Der gute Sohn - Jeong Yu-jeong - E-Book

Der gute Sohn E-Book

Jeong Yu-jeong

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Beschreibung

Yu-jin ist der perfekte Schüler, der erfolgreiche Schwimmer, der gute Sohn. Doch eines Morgens ist alles anders. Er erwacht von einem metallischen Geruch. Seine Klamotten sind blutverschmiert, rote Fußspuren führen zu seinem Bett. Mit wachsendem Grauen folgt er ihnen ins Untergeschoss, wo er eine entsetzliche Entdeckung macht: Seine eigene Mutter liegt tot im Wohnzimmer, die Kehle sauber durchtrennt. Seine Erinnerungen an den letzten Abend sind wie ausgelöscht. Im Wettlauf gegen die Zeit muss er die bruchstückhaften Bilder des gestrigen Abends zu einer Lösung zusammensetzen. Was ist geschehen? Und wieso scheinen alle Hinweise auf ihn selbst zu deuten?

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Seitenzahl: 501

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Über dieses Buch

Yu-jin, der gute Sohn, der brillante Schüler, der erfolgreiche Schwimmer, macht eines Morgens eine entsetzliche Entdeckung: Seine eigene Mutter liegt mit durchgeschnittener Kehle im Wohnzimmer. Seine Erinnerungen an den letzten Abend sind wie ausgelöscht. Was ist geschehen? Und wieso deuten alle Hinweise auf ihn selbst?

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Jeong Yu-jeong (*1966) wird »Koreas Stephen King« genannt. Ihre psychologisch ausgefeilten Kriminalromane stehen regelmäßig an der Spitze der Bestsellerliste. Für ihre Werke erhielt sie 2007 den Segye Youth Literary Award und 2009 den Segye Ilbo Literary Award.

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Kyong-Hae Flügel (*1972) studierte Germanistik in Seoul und Jena. Sie lebt seit 1996 in Deutschland und übersetzt aus dem Koreanischen.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Jeong Yu-jeong

Der gute Sohn

Thriller

Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel

E-Book-Ausgabe

Mit 2 Bonus-Dokumenten im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 2016 bei EunHaeng NaMu Publishing Co., Ltd., Seoul.

Deutsche Erstausgabe

Die Übersetzung und Herausgabe dieses Buches wurde unterstützt von dem Literature Translation Institute of Korea (LTI Korea).

Lektorat: Anne-Catherine Eigner

Originaltitel: Jong-ui Giwon

© by Jeong Yu-jeong 2016

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Sarah Lack (Alamy Stock Photo)

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-30978-4

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 22.06.2022, 00:15h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

DER GUTE SOHN

PrologDer Ruf aus der DunkelheitWer bin ich?PrädatorDie Entstehung der ArtenEpilogNachwort

Mehr über dieses Buch

Jeong Yu-jeong: »Die Idee für eine neue Geschichte lässt mein Herz rasen, als hätte ich soeben meine große Liebe getroffen.«

Jeong Yu-jeong: »Ich möchte, dass meine Leser die ganze Nacht mit brennenden Seelen verbringen, um dann die Morgendämmerung zu begrüßen.«

Über Jeong Yu-jeong

Jeong Yu-jeong: »Ich mag die Angst, sie ist etwas Produktives.«

Über Kyong-Hae Flügel

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Prolog

Die Sonne brannte silbern. Ein Schweif Federwolken zog eilig über den Maihimmel. Aus den weiß blühenden Frühlingssträuchern im Innenhof der katholischen Kirche zwitscherten Sperlinge. Gemeinsam mit meinem großen Bruder Yu-min trat ich durch einen der Rosenbögen, die Kerzen mit unseren Taufnamen in den Händen. Im Takt des Festgesanges schritten wir nebeneinanderher bis zum Außenaltar unter einem Kruzifix.

Beautiful, beautiful, Jesus is beautiful,

And Jesus makes beautiful things of my life.

Carefully touching me, causing my eyes to see,

And Jesus makes beautiful things of my life.

Hinter uns folgten paarweise die Jungen im weißen Messdienergewand mit roten Kappen und die Mädchen in weißen Kleidern mit Blütenkränzen im Haar. Der Gemeindepriester und der Vikar erwarteten vor dem Altar die Ankunft der Prozession. Es war ein Feiertag, der letzte Sonntag des Marienmonats. An diesem Morgen hatte die Freiluftmesse im Innenhof der Kirche stattgefunden, und nun begann die Erstkommunion für vierundzwanzig Kinder. Mein Bruder war neun und ich acht.

Die Gemeinde hatte sich umgedreht, um die Prozession sehen zu können. Unser Pate, der Großvater mütterlicherseits, saß strahlend in der vordersten Reihe. Mutter und Vater beobachteten meinen Bruder Yu-min, der die Erstkommunikanten anführte. Hin und wieder blickte meine Mutter zu mir, merkte offenbar jedoch nicht, dass mein Zittern die Kerzenflamme zum Flackern brachte. Ihre Blicke streiften mich teilnahmslos und wanderten sofort weiter zu meinem Bruder.

Seit dem Vortag fühlte ich mich nicht gut. Mir war merkwürdig kalt, ich hatte Kopfschmerzen und in der Nacht schlecht geträumt. Am Morgen war mein Hals so geschwollen, dass ich kaum einen Schluck Wasser hinunterbekam. Auf der Fahrt zur Kirche bekam ich Fieber. Vielleicht hatte ich ja wieder eine Angina. Meiner Mutter sagte ich jedoch nichts. Ich versuchte mit allen Mitteln, die Haltung zu wahren. Denn würde Mutter meinen Zustand bemerken, würde sie sofort zur Notaufnahme rasen, und was dann käme, konnte ich nur allzu gut voraussagen: Blut abnehmen, die Brust röntgen oder gar eine Spritze. Im schlimmsten Fall würde ich stundenlang eine Infusion mit einem fiebersenkenden Mittel bekommen. Die Erstkommunionsfeier würde dann ohne mich stattfinden, und ich wäre erst in einem Jahr wieder dran. Auch müsste ich erneut ein mühsames halbes Jahr lang Katechese, Bibel abschreiben, Morgenmesse und Prüfungen über mich ergehen lassen müssen. Und das wäre noch nicht alles. Ein anderes Kind würde den Platz neben meinem großen Bruder einnehmen, den ich mir mit Ach und Krach hatte erobern können. Nachdem ich die ganze Mühsal genauso gut wie er hinter mich gebracht hatte, konnte ich doch so kurz vor dem Ziel nicht wegen einer lausigen Angina alles aufgeben. 

Nach den ersten Schritten überkam mich ein Frösteln. Noch vor der Hälfte der Strecke zitterte ich fürchterlich. Wenige Schritte vor dem Ziel wichen mir die Kräfte aus den Beinen. Ich wankte und stolperte über den Saum des Gewands. Hätte mein Bruder mich nicht am Ellbogen gepackt, wäre ich Kopf voran auf den Boden geschlagen.

»Was hast du?«, flüsterte Yu-min kaum hörbar. Statt zu antworten, richtete ich mich auf und machte die letzten Schritte. Dabei wanderte mein Blick hinüber zu den Familien. Ich sah, dass mich meine Mutter mit aufgerissenen Augen anstarrte. Sie fragten das Gleiche wie mein Bruder. Was hast du?

Mit gesenktem Blick schüttelte ich den Kopf. Keinesfalls konnte ich ihr sagen, was mir durch den Kopf ging. »Wenn ich nicht unbedingt die Erstkommunion empfangen müsste, würde ich auf der Stelle umfallen.« Auch wenn ich es hätte sagen können, wäre es zu spät gewesen. Wir waren bereits am Altar angekommen, und der Gemeindepriester streckte seine Hand in unsere Richtung. Mein Bruder gab ihm seine Kerze. 

»Han Yu-min Michael«, sagte der Priester zu meinem Bruder, nahm seine Kerze und stellte sie auf den Altar. Auch ich reichte ihm meine Kerze. »Han Yu-jin Noel.«

Der Priester umfasste meine zitternden Hände. Er schaute mir tief in die Augen, als würde er versuchen, einen verängstigten Welpen zu beruhigen. Entspann dich, mein Junge.

Meine Wangen brannten, und meine Haut spannte. Dann drehte ich mich um und ging an meinen Platz neben meinem Bruder. Das zweite Kinderpaar reichte dem Priester die Kerzen. Das Warten auf die nächsten zehn Paare kam mir unerträglich lang vor. Die Messe ging nur schleppend voran. Ich fühlte mich wie eine junge Kröte, die in der sengenden Hitze des Hochsommers versucht, eine achtspurige Autobahn zu überqueren, und immer wenn sie aufschaut, den Eindruck hat, nicht vom Fleck gekommen zu sein. Das Zwitschern der Sperlinge kam mir mal weit entfernt vor, dann kam es wieder ganz aus der Nähe.

