Der größte Verrat - Ditmar Doerner - E-Book

Der größte Verrat E-Book

Ditmar Doerner

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Beschreibung

Das Archiv der Universität Bonn birgt seit langer Zeit ein dunkles Geheimnis, dem der britische Student Archie Grant auf die Spur kommt. Eines Tages ist er nach einer Weihnachtsfeier spurlos verschwunden. Seine drei besten Freunde machen sich auf die Suche nach ihm und entdecken eine lange unentdeckt gebliebene Verschwörung. Irgendjemand versucht dieses Geheimnis bis in die Gegenwart zu verteidigen ... bis hin zum Mord.

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Über den Autor

Ditmar Doerner arbeitet als Autor für den WDR und hat bereits mehrere Kriminalromane veröffentlicht, unter anderem »Schneefeste« und »Bonn Underground«. Er hat an der Universität Bonn Germanistik und Soziologie studiert, bevor er bei RTL, dem Bundespresseamt und Radio Bonn/Rhein-Sieg erste journalistische Erfahrungen sammelte. Doerner lebt mit seiner Familie in Bornheim. Weitere Infos unter:

www.Ditmar-Doerner.de

Die meisten Personen in »Der größte Verrat« gibt es wirklich. Vor allem für sie ist dieses Buch.

Heute

In jenen Tagen gab es nur wenige Augenblicke, in denen wir nicht grübelten oder hofften. Es waren die Momente kurz nach dem Aufwachen. Sekunden bloß, ehe uns die Wirklichkeit einholte und erneut in Unsicherheit und Angst versetzte. Trotzdem fühlten wir uns frei. Vielleicht weil wir jung waren und die Zukunft unendlich schien.

Das ist lange her. Nun ist es Zeit, das aufzuschreiben, was damals geschah. So wie wir es erlebt haben. Möglicherweise hilft es, mit den Dingen abzuschließen. Obwohl ich das mehr hoffe als glaube. Aber es ist trotzdem gut und wichtig, sich noch einmal alles in Erinnerung zu rufen. Es soll wohl so sein. Ich vermag es noch nicht zu beurteilen.

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Dezember 1991

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Zweiter Teil

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Dritter Teil

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Erster Teil

Dezember 1991

Auftakt

Wir hatten uns an der Universität kennengelernt: Moritz, Jonas, Archie und ich. Genauer gesagt in einem jener kleinen, alten Studentenwohnheime, wie es sie heute wohl nicht mehr gibt. Kaum länger und größer als ein Dreifamilienhaus, aus grauen Steinen zusammengetragen, die Brocken gesprengt aus dem versteckt liegenden Steinbruch nur wenige Kilometer entfernt. Der alte Steinbruch war auch damals schon lange stillgelegt, er diente den Kindern nur noch zum Klettern und Verstecken spielen. Und den Jugendlichen als Treffpunkt für ihre ersten Rendezvous.

Das Wohnheim besaß auf drei Etagen jeweils acht kleine Zimmer, zugig kalt mit dünnen Wänden, schiefen Decken und weiß gepinselten Holzfensterchen. Dazu je eine Etagenküche, eine Dusche oder Badewanne und jeweils ein WC für Männer und Frauen. Im Keller des Hauses gab es neben den dunklen, feuchten Räumen, in denen die Waschmaschinen standen und die gespannten Wäscheleinen gezogen waren, auch einen Fernsehraum, vollgestellt mit ausrangierten Sofas, alle auf einen alten Loewe-Röhrenfernseher ausgerichtet. Dort hielten wir uns aber nur selten auf. Niemand hatte Lust, seine Zeit vor dem Bildschirm zu vertrödeln.

Das Studentenheim war unser erstes Zuhause, nachdem wir die Schule und das Elternhaus verlassen hatten. Spartanisch zwar, aber es genügte unseren Ansprüchen vollkommen. Eigentümer war der Herz-Jesu-Orden. Die Franziskaner hatten das Gelände am Fuße des Ennertwalds im 19. Jahrhundert sehr günstig von einem wohlhabenden und gläubigen Kaufmann erworben und darauf zuerst ein Schwesternheim, dann ein Altenheim und schließlich noch ein Studentenheim errichtet. Ursprünglich war dies nur den angehenden Theologen vorbehalten, aber diese Vorgabe weichten die Studenten ab den 1960er Jahren nach und nach auf: Zuerst wurde einem wohnungssuchenden Germanistikstudenten Aufenthalt gewährt, dann einem angehenden Physiker und schließlich einem Biologen. In den 1970ern besiedelten das Heim bereits Studenten aller Fakultäten, die Theologen waren rasch in der Minderzahl. Mit den 1980ern Jahren erhielten dann die ersten weiblichen Studenten die Erlaubnis, hier zur Miete zu wohnen. Natürlich auf einer separaten Etage – der obersten. Aber da die Kontrolle der Ordensschwestern und das Bestreben der Studenten und Studentinnen, sich zu vermischen, in einem klaren Missverhältnis zu Ungunsten des Ordens lagen, bestand auch diese Vorgabe bald nur noch auf dem Papier.

Unser Zuhause lag inmitten dieses dreigliedrigen Ordenskomplexes nahe dem Siebengebirge und dem Rhein; umgeben von einer gut zwei Meter hohen Steinmauer, die sich kraftvoll und schützend vor uns stellte.

Jonas, Moritz, Archie und ich waren alle zum selben Semester ins Herz-Jesu-Studentenheim gezogen. Damals kannten wir uns noch nicht, wir kamen aus unterschiedlichen Regionen des Landes. Auch in der Universität begegneten wir uns zuerst kaum, nur Moritz und ich hatten uns beide an der philosophischen Fakultät für Germanistik eingeschrieben. Archie dagegen studierte im Hauptfach Geschichte, Jonas Jura. Obwohl unsere Studienfächer unterschiedlich waren, fanden wir doch bald zueinander. Vielleicht, weil wir uns in unseren Ansichten und Plänen für die Zukunft ergänzten, vielleicht aber auch, weil wir bei dem anderen das fanden, was wir an uns selbst vermissten.

Zuerst begegneten wir uns meist zufällig in der Etagenküche unseres Studentenheimes. Nach und nach wurden diese Treffen dann zu mehr oder weniger festen Bestandteilen unseres Tages. Vor allem abends kamen wir dort zusammen. Jeder steuerte etwas zum gemeinsamen Abendessen bei: Brot, Käse, Wurst, Eier, Joghurt und – zu späterer Stunde: Bier, billigen Wein, Chips oder Salzstangen. Mit den anderen saßen wir manchmal zu zwölft in der kleinen, verqualmten Küche mit Blick auf den Park des Klostergeländes. Auf den wackligen, alten Holzstühlen und der Eckbank mit dem roten, fleckigen Kunstlederbezug fühlten wir uns heimisch. Die Luft war zum Schneiden, der Tisch vollgestellt mit Schüsseln, Tellern, Schalen und Gläsern, überquellenden Aschenbechern und Dutzenden Bier- und Weinflaschen. Die Lautstärke solcher Zusammenkünfte wurde mit zunehmender Dauer des Abends für all jene nervtötend, die es vorgezogen hatten, in ihren Zimmern zu bleiben. Aber deren Zahl blieb stets gering. Wir waren jung – und neugierig.

Moritz, Jonas, Archie und ich saßen häufiger als alle anderen in unserer kleinen Küche. Es zog uns dorthin, sie war unser Wohnzimmer. Zumindest bis zu dem Tag, an dem Archie verschwand.

Kapitel 1

Das alte Küchenfenster, dick mit Kondenswasser beschlagen, gab nur andeutungsweise unsere Silhouetten wieder. Das Glas wirkte wie ein blass gewordener Spiegel, der kaum mehr imstande war, auch nur einen kleinen Teil seines Gegenübers zu erkennen und zurückzuwerfen. Der Rauch unserer Marlboros, Camels und John Player Specials zog in dicken Schwaden in Richtung der fleckigen Küchendecke, aber niemand von uns wäre jemals auf den Gedanken gekommen, sich zu beschweren – auch wenn es Sportler unter uns gab wie Elmar. Er studierte Chemie und absolvierte viermal die Woche Querfeldeinläufe oben im Wald von mindestens einer Stunde. Trotzdem hatte er noch nie über den vielen ungesunden Qualm gemeckert. Das Rauchen abends in der Küche gehörte einfach dazu.

Ich saß am Kopfende des Tischs und stand nun doch auf, um das Fenster zu kippen. Die Öffnung zwischen Rahmen und Scheibe machte die tiefe Dunkelheit dieses Winterabends sichtbar. Kalte Luft waberte herein. Einzig die Laternen im Park warfen Kegel abnehmender Helligkeit in das Dunkel. Seit einer Stunde schneite es, und die herabfallenden Schneeflocken deckten den schmalen Weg zwischen dem Rasen und den Bäumen mehr und mehr zu.

Anfang Dezember fand traditionell unsere Weihnachtsfeier statt. Die Mädchen der Etage hatten den Küchentisch und die Holzkommode neben der Tür, in der wir unser Frühstücksgeschirr deponierten, mit goldenen Papiersternen, Tannenzweigen und Kerzen dekoriert. Die Deckenlampe war mit roten Servietten umhüllt. Wir mussten aufpassen, dass das Papier nicht Feuer fing, was wohl ein Jahr vorher passiert war, wie Archie uns vor ein paar Minuten – immer wieder unterbrochen von seinem hysterischen Lachen – erzählt hatte.

