Sieben Jahre Nacht - Jeong Yu-jeong - E-Book
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Sieben Jahre Nacht E-Book

Jeong Yu-jeong

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Beschreibung

Der Vater, ehemals erfolgreicher Catcher des Baseballteams »Hansin Fighters«, ist ein Kind im Körper eines Riesen. Im richtigen Leben gelingt ihm nichts mehr, er steht unter der Knute seiner Frau, arbeitet für eine Sicherheitsfirma und trinkt sich ins Elend. Nur seinen Sohn liebt er abgöttisch. So sieht seine Beförderung zum Sicherheitschef eines abgelegenen Staudamms zunächst wie eine letzte Chance aus. Doch schon bevor die kleine Familie umzieht, nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Unaufhaltsam wie eine griechische Tragödie entrollt sich das Unheil, das aus dem Vater das »Stauseemonster« und aus seinem Sohn einen Getriebenen macht.

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Seitenzahl: 735

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Über dieses Buch

Wie kann ein elfjähriger Junge überleben, wenn alle Welt in ihm den Sohn des »Stauseemonsters« sieht? Des Mannes, der ein Mädchen ermordete und ein ganzes Dorf zerstörte?

Einsam und geächtet lebt er in einem Dorf an der Küste. Rätselhafte Besucher tauchen auf. Die Vergangenheit wird aufgerollt. Am Ende ist alles anders, als es schien.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Jeong Yu-jeong (*1966) wird »Koreas Stephen King« genannt. Ihre psychologisch ausgefeilten Kriminalromane stehen regelmäßig an der Spitze der Bestsellerliste. Für ihre Werke erhielt sie 2007 den Segye Youth Literary Award und 2009 den Segye Ilbo Literary Award.

Zur Webseite von Jeong Yu-jeong.

Kyong-Hae Flügel (*1972) studierte Germanistik in Seoul und Jena. Sie lebt seit 1996 in Deutschland und übersetzt aus dem Koreanischen.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Jeong Yu-jeong

Sieben Jahre Nacht

Thriller

Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Chil Nyeon Ui Bam im Verlag Eun Haeng Namu Publishing Co., Ltd.

Der Verlag dankt dem Literature Translation Institute of Korea für die Unterstützung der Übersetzung und Herausgabe dieses Bandes.

Originaltitel: ChilNyeonUi Bam

© by Jeong Yu-jeong 2011

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Kallejipp

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30905-0

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 24.06.2024, 03:29h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

SIEBEN JAHRE NACHT

Die HauptpersonenPrologDas Leuchtturmdorf1 – Ein schwarzer Van hält quietschend vor der Apotheke …2 – Das Telefon neben der Zimmertür klingelt. Wir schrecken …3 – Der Bewusstlose verliert noch vor Ort seinen Lebenskampf …Seryong-See IAhn SunghwanChoi HyunsuYi YoungjaeChoi HyunsuAhn SunghwanKang UnjuSeryong-See IIChoi HyunsuYi YoungjaeAhn SunghwanChoi HyunsuYi YoungjaeAhn SunghwanKang UnjuChoi HyunsuYi YoungjaeKang UnjuAhn SunghwanChoi HyunsuDas Martini-Gesetz1 – Am Tag vor der Beerdigung des Mädchens war …2 – Du bist also neugierig, woher mein Spitznamen ›der …Seryong-See IIIYi YoungjaeAhn SunghwanChoi HyunsuYi YoungjaeAhn SunghwanKang UnjuChoi HyunsuAhn SunghwanYi YoungjaeKang UnjuChoi HyunsuAhn SunghwanFang mich1 – In dieser Nacht befand ich mich im Zentrum …2 – Wieder und wieder lese ich Mun Dahyes Briefe …3 – Wir steigen in einen Rettungswagen. Der Alte und …EpilogNachwort der AutorinZur Schreibweise koreanischer NamenÜbersichtskarte

Mehr über dieses Buch

Über Jeong Yu-jeong

Jeong Yu-jeong: »Ich mag die Angst, sie ist etwas Produktives.«

Über Kyong-Hae Flügel

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Die Hauptpersonen

Choi Hyunsuehemaliger Baseballspieler und jetzt Sicherheitsmanager des Seryong-DammsKang UnjuEhefrau von Choi HyunsuChoi SowonSohn von Choi Hyunsu und Kang UnjuKang Namjujüngere Schwester von Kang UnjuYi YoungjaeBesitzer des Seryong-Landschaftsparks, ZahnarztMun DahyeEhefrau von Yi YoungjaeYi SeryongTochter von Yi Youngjae und Mun DahyeAhn SunghwanAngestellter bei der Damm-Sicherheit, Zimmergenosse, Freund und Beschützer von Choi Sowon. Von ihm »Onkel« genannt.LimHausmeister des Seryong-LandschaftsparksKwonPförtner der WerkswohnungenBakKollege von Ahn Sunghwan bei der DammsicherheitKim TaehyungFreund und Baseballkollege von Choi HyunsuMyong InaFreundin von Mun Dahye, der Ehefrau von Yi Youngjae

Prolog

Ich bin der Henker meines Vaters.

Am frühen Morgen des 12. September 2004 stand ich zum letzten Mal an seiner Seite. Damals wusste ich von nichts – nichts von seiner Festnahme, nichts vom Tod meiner Mutter oder den Ereignissen der Nacht zuvor. Lediglich eine vage Unruhe hatte sich in mir ausgebreitet, während ich mich gut zwei Stunden im Stall des Seryong-Hofs versteckt hatte. Erst als ich an der Hand von Onkel Sunghwan aus dem Stall trat, erkannte ich, dass etwas nicht in Ordnung war.

Zwei Streifenwagen versperrten die Zufahrt zum Hof. Das Blaulicht warf purpurne Reflexe auf den Erlenwald. In den Lichtkegeln schwirrten Insekten. Der Himmel war noch dunkel, und Nebel lag dicht über dem Boden. In der feuchten Luft des frühen Morgens begann ich zu zittern. Onkel Sunghwan drückte mir sein Handy in die Hand und raunte mir zu, ich solle es gut aufbewahren. Dann führte uns einer der Polizisten zum Polizeiwagen.

An den Fenstern des Autos zog eine chaotische Landschaft vorbei: eingestürzte Brücken, überflutete Straßen, zerstörte Bürgersteige, wirr durcheinanderliegende Feuerwehr-, Polizei- und Rettungswagen. Am dunklen Himmel kreisten Hubschrauber. Sowohl das als Tiefebene beim Seryong-Damm bekannte Dorf als auch die Siedlung, in der unsere Familie seit zwei Wochen wohnte, hatten sich in ein Inferno verwandelt. Was war passiert? Ich konnte den Onkel nicht fragen. Ich konnte ihn nicht einmal ansehen. Ich hatte Angst, etwas Furchterregendes zu erfahren.

Der Streifenwagen hielt vor dem Polizeipräsidium der Kreisstadt Junchon an. Ein Polizist zerrte den Onkel an ein Ende des Flurs, mich brachte sein Kollege in ein kleines Zimmer am entgegengesetzten Flurende. Dort warteten zwei weitere Polizisten.

»Erzähl nur, was du selbst erlebt hast!«, schärfte mir einer der Polizisten ein, der ein blaues Hemd trug. »Keine Fantasiegeschichten! Und auch nichts, was du nur gehört hast! Verstanden?« Ich hatte verstanden und erkannte auch, dass es besser war, nicht zu weinen. Ich durfte keine Angst haben. Ich musste ruhig und gefasst über die Ereignisse der letzten Nacht berichten. Ich musste es tun, damit sie uns wieder freiließen, damit ich meinen Vater wiedersah, damit meine Mutter in Sicherheit war. Sie hörten mir schweigend zu.

»Jetzt fassen wir deine Geschichte mal zusammen! Derjenige, der dich zum See geschleppt hat, war nicht dein Vater, sondern ein Angestellter der Sicherheitsfirma«, vergewisserte sich das Blauhemd.

»Ja«, antwortete ich.

»Und das Mädchen, das vor zwei Wochen gestorben ist? Du hast am See mit ihr Verstecken gespielt, bis der Mann, den du Onkel nennst, kam, um dich zu retten?«

»Das war kein Verstecken, sondern Fangen.«

Die zwei Polizisten schauten mich wortlos an, ihre Blicke sagten mir, dass sie mir nicht glaubten.