»Der Herr sprach durch Mose zum Volk: So schreibet euch nun diese meine Worte ins Herz und in die Seele, und bindet sie zum Denkzeichen auf eure Hand, und traget sie als Merkzeichen auf eurer Stirne.«

Mein Vater als Elternsprecher trug am Pult gerade die erste Lesung vor, als ich meinen Blick hob. Seine sonst so tiefe Stimme war zittrig und kratzig. Seine breiten Schultern wirkten steif wie die eines Roboters. Die rasierten Wangen wirkten fast bläulich. Ich wendete meinen Blick zu den Familien auf der anderen Seite des Gangs. Meine Mutter musste mich die ganze Zeit beobachtet haben. Sie wirkte, als ob sie gleich über den Gang stürzen würde. Offensichtlich hatte sie gemerkt, dass ich nicht aus Versehen gestolpert war, sondern dass etwas mit mir nicht in Ordnung war. Meine Wangen müssen so rot wie meine Kappe gewesen sein. Oder sie merkte, dass mein Körper unter dem weiten Gewand zitterte.

»Siehe, ich lege euch heute vor den Segen und den Fluch … die ich euch heute gebiete …«

Von der Stimme meines Vaters drangen nur Bruchstücke an meine Ohren, und meine Gedanken stockten. Die Zeit verging ruckartig. Das Zwitschern der Vögel in meinem Rücken entfernte sich mit jedem Ton.

»Was machst du? Schläfst du?« Die Stimme meines Bruders Yu-min brachte mich zur Besinnung. Ich öffnete die Augen und bemerkte, dass der Gemeindepriester und der Vikar bereits mit der Hostie und dem Wein vor dem Altar standen. Als mir aufging, dass ich jetzt aufstehen und vorgehen sollte, bemerkte ich, dass ich bereits vor ihnen stand. Die dunkle, dürre Hand des Priesters wirkte wie ein toter Ast. Am Ende dieses Asts strahlte die mit Rotwein beträufelte Hostie wie der Vollmond.

»Dies ist der Leib Christi.«

Amen. Mein Bruder empfing die Hostie mit der Zunge. Auch ich hob den Kopf, konnte den Mund aber nicht öffnen. Mein Hals glomm, meine Haut brannte, meine Augen standen in Flammen. Vor meinen Augen wirbelte eine trübe Staubwolke, und die Dinge nahmen merkwürdige Formen an. Das Kruzifix stand kopfüber, der Altar schwebte über meiner Stirn, und die Zweige der Frühlingsspieren im Innenhof wirkten wie verknöcherte Finger. Meine Zehenspitzen wurden langsam in die Höhe gehoben. Schließlich kippte die Welt ruckartig um, und ich brach jäh zusammen.

»Yu-jin!« In mein verworrenes Bewusstsein drang der grelle Schrei meiner Mutter. »Mach die Augen auf, Yu-jin!«

Mühsam öffnete ich die Augenlider. Im sich langsam weitenden Sichtfeld konnte ich ihr bleiches Gesicht ausmachen. »Yu-jin, fehlt dir was?«

Ich lag in den Armen meiner Mutter vor dem Altar. Ihr besorgter Blick flog nervös über mein Gesicht. Gern hätte ich ihr gesagt, dass ich fror, konnte aber die Lippen nicht bewegen.

»Hat er einen Hitzeschlag? Soll ich einen Notarzt rufen?«, fragte ein schwarzer riesiger Schatten mit einer dringlichen Stimme über mir. Ich konnte sein Gesicht im Gegenlicht nicht erkennen, aber es musste wohl mein Vater sein, denn meine Mutter rief: »Schnell!«

Der dünne Schatten neben meinem Vater musste mein Bruder sein. Hinter ihm sah ich dunkle Wolken, die sich wie Flammen auf einem Feld ausbreiteten. In der Ferne zwitscherten fröhlich Sperlinge. Mitten im sich zuziehenden Himmel glühte rot die Sonne.

Der Ruf aus der Dunkelheit

Der Geruch von Blut weckt mich. Nicht die Nase, sondern der ganze Körper scheint ihn einzusaugen. Wie ein Ton widerhallt und verstärkt er sich in mir. Vor meinen Augen tanzen sonderbare Bilder: gelblich trübe Lichtkegel der aneinandergereihten Straßenlaternen im Nebel, das aufgewirbelte Flusswasser unter meinen Füßen, der auf regennasser Straße sich überschlagende scharlachrote Regenschirm, die an einer Baustelle im Wind flatternde Sichtschutzplane. Von irgendwoher über meinem Kopf tönt der Gesang eines Mannes mit undeutlicher Aussprache.

Die unvergessliche Frau steht im Regen.

Ich kann nicht aufhören, an sie zu denken …

Um zu verstehen, was los ist, brauche ich nicht überdurchschnittlich viel Fantasie. Dies ist nicht die Wirklichkeit, und natürlich ist es auch nicht das Nachbild eines Traums. Es ist ein Signal, das der Kopf dem Körper sendet. Bleib jetzt liegen. Beweg dich nicht. Das ist der Preis dafür, dass du das Antiepileptikum einfach so abgesetzt hast. Das Absetzen der Medikamente ist wie ein erfrischender Regen in meinem wüstengleichen Leben, und den gönne ich mir. Der Preis dafür ist ein Sturm namens Anfall, allerdings nicht jedes Mal. Die aktuellen Symptome sind Vorboten, die das Nahen des Sturms ankündigen, konfuse halluzinative Wahrnehmungen, die sogenannte Aura, die einem Anfall vorausgeht.

Es gibt jedoch keinen Hafen, in dem ich dem Sturm entgehen könnte. Mir bleibt nichts anderes übrig, als seine Ankunft zu erwarten. Während des Sturms ist es stockfinster, und ich bin ihm wehrlos ausgeliefert. Hinterher kann ich mich nie an den Ablauf erinnern. Ich schlafe dann fest und lang, bis mein Bewusstsein von sich aus erwacht. Der Vorgang ähnelt schwerer körperlicher Arbeit, weil er einfach und heftig ist. Selbst schuld. Ich habe mich wissentlich dafür entschlossen und muss nun die Suppe auslöffeln. Weil ich ein Wiederholungstäter bin, der bereit ist, die Konsequenzen seines Handelns zu tragen, kann man sogar von Abhängigkeit sprechen.

Medikamentenabhängige nehmen Mittel, um einer Illusion nachzujagen. In meinem Fall ist es das Gegenteil. Ich muss Medikamente absetzen, um die Illusion zu erreichen. Kurz nach dem Absetzen beginnt eine magische Phase. Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und Ohrensausen verschwinden, während sich meine fünf Sinne schärfen. Mein Geruchssinn wird so ausgeprägt wie der eines Hundes. Das Gehirn arbeitet effizienter als üblich, und ich nehme die Welt mit meinen Instinkten statt mit meinem Hirn wahr. Ich fühle mich kraftvoll und überlegen.

Ärgerlich ist nur, dass ich meiner Mutter und ihrer jüngeren Schwester in Wirklichkeit keineswegs überlegen bin. Mein Leben ist nichts anderes als ein Sitzkissen, auf dem sich beide ausgebreitet haben. Meine Bitte, ihre alles erstickenden Hintern von mir zu nehmen, wird nicht gehört. Falls meine Mutter das jämmerliche Bild eines meiner Anfälle sehen könnte, würde Folgendes passieren: Sofort nach meinem Aufwachen schleppt sie mich zu meiner Tante, einer renommierten Psychiaterin, Leiterin der Klinik für moderne Kindermedizin und zugleich meine Hausärztin. Diese sieht mir in die Augen und fragt beharrlich in einem freundlichen Ton, bis sie etwas Befriedigendes von mir hört: »Warum hast du die Medikamente abgesetzt? Nur wenn du mir ehrlich antwortest, kann ich dir helfen.«

Aber ehrlich gesagt, die Ehrlichkeit gehört nicht zu meinen Stärken. Sie ist auch kein Wert, nach dem ich strebe. Was ich bevorzuge, ist Zweckmäßigkeit, und so antworte ich: »Ich habe einfach irgendwie vergessen, die Medikamente zu nehmen. Was ich einmal vergesse, vergesse ich regelmäßig. Und weil ich es schon ein paar Mal vergessen habe, vergesse ich es nun immer wieder.«

Meine überlegene Tante folgert dann glasklar: »Süchtig nach Unterbrechung der Medikation.« Meine Mutter als ihre Vollzugsgehilfin ordnet an, dass ich täglich bei jeder Mahlzeit die Medikamente vor ihren Augen zu nehmen habe. Sie hämmert mir ein, was ich für einen Preis dafür bezahlt habe, ein paar Tage aufgedreht gewesen zu sein, und lässt mich dabei deutlich spüren, dass ich niemals von ihr loskomme, solange ich so was mache.

»Yu-jin!«

Plötzlich erinnere ich mich an ihre Stimme, die ich vor dem Öffnen der Augen gehört habe. Sie erklang tief wie der Wind in einem Traum, sanft, aber doch klar. Aber jetzt, da ich aufgewacht bin, nehme ich sie nicht mehr wahr. Es ist so still, dass es mir fast in den Ohren dröhnt. Im Zimmer ist es dunkel, vermutlich ist es noch vor Sonnenaufgang, vielleicht schläft meine Mutter noch. Dann könnte ich den Anfall hinter mich bringen, ohne dass sie es bemerkt. Genauso wie gestern Abend.