Archie! Er sah tatsächlich aus wie die Kopie des typischen Briten aus einer deutschen Fernsehkomödie: rötlich-braune Haare, ordentlich gescheitelt auf einem schmalen, etwas in die Länge gezogen wirkenden Kopf. Eine eckige, dunkle Hornbrille unterstrich sein akademisches Aussehen, dazu wählte er furchtbar bunte, meist grün-blaue oder rot-gelbe Pullover, die ihm seine Mutter oder Großmutter jeden Herbst strickten. Obwohl sie ihm an seinem schmalen, ja dürren Körper mit den knochigen Schultern bis zur Hüfte reichten, trug er jeden einzelnen von ihnen mit unübersehbarem Stolz. Archie sah aus wie eine Intelligenzbestie – und er war auch eine. In allen Seminaren, die er belegte, wurde er schnell zum Liebling der Professoren; einfach, weil er zum einen unglaublich klug und belesen war und zum anderen sehr bescheiden und wissbegierig.

In diesem Jahr konnte ich mich lange nicht entscheiden, ob ich überhaupt zu unserer Weihnachtsfeier kommen sollte: Seit Oktober hatte ich mit kaum jemandem im Haus – außer mit Jonas, Archie und Moritz – gesprochen. Das lag vor allem an Patricia, meiner ehemaligen Freundin.

Gut zwei Monate vorher, Ende September, hatte sie unsere knapp zweijährige Beziehung beendet, wovon ich mich immer noch nicht vollends erholt hatte. Patricia saß etwas mehr als einen Meter entfernt und unterhielt sich angeregt mit ihrem neuen Freund. Richard hieß er. Immer wieder legte er liebevoll seinen Arm um ihre Schulter. Mich schmerzte es, wenn ich die beiden so sah, aber ich wusste auch, dass ich das Ende meiner Freundschaft zu Patricia selbst verschuldet hatte. Aus Leichtsinn. Und Übermut.

Die Vorstellung, Patricia und Richard so miteinander zu sehen, hätte mich fast daran gehindert, bei der heutigen Feier dabei zu sein. Am Vormittag hatte ich versucht, mich mit zwei Pro-Seminaren zu »Auswirkungen des Sturm und Drang auf die Weimarer Klassik« und den »Folgen der Dependenzgrammatik auf den Sprachgebrauch des ausgehenden 20. Jahrhunderts« abzulenken. Bis zur Abenddämmerung hatte ich die beiden Vorlesungen nachgearbeitet, aber irgendwann musste ich einsehen, dass es keinen Sinn hatte, mich in meiner Neun-Quadratmeter-Kemenate mit Dachschräge einzuigeln und Trübsal zu blasen. Auch brachte es nicht viel, Blacks »Sweetest Smile« zum hundertsten Mal anzuhören, während durch die dünnen Wände das Lachen der anderen drang.

Nun stand ich neben dem gekippten Fenster und betrachtete meine Mitbewohner: Carlos, den schnauzbärtigen Portugiesen, der Latein studierte, aber sich – soweit wir das registrierten – die ersten vier Semester hauptsächlich auf die Kommilitoninnen seines Lehrfachs konzentriert hatte. Meist ohne großen Erfolg, wie wir beobachten mussten. Erst im Frühling hatten Moritz und ich ihm geholfen, einer seiner Angebeteten einen Maibaum zu setzen. Mit einer selbst geschlagenen Birke waren wir nachts über die Konrad-Adenauer-Brücke getrottet. Es war kalt gewesen und hatte geregnet, aber wir waren – jeder mit einer Büchse Bier in der Hand – immer weiter gezogen. Wir mussten den schweren Stamm fast vier Kilometer schleppen, weil Carlos Auserwählte in Bad Godesberg wohnte. Meine Schulter hatte dermaßen geschmerzt, dass ich sie auch noch Tage später kaum bewegen konnte. Vor dem Fenster seines Schwarms platzierten wir dann die Birke. Bei dem Lärm, den wir dabei veranstalteten, weil wir erstens betrunken und zweitens handwerklich ungeschickt waren, hätte sie uns auf jeden Fall bemerken müssen, aber ihr Fenster blieb geschlossen. Ich denke, sie wollte uns nicht hören. So zogen wir müde und enttäuscht wieder ab und erreichten erst in der Morgendämmerung unser Wohnheim. Auf dem Rückweg fluchte Carlos auf Portugiesisch vor sich hin. Später verlor er nie wieder ein Wort über unsere Aktion, und seine Angebetete war auch nie bei ihm im Zimmer. Das hätte ich bemerkt: Carlos wohnte mir gegenüber im obersten Flur. Ich bekam so ziemlich alles mit, was bei ihm vorging. Ob ich wollte oder nicht.

Neben Carlos saß Ute, die gerade die letzten Tomatenstücke und Salatblättchen aus einer großen Schüssel kratzte. Sie sorgte im Haus für unsere Gesundheit. Ute studierte Ökotrophologie und bei jeder gemeinsamen Mahlzeit philosophierte sie über den Nährwert unseres Essens. Dafür hatte sie extra an einem der Hochschränke über dem Spülbecken eine Lebensmitteltabelle aufgehängt, die von A wie Aal bis Z wie Zucchini reichte. So konnte jeder von uns genau ausrechnen, wie viele Kalorien er gerade zu sich nahm, wenn er ein Vollkornbrot mit Butter und einer Scheibe Schnittkäse aß. Oder eine große Portion Langnese-Eis. Ute war groß und schlank und brauchte sich keine Gedanken über Kalorien zu machen, trotzdem aß sie häufig nicht mehr als ein Kleinkind. Meist sah ich sie in der Küche nur mit einem Müsli am Tisch sitzen oder einer Salatgurke, die sie klein schnippelte und pfefferte.

Zwei Plätze weiter unterhielt sich Rosa mit Gaby, die Chemie studierte. Soweit ich mich erinnere, kam Gaby aus der Eifel, aus der Nähe von Gmünd. Optisch war sie das genaue Gegenteil von Ute, besaß einen kleinen und fülligen Körper, unter dem sie sehr litt. Im vergangenen Sommer waren Gaby und ich einmal ganz früh ins nur zwei Kilometer entfernte Ennert-Freibad geradelt. Sie machte das öfters, für mich blieb es an jenem Morgen das einzige Mal. Wir schwammen unsere Bahnen und kamen ins Gespräch. Sie erzählte mir, dass sie an einer Unterfunktion der Schilddrüse leide und dadurch, trotz aller Diäten, einfach nicht schlanker werde. Sie erwähnte das nebenher und scheinbar amüsiert, während wir uns am Beckenrand festhielten, in die gleißende Morgensonne blinzelten und den älteren Schwimmern auswichen, die mit weit gefächerten Armen auf dem Rücken liegend alles aus dem Weg räumten, was ihnen in die Quere kam. Bei den Bildern jenes Morgens, die heute noch in meinem Kopf sind, fehlt mir die Erinnerung, ob ich nur genickt oder versucht habe, ihr einen Rat zu geben. Aber welcher hätte das sein können? Wahrscheinlich habe ich gar nichts gesagt.

Gaby starb ungefähr zehn Jahre nach unserer Weihnachtsfeier. Sie war nach ihrer Promotion allein in die Schweiz gegangen, weil sie dort eine Stelle in einem großen Chemieunternehmen angeboten bekommen hatte. Sie wurde nicht einmal vierzig Jahre alt. Erfahren habe ich von ihrem Tod von einer anderen Freundin, die mich anrief, als ich gerade in Bonn mit dem Auto unterwegs zu einem beruflichen Termin fuhr. Sie weinte am Telefon und berichtete schluchzend, dass Gaby an Krebs gestorben sei. Dann fragte sie mich, ob ich zum Begräbnis in Gabys Heimatstadt, in Gmünd käme. Ich druckste herum und schob irgendetwas vor, das nicht stimmte, und wimmelte sie ab, was ich heute bereue. Manchmal frage ich mich, ob ich damals – während unserer gemeinsamen Zeit im Studentenheim – etwas für Gaby hätte tun können. Irgendetwas. Vielleicht an jenem Morgen, als wir zusammen mit dem Fahrrad ins Freibad gefahren waren und später am Beckenrand in die Morgensonne schauten. Vielleicht hätte ich ihr einfach Mut zusprechen sollen, ihr einen Arzt empfehlen, ihr sagen sollen, dass sie eine tolle Frau war. Und dass ihr Übergewicht daran absolut nichts änderte. Vielleicht hätte ich ihr helfen können. Nun war es zu spät.

Am Abend der Weihnachtsfeier verschwand Gaby gerade unter dem riesigen Arm von Rosa, die ebenfalls niemand als schlank bezeichnen würde. Und auch nicht als klein. Rosa war die größte Frau, die ich jemals gesehen habe: knapp einen Meter neunzig. Ihr Gewicht vermochte ich nicht zu schätzen, es war auch unwichtig. Rosa hatte keine Komplexe wegen ihrer Gestalt. Ebenso wie Archie war sie hochintelligent. Die beiden lieferten sich an den Wochenenden in der Küche legendäre »Trivial Pursuit«- Schlachten. Keine noch so schwierige Frage stellte die beiden vor ernste Probleme:

Archie: »Wie müssten Gymnasiasten in die Schule gehen, wenn sie das Wort Gymnasium wörtlich nähmen?« Rosa: »Nackt, von griechisch gymnoi«

Rosa: »Wann gab es erstmals zwei deutsche Mannschaften bei Olympischen Spielen?« Archie: »1968«

Archie: »Wodurch wurde Valentina Tereschkowa bekannt?« Rosa: »Sie war die erste Frau im All.«

So ging das häufig minutenlang. Einzig in der Rubrik »Sport und Vergnügen« konnte man Rosa beikommen und Archie zeigt im Bereich »Unterhaltung« kleine Schwächen. Aber üblicherweise hatten die beiden die sechs unterschiedlich farbigen Plastik-Tortenstückchen eingesammelt, ehe jemand von uns anderen bestenfalls mehr als eines besaß.