Nach einer Weile führte mich das Blauhemd zum Eingang des Präsidiums. Er sagte, der jüngere Bruder meines Vaters warte auf dem Parkplatz auf mich. Bis zum Parkplatz war der Weg von Journalisten gesäumt. Er packte mich am Ellenbogen und bahnte uns einen Weg durch die Menge. Bei jedem Schritt blitzten die Fotoapparate. Aus der Menge rief es: »Zeig dein Gesicht! Schau her! Hast du deinen Vater getroffen? Wo warst du?« Schwindel überkam mich. Meine Kehle war wie zugeschnürt, und mir war übel. Das Blauhemd lief schneller und schneller.

In dem Moment, in dem ich mir einbildete, die Rufe von Onkel Sunghwan zu hören, in jenem kurzen Augenblick, als ich Blauhemds Hand abschüttelte, mich umdrehte, um unter den unzähligen Menschen nach dem Gesicht des Onkels zu suchen, schossen alle Kameras gleichzeitig ihre Blitze auf mich ab. Ich wurde zu einer einsamen Insel im Lichtermeer.

Der Bruder meines Vaters öffnete mir die hintere Tür des Autos. Ich kauerte mich in eine Ecke des Sitzes, klappte das Telefon des Onkels auf und sah mir das Bild auf dem Display an. Ein riesenhafter Mann und ein Junge von hinten aufgenommen, sie gehen nebeneinander im Nebel auf dem Weg vor dem Nebenhaus, im Licht der Straßenlaternen, an der Wacholderhecke entlang. Der Mann trägt den Schulranzen des Jungen, und der Junge steckt seine Hand in die Gesäßtasche des Vaters. Mein Vater und ich. Der Onkel hatte das Bild vor zehn Tagen gemacht, an jenem Morgen.

Ich klappte das Telefon zu und umklammerte es, dann beugte ich mich nach vorn und legte meine Stirn auf die Knie. Verzweifelt versuchte ich, nicht zu weinen.

An diesem Tag erfuhr die Welt von den Ereignissen der letzten Nacht und nannte sie das »Unheil am Seryong-See«. Mein Vater erhielt den Namen »Stauseemonster«. Und mich nannten sie den »Sohn des Stauseemonsters«. Ich war elf Jahre alt.

Das Leuchtturmdorf

1

Ein schwarzer Van hält quietschend vor der Apotheke. Der Fahrer mit einer Ray-Ban-Sonnenbrille steigt aus und kommt herein, während ich mir endlich eine Instant-Nudelsuppe als verspätetes Mittagessen gönnen will. Es ist bereits drei Uhr, ich bin gerade mit dem Putzen des Ladens fertig und habe Hunger. Trotzdem bleibt mir nichts anderes übrig, als aufzustehen.

»Hey, du! Kann ich dich was fragen?«, sagt der Kerl und nimmt die Brille ab. Sein Blick bleibt an meinen schülerhaft kurz geschnittenen Haaren hängen, so, als ob er sich vergewissern wollte: Dich kann man doch noch duzen, oder?

Ich lege die Stäbchen zur Seite. Frag, aber mach schnell.

»Welche Straße führt zum Leuchtturmdorf? Auf den Schildern steht davon nichts.« Der Kerl deutet mit seiner Ray-Ban-Brille auf die Kreuzung neben der Apotheke. Zuerst mustere ich sein Auto: groß, grob und kraftstrotzend. Ist das ein Chevy Van? »Hey, du! Kennst du das Leuchtturmdorf nicht, oder wie?«

Was mich betrifft, so bin ich ein Angestellter der Apotheke, kein Schüler. So etwas wie ein Chevrolet macht auf mich keinen Eindruck. Und auch seine herablassende Art lässt mich vollkommen kalt. Nur aus Neugierde und weil der Chef gerade nicht da ist, erlaube ich mir, eine Frage zu stellen: »Haben Sie denn kein Navi?«

»Ich frage dich doch, weil meins es nicht findet!« Sicher ist es dem Kerl nicht leichtgefallen, bei seiner Antwort den Zusatz ›du Depp‹ wegzulassen. Auch ich verkneife mir dieses Wort und frage schlicht zurück: »Warum suchen Sie denn in einer Apotheke etwas, das selbst Ihr Navi nicht findet?«

Kurz darauf braust der Chevy über die Kreuzung, verschwindet und ich esse in Ruhe meine Nudelsuppe weiter. Als die Schale leer ist, fällt mir der Ortsname für das Leuchtturmdorf ein, welchen auch das Navi finden dürfte: Sinsung-ri. Übrigens, der Typ hätte an der Kreuzung nach links abbiegen müssen. Ich weiß das, denn: Ich gehöre zu den Einwohnern dieses Dorfes.

Das Leuchtturmdorf ist auf keiner Landkarte verzeichnet. Vermutlich ist seine Bedeutung für die Macher von Landkarten so gering, dass es einfach nicht der Erwähnung wert ist. Der Erklärung des Onkels zufolge ist es ein Stück Land im hintersten Winkel der Halbinsel Hwawon. Mein Boss, der Apotheker der Alpha-Apotheke, nennt es dagegen nur das gottlose Kaff, wo es nicht einmal eine Bushaltestelle gibt. Der Chef des Jugendclubs des Leuchtturmdorfs beschreibt es als den hintersten Zipfel der Welt, von dem man, nur um einen Nagel kaufen zu können, laufen muss, bis einem die Zunge aus dem Mund hängt. Das alles mag schon wahr sein, denn man kann das Dorf an der Felsklippe erst sehen, wenn man den menschenleeren, etwa zwölf Kilometer langen Weg am Meer entlanggegangen ist. Der Leuchtturm steht direkt an der Klippe, die wie ein Vogelschnabel zum Meer zeigt. Viele große und kleine Felseninseln ragen vor der Küste aus dem Meer, und ein hohes, lang gestrecktes Bergmassiv umrahmt das Dorf auf der Landseite.

Irgendwann hatte ich mit Onkel Sunghwan dieses Massiv bestiegen. Von dort aus hat man freie Sicht auf das Hinterland, das weitläufig wie das Meer ist und sich ohne einen einzigen Baum wie eine öde Brachfläche ausbreitet. Der Staat hatte das Land mit der Absicht gekauft, hier einen Touristenkomplex zu errichten, aber er lässt es seither ungenutzt liegen. Ursprünglich soll es einmal ein Hirsefeld gewesen sein, an dessen Ende sich ein kleines Dorf befand. Die Kinder dieses mittlerweile verschwundenen Dorfes nannten Sinsung-ri das Leuchtturmdorf.

Und auch dieses ist im Begriff, langsam, aber sicher zu verschwinden. Denn zusammen mit dem Onkel und mir gibt es hier nur zwölf Einwohner, die vom Anbau von Süßkartoffeln leben. Das Durchschnittsalter liegt bei 69 Jahren. Daher werden wir auch die ›Kleinen‹ genannt. Eigentlich sind wir nur Phantomeinwohner. Es gibt zwar das Meer direkt vor der Haustür, aber keinen, der noch die Fischerei beherrscht. Wenn die Bewohner ihre Suppe aufmotzen oder ihren Schnapskonsum abfedern wollen, lassen sie sich manchmal von uns etwas aus dem Meer ziehen. Die letzte Geburt im Leuchtturmdorf wurde vor 61 Jahren in der Gemeindechronik verzeichnet. Dieser Zuwachs von damals ist heute sowohl der Chef des besagten Jugendclubs als auch der Besitzer des einzigen Motorboots. Außerdem ist er der Vermieter der Leuchtturm-Ferienwohnungen, in denen Onkel Sunghwan und ich zur Miete wohnen. Die meisten Gäste finden durch Hörensagen zu diesen Ferienwohnungen und sind Sporttaucher. Das Unterwasserkliff um die Steininsel vor dem Dorf lockt sie zu diesem abgeschiedenen Ort. Auch den Onkel und mich hat es hierhergeführt. Und wir sind geblieben. Ich fürchte, auch der Chevy-Fahrer von eben jagt dem Ruf der Steininsel hinterher.