Ich erinnere mich, dass es gegen Mitternacht war, als ich in der Nähe des Zebrastreifens auf dem Damm schwer atmete. Ich war auf dem Rückweg vom Aussichtspunkt »Milchstraße« im Gundo-Marine-Park, zu dem ich in höchster Geschwindigkeit gesprintet war. Ich muss manchmal einfach aus dem Haus und losrennen, um meine krankhaft überschüssige Energie loszuwerden. Das ist mein »Syndrom des ruhelosen Körpers«, ich nenne es den Rappel. Da ich oft mitten in der Nacht aufbreche, kann man es ohne Übertreibung bekloppt nennen.

Auf dem Damm war es menschenleer, so wie immer in der Nacht. Auch Yongi, die Pfannkuchenbude, war geschlossen. Die Anlegestelle der Fähre war in der Dunkelheit versunken, und die sechsspurige pistengleiche Straße wurde vom dichten Nebel verschluckt. Der Wind war so bissig und scharf, wie es zu einer Stadt am Meer in einer Winternacht passte. Und es goss wie aus Kübeln. Man hätte es ein Unwetter nennen können, doch fühlte sich mein Körper federleicht an, als glitte er durch die Luft. Ich hatte das Gefühl, bis nach Hause schweben zu können, so high war ich. Wenn der Wind nur nicht den Geruch von Blut zu mir getragen hätte, süßlich, metallisch, leicht fischig.

Wie der Wind kam er von vorne – nicht so heftig wie jetzt, doch stark genug, um ihn als Warnung vor einem Anfall zu sehen. Eine Frau kam auf mich zu, die aus dem letzten Bus Richtung Ansan gestiegen war. Unter ihrem Regenschirm lief sie in kleinen Pinguinschritten in meine Richtung, angeschoben vom Wind. Ich musste jetzt wirklich bis nach Hause fliegen, denn ich wollte mich nicht vor einer wildfremden Frau wie ein Krake auf dem Boden winden.

Dann hatte ich einen Filmriss. Ich kann nur vermuten, dass ich mich ins Bett gelegt habe, sobald ich mein Zimmer betreten hatte. Ich hatte mich nicht einmal umgezogen. Wahrscheinlich bin ich nach dem dritten Anfall meines Lebens schnarchend eingeschlafen. Was den letzten von den bisherigen Anfällen unterscheidet, ist, dass sich ein weiterer Anfall gleich nach dem Aufwachen ankündigt. Die Art und Intensität des Geruchs haben ebenfalls völlig andere Dimensionen: Es prickelt auf der Haut, die Nase brennt, und ich bin benommen, als ob ich in einer Rauchwolke liegen würde. Ich ahne, dass der nächste Anfall härter sein wird als alle zuvor. 

Über die Heftigkeit bin ich nicht beunruhigt, denn es ist wie bei einem Niesel- oder Sturzregen: Man wird sowieso nass. Wenn es so kommen muss, wünsche ich mir, dass der Anfall so schnell wie möglich beginnt. Denn ich möchte ihn schleunigst hinter mich bringen, noch bevor meine Mutter aufwacht.

Ich schließe die Augen und warte gefasst ab. Den Kopf drehe ich zur Seite, um möglichen Atembeschwerden vorzubeugen. Ich entspanne mich und atme tief. Ich bemitleide meinen Körper, da er sich winden und krümmen wird, und zähle dabei. Eins, zwei … Bei fünf beginnt das Telefon auf dem Nachttisch zu klingeln, überraschend und unpassend laut. Beim Gedanken, dass parallel auch das Telefon eine Etage tiefer im Wohnzimmer klingelt, zucke ich zusammen. Auch meine Mutter wird wohl aufschrecken. Was für ein Idiot ruft denn so früh am Morgen an.

Das Klingeln hört auf, und als ob die Standuhr übernehmen wollte, beginnt diese im Wohnzimmer zu schlagen. Einmal. Es ist doch aber unmöglich ein Uhr. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, ist der einzelne Gong der Standuhr das erste Geräusch, das ich nach dem Aufwachen höre. Ein Überbleibsel aus der Grundschule, als ich mir angewöhnt hatte, eine Stunde vor dem Schwimmtraining aufzuwachen, egal, wann ich eingeschlafen war. Das heißt, dass es jetzt halb sechs morgens ist. Meine Mutter wird gerade am Sekretär im Schlafzimmer sitzen. Zu dieser Zeit betet sie dreimal das Ave- Maria zur heiligen Mutter Maria.

Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade.

Der Herr ist mit dir.

Du bist gebenedeit unter den Frauen,

und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.

Nach dem Gebet wird sie duschen. Ich lausche ins Untergeschoss und erwarte Stühlescharren oder laufendes Wasser. Doch alles, was ich höre, ist ein lautstark klingelndes Telefon. Es ist mein Handy. Ich vermute, dass der Anrufer am Festnetztelefon mich erreichen wollte.

Ich strecke meine Hand und taste um das Kopfkissen herum. Dort müsste es eigentlich liegen. Aber ich finde nichts. Habe ich es auf dem Schreibtisch liegen gelassen? Oder etwa im Bad? Während ich in Gedanken auf die Suche gehe, hört es auf. Kurz danach beginnt das Festnetztelefon erneut zu klingeln. Ich springe auf und schnappe mir den Hörer. »Hallo.« 

»Schläfst du immer noch?«

Es ist Hae-jin. Natürlich. Wer außer dem Typen, der eine Etage unter mir wohnt, würde mich sonst zu dieser absurden Uhrzeit anrufen.

»Bin aufgewacht«, antworte ich.

»Was macht Mutter?«

Diese Frage kommt mir genauso abwegig vor wie die Uhrzeit des Anrufs. Ob er wohl nach dem Treffen mit den Kollegen der Filmproduktion noch nicht nach Hause gekommen ist? Ich versichere mich. »Bist du nicht zu Hause?«

»Bist du noch nicht ganz wach, oder was? Wenn ich zu Hause wäre, warum sollte ich dann anrufen? Ich bin in Sangam-dong.«

Warum er gestern nicht nach Hause kam, erzählt er auch gleich. Der Regisseur des Films Nachhilfestunde, bei dem Hae-jin im letzten Sommer als Assistent gearbeitet hatte, hat ihm einen neuen Job vermittelt. Das haben sie mit Reiswein gefeiert, und danach musste er noch einen Film von einer sechzigsten Geburtstagsfeier schneiden. Im Schneideraum war es jedoch so warm, dass er kurz darauf einnickte.

»Und eben«, erzählt Hae-jin weiter, »bin ich aufgewacht und sehe, dass Mutter nachts angerufen hat. Das ist doch seltsam, und deswegen rufe ich jetzt zurück.« Er fügt noch hinzu, dass er angenommen hat, wir seien mittlerweile aufgestanden, und dass keiner ans Telefon gegangen war, fand er noch merkwürdiger. »Zu Hause ist doch nichts passiert, oder?«

Ich hebe eine Hand vor meine Augen und erkenne erst jetzt, dass etwas Verkrustetes daran klebt. Und dass dieses Zeug auch an Augen, an der Nase und am Mund klebt. Es ist abstoßend, was ich – mit den Worten meiner gebildeten Tante – auch ohne die Signale der Meissner-Körperchen realisiere.

»Was soll denn nicht in Ordnung sein?«, nuschle ich, ohne bei der Sache zu sein, und streife gleichzeitig über meine verklebten Haare.

»Hm, warum geht sie denn nicht ans Telefon? Ihr Handy und das Festnetz, beides muss geklingelt haben.«

»Sie betet bestimmt gerade. Oder sie hat es nicht gehört, weil sie im Bad ist oder auf der Veranda.«

Nacheinander taste ich Brust, Bauch und Beine ab. Die Kleidung ist noch von gestern, aber sie fühlt sich absolut anders an. Mein weicher und flauschiger Pullover ist steif wie ein alter Putzlappen. Die Hose ist so hart wie ungegerbtes Leder. Ich winkle ein Bein an und fasse an die Socke. Sie ist so steif wie der Pullover.

»Wenn du meinst«, sagt Hae-jin wie im Selbstgespräch. Ich sehe förmlich, wie er seinen Kopf fragend zur Seite neigt. »Du bist sicher, dass wirklich alles in Ordnung ist?«

Ich nicke ärgerlich. Was soll denn Besonderes passiert sein? Außer dass ich anscheinend schlammverkrustet bin. »Wenn es dir solche Sorgen bereitet, kannst du ja später noch einmal bei ihr anrufen.«

»Nein, ich komme jetzt ja sowieso nach Hause.«

»Jetzt gleich?«, frage ich und überlege mir, was wohl in der letzten Nacht passiert ist, dass ich so voller Schlamm bin. Bin ich beim Heimflug abgestürzt? Ich habe keinerlei Erinnerung. Zudem gab es unterwegs eigentlich keinen Ort, an dem ich mich so hätte verdrecken können. Es sei denn, ich hätte den Umweg über die Baustelle für die neuen Hochhäuser genommen. Oder ich wäre beim Versuch, über eine Hecke zu springen, in einem Beet gelandet.