Alle saßen wir an jenem Abend in unserer verqualmten Küche, lachend, trinkend und überboten uns gegenseitig mit Anekdoten und Lautstärke. Es herrschte eine Ausgelassenheit und Unschuld, wie ich sie heute, als Erwachsener, vermisse. Wenn ich es recht bedenke, endete diese Stimmung genau damals. In jenen Tagen. Abrupter, als wir es jemals vermutet hätten.

Auf dem Tisch und am Ablaufbecken der Spüle tropfte Wachs von mehreren roten Kerzen auf Wicküler-Bierdeckel, die irgendjemand aus dem »Zebulon« an der Uni hatte mitgehen lassen. Im Hintergrund lief das Album »Vun drinne noh drusse« von BAP rauf und runter. Ich glaube, Elmar war so unvorsichtig gewesen, seinen Plattenspieler auf der Kommode neben der Tür zu platzieren und auch noch LPs mitzubringen.

Der ganze Raum war nicht nur erfüllt vom Rauch unserer Zigaretten, sondern ebenso vom Glühweinduft, der aus zweier silbernen Kesseln aufstieg. Die Kessel hatten wir auf dem alten Herd neben dem Fenster erhitzt und dann auf Stövchen gesetzt, um den Alkohol warm zu halten. Unsere Gesichter glänzten voller Vorfreude auf Weihnachten und auf ein neues, spannendes Jahr, das wir wie kleine Kinder unschuldig und arglos erwarteten.

Ich spürte Patricias Blick. Erst vorgestern war sie mir entgegengekommen. Eine dieser kurzen, unvermeidlichen Begegnungen auf dem spärlich beleuchteten Etagenflur. Sie hatte ihre Schritte verlangsamt und mich gegrüßt, begleitet von einem verlegenen Lächeln. Sie sah hübsch aus. Ihre großen, braunen Augen, ihre langen, gewellten Haare, ihre Figur, vor allem aber ihr Lächeln, das mich schon angezogen hatte, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, offen und warm. Damals war sie mir vor unserem Studentenheim begegnet. Sie hatte mich gefragt, ob das mein Motorrad sei, das vor dem Eingangstor stehe. Stolz hatte ich genickt, weil ich vermutete, sie sei beeindruckt. Aber ich holte mir nur die Ermahnung, dass »dieses Moped«, wie sie es nannte, den Zugang für die Altenheimbewohner erschwere.

Ich war doppelt getroffen: Zum einen imponierte ihr meine Suzuki GS 250 nicht, die selbstverständlich kein Moped war, sondern immerhin phantastische 19 PS besaß, zum anderen schien ich ihr keineswegs sympathisch zu sein. Erst als ich frech fragte, ob sie mir dabei helfen wolle, das Mofa wegzustellen, lächelte sie. Sie hatte das mit dem Moped also bewusst gesagt, um mich zu provozieren. Tja, so hatten wir uns kennengelernt.

Bei unserer gestrigen Begegnung auf dem Flur war es mir trotz eines riesigen Kloßes im Hals gelungen, ebenfalls zu grüßen. Dann war ich weitergeeilt.

Wenn ich Patricia nun neben Richard sitzen sah, blitzten ungewollt gemeinsame Erinnerungen auf. Ich dachte an unsere Kinobesuche: Julia-Roberts in »Pretty Woman«, an »Flatliners« und »Dying young« und Andie McDowell in »Cyrano von Bergerac.« Nach der Vorstellung hatten wir uns jedes Mal leidenschaftlich im Zuschauerraum geküsst, als wollten wir das fortsetzen, was gerade auf der Leinwand geendet hatte. Das war nun vorbei.

Archie hieß eigentlich Archibald Grant. Genau wie der amerikanische Filmschauspieler Cary Grant. Allerdings wollte er von Anfang an immer nur Archie genannt werden. »Archibald« höre sich zu vornehm an für einen wie ihn, hatte er gesagt, als wir einander vorstellten. Ich wusste nicht, was er damit meinte, aber so war es eben bei Archie geblieben.

Heute Abend saß er mit Klara an der anderen Tischseite auf der Eckbank, gegenüber von Rosa und Gaby.

Klara war eine Blondine mit nahezu hellblauen Augen, die mir manchmal unheimlich erschienen. Sie leuchteten intensiv und durchdringend, wenn sie einen direkt ansah. Ich fühlte mich häufig gehemmt, wenn ich mich mit ihr allein unterhielt, obwohl sie sehr nett war. Sie studierte zusammen mit Moritz und mir Germanistik. In den kommenden Tagen wollten Klara und ich gemeinsam für eine mündliche Zwischenprüfung lernen. Wir hatten beide das Seminar zur Literaturepoche des »Sturm und Drang« belegt. Da war es sinnvoll, sich mit jemandem auszutauschen, der sich mit der gleichen Primär- und Sekundärliteratur beschäftigte. Es gab immer Gedankengänge, auf die man selbst nicht kam. Oder es entstanden plötzlich Zusammenhänge, die man noch nicht bemerkt hatte. Trotzdem fürchtete ich mich bei der Vorstellung, mit Klara länger als eine Minute allein in meinem Zimmer zu sitzen. Ich fand sie nicht wirklich hübsch. Also im klassischen Sinne – so wie Jaqueline Bisset oder Kim Basinger. Aber sie war attraktiv und besaß eine gewaltige Ausstrahlung und man spürte ihre Kraft und ihren Willen. Anfangs hatte ich mich gefragt – und nicht nur ich –, wie Archie mit ihr zusammengekommen war. Vielleicht imponierte ihr Archies Intellekt, vielleicht sein Witz, vielleicht reizte sie auch einfach sein ungewöhnliches Aussehen. Denn ehrlich: Mit seinen dünnen Beinchen, dem Rotschopf und dazu noch den unmöglichen Pullovern fiel Archie natürlich überall auf.

Ich stieß mich vom Heizkörper ab und drängelte Archie, ein Stück zu rücken.

»Alles okay bei dir?«, fragte er. Mit einer silbernen Kelle schöpfte er Glühwein in einen Kaffeebecher mit einem Motiv von Uli Stein. Ein dicker Kater lag von Kopf bis Fuß eingegipst in einem Krankenhausbett, auf seinem Bein saß eine kleine Maus mit einem Blumenstrauß, die sagte: »Du siehst heute schon viel besser aus!«

»Denke schon.« Ich rieb mir über die Augen. Die Luft war zum Schneiden. »War die meiste Zeit in meinem Zimmer. Hatte zwei Seminare. Langweilig, aber okay.«

Archie hielt seinen Becher an meinen und wir prosteten uns zu.

»Ich kann mir nicht helfen, David, aber du siehst ganz und gar nicht so aus, als sei alles okay.« Er rückte ein Stück näher, so als müsse er mir etwas ganz Vertrauliches sagen. Unsere Schultern berührten sich. Heute trug er tatsächlich einen einfarbigen Pullover, dunkelgrün, beinahe moorfarben. Jedes Mal, wenn ich seine Kleidung betrachtete, fragte ich mich, ob seine Mutter oder Großmutter eigentlich farbenblind war.

»David«, raunte er. »Mal ehrlich: Wir sitzen hier seit einer Stunde und du siehst aus, als wären wir auf einer Bestattung.« Er lächelte auf seine zurückhaltende Art und zwinkerte mir gleichzeitig zu.

»Stimmt!« Vom Kopfende des Tisches hörte ich Patricias Lachen. »Ungefähr so komm ich mir auch vor.« Vorsichtig blies ich in den dampfenden Glühwein. Den aufsteigenden Duft von Zimt und Nelken verband ich mit Weihnachten, mit Geborgenheit und Frieden. Merkwürdig, welche Assoziationen Düfte auslösen. Die Temperatur des Glühweins war in Ordnung und so trank ich den ganzen Becher in einem Zug leer. Die Flüssigkeit strömte heiß meine Kehle hinunter und sammelte sich im Magen. Ich liebte dieses Gefühl. Wichtig war jetzt, erst mal ein bisschen lockerer zu werden. Auf Betriebstemperatur kommen. Dafür waren ein paar schnelle Gläser Glühwein genau das Richtige!

Wolfgang Niedecken sang von einem Mädchen und einer griechischen Insel. Ich schloss die Augen und versuchte, mich zu entspannen. In Griechenland war ich zuletzt vor sechs Jahren gewesen. Mit zwei Schulfreunden, die sich fast drei Wochen lang nur gestritten hatten. Übers Essen, übers Trinken, über den schönsten Strand, über die wirksamste Sonnencreme. Die beiden waren schlimmer gewesen als ein gereiztes Ehepaar. Einfach nervtötend, noch dazu, wenn man mit einem Drei-Mann-Zelt unterwegs war. Wir waren zuerst auf Ios gewesen, dann auf Naxos, zum Schluss wieder auf Ios. Am Ende war ich so entnervt, dass ich die beiden allein gelassen und auf einem Campingplatz nahe der »Kapelle der heiligen Irene« am Hafen von Ios übernachtet hatte. Trotzdem, jetzt in der Erinnerung, war der Urlaub doch schön gewesen.

