sehr gut!“

Geschmeichelt wippte der Androide hin und her.

„Erinnerst du dich noch an den alten Mondglobus?“, fuhr Atarí betont sachlich fort, „Ich habe ihn den ganzen Nachmittag über gesucht!“

Long John hörte augenblicklich auf, zu wippen. Immer wenn jemand in der Familie etwas suchte, war es Long John, der Rat wusste. Seine Leuchtdioden blinkten vor Begeisterung.

„Der alte Mondglobus Ihres Großvaters? Natürlich, Meister Atarí! Er befindet sich in der Rumpelkammer!“

„Ach, wirklich?“, gab sich Atarí erstaunt und setzte ein mög-lichst interessiertes Gesicht auf.

Die Androidenmodelle der Tripod & Co Ltd. waren zwar gewissenhaft, standfest und zuweilen recht oberlehrerhaft, aber ansonsten leider auch ein wenig nachlässig programmiert. Wahrscheinlich waren sie deshalb so umwerfend günstig. Long John jedenfalls schien nichts zu bemerken.

„Ganz genau!“, rief er erfreut, „Der Globus steht auf dem Regal, gleich neben dem ausrangierten Toaster!“

„Oh!“, Atarí klang erleichtert, „Ich frage mich, ob du ihn mir holen könntest?“

„Selbstverständlich!“

Long Johns Gelenke strafften sich und er drehte sich auf dem Absatz um. Atarí wartete einen Augenblick und lauschte, bis er das vertraute Zischen der Tür zur Rumpelkammer hörte. Dann stürmte er los. Er hastete über den Flur, und ehe Long John sich versah, schloss Atarí hinter ihm die Tür und drückte auf den Verriegelungsknopf.

„So“, erklärte er zufrieden, „Das wäre erledigt!“

Er wartete einen Moment, doch aus dem Schrank kam keine Antwort.

„Long John?“

Atarí lauschte mit angehaltenem Atem.

„Ja, Meister Atarí. Ich habe den Mondglobus gefunden.“

„Das ist gut. Sehr gut. Aber ... ich brauche ihn wohl doch nicht mehr. Ich, ähm, gehe jetzt wieder in mein Zimmer!“

Atarí wartete einen Moment. Long John blieb stumm. Schließ-lich drehte sich Atarí um und schlenderte langsam zurück über den Flur.

„Meister Atarí?“

Atarí lugte aus seinem Zimmer. Long Johns Stimme klang dumpf aus der engen Kammer.

„Was ist Long John?“

„Denken Sie an Ihre Hausaufgaben?“

„Natürlich, Long John!“, antwortete Atarí leichthin, „Mach dir keine Sorgen!“

„Es ist nur ... Ihre Eltern hatten mich beauftragt, Sie zu erinnern und ...“

„Ich weiß Long John, das hast du ja bereits getan! Ist sonst noch etwas?“

Es dauerte einen Moment, bis Long John reagierte.

„Aber werden Sie den Aufsatz auch schreiben? Solange ich hier in eingesperrt bin, kann ich Sie leider nicht kontrollieren!“

Das stellte in der Tat ein Dilemma für Long John dar. Zum einen war er programmiert, jeden Arbeitsauftrag umgehend auszuführen. Da er wie alle Androiden ungeheure Kraft besaß, wäre es ihm ein Leichtes, sich aus seiner misslichen Lage in der kleinen Kammer zu befreien. Doch er hatte ebenfalls den strikten Order, nichts (und niemanden) kaputt zu machen.

„Ich verstehe“, rief Atarí und konnte sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen, „Aber ich glaube, so ist es besser!“

Er ließ die Tür zu seinem Kinderzimmer offen stehen.

„Meister Atarí?“, rief Long John mit jämmerlicher Stimme, „Ihre Eltern werden bestimmt sehr zornig werden, wenn sie mich hier finden. Und Sie erinnern sich doch gewiss noch an das letzte Mal. Da durften Sie eine ganze Woche nicht mit ihrem Hoverboard nach draußen!“

In seinem Kinderzimmer versuchte Atarí vom Bett aus, die Kugel von der Decke zu holen. Der Androide hatte recht. Wenn es um Hausaufgaben für Praktische Kosmologie ging, verstanden seine Eltern keinen Spaß. Nach ein, zwei weiteren erfolglosen Versuchen kehrte er deshalb zurück in den Flur.

„Was hältst du davon, wenn wir meine Hausaufgaben zusammen machen?“, fragte er durch die Kammertür, „Dann könnte ich dich auch wieder herauslassen!“

„Aber Meister Atarí“, antwortete Long John mit kläglicher Stimme, „Sie wissen doch, dass ich Ihnen nicht bei den Hausaufgaben helfen darf!“

Das stimmte. Wie die meisten Hausandroiden war Long John mit einer strengen Hausaufgabensperre versehen.

„Ich werde es niemandem verraten. Im Übrigen sollst du ja auch nichts schreiben. Nur ein wenig helfen. Ich benötige lediglich etwas, ähm, Anregung!“

Hinter der Kammer blieb es still.

„Long John?“

Einmal abgesehen davon, dass jeder vernünftige Lehrer es sofort bemerken würde, wenn ein Androide anstelle eines Schülers eine Hausaufgabe formulierte, schien die Tripod & Co Ltd. in Long Johns Fall auch bei der Hausaufgabensperre ein wenig sorglos gewesen zu sein. Ein wehleidiges Fiepen drang hinter der Tür hervor. Im Geiste konnte Atarí die grünen Leuchtdioden des Androiden blinken sehen.

„Und Sie verraten ganz bestimmt niemandem davon?“

Long Johns Stimme klang gequält.

„Natürlich nicht!“, rief Atarí erfreut, „einen Moment, ich hole nur etwas zum Schreiben!“

Er drehte sich um und kam kurz darauf mit dem blauen MOD in der Hand zurück. Hastig setzte er sich vor der Rumpelkammer auf den Boden.

„Es kann losgehen!“, rief er außer Atem.

Hinter der Tür erklang ein dumpfes Poltern.

„Long John?“

„Ja, Meister Atarí, was möchten Sie wissen?“

„Alles, was für ein Mondabenteuer wichtig ist!“