Gegen neunzehn Uhr kommt der Chef zurück und zählt die Einnahmen. Das ist das Zeichen, dass Feierabend ist. Ich stopfe heimlich Arzneipflaster sowie ein altchinesisches Kräftigungsmittel in meine Tasche. Auf allfällige Einwände, was für eine Schäbigkeit ich gerade heute zu Heiligabend begehe, möchte ich gern Folgendes erklären: Mit seinen neununddreißig Jahren hat der Onkel schon Geheimratsecken. Seine Augenbrauen zieren eine beträchtliche Zahl weißer Haare. Auch seine Leistungen bei unseren Wettkämpfen sind kaum mehr erwähnenswert. Dabei handelt es sich um eine bequeme Art des Triathlons. Zunächst fahren wir mit dem Boot unseres Vermieters zum westlichsten Punkt der Steininsel, der Arena unseres Wettkampfs. Nachdem wir es festgemacht haben, umrunden wir die Insel mit Brustschwimmen. Als zweite Disziplin tauchen wir die Steilwand hinab, um unsere Drahtkörbe mit allerlei Muscheln, Krebsen und Seegurken zu füllen. Zum Schluss erfolgt ein Basketballspiel. Mann gegen Mann. Wer zuerst fünf Mal den Ball im Korb versenkt, den wir an einem Baum der Insel befestigt haben, gewinnt.

Der Onkel hat dabei in letzter Zeit neun von zehn Wettkämpfen verloren. Als er sich letzte Woche an einem hohen Wurf versuchte, verrenkte er sich den Nacken. Nun behauptet er immer, dass ihm irgendein Fiesling den Kopf heruntergedrückt hätte.

»Ich geh heim. Schönen Feierabend!«, rufe ich von der Tür zurück in den Laden und steige auf mein Fahrrad. Gleich nach der Kreuzung trete ich kräftig in die Pedale und fahre, so schnell es geht, den Weg am Meer entlang. Der Mond ist nicht zu sehen, aber dunkel ist es auch nicht. Die Nacht ist sternenklar und das Meer vom Funkeln der Sterne traumgleich mit Lichtern übersät, die Wellen schlagen gegen die Steilküste, durch die Dunkelheit gleiten lautlos silberne Vögel, und Nebel steht zwischen den grauschattierten Felseninseln. Nur eine liebliche Brise Seeluft würde das idyllische Bild vervollkommnen, doch in Wirklichkeit schneidet mir scharfer Wind ins Gesicht. Zu Hause angekommen fühlt es sich an, als wäre mir die Haut von den Knochen geschabt.

An der Mauer des Ferienhauses steht der lila Kleinbus des Onkels neben einem schwarzen Chevrolet. Ich stelle mein Fahrrad dazwischen und höre die Stimme des Onkels über die Mauer, als würde er aus einem Schulbuch vorlesen: »Die Meeresströmung um die Steininsel ist stark und nur schwer zu berechnen. Außerdem gibt es in dieser Gegend immer wieder Vertikalströmungen, und der Meeresgrund gleicht einem Labyrinth. Darüber hinaus ist jetzt Springflut, es ist mitten in der Nacht, und ihr habt Alkohol getrunken …« Diesen Ton hat der Onkel immer, wenn er glaubt, etwas sagen zu müssen.

»Jetzt mal halblang!«, unterbricht jemand. »Wer sind Sie eigentlich? Sie stehen hier im Unterhemd und markieren den Oberlehrer?« Der Onkel beendet seinen Vortrag mit dem Satz: »Meines Erachtens sollte ein Betrunkener niemals ins Meer, sondern ins Bett gehen.«

Ich trete durch die Hoftür und sehe zwei Grüppchen, die sich im Vorhof gegeneinander in Stellung gebracht haben: die mit Tauchausrüstung voll ausgestattete Chevy-Truppe gegen den Onkel in Unterhemd und Pantoffeln zusammen mit unserem Vermieter, dem Jugendclubchef. Vier gegen zwei. Ich vermute, dass der Onkel aus dem Schlaf geholt wurde, da seine ohnehin tief liegenden Augen nur halb offen sind. Hinter ihm steht in gekrümmter Haltung unser Vermieter, der ihn wohl geweckt hat.

»So wie ich das sehe, sollte besser der, der hier im Unterhemd friert, schnellstens wieder ins Bett. Und das wären ja wohl Sie!« Der Herausforderer aus dem gegnerischen Team, der gerade gegen den Onkel antritt, ist der Ray-Ban-Typ von heute Nachmittag. »Hast du nachts überhaupt schon einmal Strömungstauchen gemacht?«, fragt ihn der Onkel.

Mr. Ray-Ban bricht in lautes Lachen aus. Wie Fußballwunder Ronaldo, wenn er gefragt würde, ob er einen Ball mit dem Kopf annehmen könne. Die anderen drei Mitglieder der Chevy-Truppe stimmen in das Gelächter ein. Der Onkel blickt mit verschränkten Armen auf den Boden und murmelt halblaut: »Ein leichtsinniger Anführer ist die häufigste Ursache von Unfällen.«

»Und wer seine Nase überall hineinsteckt, bekommt leicht Nasenbluten«, antwortet Ray-Ban und reibt sich mit dem Daumen an der Nasenspitze. Seine Begleiter brechen erneut in Gelächter aus. Einer davon muss sich sogar vor Lachen setzen. Sie haben keinen Alkohol getrunken, so vermute ich, sondern andere Drogen genommen. Der Onkel kaut nervös auf seiner Unterlippe und starrt dabei Ray-Ban an. Vermutlich rechnet er jetzt still zusammen, was wohl passiert, wenn er ihm eins überbraten würde. Nach meiner Einschätzung liegt das Kräfteverhältnis bei vier zu zwei. Das wäre ein klarer Punktsieg für den Gegner.

»Junger Mann, was ist denn das für eine Sprache?« Unser Vermieter, der früher Literaturliebhaber war und Onkel Sunghwan anerkennend mit ›Herr Schriftsteller‹ anspricht, greift nun ein. »Es ist ja nicht so, dass unser Herr Schriftsteller extra herausgekommen wäre, weil er nichts Besseres zu tun hätte, sondern um Schlimmeres zu verhindern. Er ist der Tauchexperte in unserem Dorf, und wenn er sagt, dass es nicht geht, dann geht es einfach nicht. Morgen, wenn es hell wird, könnt ihr das Boot von mir aus hundert Mal nutzen. Also, seid so gut und macht Schluss für heute.«

Ray-Ban spuckt hörbar auf die Pflastersteine im Hof und fügt seine offene Kriegserklärung an: »Ach, leckt mich doch! Sie sind wohl schwer von Begriff, was? Laut Vertrag sind wir Mieter.« Der Zeigefinger Ray-Bans wandert in Richtung des sich rötenden Gesichts unseres Vermieters. »Und Sie sind der Besitzer. Wir haben bezahlt, und Sie geben Ihr Boot her, klar?«

Mit einem kurzen Tritt lasse ich die Hoftür ins Schloss fallen und hoffe, dadurch den Bann zumindest so weit zu brechen, dass der Onkel wieder sicher ins Zimmer gehen kann, auch wenn ich dem Vermieter damit wohl nicht helfe.

»Na so was, wann ist denn unser Kleiner zurückgekommen?« Der Vermieter dreht sich als Erster nach mir um, dann der Onkel. Die Blicke des Chevy-Teams folgen ihm wie bei einer Truppenparade. »Seht mal her! Wen haben wir denn da? Das ist doch der hilfreiche Angestellte aus der Apotheke, oder?« Ray-Ban hat mich überraschend schnell wiedererkannt.

»Kannst du mal kurz herkommen?«, rufe ich dem Onkel zu.

Ray-Ban baut sich vor dem Onkel auf: »Wie konnte unser Jungapotheker den Weg nach Hause finden, wo er doch angeblich das Leuchtturmdorf nicht kennt?«

Idiot! Ich weiß vor allem, wo unser Zimmer ist: Es ist das erste in dem alten Haus, dessen Grundriss in L-Form gebaut wurde. Das große Fenster geht zur Straße und man hat freie Sicht auf den Leuchtturm und das Meer. Ich wende mich in Richtung unseres Zimmers.

»Dein Chef weiß wohl noch nicht, dass sein Angestellter ein Holzkopf ist, der sein Zuhause nicht kennt, oder? Aber in welchem Verhältnis steht wohl der Holzkopf aus der Apotheke zu dem Mann hier im Unterhemd, der Schriftsteller und Tauchexperte sein will? Vater und Sohn können es nicht sein. Onkel und Neffe auch nicht. Vielleicht haben sich ihre Wege einfach so gekreuzt, und nun haben sie ihr inniges Verhältnis entdeckt, was?« Ray-Ban fantasiert weiter, und seine Kumpel kichern.