Ich lehnte mich zurück, mein Kopf berührte die Küchenwand, ich schloss die Augen. Es gab nichts zu tun oder zu sagen. Ich musste nur locker und betrunken werden. Eigentlich ganz einfach. Vom Ende des Tisches vernahm ich wieder Patricias Stimme. Sie erzählte eine Geschichte. Ich verstand nicht alle Worte, so dass mir der Zusammenhang verwehrt blieb, aber ich merkte, dass sie absichtlich laut sprach, damit ich vielleicht doch einmal zu ihr schaute und sie beachtete. Obwohl das geheißen hätte, dass ich ihr immer noch nicht gleichgültig war, und das glaubte ich nicht. Ich goss mir einen zweiten Becher Glühwein ein und merkte gleichzeitig, wie sich der Alkohol in meinem Kopf breitmachte und mich entspannte.

»Schmeckt okay, oder?« Archie zwinkerte mir zu. »Wie Weihnachten.«

Archie besaß diesen typischen britischen Akzent, der jedem, der ihn spricht, automatisch eine intelligente Note verleiht. Auch wenn sich das bei dem einen oder anderen später als Trugschluss herausstellt.

»Schmeckt super.« Ich grinste. »Noch zwei Gläser und ich rutsche von der Bank.«

»Mach besser langsam.« Archie legte mir behutsam eine Hand auf den Arm. »Heute ist kein Tag zum ›von der Bank rutschen‹, David. Heute ist Feiertag. Wir begrüßen die Weihnachtszeit, oder wie ihr das sagt, okay?«

Soweit mir bekannt war, begrüßten wir nur den Frühling, aber das sagte ich ihm nicht. Er hätte dann doch nur nachgefragt, warum das so sei, und eine sprachwissenschaftliche Erklärung verlangt. Darauf hätte ich ihm dann keine Antwort mehr geben können.

Mein dritter Becher schwappte fast über, und ich legte die Schöpfkelle vorsichtig zurück auf den Topfrand. Eine der Kerzen zischte laut und sprühte Funken. Wir kauften sie immer im Zehnerpack bei Plus. Als besonders hochwertig konnte sie wohl niemand bezeichnen, aber sie kosteten fast nichts und reichten völlig für unsere Zwecke. Kurz verstummten die Gespräche. Man hörte nur BAPs »Wenn et Bedde sich lohne däät«. Die LP eierte über den Plattenteller. Elmars HiFi-Ausrüstung stammte wahrscheinlich aus den Siebzigern. Erst jetzt fiel mir auf, dass wir keine Weihnachtsmusik spielten, aber Kölsch Rock war allemal besser als irgendein Chor, der gemeinsam mit Rudolf Schock »Ihr Kinderlein kommet« zum Besten gab.

Zwischen Stövchen und einem Fichtenzweig entdeckte ich eine zerknüllte Packung Zigaretten. Ich schnappte mir eine Marlboro und zündete sie an einer der billigen Kerzen an. Der Lungenzug schmerzte, und mir wurde noch schwindeliger. Trotzdem: Allmählich fühlte ich mich wohler. Nichts war wirklich wichtig. Weder Patricia noch Richard noch sonst irgendetwas oder irgendwer. Die Gespräche begannen erneut, aber jetzt nahm ich sie zeitweise nur als wabernde Silbenfolge wahr, manchmal ohne jeglichen Zusammenhang.

Gegenüber von Archie saß Jonas. Er trug wie meistens ein kariertes Jackett, die Ärmel fast bis auf die Höhe der Ellenbogen hochgekrempelt. Darunter ein weißes T-Shirt. Jonas war zwei Jahre älter als Moritz, Archie und ich. Gerade versuchte er, eine neue Mitbewohnerin anzubaggern. Soweit ich das mitbekommen hatte, wohnte sie oben auf meinem Flur. Aber ich hatte noch kein Wort mit ihr gesprochen und sie auch noch nie vorher hier in der Küche bemerkt. Ein typisches Erstsemester eben: schüchtern, aber dann doch zu neugierig, um nicht trotzdem in der Küche vorbeizuschauen. Sie war ein echter Hingucker: schlank, lange, dunkle Haare, ein offenes, hübsches Gesicht mit einer schmalen Nase, hohen Wangenknochen und dunklen Augen.

Jonas erzählte Anekdoten und die dunkelhaarige Schönheit lächelte. Ein bisschen angestrengt, aber vielleicht täuschte ich mich auch. Ab und zu pustete sie in ihren Glühwein, was ich sympathisch fand. Sie schien tatsächlich Angst zu haben, sich den Mund zu verbrennen, oder die Zunge. Immer wieder versuchte sie, sich zu überwinden, setzte den Becher dann aber doch wieder ab. Das sah witzig aus. Vielleicht machte sie das aber auch aus Vorsicht, um nicht betrunken zu werden. Möglicherweise sah sie das Glitzern in Jonas’ Augen und hatte Angst, morgen in seinem Bett aufzuwachen.

»Überleg mal! Ich hab der eine ganz normale Frage gestellt, und die schreit mich live über den Sender an!« Jonas’ Stimme überschlug sich fast, während er mit den Armen irgendwo auf Schulterhöhe herumfuchtelte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er mit dem Jackett an eine Kerze geriet und Feuer fing. Das würde lustig.

»Ich bin ganz ruhig geblieben, und am Ende hat sie nichts mehr gesagt. Glaub’s oder nicht: Die hat danach keine einzige Wahl mehr gewonnen!«

Aha, er erzählte mal wieder die Geschichte, als er eine Landesministerin interviewt und ihr wohl eine unverschämte Frage gestellt hatte. Ich hatte das Ganze schon x-mal gehört, meist auf irgendwelchen Feten, wenn er wieder mal einem Mädchen imponieren wollte. Jonas arbeitete neben seinem Jurastudium bei dem lokalen Radiosender der Stadt, der vergangenen Mai auf Sendung gegangen war. An manchen Tagen konnte man ihn sogar in den Nachrichten oder als Moderator hören. Zugegebenermaßen besaß er eine gute Stimme: tief und sympathisch, vertrauenserweckend. Klar, wusste er das!

Ich lehnte mich zurück, zog an meiner Zigarette und versuchte, mich daran zu erinnern, was mich Archie vorhin gefragt hatte. Oder hatte ich ihm schon eine Antwort gegeben? Himmel, der Glühwein haute mich stärker um als erwartet.

Ich guckte wieder rüber zu Archie. Offenbar war unser Gespräch bereits beendet, er redete gerade auf Moritz ein, der neben ihm saß. Moritz starrte während des Gesprächs mit Archie vor sich hin und hielt die Spitze eines Fichtenzweigs in eine der Kerzen. Die kleinen Nadeln fingen kein Feuer, sondern verglühten orangefarben. Dünne Rauchfäden stiegen empor und es roch nach Wald und Frieden und Winter. Ich lächelte beschwipst vor mich hin.

Die weihnachtliche Stimmung wäre perfekt gewesen, wenn nicht Patricia mit ihrem neuen Freund immer wieder versucht hätte, ein wenig Aufruhr oder zumindest Aufmerksamkeit zu erregen. Was sollte das? Ich wollte sie, wenn möglich, überhaupt nicht mehr sehen. Für eine normale Freundschaft zu ihr war es für mich definitiv noch zu früh. He, meine Wunden bluteten ja sogar noch!

Dabei war ich es gewesen, der unsere Trennung verschuldet hatte. Im Sommer hatte ich einer Freundin von Patricia bei ihrem Umzug geholfen. Alle möglichen Leute hatten Monika, so hieß die Freundin, im Stich gelassen. Am Ende war allein ich es gewesen, der zusammen mit ihr Dutzende Kisten und Möbel von einer Studentenbude in eine andere geschafft hatte. Am Abend lud sie mich ein, noch etwas trinken zu gehen, und ich hatte zugesagt.

Es gab etliche Studentenkneipen in der Nähe des Campus: »Zebulon«, »Stachel«, »Pinte«, »Balustrade«, »Blow Up« um nur ein paar zu nennen. Und alle waren von der Uni gut zu Fuß zu erreichen. Monikas neue Zimmer lagen nur zweihundert Meter von ihrer Fakultät entfernt. Das traf sich gut, weil sie einen Vertrag als studentische Hilfskraft bekommen hatte, das ist

die erste Sprosse auf der Leiter zur akademischen Karriere, wenn man die denn anstrebt.

Wir hatten dann am Abend müde und ausgelaugt in der »Balustrade« in der Altstadt gestanden, die auch wochentags brechend voll war. An jenem Abend tat mir alles weh, Arme und Beine, vor allem der Rücken, den ich mir beinahe gebrochen hatte, als wir gemeinsam ein Sofa durch das Treppenhaus geschleppt hatten. Monika hatte die Lehne aus ihren Händen gleiten lassen, und das Sofa hatte mich an der Wand fast zerquetscht.