»Ich gehe jetzt duschen. Dann komme ich nach Hause. Spätestens um neun bin ich da.« Dann legt Hae-jin auf.

Ich richte mich auf und lege das Telefon zurück auf den Nachttisch. Dann fummle ich die Fernbedienung für die Zimmerbeleuchtung aus der Wandhalterung am Kopfende und schalte das helle LED-Licht über meinem Kopf ein.

In meinen Ohren hallt der Schrei meiner Mutter: »Yu-jin!«

In dem Moment sehe ich mich im Zimmer um, und mir stockt der Atem. Ich verschlucke mich am eigenen Speichel und bekomme einen Hustenanfall, klopfe auf meine Brust und lasse mich mit Tränen in den Augen aufs Bett fallen.

Einmal, als ich als Schwimmprofi in einem Wettbewerb Gold über tausendfünfhundert Meter geholt hatte, hatte mich ein Journalist gefragt, was meine Stärke sei. Ich gab die bescheidene Antwort, die mir meine Mutter beigebracht hatte: »Meine relativ ruhige Atmung.«

Mein Coach, der die gleiche Frage gestellt bekam, antwortete weniger bescheiden: »Er hat unter meinen bisherigen Schwimmern die außergewöhnlichste Lungenkapazität.«

Dieser meiner außergewöhnlichen Lungenkapazität die Luft zu nehmen, beherrschen auf der ganzen Welt nur die zwei Frauen, die mich als Sitzkissen missbrauchen. Und allenfalls ein explodierender Torpedo in meinem Hals. Und genau das passiert, als ich mich in meinem Zimmer umsehe.

Der silbrige Marmorboden ist mit Blutspuren und blutigen Fußabdrücken übersät. Sie beginnen an der Zimmertür und durchqueren den Raum, um dann am Fußende des Bettes haltzumachen. Wenn der Besitzer der Füße nicht rückwärtsgelaufen ist, muss, was immer geschah, hinter der Zimmertür begonnen haben. Auch das Bett ist blutüberströmt. Bettlaken, Decke und Kissen, also alles, was mit meinem Körper in Kontakt gekommen ist, ist blutrot. Erst jetzt sehe ich an mir selbst herunter. Am schwarzen Pullover, der Jogginghose und sogar an den Socken klebt reichlich geronnenes Blut. Der Blutgeruch, der mich aufgeweckt hat, war kein Hinweis auf einen Anfall. Es war echter Blutgeruch.

Ich bin fassungslos und durcheinander. Bin ich etwa Verursacher der Spuren? Was ist hinter der Tür passiert, dass ich so voller Blut bin? Hatte ich vielleicht einen Anfall? War er so heftig, dass ich mir auf die Zunge gebissen habe? So tief, dass mein ganzer Körper vom Blut bespritzt wurde? Dann dürfte ich jetzt nicht mehr in meinem Zimmer, sondern im Reich der Toten sein. Logischer wäre, dass mich jemand, der etwas gegen mich hat, beim Anfall mit einem Eimer Schweineblut übergossen hat. Oder ich hätte während des Anfalls wehrlos einen Messerangriff überlebt. Von dem besagten Jemand, der etwas gegen mich hat. Da ich keine Schmerzen habe, kann ich das jedoch ausschließen.

Wo war Mutter während dieser mysteriösen Geschichte? Die Wahrscheinlichkeit, dass sie mir dabei begegnet ist, ist nicht hoch. Meine Mutter ist Regelfanatikerin. So hat sie Regeln für Mahlzeiten, Stuhlgang, Sport und die meisten anderen Sachen, denen sie nachgeht. Schlafgewohnheiten gehören ebenfalls dazu. Sie geht nach der Einnahme ihrer Schlaftablette, die ihr meine Tante verschrieben hat, um 21:00 Uhr ins Bett. Ich habe bis dahin zu Hause zu sein. Nur wenn ich später als 21:00 Uhr heimkomme, bricht sie diese Regel.

Für Hae-jin gilt diese Regelung mit 21:00 Uhr übrigens nicht. Mutters Rechtfertigung für diese Diskriminierung ist, dass er nicht nachts auf der Straße einen Anfall haben könnte.

Das gefällt mir nicht, aber ich muss es hinnehmen. Es ist immer noch besser, als mich in aller Öffentlichkeit wie ein Krake zu winden, beim Warten auf die U-Bahn aufs Gleis zu stürzen oder beim Umherwälzen auf der Straße überfahren zu werden. Das ist der Grund, warum ich mich manchmal nachts wie ein Dieb durch die Stahltür auf unsere Dachterrasse herausschleiche und dann wie ein Mondsüchtiger durch die Gegend irre.

So auch gestern Abend. Ich schlich mich aus der Anerkennungsfeier für die Professoren und kam um 20:55 Uhr zu Hause an. Ich hatte ein paar Gläser getrunken, ja sogar Bier und Soju gemischt, obwohl ich sonst keinen Tropfen anrühre. Um mein heißes Gesicht zu kühlen, war ich extra im Regen von der Bushaltestelle bis nach Hause gelaufen, wodurch zwar die Hitze schwand, die aufgekratzte Stimmung aber nicht. Na ja, ich war wohl ziemlich angeheitert. Denn ich hatte vergessen, dass man am Zahlenschloss der Wohnungstür den Deckel immer erst schließen musste, bevor man sie aufklinkte. Die Folge war, dass ich nach geschlagenen zwanzig Minuten aussichtslosem Kampf mit Händen in den Hosentaschen konzentriert auf das funktionsunfähige Zahlenschloss starrte. Währenddessen piepste mein Handy vier oder fünf Mal in meiner Manteltasche. Ohne nachzusehen, wusste ich, dass es Nachrichten meiner Mutter waren. Sogar den Inhalt konnte ich aufs Wort genau ahnen.

»Bist du schon unterwegs?«

»Wo bist du gerade?«

»Wann kommst du an?«

»Lauf nicht zu Fuß. Es regnet. Ich komme zur Bushaltestelle und hole dich ab.«

Fünf Sekunden nach dem letzten Piepsen ging die Tür auf. Mutter, die sich selbst für einen Einkauf im Supermarkt nebenan zurechtmachte, erschien schlicht, aber elegant mit Baseball-Cap, weißem Pullover, brauner Strickjacke, Skinny-Jeans und weißen Sportschuhen, den Autoschlüssel in der Hand. Ich presste meine Lippen zusammen und schaute übellaunig auf die Fußspitzen. Am liebsten hätte ich sie angeschnauzt: »Ach, lass mich doch.«

»Seit wann bist du da?« Sie öffnete die Tür nur halb, fixierte sie mit dem Stopper und stellte sich dazwischen, um klarzumachen, dass sie mich nicht ohne Weiteres hereinlassen wollte. Unauffällig blickte ich auf die Armbanduhr. 21:15 Uhr.

»Ich bin schon lange da, aber …« Ich musste innehalten. Unter meinen Füßen schien sich gerade ein Loch zu öffnen, und die Wohnungstür beulte sich aus wie der Bauch einer Hochschwangeren. Als ich den Kopf hob, wankte ich plötzlich. Mein Schädel war schwer wie ein Bierfass, und das Gesicht begann zu brennen. Ich musste wie eine reife Tomate ausgesehen haben. Um es zu überspielen, bewegte ich nicht den Kopf, sondern nur meine Augen in ihre Richtung. Ich tat dies so vorsichtig und langsam, als ob ich Gefahrgut transportieren würde. Als sich unsere Blicke trafen, fügte ich schnell hinzu: »Ich konnte nicht rein, die Tür ging nicht auf.«

Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Türschloss, klappte den Deckel demonstrativ laut zu und schob ihn wieder hoch. Atemberaubend schnell drückte sie die sieben Zahlen, sodass das Schloss piepte und sich öffnete. Ihre Augen wanderten wieder zu mir zurück. Was war das Problem?

»Ach so.« Ich nickte als Zeichen, dass es keins gab. Aus meinen nassen Haaren löste sich ein Tropfen und lief an der Stirn zwischen den Augenbrauen hinab bis zur Nasenspitze. Ich pustete ihn weg und sah, dass die Augen meiner Mutter auf meine Stirn fixiert waren. Oder genauer auf die fingerkuppengroße Narbe mitten auf meiner Stirn, als ob diese Narbe das Zentrum all meiner Lügen sei.

»Hast du Alkohol getrunken?«, wollte sie wissen.

Die Frage brachte mich in Verlegenheit. Laut meiner Tante verstärkt Alkohol das Risiko eines Anfalls. Nach Mutters Prinzipien war Alkohol absolut verboten.

»Ein bisschen. Ein ganz, ganz kleines bisschen nur.« Ich zeigte einen zentimeterkleinen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger. Ihr Gesichtsausdruck wurde jedoch kein bisschen weicher. Meine Narbe stach, als ob ein Vogel daran picken würde. Um die Situation zu entspannen, fügte ich hinzu: »Nur ein Bier.«

Sie zwinkerte, als wollte sie sagen, ach, tatsächlich.