Ich gehe, als hätte ich es nicht gehört. Zwar habe ich den Bann eines Konflikts erfolgreich gebrochen, aber ich habe keine Lust, Ray-Ban auch noch den Kiefer zu brechen. »Sie entscheiden. Ich habe nichts mehr zu sagen«, sagt der Onkel zum Vermieter und klärt somit die Lage. Wir gehen zusammen in unser Zimmer. Gespött folgt uns durch die halb geöffnete Tür, begleitet von einem lauten Ruf unseres Vermieters und dem Starten eines Autos. Jetzt wollen sie also doch ans Meer fahren! Aber zuvor haben sie noch etwas anderes vor, denn das Chevy-Team verfällt in ein seltsames Gebrüll, von dem man nicht sagen kann, ob es noch Lachen oder schon Tarzangeschrei ist. Und als sei das noch nicht genug, lichthupen sie im Takt von Jingle Bells, das von einem bekannten Komiker lächerlich gesungen aus der Anlage ihres Autos röhrt.

Ich ziehe den Vorhang zu. Das war ein klassisches Eigentor, denn es bescherte den Gegnern nur ein weiteres, unverdientes Siegesgefühl. Der Krawall aus Licht und Lärm wird nun angriffslustiger. Inzwischen trommelt das Chevy-Team mit den Fäusten gegen das Fenster. Fensterrahmen und Scheibe wackeln, dazu grölt die Truppe den Weihnachtslied-Refrain lauthals im Chor.

Der Onkel setzt sich an den Schreibtisch, und ich ziehe meine Socken aus. Fünf Minuten später verlässt das Chevy-Team den Platz am Fenster und fährt davon. »Was waren denn das für Typen?«, frage ich mit rauer Stimme.

»Was denkst du? Durchgeknallte Typen eben.« Die Stimme des Onkels klingt ähnlich.

»Warum hat der Vermieter die genommen?«

»Er muss nehmen, wer kommt. Die letzten Gäste waren vor etwa einem Monat da.«

»Und warum hat er dich da hineingezogen?«

»Die wollten betrunken mit dem Boot raus und haben nicht lockergelassen. Er hat mich gerufen, damit ich sie davon abhalte.« Er denkt kurz nach: »Aber auch wenn ich mit allen Mitteln versucht hätte, sie zurückzuhalten, hätten sie nicht auf mich gehört, oder?« Was für eine Frage! Wird eine Planierraupe aufgehalten, wenn eine Heuschrecke eines ihrer Beine hebt und ihr den Weg versperren will? Ich hole aus meiner Tasche das chinesische Kraftfutter und reiche es ihm. Er aber regt sich plötzlich auf: »Warum klaust du so was immer wieder, Junge? Übernimmst du die Verantwortung für die Nebenwirkungen?«

»Angeblich verwandelt es die Haare in eine Löwenmähne. Wenn du aber unbedingt zu einem sanften, verständnisvollen Kahlkopf werden willst, dann nehme ich es eben.«

Er schnappt sich die Tüte, und ich gehe mir die Füße waschen.

Katzen können angeblich einen Donnerschlag spüren, noch bevor er loskracht. Auch im limbischen System des menschlichen Gehirns gibt es ein ähnliches Sinnesorgan: eine Uhr namens Unruhe, die beim kleinsten Vorzeichen eines Unglücks in Gang gesetzt wird. Ich kann nicht einschlafen, da ich ständig dem Ticken dieser Uhr lausche. Ich kehre zurück zu dem Tag vor sieben Jahren, an dem ich im Polizeipräsidium von Onkel Sunghwan getrennt wurde.

Meine Mutter wurde ohne Trauerfeier eingeäschert und ich dem jüngeren Bruder meines Vaters zu treuen Händen übergeben. Ab da war es aus mit der Schule. Am neuen Ort erkannte ich bereits am ersten Tag, dass meine neuen Klassenkameraden genauer als ich wussten, wer ich war – der Sohn des Stauseemonsters, welcher ein elfjähriges Mädchen eigenhändig erwürgt, den Vater des Mädchens und sogar die eigene Frau mit einem Holzhammer erschlagen und mit dem Öffnen der Schleusen vier Polizisten und die Hälfte der Einwohner der gesamten Siedlung in den Fluten ertränkt hatte. Und ich war das Kind, das jene Wahnsinnsnacht unversehrt überlebt hatte.

Meine Cousinen heulten, weil sie von ihren Klassenkameraden plötzlich geschnitten wurden, und mein Onkel, der als Physiotherapeut in einer Praxis arbeitete, musste dort aufhören. Der Vermieter kündigte die Wohnung, und so musste die ganze Familie, wie auf der Flucht, in eine Hochhauswohnung in Sanbon ziehen. Mir wurde ein Hinterzimmer mit Veranda zugewiesen, und meine Tante schwitzte Blut und Wasser, dass ja niemand erführe, wen sie in Obhut genommen hatten. Meine Cousinen weigerten sich, dieselbe Toilette wie ich zu benutzen. Wenn sie mir zufällig in der Wohnung begegneten, schrien sie jedes Mal derart hysterisch, dass ich wie gelähmt stehen blieb. Selbst wenn ich mit den besten Genen, dem größten Charme und dem attraktivsten Äußeren gesegnet gewesen wäre, was hätte ich gegen diese beiden Grazien, die bei jeder unserer Begegnungen ihre Sirenen einschalteten, unternehmen können – außer mich in meinem Zimmer einzusperren?

Ich verließ also mein Zimmer nur dann, wenn niemand zu Hause war oder wenn alle schliefen. Wenn es Essen gab, aß ich, wenn kein Essen da war, hungerte ich. Ich verrichtete meine Notdurft in der Nacht, nachdem ich diese den ganzen Tag zurückgehalten hatte. Ich wusch mich auch nachts, denn das Waschen war für mich zu einer Art Zeremonie geworden – eine Prozedur, durch die ich immer wieder Gewissheit erlangte, dass ich kein Monster war, welches beim Anblick Schrecken oder Ekelgefühle hervorrief: zwei Beine, zwei Arme, zwei Augen, ein ganzer Mensch, eine erleichterte Seele.

In meinem Zimmer verbrachte ich meine Zeit kauernd vor dem Fenster. So schlief ich, schaute aus dem Fenster oder träumte vor mich hin. Ich vermisste den Onkel und hätte nur zu gern gewusst, ob er versucht hatte, sich bei mir zu melden. Doch ich konnte mich nicht mehr mit ihm in Verbindung setzen, denn mein leiblicher Onkel hatte das Handy, das mir Onkel Sunghwan an jenem Tag zugesteckt hatte, mit voller Wucht gegen die Wand geworfen. Ich sollte, so machte er immer wieder klar, nicht die Leute aus dem einstigen Umfeld meines Vaters kontaktieren, wenn ich nicht aus seiner Wohnung rausgeschmissen werden wollte.

Drei Monate später schickte er mich zu meiner ältesten Tante. Diese schickte mich nach weiteren drei Monaten zur zweitältesten Tante. Egal, bei welchen Verwandten ich auch landete, an meiner Situation änderte sich kaum etwas. Die einzige Veränderung für mich war: Ich konnte auf eine neue Schule gehen, wenn auch nur sehr unregelmäßig. Mit der Zeit ließ das öffentliche Interesse an dem Vorfall vom Seryong-See nach, und immer weniger Leute brachten mich damit in Verbindung. Ich verließ die jeweils aktuelle Schule, wenn ich nach drei Monaten weitergereicht oder meine Identität enthüllt wurde. Der einzige Mensch, der mir gegenüber je Mitleid zeigte, war Tante Namju, die jüngere Schwester meiner Mutter. Bei ihr lebte ich einen Monat länger als bei den anderen. Am Tag, der den vierten Monat gerade vollgemacht hätte, schickte sie mich zu ihrem Bruder und sagte: »Sowon, es tut mir so leid.« Ich erinnere mich manchmal an die Tränen, die ihr dabei in die Augen stiegen. Hätte sie mich bei sich behalten, wenn ihr Mann nicht gewesen wäre?