Nach dem zweiten Bier war ich bereits ordentlich betrunken gewesen. Ich wollte eigentlich nur nach Hause, aber irgendwann begann der Alkohol zu schmecken und so blieb ich. Wir sprachen von unseren Eltern, unseren Plänen für die Ferien und lästerten über die eingebildeten Dozenten und Professoren. Ich erinnere mich, dass ich immer wieder mit den Schultern gezuckt hatte und versucht hatte, meinen Nacken zu entspannen, weil ich mir durch das Gewicht des Sofas vielleicht etwas gezerrt hatte. Oder irgendeinen Wirbel eingeklemmt oder Gott weiß was. Als sie dann von der Toilette zurück kam, stand sie plötzlich hinter mir und begann, meinen Rücken zu massieren. Ich spürte ihre Hände auf meiner Haut und es elektrisierte mich. Ich erschrak und wollte mich umdrehen, aber sie flüsterte nur: »Pst, entspann dich!«, und – ich entspannte mich.

Tatsächlich ging ich am Ende nicht mit zu ihr, aber wir hatten uns geküsst. Das genügte, denn es bedeutete den Anfang vom Ende mit Patricia. Denn natürlich beichtete Monika Patricia bei nächster Gelegenheit alles. Wegen ihres schlechten Gewissen, wie sie sagte. Und damit war dann auch meine Beziehung mit Patricia erledigt.

Elmar stand auf und wechselte die LP. Schon am Plattencover sah ich, dass er jetzt Supermax auflegen würde, natürlich mit »Love Machine«. Moritz stupste mich an und raunte mir etwas zu. Den Fichtenzweig hatte er weggelegt, vielleicht war er auch schon vollkommen verbrannt. Ich verstand nicht, was er sagte. Was zum Teil am Geräuschpegel lag, zum Teil aber auch daran, dass mir der Glühwein mittlerweile mehr zu schaffen machte, als ich beabsichtigt hatte.

»Was hast du gesagt?«, fragte ich an Archie vorbei Richtung Moritz. Der guckte fast über Archie hinweg. Moritz war gut eins neunzig groß und fast ebenso breit. Eine echte Dampfwalze. Archie wirkte dagegen wie ein Buchhalter, auch wenn er sportlicher war als er aussah. Er lief mir an den meisten Tagen im Wald davon, zumindest, wenn wir den letzten Kilometer im Sprint beendeten.

Moritz beugte sich über Archies Schulter zu mir. Sein Gesicht strahlte, als er verkündete: »David, ich habe tatsächlich noch jemanden ausfindig gemacht, der ebenfalls nach dem Schatz sucht!« Seine Augen leuchteten, als sei er nur noch einen Meter vom unermesslichen Reichtum entfernt. Moritz hatte es sich seit seinem ersten Studientag in den Kopf gesetzt, den Nibelungenschatz zu finden. Er war der festen Überzeugung, der Hort läge ganz in der Nähe, in einem kleinen Ort, gut zehn Kilometer von der Stadt entfernt – in Rheinbach. Deswegen studiere er überhaupt an unserer Universität, hatte er einmal ernsthaft behauptet! Dass seit Jahrhunderten vergebens nach dem Schatz gesucht und gegraben wurde, störte ihn nicht. Er war besessen von der Vorstellung, die unermesslich große Menge Gold zu entdecken. Seit wir uns kannten, erzählte er mir immer wieder davon, dass Hagen von Tronje mit einem Dutzend großer Wagen drei Tage lang gebraucht habe, um den Nibelungenschatz im Rhein zu versenken. Leider hatte er ihn zu gut versteckt, als dass ihn bisher jemand finden konnte.

»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte ich. So gut wie nichts interessierte mich heute Abend weniger als der Nibelungenschatz. Es sei denn, Moritz präsentierte mir eine Landkarte mit einem dicken Kreuz darauf. Dann würde ich direkt morgen früh drüben im Geräteschuppen Spitzhacke und Spaten zusammen suchen und mit ihm losgraben.

Moritz legte seine gewaltigen Arme in Archies Nacken, so dass dessen Nase beinahe auf die Tischplatte gedrückt wurde. Archie ließ es einfach geschehen, obwohl er gerade versucht hatte, in seinem zerfledderten Buch zu lesen, das er ab und zu bei sich trug. Es besaß das Format eines Notizbuchs, war nur wesentlich dicker. Es erinnerte an das, das Dr. Jones senior die ganze Zeit in »Indiana Jones und der letzte Kreuzzug« mit sich herumträgt. In seinem Buch trug Archie immer wieder Gedanken ein, die ihm durch den Kopf gingen. Das konnte etwas sein, was das Studium betraf, aber auch alles, was ihn privat beschäftigte. Vielleicht machen die Briten das ja so. Ein weiteres Charakteristikum unseres rothaarigen, englischen Freundes war das ausgefranste, rote Baumwollbändchen, das Archie um sein rechtes Handgelenk trug. Mit einem eingestickten Schriftzug des FC Liverpool. Es gab weit und breit keinen größeren Fußballfan als ihn. Kaum zu glauben, wenn man bedenkt, dass er gleichzeitig auch so belesen und klug war.

Vor zweieinhalb Jahren war Archie im Stadion von Hillsborough gewesen. An diesem furchtbaren Tag, an dem fast hundert Menschen ums Leben gekommen waren, erdrückt von anderen Fans. Archie hatte damals in einem anderen Block gestanden. Als er mir die Geschichte erzählte, meinte er leise, er habe die Situation zunächst als gar nicht so dramatisch realisiert. Erst als Dutzende Frauen, Kinder und Männer auf den Rasen getragen worden seien, war ihm bewusst geworden, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Dieses Bändchen habe er sich zwei oder drei Tage später gekauft, erklärte er mir. An einem kleinen Kiosk direkt neben dem Stadion, nur wenige Schritte von den Blumen, Kerzen und Kränzen entfernt, die andere Fans dort abgelegt hatten.

Ich glaube, er hatte sogar so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Einfach weil er im Stadion gewesen und ihm nichts passiert war.

»Wir treffen uns mit dem Mann morgen früh.« Moritz strahlte mich an. »Vor dem Philosophischen Seminar.« Ich wusste gar nicht, warum er mich so zuversichtlich angrinste. Bislang war seine Suche genauso ergebnislos verlaufen wie die jedes anderen Hobbydetektivs, der hinter dem Nibelungenschatz her war.

»Wer ist wir?«, fragte ich verdutzt. Morgen Vormittag wollte ich mich nicht unbedingt auf dem Campus herumtreiben. Durch den Alkohol und die Zigaretten würde garantiert Kopfschmerzen haben. Jedes Mal nahm ich mir vor, vor dem Schlafengehen einen Liter Wasser zu trinken, weil das angeblich helfen sollte, aber vergaß das dann doch immer. Mein Kater würde immens sein. Deswegen plante ich eher, den Radiowecker auszustellen, das Rollo herunterzulassen und bis zum Mittag zu schlafen.

»Na, du und ich. Morgen, halb neun.« Moritz sagte das so, als sei alles längst abgesprochen, nur ich Dummkopf hätte das schon wieder vergessen. »Wir können im Uni-Café was frühstücken.«

Ich zog an meiner Zigarette und wieder wurde mir schwindelig. Himmel, was sollte ich darauf sagen? Moritz schien schon alles geplant zu haben. »Mit wem sind wir denn verabredet?«, fragte ich ergeben. »Ich hoffe, es ist nicht wieder einer von diesen Typen, die dich am Ende heiraten wollen.«

Vor nicht einmal zwei Monaten hatten sich Moritz und ich mit einem Mann aus Landau getroffen. Nach fünf Minuten stellte sich jedoch heraus, dass der Mann mehr an Moritz als am Nibelungenschatz interessiert war. Das Gespräch drehte sich fast ausschließlich um Moritz’ Hobbys, seine Interessen, seine Herkunft, seinen Familienstand und so weiter. Bis Moritz das registriert hatte, verging aber eine halbe Stunde. Den ganzen Briefwechsel und die Telefonate mit dem Mann hätte er sich schenken können.

Nett war es vielleicht nicht, dass ich ihn jetzt wieder daran erinnere, aber im Augenblick mochte ich nicht an irgendeinen Goldschatz denken. Ich freute mich einfach, hier zu sitzen, weil ich mich endlich wieder aus meinem Zimmer getraut hatte. Außerdem war ich dankbar, Patricia und Richard nicht direkt neben mir sitzen zu haben, sondern in einiger Entfernung. So konnte ich die beiden beobachten und mich früh genug aus dem Staub machen, sollte Patricia versuchen, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Außerdem amüsierte es mich im Augenblick, zu beobachten, wie Jonas versuchte, die dunkle Schönheit neben sich zu beeindrucken. Und sie war wirklich schön. Wahrscheinlich stierte ich sie gerade an und merkte es nicht einmal. Jonas redete unermüdlich auf sie ein. Dabei berührte er immer wieder am Arm. Das war seine Masche: intensiver Augenkontakt und kurze, scheinbar zufällige Berührungen. Wahrscheinlich erzählte er gerade die Geschichte mit den Stasi-Unterlagen. Das machte er immer nach der Story über die Ministerin, die er angeblich durch seine unbestechlichen Fragen zu Fall gebracht hatte.