»Ich wollte nicht trinken, aber der Professor schenkte es mir ein …« Ich unterbrach mich. Mit fünfundzwanzig Jahren werde ich von meiner Mutter belehrt, nur weil ich ein paar Gläser getrunken habe. An allem ist die Tür schuld. Eigentlich wollte ich unauffällig in die Wohnung kommen und auf der Treppe nach oben »Bin da!« rufen. Dann hätte ich auch die Sperrstunde eingehalten, und meine Mutter wäre nicht rausgekommen, um mich alkoholisiert zu ertappen. Alle Kraft wich aus meinen Beinen, mein linkes Knie knickte plötzlich ein, und ich schwankte leicht nach links.

»Yu-jin!«, rief meine Mutter und fasste mich am Ellbogen.

Ich nickte. Alles ist in Ordnung. Ich bin nicht betrunken. Im Ernst, ich habe nur ein Glas getrunken.

»Lass uns reingehen und reden«, sagte sie.

Auch ich wollte hineingehen, aber nicht, um zu reden. Ich entzog ihr meinen Ellbogen, doch diesmal schwächelte mein rechtes Bein, und ich kippte in Richtung meiner Mutter. Ich fing mich an ihrer Schulter auf. Sie atmete hörbar tief ein, und ihr kleiner schmaler Körper wurde plötzlich steif. Sie schien überrascht zu sein, da ich so etwas sonst nie tat. Oder war sie gerührt? Ich drückte sie fest an mich. Wir sollten das Reden sein lassen. Das bringt nichts, danach tun nur die Münder weh. Den Alkohol habe ich doch bereits getrunken, es ist zu spät.

»Was ist mit dir los?«, fragte sie, während sie sich aus meinen Armen befreite. Gleich danach schien sie ihre Emotionen wieder im Griff zu haben und zeigte ihre gewohnte Fassung. Auch ich fasste mich wieder, zog meine Arme zurück und ging hinein. Während ich die Schuhe auszog, stand sie hinter mir und fragte: »Ist etwas passiert?«

Ohne mich umzudrehen, schüttelte ich den Kopf. Erst als ich im Wohnzimmer stand, verabschiedete ich mich halbherzig. »Schlaf gut.«

Sie ließ mich gehen und fragte lediglich: »Soll ich dich nach oben bringen?«

Wieder schüttelte ich den Kopf. Ohne mich zu beeilen oder zu bummeln, stieg ich die Treppen hinauf. In meinem Zimmer zog ich mich aus und warf die Sachen von mir.

So weit kann ich mich erinnern. Und auch daran, dass ich mich ins Bett geworfen hatte, ohne mich zu waschen, und gehört hatte, dass sich die Zimmertür meiner Mutter schloss. Und noch, dass mein Schwips mit diesem Geräusch schlagartig verschwand. Was habe ich anschließend gemacht? Vermutlich habe ich herumgelegen und die Zimmerdecke angestarrt, bis mich ungefähr vierzig Minuten später der Rappel packte und ich mich durch die Stahltür auf die Dachterrasse schlich.

Plötzlich fällt mir ein, was Hae-jin vorhin gesagt hat: »Und eben bin ich aufgewacht und sehe, dass Mutter nachts angerufen hat. Das ist doch seltsam, und deswegen rufe ich jetzt zurück.«

Vorhin habe ich mir dabei nicht viel gedacht, aber nun kommt es mir sonderbar vor. Warum hat Mutter ihn angerufen? Fand sie meine Umarmung so ungewöhnlich? Oder hat sie gemerkt, dass ich über die Dachterrasse verschwunden war? Wann hat sie versucht anzurufen, dass Hae-jin den Anruf so seltsam fand? 23:00 Uhr? Mitternacht? Wenn sie nach dem Anrufversuch noch wach geblieben wäre, könnte es sein, dass sie meine Rückkehr noch bemerkt hat, oder?

Nein, wenn sie sie bemerkt hätte, hätte sie mich niemals in Ruhe gelassen. Sie hätte sich vor mir aufgebaut und mich ausgefragt, so wie sie mich als Kind immer zu einem Geständnis gezwungen hatte. Sie hätte mich nicht schlafen lassen, bis ich alles gesagt hätte. Wo bist du um diese Zeit gewesen, wann bist du rausgegangen, seit wann gehst du heimlich ein und aus … Möglicherweise hätte sich die Strafe von früher wiederholt: die ganze Nacht vor der Statue der heiligen Maria kniend das Ave-Maria aufsagen. Und wenn sie mich so voller Blut gesehen hätte, wäre das Ganze damit längst nicht abgegolten gewesen. Die Tatsache, dass ich in meinem Zimmer aufgewacht bin, ist der Beweis dafür, dass ich meiner Mutter nicht begegnet bin.

Ich stehe auf. Nur wenn ich hinausgehe, kann ich irgendwas in Erfahrung bringen. Ich bewege mich vorsichtig in Richtung Zimmertür und versuche dabei, nicht in die Fußabdrücke zu treten. Als ich am Schreibtisch ankomme, halte ich inne. An der Glasscheibe der Tür, die gegenüber dem Schreibtisch liegt und zur Dachterrasse führt, zeichnet sich ein fremder Mann ab: Die Haare stehen ab wie Ziegenhörner, und das Gesicht ist so rot, als ob die obere Hautschicht völlig abgezogen wäre. In den Augen glänzt allein das Weiß des Augapfels. Mir wird schwindlig. Bin etwa ich dieses rote Tier?

Durch die Glastür ist nichts Genaues zu erkennen. Der Nebel, der vom Meer herüberwabert, versperrt die Sicht wie eine Mauer. Darüber schimmert schwach gelbes Licht. Es ist die Lampe der Pergola, die Mutter beim Anlegen des Gartens auf der Terrasse bauen ließ. Ich muss sie letzte Nacht angelassen haben, als ich durch die Stahltür verschwand. Eigentlich hätte ich sie beim Zurückkommen wieder ausmachen müssen.

Die Glas-Schiebetür zur Terrasse, die ein paar Zentimeter offen steht, finde ich in diesem Zusammenhang verdächtig, denn sie schließt automatisch, wenn man sie zuschiebt. Also lasse ich die Tür stets eine Handbreit offen, wenn ich über die Terrasse aus dem Haus gehe. Aber jetzt steht sie so weit auf, wie ich sie gewöhnlich offen lasse, um nicht durch den »offiziellen Eingang« zurückzukommen. Ich hätte sie bei meiner Rückkehr eigentlich zumachen müssen. Egal, ob im Halbschlaf oder nüchtern, ich hätte sie auf keinen Fall wieder geöffnet, nachdem ich sie geschlossen habe. Schließlich ist der 9. Dezember, und mein Zimmer befindet sich auf der oberen Etage der Penthouse-Wohnung in einem 25-stöckigen Hochhaus in einer Stadt an der Küste. So etwas wie Kälte reinzulassen, mag meine Mutter tun, die in die Wechseljahre gekommen ist und mehrmals am Tag Hitzewallungen bekommt. Aber ich doch nicht.

Die einzige schlüssige Antwort ist: Ich bin nicht durch die Tür zurückgekommen, durch die ich gegangen war. Ich muss durch die Wohnungstür zurückgekommen sein. Das kann ich an der Richtung der Fußabdrücke, an der offenen Glastür zur Terrasse und der Lampe der Pergola erkennen. Unklar ist mir aber immer noch, aus welchem Grund ich durch die Wohnungstür gekommen bin, warum ich so aussehe und was der Zustand des Zimmers bedeutet.

Ich schaue auf den Wecker. Auf schwarzem Hintergrund leuchten nebeneinander drei rote Zahlen. 5:45. Auch wenn ich das Wasser nicht hören kann, ist Mutter vermutlich gerade im Bad. In zehn Minuten wird sie aus dem Schlafzimmer kommen und in die Küche gehen. Bis dahin muss ich herausfinden, wie die Lage draußen ist.

Ich öffne die Zimmertür, gehe in den Korridor und mache Licht. Blutspuren und Fußabdrücke ziehen sich von der Zimmertür durch den Flur bis zur Treppe. An die Tür gelehnt, höre ich in meinem Kopf das Flüstern des Optimisten, den ich Team Blau nenne: Es ist ein Traum. Du bist noch nicht aufgewacht. Es ist völlig ausgeschlossen, dass so etwas tatsächlich passiert.

Widerwillig entferne ich mich von der Tür. Als ob mich jemand am Kragen ziehen würde, folge ich zögerlich den Fußabdrücken. Sobald ich meinen Fuß auf die erste Treppenstufe setze, schaltet sich die Beleuchtung automatisch ein, und das Licht strahlt über meinem Kopf. Der Anblick unter meinen Füßen brennt sich in mein Hirn: blutige Handabdrücke am Geländer sowie Fußabdrücke und Blutstropfen auf jeder Stufe. Geistesabwesend starre ich auf die Spritzer, die Blutspuren an der Wand und auf die Blutlache auf dem Boden beim Treppenabsatz. Diese Spuren haben eine andere Dimension als die Fuß- oder Handabdrücke, und wenn dies alles kein Traum ist, dann ist der Treppenabsatz der Ort, an dem etwas Schlimmes geschehen ist.