Dieser schien mich abgrundtief zu hassen. Oft, wenn er betrunken nach Hause kam, zerrte er an mir herum und prügelte auf mich ein. Beständig stieß er seine Frau, die ihn davon abhalten wollte, zurück und schrie sie an, sie sollte samt mir endlich aus seinem Leben verschwinden. Bis heute höre ich seine Worte, die er ihr in der letzten Nacht vor meinem Auszug entgegenblaffte: »Hast du dem da schon einmal in die Augen gesehen? Hast du ihn jemals weinen gesehen? Selbst wenn er beschimpft oder verprügelt wird, nie verändert sich seine Miene. Sein Blick bleibt stumpf und ausdruckslos. Das macht mich wahnsinnig! Das sind doch nicht die Augen eines Kindes. Wer solche Augen hat, kann nur böse enden. Wie soll man da keine schlimmen Vorahnungen bekommen? Schick ihn zu deinem Bruder, gleich morgen!«

Auch bei diesem Bruder verbrachte ich wiederum nur drei Monate. Pünktlich zum ersten Schneesturm im Januar drückte er mir ein paar Münzen in die Hand: »Du findest die Wohnung deines Onkels in Sanbon doch sicher allein, oder?«

Ich kannte die Adresse noch auswendig. So nickte ich zur Antwort. Er sagte noch, es tue ihm leid, dass er mich leider nicht hinbringen könnte, denn am gleichen Tag wollte er umziehen. Die neue Adresse wollte er mir aber nicht sagen. Ich schulterte meinen Schulranzen, griff nach dem Koffer, setzte eine Mütze auf und verließ die Appartement-Siedlung. Ein kalter scharfer Wind ging mir durch und durch. Der Weg war glatt und verschneit. Ich fror an den Händen, und meine Nase schmerzte fürchterlich. Trotzdem drehte ich mich nicht um. Ich hatte keine Lust, irgendjemanden anzuflehen, mich doch länger bei sich aufzunehmen. Mir fiel auch niemand ein, bei dem ich für immer hätte wohnen wollen. In diesem Augenblick kam mir Onkel Sunghwan wieder in den Sinn.

Erst später habe ich erfahren, dass meine Verwandten unter dem Vorwand meines Unterhalts mein Erbe untereinander aufgeteilt hatten: das Sparbuch meiner Mutter, die Auszahlung der Lebensversicherung und dazu noch das neue Luxusappartement, in dem unsere Familie keine einzige Stunde gewohnt hatte. Doch nicht einmal das konnte ihre Geduld für mehr als jeweils drei Monate erkaufen.

Es dauerte fast fünf Stunden, bis ich in Sanbon ankam. Ich hatte mich unterwegs verlaufen, und als ich endlich klingelte, tönte mir eine fremde Frauenstimme aus der Gegensprechanlage entgegen: »Wer ist da?«

Ich fragte nach dem Onkel, aber sie sagte, dass eine solche Person hier nicht wohne. Zunächst dachte ich, dass ich mich in der Wohnungsnummer geirrt hätte, und vergewisserte mich der Wohnungs- und auch der Hausnummer. Ich hatte mich nicht geirrt – doch die Wohnung hatte einen neuen Besitzer. Völlig außer Fassung rannte ich zur nächsten Telefonzelle. Die Mobilnummer dieses Onkels gab es nicht mehr, ebenso wie die Nummer des Bruders meiner Mutter, der mich hierhergeschickt hat. Keine einzige Mobil- oder Festnetznummer war mehr gültig. Im Bruchteil einer Sekunde landete ich auf dem harten Boden der Realität: Meine Verwandten waren heimlich umgezogen, bevor sie wieder mit mir an der Reihe waren. Und mein leiblicher Onkel, der jetzt wohl ebenso unbekannt verzogen war, hatte mich trotz besseren Wissens hierhergeschickt. Ich versuchte auch, Tante Namju und die anderen beiden Tanten anzurufen – alles umsonst.

Ich fühlte mich gottverlassen und bekam es mit der Angst zu tun. Der Schneesturm wehte in die Telefonzelle, und ich hatte nur eine Herbstjacke an. Meine Jeans war so kurz, dass meine Knöchel zu sehen waren, und die Sportschuhe so klein, dass ich sie mit hinuntergetretenen Fersen trug. Den ganzen Tag hatte ich gehungert, und nur eine einzige Münze war mir geblieben. Die einzige Nummer, die ich noch nicht gewählt hatte, war die von Onkel Sunghwan. Es machte jedoch keinen Sinn, diese Nummer zu wählen, weil es dieses Telefon nicht mehr gab. Dann keimte eine winzige Hoffnung in mir: Angenommen, Onkel Sunghwan hätte ein neues Telefon gekauft und die Nummer übernommen …

Es klingelte. Kurz danach meldete sich eine bedächtige, aber deutliche Stimme: »Hallo?« Er war es. Ich erkannte seine Stimme sofort. Wie konnte ich sie nicht erkennen? Denn ich hatte sie ja keine Sekunde aus meinem Gedächtnis gelöscht. Meine Kehle war wie zugeschnürt, sodass ich keine Antwort hervorbringen konnte. Ich hatte das Gefühl, dass ein großer Kloß in meinem Hals hockte. Er legte aber nicht auf und fragte hartnäckig nach: »Hallo? Wer ist da bitte?«

»Ich bin es«, konnte ich gerade noch hervorbringen. Diesmal wurde es am anderen Ende der Leitung still. Ich nahm allen Mut zusammen und fügte hinzu: »Dein Zimmergenosse.«

Die eine Stunde, die der lila Kleinbus durch den Schneesturm bis zu mir brauchte, erschien mir wie eine Ewigkeit. Wir fuhren nach Ansan, wo er damals lebte. Ich hätte mir leicht einreden können, es wäre wie in alten Zeiten. In seinem Einzimmer-Appartement war es genauso wie früher, als er mit mir ein Zimmer in einem Haus geteilt hatte: Der Laptop auf dem kleinen Schreibtisch, daneben ein hingeworfenes Notizbuch, Schlüsselanhänger, Portemonnaie, eine grüne Schachtel mit Mentholzigaretten, Bierdosen und jede Menge Post-it-Haftzettel, die konzeptlos überall hingeklebt waren. Onkel Sunghwan war ganz der Alte geblieben. Die kurzen, graumelierten Haare, die schmunzelnden Mundwinkel, die stets nach einem Lächeln aussahen, und die Angewohnheit, seine Socken auszuziehen und hinzuschmeißen, sobald er sein Zimmer betrat. Nur sein Beruf war ein anderer. Statt als Schriftsteller arbeitete er nun als Ghostwriter.

Er fragte mich nicht, wie es mir ergangen war. Mein armseliges Aussehen hatte ihm wohl bereits genug über meinen Zustand verraten. Er fragte auch nicht, was aus seinem Handy geworden war, sondern sagte lediglich, dass er darauf gewartet hätte, dass ich mit ihm irgendwann einmal Kontakt aufnehmen würde. Schnell ging ich auf die Toilette, denn ich wollte nicht, dass mein Gesichtsausdruck meine Gefühle verriet. Ich wünschte, dass er mich nicht durchschauen würde: Wie sehr ich mich freute und erleichtert war, dass er noch alleinstehend war, und wie sehr ich fürchtete, dass er mich in einigen Tagen vielleicht wieder zu einem Verwandten schicken könnte.

Als der Winter seinem Ende entgegenging, waren alle rechtlichen Schritte, um mein Vormund zu werden, vollzogen. Sein älterer Bruder hatte mich adoptiert – wie so etwas überhaupt möglich war, habe ich bis heute nicht verstanden. Ich habe meinen Adoptivvater nie zu Gesicht bekommen, nie danach gefragt, und Genaueres wollte ich auch nicht wissen. Einzig und allein die Gewissheit, dass mich Onkel Sunghwan nicht im Stich lassen würde, war mir wichtig.

Ich trat in die Mittelschule ein und klammerte mich ans Lernen. Das war das Einzige, womit ich mich ernsthaft beschäftigen konnte, und mein stiller Schwur war: Ich gebe alles. Auch das war eines der Gesichter meiner Angst, wieder im Stich gelassen zu werden. Der Onkel übernahm bereitwillig die Rolle meines Nachhilfelehrers.

Mit den Prüfungen zum Ende des siebten Schuljahres hatten sich so gut wie alle meiner Ziele verwirklicht: Ich war Klassenbester, und im gesamten Jahrgang belegte ich den fünften Platz. An diesem Tag nahm mich der Onkel mit in ein Grillrestaurant, und wir stießen mit Cola und Bier darauf an. Dann erschien auf dem Bildschirm an der Wand des Restaurants der Name meines Vaters: Seine Todesstrafe wurde nun endgültig durch ein Gericht bestätigt. Mir rutschte das Colaglas aus der Hand.