Jonas’ Großvater war Bundesinnenminister gewesen. Also irgendwann im Mittelalter. Jetzt ging er wohl schon auf die achtzig zu. Jonas’ Eltern waren bei einem Autounfall gestorben, als er noch ein Kind gewesen war, und so kam er zu seinen Großeltern. Ich glaube, er konnte sich an seine Eltern nicht einmal erinnern. Im Sommer hatte ich Jonas zu Hause besucht, die Familie wohnte in einer richtigen Villa mit vielen Bäumen ringsum das Haus, und er erzählte mir, dass die Polizei immer noch in der Straße vorbeifuhr. Weil sein Großvater so ein hohes Tier gewesen war, hatte sogar die Stasi für jedes Mitglied der Familie eine Akte angelegt, auch für Jonas. Die hatte er Mitte dieses Jahres einsehen können. Soweit ich weiß, stand aber nichts Weltbewegendes darin, wahrscheinlich war sie nur halb so dick wie ein Asterix-Heft.

Aber Jonas gelang es immer, mächtig Eindruck mit seiner Anti-Stasi-Vergangenheit zu machen. Bei den Mädchen kam das gut an. Dazu seine Radiostimme, die ihm viele Türen öffnete. Manchmal wünschte ich mir, so zu sein wie er.

Archie schüttelte Moritz ab, setzte sich wieder gerade und schaute in seinen Becher. Dabei schob er seine Brille hoch. Er vertrug noch weniger als ich, deswegen war ich erstaunt, als er seinen Becher wieder auffüllte. Seine Augen sahen jetzt schon glasig aus. Aber ich war nicht seine Mutter, die ihn aufforderte, jetzt erst mal ein Glas Milch zu trinken.

»Du bist ein Penner, weißt du das!« Moritz ballte die Fäuste.

Als glühender Verehrer von Boxweltmeister Evander Holyfield neigte Moritz manchmal zu solchen Posen. An seiner Tür hing sogar ein Poster von Holyfield. Jonas und ich hatten Holyfields Kopf vor ein paar Wochen mit dem von David Hasselhoff überklebt. Das hatte uns mächtig Ärger eingebracht. Jonas und ich waren zwei Tage auf der Flucht gewesen. Allerdings konnte Moritz keiner Fliege etwas zuleide tun: Er erschreckte schon, wenn jemand neben ihm ein Buch laut zuklappte.

»He, mach mal langsam!«, ermahnte ich Archie jetzt doch. »Du verträgst doch nichts.« Ich wusste, wie ausgiebig Archie jammern konnte, wenn er einen Kater hatte. Meist lag er dann mit einem Waschlappen auf der Stirn in seinem Bett und stöhnte so laut, als würde er ein Kind bekommen.

Archie lächelte mich an, als hätte ich ihm gerade ein großes Kompliment gemacht. Ich glaube, er war schon jenseits von Gut und Böse. Von dem Glühwein leuchteten seine Zähne bläulich. Das machte sich gut mit seinen roten Haaren.

»Ich feiere, David, ich feiere!« Je mehr er trank, desto ausgeprägter hörten wir seinen britischen Akzent. Mittlerweile war sein Blick eindeutig verschwommen. Erst jetzt fiel mir auf, dass niemand etwas zu essen auf den Tisch gestellt hatte. Nicht mal Flips oder Chips oder Schokolade. Wenn wir so weiter tranken, lagen wir alle zusammen in einer halben Stunde auf dem Küchenboden. Oder tanzten draußen im Schnee.

»Ehrlich?«, fragte ich. »Was denn?«

Dass Archie so entspannt wirkte, verwunderte mich etwas. Die vergangenen Wochen und Monate hatte er sich fast ausschließlich in diversen Bibliotheken auf dem Campus herumgetrieben. Oder sich mit Hunderten von Büchern in seinem Zimmer vergraben.

O nein! Patricia hatte sich von ihrem Stuhl erhoben und kam an den anderen vorbei direkt auf mich zu. Kurz hoffte ich, sie wollte sich nur am Spülbecken die Hände waschen oder vielleicht das Fenster wieder schließen, aber ich ahnte, dass sie zu mir herüberkommen wollte, um irgendwelchen Small Talk zu führen.

Archie nickte wild mit dem Kopf. »Ich bin mir sicher, sie haben alles gewusst!«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

»Wirklich, David, sie haben alles gewusst. Alles!« Er hob seinen rechten Zeigefinger, als dürfe ich das niemals vergessen.

»Was alles gewusst?«, fragte ich abwesend und erkannte mit Schrecken, dass Patricia nun hinter Jonas und der Schönen stehengeblieben war und mich anlächelte. Sogar in dem schummrigen Kerzenlicht sah ich, wie ihre Augen meine suchten.

Archie tätschelte meinen Arm, dann hob er, wie zu einem Toast, betrunken, rothaarig und blauzahnig seinen Becher: »Dass sie alles gewusst haben mit dem—«

»Hallo David!« Patricia lächelte mich an, unschuldig und nett, vielleicht sogar ein bisschen besorgt. Natürlich war ihr nicht entgangen, wie sehr ich mich die vergangenen Wochen und Monate zurückgezogen hatte. »Schön, dass du gekommen bist.«

Das hörte sich ein bisschen gönnerhaft an, aber das war sicherlich nicht so gemeint, dachte ich. Sie hatte mir wohl verziehen und wollte eine normale Freundschaft. Oder? Ich lächelte sie kurz an, dann schaute ich weg. Wie hatte ich diese Frau verlieren können? Diese wunderschöne Frau!

Sie beugte sich näher zu mir, zwängte sich praktisch zwischen Jonas und die hübsche Neue, um nicht so laut reden zu müssen. Jonas machte keine Anstalten, auch nur einen Zentimeter zur Seite zu rutschen. Er hoffte darauf, dass Patricia ihn mit ihren Brüsten berührte, ich kannte ihn genau.

»Du hast abgenommen!«, stellte sie erstaunt und ein wenig erschrocken fest.

Okay, das hörte sich jetzt wirklich etwas von oben herab an. So als hätte sie mir gerade in die Rippen gezwickt und festgestellt, nur Haut und Knochen zu berühren.

»Das liegt am weiten Pullover«, meinte ich lahm. Ich fing Jonas’ Blick auf, der natürlich bemerkt hatte, wie unwohl ich mich fühlte. Gleichzeitig nahm ich Patricias Duft wahr, den ich so genau kannte, den ich mit wunderbaren Stunden verband. Und das schnürte mir die Kehle erst richtig zu.

»Hey, Patricia.« Jonas unterbrach seine Flirterei mit der Neuen und drehte sich halb zu Patricia um. »Schön, dass du den langen Weg zu uns bemitleidenswerten Verlierern gefunden hast. Ich wollte gerade einen Witz erzählen.« Er wandte sich an die ganze Runde: »Hört alle mal zu, der ist super!« Er räusperte sich übertrieben, damit auch jeder mitbekam, dass er etwas sagen wollte. »Also, ein kleiner Junge steht im Spielzeugladen vor einem hohen Regal und betrachtet sehnsüchtig einen kleinen, bunten Stoff-Pumuckl, der ihn von weit oben anlächelt.«

Ein kurzer Blick verriet mir, wie sich Patricias Miene verdüsterte. Sie und Jonas kamen nicht besonders gut miteinander aus. Auch als sie und ich noch zusammen waren, hatten wir uns manchmal wegen ihr gestritten. Jonas war der Ansicht, ich würde Patricia hinterherlaufen, mich zu abhängig machen und meine Freunde vernachlässigen. Das würde sich noch einmal rächen, hatte er prophezeit.

»Da kommt eine Verkäuferin, hockt sich neben ihn und fragt: ›Soll ich dir einen runter holen?‹ Sagt der kleine Junge: ›Ja okay, aber nur, wenn ich dafür einen Pumuckl kriege!‹« Patricias Mund verzog sich zu einem dünnen roten Strich. Jonas und Moritz dagegen wieherten wie Hyänen. Auch ich warf mich weg, obwohl ich den Witz schon ungefähr zweitausend Mal gehört hatte. Die anderen lachten auch, nur nicht ganz so laut und ausgiebig wie wir drei. Allein Archie schaute uns alle total betrunken und verständnislos an.

»He, was heißt das? Warum lacht ihr?« Er kratzte sich am Kopf.

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. »Erzähl ich dir später, okay? Hat was mit Zweideutigkeit zu tun«, nuschelte ich.

»Ah, interessant«, meinte Archie langsam und betonte jede Silbe. »Zweideutigkeit. Musst du, musst du mir erklären.«

Patricia stand hinter Jonas und schüttelte angewidert den Kopf. »Du weißt, dass ich solchen Zoten nichts abgewinnen kann, oder?«

Für Jonas war das ein Grund mehr, sie zu provozieren. »He Patricia, jeder Mann erzählt solche Witze, wirklich jeder. Ehrlich.« Dabei schaute er demonstrativ in Richards Richtung. Jonas mochte Patricias Neuen nicht besonders »Echte Kerle erzählen sich echte Witze. Stimmt’s, Männer?« Dabei strahlte er Archie und mich an. Er drehte sich triumphierend zu Patricia.

Die war auf dem Weg zurück zu ihrem Platz. Ich war ganz froh, denn ich hätte nicht gewusst, was ich mit ihr reden sollte. So souverän war ich noch lange nicht. Ich klaubte eine Marlboro aus dem Päckchen und hielt sie Jonas hin.

»Hier: Ein Geschenk des Hauses! Hast mich gerettet.«

»Das sind meine eigenen, du Penner!« Er zwinkerte mir zu. »Wenn sie nicht gegangen wär, hätte ich noch einen tollen auf Lager gehabt!« Dann widmete er sich wieder unserer neuen Mitbewohnerin.