Erneut schaue ich an mir herunter. Hände und Füße sind wie in Blut gebadet, Pullover und Hose steif von vertrocknetem Blut. Wurde ich hier so blutbesudelt? Von wem? Je größer die Fragen werden, desto größer wird auch meine Fassungslosigkeit. Ich bin so verwirrt, dass ich weder hören noch fühlen kann.

Langsam wie ein Bär wanke ich die Stufen hinunter und an der Blutlache auf dem Treppenabsatz vorbei. Dann drehe ich mich zur unteren Etage. Ich erstarre schockiert, schnappe nach Luft und mache einen Schritt zurück, derweil mein Kopf zurückschnellt. Ich schließe reflexartig die Augen. Team Blau bietet mir eine verlockende Alternative: Kein Problem, das hier ist nicht echt. Geh jetzt zurück in dein Zimmer, bevor deine Mutter kommt. Leg dich hin und schlaf ein bisschen. Wenn du wieder aufwachst, wird der Morgen wie immer sein. 

Nein, ergreift Team Weiß, der Realist, das Wort. Du darfst die Situation nicht schönreden. Du musst dich vergewissern, ob es tatsächlich nur ein Traum ist. Wenn nicht, musst du herausfinden, was da unten passiert ist und warum du so zugerichtet aufgewacht bist. Und wenn es doch ein Traum sein sollte, hast du alle Zeit der Welt, wieder schlafen zu gehen.

Ich öffne die Augen. Die untere Etage ist hell erleuchtet. An der Trennwand zwischen Küche und Treppe ist eine Blutlache auf dem Boden, in der ein Paar nackter Füße zu erkennen ist. Die Fersen liegen auf dem Marmorboden, und die Zehen sind nach oben gerichtet. Ab dem Fußgelenk ist die Sicht durch die Trennwand versperrt. Es sieht aus, als ob man abgeschnittene Füße wie eine Skulptur platziert hätte.

Sind sie von einem Menschen? Oder von einer Puppe? Oder gar von einer Fantasiegestalt? Team Weiß hat recht. Ich werde es nicht herausfinden, wenn ich nur vom Treppenabsatz aus hinuntersehe. Mir bleibt nichts anderes übrig, als hinzugehen und mich zu vergewissern. Ich schlucke und gehe weiter. Auf jeder Stufe sind Blutspuren und Fußabdrücke. Außerdem ist Blut vom Treppenabsatz über die Stufen bis hin zum Wohnzimmer geflossen. Als ich die unterste Stufe erreiche, kann ich das Vorhandensein der blutigen, nackten Füße nicht mehr leugnen. Die knochigen Zehen, der schmale Fuß mit dem hohen Fußrücken, die Fersen halb in der Blutlache, am linken Fußgelenk das Fußkettchen mit Anhänger in Form einer Hand. Der Anblick löst einen Schluckauf aus, und mir dreht sich der Magen um. Ich möchte jetzt einfach zurück in mein Zimmer gehen.

Ich zwinge mich ins Wohnzimmer. Zögerlich drehe ich den Kopf nach rechts zum Eingangsbereich. Von der Treppe bis zur Küche breitet sich eine längliche Lache aus. Mittendrin liegt ausgestreckt eine Frau: ihre blutverschmierten Füße in Richtung Treppe und ihr Kopf in Richtung Eingang. Sie trägt ein bauschiges, nachthemdähnliches weißes Kleid und liegt mit gestreckten Beinen und auf der Brust gefalteten Händen da. Das Gesicht ist von ihren langen Haaren verdeckt. Nur einem Geisteskranken könnte eine solche Frau im Traum erscheinen.

Ich mache einen Schritt in Richtung ihrer Waden. Noch einen Schritt bis zu den Oberschenkeln, die mit dem Saum ihres Kleides bedeckt sind. An ihrem Ellbogen halte ich an. Ihre Kehle wurde unterhalb der Kinnlinie schwungvoll durchtrennt, als ob eine kräftige Hand mit einem scharfen Messer den Schnitt in einem Zug vollzogen hätte, vom linken bis zum rechten Ohr. Die offene Wunde ist so rot wie Kiemen. Ich bilde mir sogar ein, dass sie pulsieren. Unter den zerzausten Haaren starren mich ihre schwarzen Augen an, krallen sich in meine Augen, befehlen mir, näher zu kommen. Ich gehorche reflexartig und gehe in die Knie. Obwohl sich meine Beine bocksteif wie ein Kran anfühlen, hocke ich mich neben die Frau und strecke meine Hand aus. Ich zittere wie Espenlaub, während ich ihr die Haare aus dem Gesicht streiche.

»Yu-jin.«

Wieder höre ich die Stimme meiner Mutter, wie vorhin im Traum. Ich atme schwer. In meinem Kopf dröhnt es, und mein Blick verschwimmt. Mir schwindet jegliche Kraft, und meine Füße rutschen in der Blutlache weg. Ich falle nach hinten und fange mich mit den Händen auf dem Boden ab.

Ihre Augen blicken wie die einer erschrockenen Katze, an den langen schwarzen Wimpern perlen Blutstropfen wie Tränen, schmale Wangen zeichnen eine scharfe Kinnlinie, die Lippen formen eine runde Öffnung. Dieser Frau gehört das Fußkettchen. Vor sechzehn Jahren verlor sie auf einer Insel ihren Ehemann und den ältesten Sohn. In den letzten sechzehn Jahren hing sie nur noch an mir. Sie hat mir die Hälfte ihrer Gene vererbt. Sie ist meine Mutter.

Vor meinen Augen wird es dunkel. Ich fühle mich wie seekrank, kann mich kein bisschen bewegen und auch nicht atmen. Meine Lungen scheinen voll heißem Sand. Ich kann nur noch neben meiner Mutter sitzen und warten. Darauf, dass ein Licht den Blackout in meinem Kopf beendet und ich etwas unternehmen kann. Ich hoffe, dass alles ein Traum ist, dass auch Team Weiß darauf besteht, dass alles nur ein Traum ist. Ich will, dass meine innere Uhr Alarm schlägt und mich aus diesem Albtraum holt.

Die Zeit vergeht langsam. Im Haus ist es erschreckend still. In diese Stille hinein beginnt die Standuhr zu schlagen. Sie teilt mir mit, dass eine halbe Stunde vergangen ist, seitdem ich die Augen aufgemacht habe. Es ist sechs, zu dieser Zeit ist Mutter sonst in der Küche. Sie mixt aus Bananen, Pinienkernen, Walnüssen und Milch ein Getränk und bringt es mir hoch.

Als die Uhr verstummt, liegt meine Mutter unverändert zu meinen Knien. Ich bin abgrundtief verzweifelt. War es doch kein Traum? Hat sie etwa in Wirklichkeit nach mir gerufen? Hat sie um Hilfe gerufen oder um ihr Leben gefleht?

Meine Beine schlafen ein. Die Blase fühlt sich plötzlich schwer an, und unter dem Bauchnabel schmerzt es, als sei mir eine Nadel hineingestochen worden. Mittlerweile ist meine Blase so prall geschwollen, dass sie durch die Haut zu brechen droht. Der Harndrang ist so heftig und dringlich wie das Druckgefühl im Albtraum aus meiner Kindheit. In dem Albtraum wollte ich vor dem nahenden Güterzug von den Bahngleisen aufstehen, konnte mich aber nicht bewegen. Ich knie mich hin. Dann stütze ich mich schwer auf meinen Oberschenkeln auf. Kalter Schweiß läuft mir den Rücken hinunter.

Kalter Schweiß lief mir den Rücken hinunter, und ich schämte mich: Bettdecke und Laken waren nass, der Schlafanzug klebte an Hintern und Rücken, und es stank penetrant nach Urin. Das geschah mir nun schon seit drei Nächten. Wenn Mutter das erführe, würde sie wütend werden. Bist du ein Baby? Warum nässt du plötzlich wieder ein? Sie würde mich und meinen großen Bruder zur Rede stellen. Also mal ehrlich: Wo wart ihr vorgestern nach der Schule? Was war los?

Mein großer Bruder Yu-min und ich waren Erstklässler in einer privaten Grundschule in der Nähe des Sinchon-Viertels in Seoul. Unsere Mutter arbeitete als Redakteurin in einem Verlag und brachte uns auf dem Arbeitsweg jeden Morgen mit dem Auto zur Schule. Nach der Schule gingen wir in den Malkurs, der nicht weit von ihrem Büro war. Eigentlich war es mehr eine Art Hort. Er lag in der Nähe unserer Grundschule, und da die Busverbindung nicht gut war, gingen wir stets zu Fuß. Unterwegs kauften wir Süßigkeiten und ließen uns von allem und jedem ablenken. Genau dies bereitete Mutter Sorgen.