Und mir wurde klar: Irgendwo in meinem Herzen glimmte noch immer die Hoffnung, dass mein Vater nicht der wirkliche Täter war, dass etwas falsch gelaufen war und dass ich meinen Vater wiedersehen würde, wenn der Täter ermittelt war. Auch erinnerte ich mich daran, was ich bis dahin alles dafür getan hatte, meine Hoffnung aufrechtzuerhalten: Ich hatte keine Nachrichten gesehen, keine Zeitungen gelesen und das Internet gemieden. Niemanden hatte ich nach meinem Vater gefragt, nie das ganze Ausmaß der Geschichte gekannt. Natürlich gab es ständig Gerüchte, wer auf welche Weise umgebracht worden war, wie viele Menschen zum Opfer gefallen wären oder welche Strafe mein Vater bekommen werde. Das war alles, was ich wusste.

Die Nachricht von der Bestätigung der Todesstrafe nahm mir mit einem Schlag all meine Hoffnungen, die nun wie eine Fata Morgana verblichen. Die Post, die mich am nächsten Tag erreichte, brach dann meinen letzten Stolz. Anstelle eines Absenders stand dort ein Postfach, und in dem braunen Kuvert lag Das Sonntagsmagazin, eine Wochenzeitschrift. Sie war an jenem Morgen erschienen, und die gesamte Titelseite wurde von einem Foto eingenommen, das Foto eines Jungen, der sich mit zusammengepressten Lippen ausdruckslos zur Kamera dreht. Man hatte keinen Versuch unternommen, das Gesicht unkenntlich zu machen. So konnte jeder erkennen, um wen es sich da handelte: Das war ich, als Elfjähriger, vor dem Polizeipräsidium in Junchon im Blitzlichtgewitter. Auf den folgenden Seiten konnte man den umfangreichen Sonderteil über ›Das Unheil am Seryong-See‹ lesen. Das Urteil des Prozesses wurde ungekürzt abgedruckt, danach folgte eine Chronik der Ereignisse. Man hätte den Bericht auch eine kritische Biografie nennen können, da die Zeitung das Leben meines Vaters von der Kindheit über seine fast zwanzigjährige Karriere als Baseballspieler bis hin zu seinem Berufsleben nach dem Ausstieg aus dem Sport durchleuchtete. Ein Psychiater gab zudem eine detaillierte Analyse seines Charakters zum Besten. Zwischen den Texten prangten immer wieder Fotos vom Tatort. Als großes Finale ein Foto von meinem Vater: Er hielt seinen Kopf nicht gesenkt, und der ausdruckslose Blick direkt in die Kamera war identisch mit meinem auf dem Titelblatt.

Wer hatte mir das geschickt? Ich wusste es nicht und hob meinen Kopf erst wieder, als plötzlich der Onkel vor mir saß. »Das ist doch nicht wahr?«, fragte ich und schaute mit einem Gefühl der Verzweiflung zu, wie sich seine Augen langsam verdunkelten. »Ich meine, nicht alles ist wahr, oder?«

Nach einer Weile bekam ich endlich eine Antwort: »Die Wirklichkeit ist nicht alles.«

»Das heißt, dass die Wirklichkeit auch eine Lüge sein kann?«

Stille kann manchmal die deutlichste Antwort sein. So auch in diesem Moment. Ich hörte die Stimme der Wahrheit, die sich in mir Luft machte. Nichts war also falsch. Alles waren reine Tatsachen. Ich fühlte, wie meine Augen feucht wurden, und beobachtete, wie es um die Augen des Onkels rot wurde.

Das Sonntagsmagazin platzte wie ein Heuschreckenschwarm in mein Leben. Am Montagmorgen, gleich nachdem ich die Klassentür geöffnet hatte, sah ich es: Auf jedem Platz lag eine Ausgabe. Das lärmige Klassenzimmer wurde mit einem Schlag still. Während ich an meinen Platz ging, war nicht ein einziger Atemzug zu hören. Ich legte meine Tasche auf den Stuhl, nahm das Sonntagsmagazin von meinem Tisch, lief zur hinteren Ecke des Klassenzimmers und ließ es in den Papierkorb fallen. Dann ging ich zurück, öffnete meine Tasche, holte mein Lehrbuch heraus und setzte mich. Ein paar Dutzend Augen waren auf mich gerichtet. Jemand hinter mir begann den Artikel vorzulesen: »Richtet mich hin.« Die Buchstaben in meinem Buch begannen zu verschwimmen. »Das Stauseemonster Choi Hyunsu lehnte bis zum Ende der Verhandlungen einen Anwalt ab. Bei der Urteilsverkündung, in der die Todesstrafe verlesen wurde, zeigte er nicht geringste Regung.« Ich sah nach hinten. Es war Junsok – der Dreckskerl, der mich »Bäckeresel« nannte und regelmäßig dazu zwang, ihm ein Brötchen zu besorgen. Als sich unsere Blicke trafen, stand er mit dem Magazin in der Hand von seinem Platz auf. »Bei der Besichtigung des Tatorts im November 2004 hat Choi Hyunsu den gesamten Vorfall noch einmal ohne jegliche Gefühlsregung nachgestellt, angefangen damit, wie er dem kleinen Mädchen die Kehle zudrückte und wie er seine erschlagene Ehefrau in den Fluss warf. Damit hat er endgültig die Abscheu aller auf sich gezogen.«

Ich klappte mein Buch zu. Mit festem Griff nahm ich meine Tasche, stand auf und ging einige Schritte in Richtung Tür. In meinem Herzen brodelte das Adrenalin. Meine Füße fühlten sich an, als schwebten sie über dem Erdboden. Die Gesichter der Mitschüler verschwammen. Und Junsok las weiter. Ich hatte den Eindruck, dass er darauf aus war, so lange mit der Vorstellung fortzufahren, bis ich endlich aus dem Klassenzimmer verschwand. Natürlich wollte auch ich nichts anderes. Aber erst, nachdem ich ihm sein Maul gestopft hatte.

»Choi Hyunsus Sohn, der damals elf Jahre alt war, versteckte sich in einem Stall des abgewirtschafteten Seryong-Hofs …«

Auf der gleichen Höhe wie Junsok angekommen, stoppte ich. Er warf mir einen kurzen Blick von der Seite zu. Seine Augen zeigten eine Mischung aus Spott, Verachtung und Abscheu. Ich mied seinen Blick und sah auf meine Füße. Er war ein Schlägertyp mit einer eindrucksvollen Laufbahn, viel größer und stärker als ich. Wenn ich ihn angriff, um ihm eine Lektion zu erteilen, würde ich mich in Schwierigkeiten bringen. In diesem Raum hatte ich keinen Beifall zu erwarten. Meine einzige Waffe war meine schnelle Reaktionsfähigkeit. Ich nahm an, dass die erwartungsvollen Blicke der Schüler und seine Überheblichkeit mir, dem »Bäckeresel« gegenüber, eine entscheidende Gelegenheit bieten würden. Also ging ich an dem Kerl vorbei, und er wandte sich wieder dem Artikel zu: »Der Junge, der knapp dem Unheil entgangen ist …«

Ich drehte mich blitzartig um und schwang meine Tasche mitten in sein Gesicht. Der mit Büchern vollgestopfte, schwere Ranzen versetzte ihm einen heftigen Schlag. Junsok schrie auf, knallte mit seinem Hinterkopf an die Schulbank hinter ihm und landete mitsamt seinem Stuhl auf dem Boden. Ich ließ mir diese Gelegenheit nicht entgehen, positionierte mich über ihn und pflanzte meinen Absatz auf seine Brust. Doch dann schlug mich jemand von hinten mit einem Stuhl nieder. Der Anblick von Junsok, wie er sich auf dem Boden wand, verschwamm. Schließlich wurde mir schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir kam, lag ich noch immer auf dem Boden und wurde von meinen Mitschülern niedergehalten.

Junsok wurde ins Krankenhaus gebracht und ich ins Polizeipräsidium. Man hätte mich mit einer Verwarnung freilassen können, wenn man diesen Vorfall als einen einfachen Streit unter Kindern angesehen hätte. Aber die Umstände erschwerten die Sache. Choi Hyunsu, der langsam in Vergessenheit geraten war, war durch die Bekanntgabe des Todesurteils gerade wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Und ich, sein Sohn, hatte das Kind eines unbescholtenen Bürgers in einer Weise niedergeschlagen, dass dieser ein gebrochenes Nasenbein und mehrere Rippenbrüche davontrug. Das unbescholtene Elternpaar weigerte sich, einer Schlichtung zuzustimmen, und die Polizisten hinderten die Journalisten nicht daran, das Polizeipräsidium zu besetzen. Auch Onkel Sunghwan konnte nicht verhindern, dass ich bis zur Gerichtsverhandlung in ein Erziehungslager für kriminelle Jugendliche gesteckt wurde.