Ich lehnte mich zurück, fischte mir aus Moritz’ Tabakpackung eines dieser hauchdünnen Blättchen und begann vorsichtig, eine Zigarette zu drehen. Es war gar nicht so einfach, dass Papierchen nicht zu zerreißen. Meine Hände zitterten. Aber es gelang mir, etwas zustande zu bringen, das tatsächlich Ähnlichkeit mit einer Zigarette besaß. Moritz schob mir sein Zippo über den Tisch und ich begann wild zu rauchen. Die Luft war katastrophal, trotz des gekippten Fensters.

Archie hatte mittlerweile seinen Kopf auf den Tisch gelegt. Die roten Haare glänzten im Kerzenlicht. Der Glühwein war zu viel für ihn gewesen. Den zweiten Becher hatte er gerade mal zur Hälfte geleert.

Ute und Carlos hielten sich mittlerweile in den Armen und sangen »Last Christmas«. Irgendwann musste Elmar die LP gewechselt haben.

Vorsichtig legte ich meine Zigarette in einen der Aschenbecher und zupfte Moritz am Ärmel. Er schaute mich fragend an. Ich zeigte auf Archie. Unsere Intelligenzbestie in sein Zimmer zu transportieren und schlafen zu legen, gehörte für Moritz und mich zur Routine. Archie war es noch nie gelungen, bis zum Ende einer Fete durchzuhalten. Zumindest hatte ich das noch nicht erlebt.

Vor Archies Tür stolperte Moritz dann über dessen Turnschuhe. Unser Rothaariger wäre beinahe aufgewacht, weil wir ihn fast hatten fallen lassen. Genauer gesagt waren mir seine dünnen Beine durch die Hände gerutscht. Im Zimmer wäre er uns dann Sekunden später beinahe doch noch runter geplumpst. Der ganze Fußboden und überhaupt das ganze Zimmer waren bedeckt mit Büchern. Archie schien während der vergangenen Wochen die gesamte Uni-Bibliothek ausgeräumt zu haben. Wir verfrachteten ihn in sein Bett und er brabbelte irgendetwas vor sich hin, das weder Moritz noch ich verstanden. Kurz überlegten wir, ihm wenigstens die Schuhe auszuziehen, aber Moritz winkte ab, und ich war auch nicht scharf darauf.

Ungläubig schaute ich mich um. Klar kannte ich Archies Zimmer, aber so voller Bücher hatte ich es noch nie gesehen: Auch auf dem Schreibtisch, vor dem Fenster, in den Regalen, überall stapelten sich dicke Bände, Mappen, Hefte und sogar einzelne Papiere. Archie schien die letzten Wochen nur gelesen zu haben.

»Schlaf schön«, sagte Moritz und grinste. »Britischer Trunkenbold! Ihr Insulaner wisst wirklich, wie man feiert!«

Ich schloss das gekippte Fenster und spürte, dass mich Archie hinten an der Hose zog. Überrascht drehte ich mich um. Ich hätte drauf gewettet, dass er schon eingeschlafen war.

»He, David, nimmst du … nimmst du das?« Er hatte sich halb aufgerichtet und hielt mir mit ernstem Gesicht ein Buch entgegen. »Nimm das!«, sagte er eindringlich und wackelte mit dem Arm hin und her.

»Hm, was?« Überrascht schaute ich auf das Buch, mit dem er herumfuchtelte. »Was ist das?« Mir war selbst ganz schön schwindelig. Durch den Alkohol und die Schlepperei – obwohl er ja eigentlich ein Leichtgewicht war.

Archie wedelte stärker mit dem Buch, einem dicken gebundenen. Der Schutzumschlag löste sich von der Rückseite und machte ein flatterndes Geräusch.

»Furchtbar ist das, das … das ist furchtbar!« Er sprach so undeutlich, dass ich ihn kaum verstand. Ich hätte nicht gedacht, dass ein paar Gläser Glühwein einen Menschen derart ausknocken konnten. Archie versuchte, sich ganz aufzusetzen, ließ es aber gleich wieder sein und sackte stöhnend zurück auf sein Kopfkissen. Wahrscheinlich wirbelten tausend Sterne durch seinen Kopf. Oder er fühlte sich wie auf einem Kettenkarussell. So ging es mir auch immer, wenn ich zu viel getrunken hatte.

Vorsichtig setzte ich mich zu ihm auf den Bettrand und nahm das Buch entgegen. Moritz stand an der halboffenen Tür und wartete. Das Licht vom Flur fiel genau auf Archie und mich, so dass ich die Nachttischlampe nicht anknipsen musste.

»Was ist das?« Etwas ratlos betrachtete ich den dicken Schinken. Was sollte ich damit?

»Ein Buch!«, nuschelte Archie und ließ sich wieder in sein Kissen fallen. »Das … ist … ein … Buch, du Idiot!«

»Ach was!«, meinte ich. »Ich dachte, das ist ein Zelt.« Ich klappte den Schutzumschlag wieder um das Buch und betrachtete das Cover: Rudolf Vrba »I Cannot Forgive«.

»Warum soll ich das lesen?« Meine Lust auf weitere Bücher hielt sich stark in Grenzen. Bis Ende Februar musste ich noch fünfzig Seiten für ein Hauptseminar zum Thema: »Adoleszenzprobleme in ausgewählten deutschen Romanen von 1902 bis 1937« abliefern. Da brauchte ich nicht unbedingt noch englischsprachige Zusatzlektüre. Außerdem war ich gedanklich bereits halb in den Weihnachtsferien. Ich wollte irgendwann in den kommenden Tagen nach Hause, zu meinen Schwestern und meinen Eltern. Und dort erst einmal gar nichts tun. Außer essen, trinken und schlafen. Und vielleicht ein bisschen fernsehen und laufen. Und mich dann nach Weihnachten mit Adoleszenzproblemen herumschlagen.

»Weil, weil … das … das schlimm ist.« Archie richtete sich wieder halb auf. Die alten Sprungfedern des Betts knarrten. »Schlimm!« Plötzlich spürte ich seine Finger, sie krallten sich fast in meinen Unterarm. Es tat richtig weh. »Und weil das … das bis hier geht. Bis hier, David!«

Belustigt schaute ich rüber zu Moritz. Seine Silhouette füllte fast den gesamten Türrahmen aus. Er zuckte mit den Schultern und lächelte. Himmel, war Archie betrunken. Er schien tatsächlich jenseits von Gut und Böse. Obwohl seine Augen geschlossen waren, hielt er meinen Arm weiter fest. Kurz blickte ich auf das Buch, das er mir in die Hand gedrückt hatte. Um ihm einen Gefallen zu tun, legte ich es nicht beiseite. Vielleicht würde ich ja in den Weihnachtsferien tatsächlich Zeit finden, es zu lesen. Zumindest die ersten Seiten. Obwohl – spannend sah es nicht gerade aus. Im Schein der Flurlampen erkannte ich auf dem Schutzumschlag nur so etwas wie eine Allee und im Hintergrund ein flaches Gebäude.

Wieder bewegte sich Archie. »Und … bis … bis heute, David. Bis heute!« Damit sank sein Kopf endgültig zurück aufs Kissen. »Ich muss da unbedingt … ich muss da unbedingt wieder hin! So schnell … so schnell wie möglich.« Er schloss die Augen und fing fast augenblicklich an zu schnarchen.

Ich tätschelte seine Wange. »Schlaf ein, mein lieber englischer Freund. Schlaf ein!« Bevor ich die Tür zuzog, schaute ich ein letztes Mal zurück. Auf der Seite liegend schien Archie schon ganz weit weg zu sein. Unser kleiner Schluckspecht. Leise schloss ich die Tür.

Moritz hatte auf einem der Kühlschränke Platz genommen, die an der Wand standen. Darin verwahrten wir unsere Lebensmittel auf. Die alten Dinger brummten wie altersschwache Turbinen und verbrauchten wahrscheinlich wahnsinnig viel Strom. Moritz sprang mit einem Satz hinunter und gemeinsam gingen wir zurück zu unserer Feier.

An jenem Abend verschwendeten wir keinen weiteren Gedanken mehr an Archie. Ich legte das Buch, das er mir gegeben hatte, auf die Kommode neben Elmars Plattenspieler. Erst am nächsten Morgen nahm ich es mit auf mein Zimmer. Dann dauerte es noch einmal ein paar Tage, bis ich mich wieder daran erinnerte und darin zu lesen begann.

Als Moritz und ich zu unserer Weihnachtsfeier zurückkamen, lief schon wieder »Last Christmas«. Dieses Mal sangen Ute und Carlos allerdings nicht mit. Die Küche war verqualmter denn je. Es roch nur noch nach Glühwein und Zigaretten. Morgen würden unsere Klamotten höllisch stinken. Wir lachten viel, rauchten, tranken, hörten weiter Musik und gingen irgendwann gegen eins oder zwei schlafen. Jeder von uns hangelte sich vorsichtig in sein Zimmer. Jeder für sich – auch Jonas. Er hatte seine Bemühungen bei der schönen Neuen in dem Moment eingestellt, als sie ihm gestanden hatte, bereits verlobt zu sein. Mit einem Juristen, der schon am zweiten Staatsexamen büffelte. Das hatte ihn ziemlich schnell abgekühlt.