»Ihr dürft nicht zu den Bahnschienen gehen. Ihr müsst immer an der Hauptstraße bleiben.«

»Ja, machen wir«, antworteten wir, aber taten es nicht. Manchmal, nein, meistens stapften wir durch das knöchelhohe Unkraut entlang der Eisenbahnschienen. Selbstverständlich begnügten wir uns nicht damit, sondern ließen uns immer Spiele einfallen, mit denen wir uns maßen. Beispielsweise den Vogelscheuchen-Wettkampf, bei dem wir mit ausgebreiteten Armen und zurückgeworfenem Kopf, zum Himmel schauend, auf Zehenspitzen auf den Gleisen liefen, oder ein Weitsprung-Wettkampf, bei dem man über möglichst viele Eisenbahnschwellen springen musste. Am liebsten hatten wir aber das Überlebensspiel. Dabei sprangen wir zwischen Gleisen und Bahndamm hin und her, mit Spielzeuggewehren, die uns Mutter geschenkt hatte, langweilige, lärmige, nutzlose Dinger. Es ging immer unentschieden aus. 

Doch vor drei Tagen hatte jeder von uns im Schulranzen eine Schutzbrille und eine Softair-Pistole mit passenden Kugeln dabei. Vater hatte sie von einer Dienstreise aus den USA mitgebracht. Mutter sah das gar nicht gern, sie seien gefährlich, aber wir freuten uns riesig. Wir platzten fast vor Ungeduld, und dachten während des ganzen Unterrichts nur ans Spielen.

Sobald die letzte Stunde zu Ende war, liefen wir ausgelassen zu den Gleisen am Bahndamm. Wir vergaßen Mutter und den Malkurs und schossen ohne jedes Zeitgefühl drauflos. Als alle Munition verschossen war, standen wir an einer Ecke des verlassenen Geländes hinter dem Bahnhofsgebäude. Es stand unentschieden, was wir beide nicht akzeptieren wollten. Ein Wettrennen musste über Sieg und Niederlage entscheiden. Ziel war das Bahnhofsgebäude.

Auf die Plätze, fertig, los! Ich schoss davon, lag zunächst einen Schritt vorn, in der Mitte der Strecke gleichauf und am Ende einige Schritte hinterher. Als ich am Gleis, dem letzten Hindernis, ankam, rannte mein Bruder bereits den gegenüberliegenden Abhang hinunter. Gewinnen konnte ich nicht mehr, aber aufgeben wollte ich auch nicht. Voller Schwung sprang ich über die Gleise. Dabei krachte der Schulranzen heftig gegen meinen Ellbogen, und die Pistole glitt mir aus der schweißnassen Hand. Als ich es merkte, landete ich schon auf der anderen Seite des Gleisbetts.

Hektisch rappelte ich mich auf und sah nach hinten. Die Pistole lag auf einem der Gleise. Aus der Ferne raste ein Zug heran, umgeben von flimmernder Luft. Er würde die Pistole zermalmen. Ich dachte nicht weiter nach und sprang sofort auf die Schiene. Der Zug war schon so nahe, dass ich ihn als Güterzug identifizieren konnte. Trotzdem wollte ich die Pistole einfach nicht aufgeben.

»Yu-jin!« Mein Bruder schrie noch irgendwas, aber ich hörte nicht weiter zu.

Der Lokführer hupte, aber ich achtete nicht darauf. Ich hatte nur noch die Pistole im Auge und warf mich neben die Gleise. Als ich mit der Pistole in der Hand den Abhang hinunterrollte, zog der Zug ratternd und zischend vorbei. Hinter mir rief mein Bruder: »Lauf weg!«

Und das tat ich, für den Fall, dass der Lokführer den Zug stoppen und mich stellen oder ein Bahnbeamter alles beobachtet hatte und Polizei rufen würde. Aus Angst rannte ich wie unter Strom. Meinen Bruder traf ich erst vor dem Malkurs wieder. Meine Schuluniformhose war aufgerissen, das Gesicht verschmiert und die Haare struppig. Die Sache mit der Hose und dem verschmierten Gesicht brachte die Lehrerin des Ateliers wieder in Ordnung. Als Erklärung behaupteten wir: »Wir haben auf dem Sportfeld ein Wettrennen veranstaltet, und dabei sind wir gestürzt.«

Das Problem begann in jener Nacht. Sobald ich eingeschlafen war, war ich im Traum wieder bei den Gleisen. Ich griff die Pistole, und als der Zug vorbeiraste, spürte ich einen Druck in der Blase. Als der Zug vorüber war, riss ich die Augen auf und sah das eingenässte Bett. Das geschah drei Tage hintereinander. Ich war verwirrt und gleichzeitig so müde, dass ich einfach den nassen Schlafanzug auszog und aufs Bett warf. Mit meinem Kopfkissen im Arm ging ich ins Zimmer meines Bruders und schmiegte mich dicht an seinen Rücken. Er roch nach Gras, dem Geruch, der über dem Bahngelände gelegen hatte. Ich vergaß meinen Gestank, schloss die Augen und fiel in einen tiefen Schlaf. Der Traum wiederholte sich, aber nicht mein Missgeschick, was wohl daran lag, dass mich mein Bruder mit einem Schrei stoppte, kurz bevor ich auf die Schienen stürzte: »Der Zug, der Zug kommt!«

Seitdem schlief ich im Zimmer meines Bruders. In jenem und dem darauffolgenden Jahr, bis zu dem Frühlingstag, an dem er starb. Wenn ich bei ihm war, hatte ich diesen Traum nur noch selten. Und falls doch, verhinderte seine Stimme Schlimmeres.

So wie damals habe ich auch heute den Drang, in sein Bett zu kriechen. Wenn ich mich zu ihm legen könnte, würde ich diesen Albtraum unbeschadet durchstehen.

Dein Bruder ist schon vor langer Zeit gestorben, sagt Team Weiß in meinem Kopf. Du musst es selbst schaffen.

Der Wind rüttelt an den Scheiben der Veranda, ihr Vibrieren dringt mir in die Ohren. Hinter meinen Augäpfeln pulsiert das Blut, und nur mit Mühe schlucke ich den Speichel herunter. Ja, so ist es, Yu-min ist nicht mehr da. Dann presse ich meine Knie zusammen und setze mich aufrecht, um den Harndrang zu unterdrücken. Ich hebe meine Hand und strecke sie in Richtung des Gesichts meiner Mutter. In diesem Moment wird mir schwindlig und übel. Da meine Schulter so verkrampft ist, kann ich den Ellbogen nicht strecken. Die Fingerspitzen zittern in der Luft. Die Entfernung von meiner Hand zu ihrem Gesicht beträgt nur eine Armlänge, aber es scheint so weit entfernt zu sein, dass es Jahre dauern würde, es zu erreichen.

Team Weiß wird zornig: Ich sage doch nicht, du sollst sie essen. Wir wollen uns nur vergewissern, ob sie tatsächlich nicht mehr atmet, ob ihr Herz stillsteht und ihr Körper kalt ist. Also strecke deine Hand aus und berühre sie.

Ich atme langsam aus, halte meinen Mittelfinger unter ihre Nase und warte. Nicht das geringste Anzeichen von Atem ist zu spüren. Ihre mit purpurnem Blut befleckte Wange ist kalt, trocken und fast steinern. Ich habe das Gefühl, kein Fleisch, sondern trocknenden Ton zu berühren. Dann taste ich den Brustkorb nacheinander an beiden Seiten ab. Zwischen ihren Rippen ist nirgendwo ein Herzschlag zu ertasten. Der Körper ist kalt. Mutter ist wirklich tot.

Schlaff hängen meine Schultern herunter. Niedergeschlagenheit legt sich wie Nebel über mich. Worauf habe ich gehofft? Etwa, dass sie noch am Leben ist? Dass alles nur ein Traum ist? Doch es ist kein Traum. Ich sitze am Tatort eines Mordes.

»Zu Hause ist doch nichts passiert, oder?«

In Gedanken höre ich die Stimme von Hae-jin. Wenn ich gewusst hätte, dass so etwas passiert ist, wäre ich nicht aus dem Bett gekrochen, bis Hae-jin zu Hause ist. Obwohl er das hier nicht ungeschehen machen könnte, würde ich immerhin nicht so entgeistert vor der Leiche meiner Mutter sitzen. Verstört und absolut hilflos.

Ich hebe den Kopf. Direkt vor mir ist die verschlossene Wohnungstür. Vom Eingangsbereich zum Wohnzimmer führt ein kurzer Flur, auf der linken Seite liegt das Zimmer von Hae-jin und gegenüber sein Bad. Auf der anderen Seite des Wohnzimmers liegt die Kochinsel mit Tresen. Zwischen der offenen Küche und der Treppe zur oberen Etage ist eine Trennwand, und neben der Treppe verläuft ein kurzer Flur, von dem zwei Zimmer abgehen. Eines ist Mutters Schlafzimmer. Am Ende des Flurs steht eine Eckvitrine und darauf eine kleine Standuhr mit Pendel. Die gewohnten Räume und Gegenstände kommen mir auf einmal unendlich fremd vor. In meinem Kopf wiederholen sich wie ein Refrain die immer gleichen Fragen: Wer war es? Wann? Warum?