Es dauerte vier Wochen, bis ich nach einer kurzen Verhandlung zu zwei Jahren Jugendarrest auf Bewährung verurteilt wurde. In den Augen der Öffentlichkeit war das ein durchaus mildes Urteil. Das beharrliche Bitten des Onkels und seine Bemühungen, mit der Familie des Opfers eine Schlichtung zu erzielen, verhinderten wahrscheinlich die Überführung in eine Jugendvollzugsanstalt. Für diese Bemühungen musste der Onkel sein Einzimmer-Appartement gegen ein Zimmer im Souterrain eintauschen. Wie es bei einem entlassenen Häftling üblich war, reichte er mir ein Stück Tofu und sagte: »Es ist alles gut. Wir haben es überstanden.«

Nein, nichts war überstanden. Dies war erst der Anfang gewesen. Fast zeitgleich mit meiner Freilassung ging das Sonntagsmagazin auch an unseren Vermieter. Diesmal war zudem ein Artikel über meinen großen Auftritt von vor vier Wochen hinzugefügt. Der Vermieter forderte uns auf, unverzüglich auszuziehen. Da mich auch die Schule nicht länger bei sich wollte, musste sich der Onkel zwischen einem Wechsel oder dem Abbruch der Schule entscheiden.

Wie auch immer, die Mittelschule konnte ich nicht abschließen. Nachdem ich zwölf Mal die Schule gewechselt hatte, brach ich sie nun endgültig ab. Nach einer Aufnahmeprüfung ging ich auf die Highschool. In den ersten beiden Jahren wechselte ich weitere neun Mal die Schule. Das Aufdecken meiner Identität folgte immer dem gleichen Prinzip: Das Sonntagsmagazin sowie Kopien von Artikeln über mich wurden zeitgleich der Schule, dem Elternbeirat, den Klassenkameraden, unseren Vermietern und den Nachbarn zugespielt.

So wurden wir Nomaden, und unsere Wohnsitze waren meistens Hafenstädte. Der Onkel brachte mir das Tauchen bei. Das Meer gab mir das Gefühl, frei zu sein. Wenn ich im Schutz des Wassers war, existierte für mich die Welt nicht mehr. Die Wasseroberfläche war wie eine Grenze, durch die die Welt nicht eindringen konnte, wo niemand in mein Leben eingreifen, wo mich kein Blick erreichen konnte und wo keine Stimme zu hören war.

Mein letzter Schulbesuch war die Highschool in Sokcho. Als ich eines Tages in die Schule kam, lag das Sonntagsmagazin bereits auf meiner Schulbank. Die Klassenkameraden schauten mich wortlos an.

Es gibt in dieser Welt Dinge, an die man sich nie gewöhnen kann: ausgestoßen zu werden, andauernde Herabwürdigungen zu ignorieren, Prügel widerstandslos über sich ergehen zu lassen. Durch eine schweigende Masse zu laufen gehört ebenfalls dazu. Während ich das Klassenzimmer verließ, fühlte sich mein Körper wie in Flammen. Ein kaltes Feuer brannte, bis ich endlich den Schulhof überquert, das Schultor hinter mir gelassen und den 24-Stunden-Laden, in dem ich jobbte, betreten hatte.

Der Ladeninhaber war im Geschäft, Kunden kamen und gingen. Auf dem Tresen lag bereits eine Kopie des Sonntagsmagazins. Ich bat den Chef, mir mein Monatsgehalt auszuzahlen. Er scannte Einkäufe ein und sagte mir, ich solle etwas warten. Ich wartete. Dreißig Minuten, eine Stunde. Ausgerechnet an jenem Tag war der Laden voller Kunden. Der Chef knurrte, dass ich den Kunden im Weg stehe. Ich ging zur Hintertür, von dort aus zur Tür am Lager und dann wieder an die Kasse. Ich fühlte mich weder beleidigt noch verlegen.

Seitdem ich als Elfjähriger im Blitzlichtgewitter gestanden habe, bringt mich rein gar nichts mehr aus der Fassung. Jegliche Form von Wut ist mir seit der Zeit im Erziehungslager fremd. Selbst wenn mir gegenüber jemand Wohlwollen zeigt, mache ich mir keine Hoffnungen. Mir ist nichts mehr unangenehm. Natürlich kann man zuweilen den Kopf verlieren, besonders wenn man sich erschreckt hat. Es ist geradezu eine gesunde Reaktion, aufzubegehren, wenn man beleidigt wird. Ebenso liegt es in der Natur des Menschen, Wohlwollen zu erwidern, wenn einem solches entgegengebracht wird. Die meisten meiner Altersgenossen leben so, und auch der Onkel sagt, ich solle so leben. Mir reicht es aber schon, wenn ich überhaupt lebe. Meist antworte ich deshalb, er solle in seiner Belehrung doch einfach das Wort ›so‹ weglassen, dann würde es schon passen.

Ja, auch ich muss durchs Leben kommen. Um das zu schaffen, darf ich weder den Kopf verlieren oder mich empören noch mich schämen oder mich jemandem anvertrauen. Ich nehme den Lohn für meine Arbeit entgegen, selbst wenn ich dafür wie ein Bettler ein paar Stunden vor der Tür warten muss. So kann ich mich durchs Leben schlagen. Oder vielmehr, es bewahrt mich davor, mich selbst auszulöschen.

Nach zwei Stunden bekam ich dann endlich meinen Lohn. Gleich nach Erhalt überfiel mich plötzlich ein unbändiger Hunger. Ich durchkämmte die Regale des Geschäfts und kaufte so viele Lebensmittel ein, wie ich bezahlen konnte: Hamburger, Sushi, Hot Dogs, Sandwiches, eine Fertigmahlzeit … Als ich alles an der Kasse aufstapelte, sah ich, dass ich damit ohne Probleme eine Horde Obdachloser am Bahnhof satt bekommen würde. Ich warf dem Ladenbesitzer das Geld hin und ging.

Am Hafen war es ausnahmsweise ruhig. Ich setzte mich an die Ecke einer Anlegebrücke und aß alles, was ich gekauft hatte, allein auf. Die Bissen, die mir aus dem Mund fielen, stopfte ich wieder hinein und schluckte sie hinunter. Dabei zählte ich, was meine Augen erfassten: die Möwen in der Abenddämmerung, ein- und ausfahrende Fischerboote und die Katzen, die herumstreunten – so wie ich. Schließlich brach die Nacht herein. Ich musste zurück in unser Zimmer in der Nähe der Anlegebrücke. Der Onkel und ich, trautes Heim, Glück allein.

An diesem Tag erzählte ich dem Onkel zum ersten Mal von meinem Vorhaben, die Schule abzubrechen. Ich fühlte bereits länger, dass meine Geschichte endlich aus der Welt sein würde, wenn ich nur die Schule abbrechen und den Wohnort wechseln würde. »Ich werfe das Handtuch.«

Der Onkel schüttelte den Kopf. Ich solle niemals aufgeben. Weder die Schule noch mein Leben. Auch nicht die Welt um mich herum. Niemals solle ich irgendetwas aufgeben. »Es wird besser, wenn du zur Uni gehst.«

Ich stand kurz davor, laut herauszuprusten. Hatte er wirklich Universität gesagt? Träumte er? Welchen Sinn sollte das haben? Mein Leben war seit jener Nacht beendet, als ich aus dem Seryong-Hof trat. Auf meiner Stirn war das Stigma der Erbsünde eingebrannt, und meinetwegen war der Onkel zum Nomaden geworden. Das Sonntagsmagazin würde mich überallhin verfolgen, und die Situation würde sich nicht ändern, was auch immer ich versuchte. Mein Leben würde sich nie mehr ändern. Ich hatte nur einen Wunsch: »Ich möchte gern völlig unerkannt in irgendeinem ruhigen Ort am Meer wohnen.«

Der Onkel schüttelte wieder den Kopf, und seine Augen sagten mir, dass er selbst in einer Million Jahre meinen Wunsch nicht respektieren würde. »Lass uns für ein Jahr mit der Schule pausieren. Es reicht, wenn wir später darüber entscheiden.« Damit kam er mir einen Schritt entgegen. Mit einem knappen »Okay« gab ich mein Einverständnis.