Archie war einer meiner besten Freunde. Trotzdem betrog ich ihn, auch wenn ich das an jenem Abend noch nicht ahnte. Am nächsten Morgen war er verschwunden.

Kapitel 2

Erster Tag

Rückblickend ist mir bewusst, dass wir viele Entscheidungen damals in kürzester Zeit treffen mussten. Zeit, uns eine Übersicht zu verschaffen, besaßen wir nicht. Keiner von uns. Genauso wie Moritz und Jonas wurde auch ich mitgerissen von dem, was geschehen war und noch geschehen sollte. Wir waren darauf nicht vorbereitet. Aber vielleicht ist man das ja nie. Vor allem nicht, wenn man jung ist.

Ich war angespannt wegen Klara. Für Archies Freundin blitzte mein Waschbecken, sogar die Wollmäuse unter meinem Schreibtisch hatte ich entsorgt. Die Sportklamotten lagen, anders als sonst, verstaut im Schrank und selbst dem zerfledderten, bunten Ikea-Teppich fehlten die Tabak- und Kekskrümel. Einzig auf dem Schreibtisch vor dem Fenster wollte ich die Unordnung nicht verschwinden lassen: Unzählige Papiere, Mappen und Bücher sollten meine ernsthaften akademischen Ambitionen unterstreichen. Als einzigen Wandschmuck besaß mein Zimmer ein Huey-Lewis-Poster von der »Small World«-Tour. Ich hatte es in Dortmund in der Westfalenhalle gekauft. Mit meiner älteren Schwester und ihrem neuen Freund war ich dort gewesen. Ein Konzert auf Stühlen, richtige Stimmung war nicht aufgekommen.

Archie hatte ich heute Morgen noch nicht gesehen. Aber das war nicht ungewöhnlich. Wir vier verabredeten uns so gut wie nie für eine bestimmte Uhrzeit. Wenn es passte und man sich traf, war es in Ordnung, wenn nicht, war es auch gut. Bis wir uns irgendwo über den Weg liefen, war es nur eine Frage der Zeit.

Das Treffen mit dem Nibelungenschatz-Forscher am Vormittag war wie erwartet umsonst gewesen. Moritz hatte den Mann allein getroffen, ich hatte ihm gestern auf der Feier noch gesagt, dass ich nicht mitkommen würde. Vorhin war Moritz dann in mein Zimmer gekommen, wieder einmal desillusioniert, was den baldigen Fund des Schatzes anging. Der Forscher hatte ausschließlich Geld von ihm gewollt, damit er bei Worms an einem Ort namens Loch Ausgrabungen beginnen konnte. Auf der Suche nach potenziellen Geldgebern reiste er quer durch die Bundesrepublik und war sich auch nicht zu schade, sonntags bei einem Studenten für sein Projekt zu werben. Das gefiel mir irgendwie. Allerdings hätte er sich ausrechnen können, dass Studenten der Philosophischen Fakultät nur in sehr seltenen Fällen Geld besitzen, das sie in Projekte wie das Finden des Nibelungenschatzes investieren.

Klara hatte sich für sechzehn Uhr zum Lernen angekündigt. Ich saß an meinem alten Schreibtisch, den ich mir aus dem Fundus im Keller geholt hatte, und starrte in den bleigrauen Himmel. Schon ab halb vier wurde es allmählich dunkel, so dass meine Ballonlampe aus Reispapier längst flimmerte. Die vergangenen Minuten hatte ich mir den Kopf zerbrochen – der Kater hielt sich erstaunlicherweise in Grenzen –, über was Klara und ich eigentlich genau sprechen wollten. Üblicherweise gab es in den Seminaren keine Gemeinschaftsarbeiten oder -referate, und Klausuren mussten selbstverständlich auch allein geschrieben werden. Wahrscheinlich wollte sich Klara nur einen Überblick verschaffen, welche Schwerpunkte Moritz und ich die vergangenen Monate gesetzt hatten. Dabei lernten Moritz und ich, wenn wir gemeinsam ein Thema beackerten, nicht systematisch. Meist lasen wir verschiedene Bücher und dann erzählten wir uns, was wir gelesen hatten. Und was wir davon hielten. Das endete häufig damit, dass wir uns biertrinkend über alle möglichen Dichter lustig machten. Das war nicht gerade schwierig. Vor allem bei den Empfindsamen. Dazu zählten Dichter, die das Gefühl als Hauptkriterium in ihre Lyrik integrierten wie Matthias Claudius mit seinem Schlaflied »Der Mond ist aufgegangen«. Diese Strömung trieb dann aber auch merkwürdige Blüten: Wenn sich zum Beispiel sensible Poeten in selbst ausgehobene Gräber legten, um die eigene Vergänglichkeit besser erleben zu können. Ich ertappte mich manchmal, wie ich glucksend in der germanistischen Bibliothek saß und nur noch den Kopf schüttelte. So viel Weltschmerz, so viel Melancholie und Selbstmitleid. Himmelherrgott!

Moritz hatte zur Empfindsamkeit sogar ein eigenes Scherz-Gedicht verfasst:

»Elegie auf Schillers Abschied« Verhüll, o Mond, dein Antlitz ob meiner Tränen Flut.

Erlöscht, ihr Sternenvölker, ob meines Herzens grimmer Wut.

Und ihr, o Götter. Habt wohl Acht, Ich ward um einen Busenfreund gebracht!

(Chorus: O Yeahhhh – o my Lord!)

Erstarrt, ihr Seen, in stählernem Eis. O Flüsse, haltet inne.

Der Seele Kreischen ist Beweis, wie in Schmerzen ich zerrinne.

Gebt Klagelaute, ihr Zypressen, o ihr Weiden, Die Sonn’ zerbierst, die grau’ge Nacht hebt an.

Freund Schiller muss wohl scheiden. Merkt auf: dass ich des Herzens Weh nicht bändigen kann

(Chorus: O Jammer – grässlich Not)

Versteinert ragt der Seele letzter Stumpf in eisesblauer Nacht empor.

Die Trauer ist ein modernd’ Totensumpf, es brodelt

Todesnöteklagen dumpf hervor.

Und ins Geräusch der lauen Linden, sich Uhurufe klagend winden:

Freund Schiller zieht von hinnen, die Stunden jäh und rasch verrinnen!

(Chorus. O Abschiedsstunde – grässlich Fluch!)

Halt inne, Herz, in deinem schröcklich Rasen, und blick zum Sternenfeld dort droben.

Hör auf zu beben wie das Herz des Hasen, stell ein dein Wüten und dein Toben.

Erblick die ew’ge Bahn der stolzen Lichte, denn Klagen ist die Art der Wichte!

Und merk wohl auf: Die Allmacht hat’s verhangen, und nur der Narren töricht Seele hat’s verhangen, mag ob

des Schicksals Weisung bangen. Freund Schiller wird einst wiederkehren, in Ehr und

Ruhm und in der Massen tosend Ruf wird er als Held einst dich beehren, weil der

Allmächt’ge ihn zum Weltmann schuf!

(Chorus: So sei´s – wohl an – gepriesen sei der Herr!)

So etwas schrieb Moritz innerhalb von zehn Minuten. Ich konnte es nie fassen. Wenn er zur Zeit der Empfindsamen gelebt hätte, wäre er von ihnen sofort zum König gewählt worden!

Es klopfte. Mein Herz hüpfte. Ich stand auf, öffnete die Tür. Klara lächelte mich an. Ihre hellblauen Augen leuchteten. Als sie an mir vorbei ins Zimmer kam, streifte mich ihr Arm. Das Parfüm, das sie trug, war schwer und atemberaubend. Ich fragte mich, was Archie davon halten würde, wenn er vielleicht gleich vorbeikäme. Was würde er wohl denken, wenn er seine Freundin parfümiert und in einem engen, kurzen Rock und einem weiß-blau gestreiften T-Shirt auf meinem Bett sitzen sah.

Ich nahm züchtig ihr gegenüber an meinem Schreibtisch Platz und schlug die Beine übereinander. Klara bewegte sich vollkommen ungezwungen. Sie fragte mich als Erstes, wo Archie sei, denn in seinem Zimmer sei er nicht. Es beruhigte mich ein wenig, dass sie sich weiterhin für ihn zu interessieren schien. Mein Stuhl quietschte, weil ich vor Nervosität vor und zurück wippte. Klara sah einfach toll aus! Kerzengerade saß sie auf meinem Bett, lächelte mich an, als sei ihr gar nicht bewusst, wie sehr sie mich verwirrte. Ich fragte umständlich, welche Themen sie sich vorgestellt habe. So als sei ich ihr Nachhilfelehrer – mindestens dreißig Jahre älter, dick und glatzköpfig.

»Themen? Du meinst … welche Epochen?« Einen Augenblick lang war sie irritiert, lächelte dann aber wieder. »Du machst doch auch ›Sturm und Drang’, oder? Als Epoche, meine ich? Bei Schmied?«

Das war keine wirkliche Frage. Sie wusste das, wir saßen schließlich bei Professor Schmied im selben Kurs. Schmied war eigentlich Karl-May-Experte, zumindest bot er seit mehreren Jahren Haupt- und Oberseminare zu May an, außerdem hatte er schon mehrere Biographien über den Schöpfer von Winnetou und Old Shatterhand geschrieben. Ich wartete noch auf den Tag, an dem er auf dem Pferd in den Hörsaal einreiten und mit einer Silberbüchse alle niederstreckte, die während seiner Ausführungen schwatzten.