Zuerst überlege ich, dass wohl jemand unbemerkt in die Wohnung gekommen ist. Ich erinnere mich an das Gerücht, dass zurzeit Diebe und Verbrecher in Gundo unterwegs sein sollen. Es ist nicht ganz unglaubwürdig, bis auf die Tatsache, dass ich mir dieses Gerücht gerade ausgedacht habe.

Obwohl die Retortenstadt Gundo schnell Bewohner anlockte, ist bis heute nicht einmal die Hälfte der Wohnungen bezogen. Es fehlt noch an Geschäften, Verkehrsanbindungen und öffentlichen Einrichtungen. Für die Ordnung und Sicherheit in der ganzen Stadt sorgt nur ein einziges Polizeirevier. Also sind sicherlich allerlei Einbrecher unterwegs. Darunter bestimmt auch jemand, der hinter einem Bewohner unauffällig in eines der Hochhäuser kommt und bis auf die Dachterrasse gelangen kann. Das Hauptziel der Einbrecher sind sicher die Penthouse-Wohnungen mit eigenen Dachterrassen. So wie die unsrige.

Eine oder vielleicht auch mehrere Personen sind durch die Stahltür auf der Dachterrasse in die Wohnung gelangt, was in diesem Fall nicht so schwierig ist, denn ein paar Stunden vorher bin ich genau durch diese Tür hinausgegangen und habe dabei die Türkette aus dem Riegel genommen. So konnte jeder nach Herzenslust in der gesamten Wohnung herumwühlen. Mutter, die trotz Schlafmitteln einen leichten Schlaf hat, ist wahrscheinlich aufgewacht. Sicher hat sie instinktiv gemerkt, dass die Geräusche weder von Hae-jin noch von mir stammten. Wenn sie zu diesem Zeitpunkt aufgestanden wäre …

Hat sie dann mutig ihre Zimmertür aufgemacht und ins Wohnzimmer gesehen? Hat sie »Wer ist da?« gerufen? Vielleicht hat sie ihr Handy genommen und mich angerufen. Weil ich meins aber nicht mitgenommen hatte, konnte mich ihr Hilferuf nicht erreichen. Sie hat dann offenbar Hae-jin angerufen. So ist der Anruf, den er letzte Nacht verpasst hat, zu erklären.

Mittlerweile ist die Person, nachdem sie im Wohnzimmer alles durchwühlt hat, ins Schlafzimmer gegangen. Was hat Mutter getan? Sich schlafend gestellt? Hat sie sich im Ankleidezimmer oder im Bad versteckt? Oder sich auf die Veranda geflüchtet? Hat sie geschrien, dass er sie am Leben lassen soll? Oder ist sie in die Küche gerannt, um sich mit einem Messer zu verteidigen? Ob sie dann vor dem Esstisch gekämpft haben? Klar ist, dass sich das grauenhafte Ereignis vor der Trennwand zwischen Küche und Treppe abgespielt hat und nicht lange dauerte. Auch wenn sie hart im Nehmen gewesen ist und die andere Person ein alter Schwächling gewesen wäre: Ein Mann ist einfach stärker als eine Frau.

Etwa zu dieser Zeit bin ich wohl vor der Wohnung angekommen – wie ein Zombie, weil mir der Anfall bevorstand. Meine Mutter rief stöhnend nach mir und stürzte zu Boden. Genau in diesem Augenblick, den ich eigentlich für einen Traum gehalten habe, muss ich wohl doch nicht über die Dachterrasse, sondern durch die Wohnungstür gestürmt sein, da ich hörte, wie sie meinen Namen rief. Ich sah, dass sie bereits am Boden lag, und merkte, dass die Person nun mich mit einem Messer angriff. Ich stelle mir vor, wie wir miteinander gekämpft haben. Eine Einzelperson hätte mich kaum überwältigen können. Der Täter wäre vermutlich in Richtung Dachterrasse geflohen, und ich hätte ihn sicher in der Nähe des Treppenabsatzes gestellt. Was wäre dann geschehen?

Ich habe keinerlei Erinnerung, die diese Version stützen könnte. Von der Zeit nach Mitternacht weiß ich nichts mehr. Dennoch ist die Vorstellung kein kompletter Unsinn. Wenn ich meinen Anfall bekommen habe, nachdem ich den Täter überwältigt habe, wenn ich anschließend, auf welche Art auch immer, bis zum Bett gekrochen und eingeschlafen wäre, dann wäre es doch möglich, dass ich mich an nichts von alldem mehr erinnern kann. Wenn es so ist, was soll ich also jetzt machen? Es melden? Ja, ich sollte jetzt anrufen.

Auf den Knien rutsche ich bis zum Couchtisch. Entschlossen fasse ich den Telefonhörer. Aber wen soll ich anrufen? Den Notarzt? Die Polizei? Meine Finger verfehlen die Tasten immer wieder, die Nummern tanzen vor meinen Augen. In dem Durcheinander verwähle ich mich und habe die Telefonauskunft dran.

»Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?«

Ein Grunzen entfährt mir. Ich reibe meine Hände an den Oberschenkeln trocken und versuche es erneut. Sehr sorgfältig drücke ich eine Taste nach der anderen. 1, 1, 2. Dabei überlege ich mir die Worte, mit denen ich mich logisch und zusammenhängend melden kann. Dann hebe ich den Kopf und erstarre. An der Glastür zur Veranda sehe ich den Mann, dem ich kurz nach dem Aufwachen zum ersten Mal begegnet bin. Aus dem knallroten Gesicht sticht funkelnd und unheimlich nur das Weiß der Augen hervor. Vom Freizeichen des Telefons aufgeschreckt, drehe ich mich zurück zu meiner Mutter. Plötzlich sehe ich die Szene, wie sie die Polizei zu sehen bekommen wird: die Leiche einer Frau mit durchschnittener Kehle in einer Blutlache. Daneben ihr Sohn, blutig, geistesabwesend, auf Knien und mit einem Telefon in der Hand.

»Guten Tag. Polizeinotruf Incheon. Wie kann ich behilflich …«

Ich lege auf. Noch einmal überlege ich mir, was ich sagen soll. Etwa, dass ich aufgestanden bin und festgestellt habe, dass meine Mutter tot ist. Dass eine unbekannte Person den Mord begangen zu haben scheint, ich aus unerklärlichen Gründen über und über mit Blut beschmiert bin und auch in meinem Zimmer alles voll Blut ist. Aber auf keinen Fall bin ich der Mörder, bitte glauben Sie mir. Soll ich alles so erzählen? Wird mir die Polizei glauben? Statt der Polizei antwortet Team Weiß: Sag doch gleich, dass Mutter sich die Kehle selbst durchgeschnitten hat.

Wenn ich die Hypothese mit dem Einbrecher beweisen soll, muss wenigstens eine Sache existieren: er oder seine Leiche. An der Treppe und am Treppenabsatz gibt es aber nur seine Spuren. Wenn er sich beim Kampf mit mir ernsthafte Verletzungen zugezogen hat, dann müsste er noch in der Wohnung sein. Und wenn er den Verletzungen in seinem Versteck erlegen ist, müsste es eine Leiche geben. So würde sich fast alles erklären lassen: warum ich blutbeschmiert aufgewacht bin, warum auf dem Treppenabsatz und im Wohnzimmer Blutlachen sind, warum Mutter versucht hat, Hae-jin anzurufen, warum ich mich nach Mitternacht an nichts mehr erinnern kann und all die anderen Fragen.

Ich lege das Telefon zurück. Mein Herz klopft, meine Gedanken rasen. Es zuckt in meinen Händen und Füßen, und ich habe das Gefühl, als ob meine Systeme wieder hochgefahren werden. Ich überlege, wo sich die Person verstecken kann. Ein warmer Ort, an dem man sich hinlegen kann, verborgen und vor Blicken geschützt. In dieser Wohnung gibt es davon vielleicht zehn.

Ich stehe auf. Mit leisen Schritten und angehaltenem Atem nähere ich mich der Schlafzimmertür meiner Mutter. Dort drücke ich die Klinke herunter, kicke die Tür auf und stürme hinein. Im nächsten Moment halte ich verwirrt neben ihrem Bett inne.

Das Zimmer ist blitzblank sauber: keine Blutspuren, keine Fußabdrücke, Kampfspuren oder dergleichen. An der Glastür zur Veranda sind die Doppelgardinen fein säuberlich zugezogen. Das Bett sieht unbenutzt aus, was das akkurat drapierte Kissen und die straff gezogene weiße Decke beweisen. Auf dem Nachttisch stehen wie immer eine Lampe und ein Wecker. Am Fußende ist eine Bank, auf der große Kissen ordentlich nebeneinanderliegen. Mutter richtet nach dem Aufstehen immer alles makellos her.

Die einzige unordentliche Stelle ist beim Sekretär, auf dessen Ecke ein Kugelschreiber liegt. Der hohe Lederstuhl ist weit nach hinten geschoben. Darunter liegt eine kleine braune Decke, immer noch fein säuberlich zusammengelegt, sie ist wohl von der Armlehne gefallen.