Wir zogen der Küste entlang von Ort zu Ort. Von Osten nach Süden, von Süden nach Westen. Der Onkel fuhr den Kleinbus, und ich las die Karte. Wenn wir eine Ferienwohnung fanden, packten wir unser Gepäck aus, und wenn nicht, schliefen wir im Auto. Wenn uns danach war, aßen wir, und wenn wir Langeweile hatten, gingen wir tauchen. Sobald irgend jemand begann Fragen zu stellen, machten wir uns wieder auf den Weg.

Anfang Januar dieses Jahres erreichten wir das Leuchtturmdorf. Auf diesem Flecken Erde verbrachten wir alle vier Jahreszeiten. Das Sonntagsmagazin schien unsere Spur verloren zu haben. Ich hätte schon viel eher die Schule aufgeben sollen. Warum hatte ich diesen Schritt nicht schon früher getan? Dann hätten wir nicht wie Nomaden mit dem lila Kleinbus umherirren müssen.

Endlich darf ich wieder träumen. Seit Erschaffung der Menschheit träumen alle normalen Menschen denselben kleinen Traum: an einem Ort zu leben. Der Onkel würde schreiben und ich in der Apotheke arbeiten. So würden wir hier lange leben – vielleicht bis zum letzten Atemzug. Nichts, was die Aufmerksamkeit der Welt auf diesen Flecken Erde lenken könnte, darf geschehen. Dies ist wohl auch der Grund, warum mich die Anwesenheit des Chevy-Teams immer stärker beunruhigt.

Auch der Onkel wälzt sich hin und her. Durch die Dunkelheit wird das Geräusch der Wellen in unser Zimmer gespült, die Wanduhr des Vermieters schlägt zehn. Noch immer ist die Chevy-Truppe nicht zurückgekehrt. Ich schließe die Augen. Auf meiner Stirn pulsiert eine Ader. Die Uhr in meinem Kopf tickt und tickt immer lauter.

Wer das Meer nicht kennt, unterschätzt es. Wer es unterschätzt, wird daran Schaden nehmen.

2

Das Telefon neben der Zimmertür klingelt. Wir schrecken gleichzeitig aus dem Bett hoch, und der Onkel nimmt den Hörer ab.

»Herr Schriftsteller, es ist passiert! Etwas Furchtbares ist geschehen!« Aus dem Vermieter sprudelt es nur so hervor. Der Onkel sagt genau drei Sätze: »Haben Sie Feuerwehr und Polizei verständigt? Wo ist es geschehen? Ich komme sofort.« Sie genügen mir, um die Lage einschätzen zu können. Ich stehe auf und mache Licht.

»Es war ein Unfall.« Er nimmt die Thermounterwäsche und den Trockentauchanzug von der Garderobe. »Er hat drei gefunden, aber von dem mit der Kamera gibt es keine Spur.«

Ich würde am liebsten seine Tauchausrüstung verstecken und wünschte, er würde nichts tun. ›Etwas zu tun‹ bedeutet für mich stets, etwas zu verlieren, etwas, was man durch große Mühen und Entbehrungen erreicht hat. Ich aber versuche mit größter Unruhe und Besorgnis, etwas zu schützen: meinen Traum, den ich gerade erst begonnen habe zu träumen.

»Es gibt bei der Bezirksfeuerwehr keine Rettungstaucher. Das heißt, die Küstenwache aus Mokpo müsste anrücken, und dann ist es definitiv zu spät.«

Ganz offenbar hat er meine Gedanken durchschaut. Auch ich ziehe mir jetzt Thermounterwäsche und den Tauchanzug an. Der Onkel hält beim Schließen des Anzugs kurz inne und dreht sich zu mir um. Sein Gesichtsausdruck scheint zu fragen: Traust du dir das zu?

Ich habe mit dem Tiefseetauchen erst im letzten Jahr angefangen. Der Onkel ist ein strenger Lehrer und achtet sehr auf eine gute Grundausbildung. Was das Tauchen anbetrifft, so hat er mich noch nicht ein einziges Mal gelobt. Als seinen Tauchpartner scheint er mich wohl ziemlich gering zu schätzen. Hinzu kommt, dass ich bisher noch keinerlei Erfahrung mit ähnlichen Situationen gemacht habe. Trotzdem halte ich es für besser, ihn zu begleiten, da ich mich zumindest ein wenig mit der Steilwand der Steininsel auskenne.

Ich sehe den Onkel fragend an. Er ringt sichtlich mit sich. Schließlich entscheidet er, dass ich die Buddy-Leine mitnehmen soll. Ich greife mir außerdem noch das Drucklufttauchgerät sowie die Tauchermaske und steige in den Kleinbus.

Wir kommen nach nur einer Minute am Leuchtturm an. Gleich nach dem Aussteigen sehen wir jemanden, der vom Fuß der Klippe wie ein Stier heraufgestürmt kommt. Ohne uns zu beachten, springt Ray-Ban in den geparkten Chevy. Von unten brüllt unser Vermieter ihm nach: »Hey! Und was mache ich mit denen hier, wenn du einfach abhaust?« Der Onkel und ich eilen ihm entgegen. Er ist gerade dabei, sein Boot mit der Leine an einem Poller festzumachen. Im Boot liegen zwei Männer: Einer ist bewusstlos, der andere strampelt immer wieder mit seinen Beinen und schreit dabei. Auf den ersten Blick sieht es nach einem Dekompressionsunfall aus, und sein Verhalten deutet auf einen panikartigen Schock hin. Keines unserer Worte scheint ihn zu erreichen. Er schafft es nicht einmal, mit unserer Hilfe zu laufen.

Der Onkel nimmt den Bewusstlosen auf seine Schulter und steigt den Weg an der Klippe hoch. Unser Vermieter hastet vollgepackt mit allen Ausrüstungsgegenständen hinterher. Ich packe mir den Dekompressionskranken auf den Rücken. Noch bevor ich den ersten Schritt mache, ist bereits klar, wer von uns beiden den Ton angibt: Er brüllt wie ein Verrückter, strampelt wild und würgt am Hals seines Schleppers, der versucht, ihn den Berg hinaufzuwuchten. Mehrmals bin ich kurz davor, von der Klippe zu stürzen. Am liebsten hätte ich ihn einfach wieder ins Meer zurückgeworfen. Oder ihm zumindest zwischen die Beine getreten. Unser Vermieter stöhnt unter der Last der schweren Ausrüstung und fasst trotzdem keuchend den Unfall zusammen: Ungefähr fünfzig Minuten nach Beginn des Tauchgangs der Chevy-Gruppe kam Ray-Ban plötzlich an die Wasseroberfläche – zwanzig Minuten später als verabredet. Und er war nicht mehr bei klarem Verstand. Als ihn unser Vermieter fragte, was mit den anderen geschehen sei, brüllte er ihn an, er solle ihn sofort zum Leuchtturm zurückbringen. Unser Vermieter erkannte gleich, dass die Gruppe im Meer getrennt worden war und dass er sie alle einzeln einzusammeln hatte. Den zweiten Verunglückten fand er am nördlichsten Punkt, den dritten am südlichen Felsenriff. Sobald er ihn ins Boot gezogen hatte, verlor dieser das Bewusstsein. Den Kameramann konnte unser Vermieter nicht finden. Er hatte keine andere Wahl, als das Boot zum Leuchtturm zu steuern, um den Bewusstlosen an Land zu bringen. Erst nachdem er den Onkel gerufen hatte, alarmierte er auch die Feuerwehr und die Polizei. Er sagte, im Durcheinander der Geschehnisse sei ihm zunächst nur der Onkel eingefallen.

Wir kommen zum Leuchtturm zurück, aber Feuerwehr und Polizei sind noch nicht da. Ray-Ban sitzt noch immer allein hinterm Steuer seines Chevrolets und starrt, bis zum Hals in eine Decke gewickelt, vor sich hin. In seinen Augen steht die Angst geschrieben. Er wirkt so aufgebracht, als würde er bei der einfachsten Berührung zuschnappen. Ein Wunder, dass er mit seinem Auto nicht schon über alle Berge ist. Ich setze den Dekompressionskranken auf einen der Sitze. Der Onkel lädt den Bewusstlosen auf dem Rücksitz ab und legt ihm eine Sauerstoffmaske an. Dann setzt er sich neben Ray-Ban.

»Was ist passiert?«, fragt der Onkel.

»Es war nicht meine Schuld!« Seine Stimme ist genauso erregt wie sein Gesicht. Der Onkel schüttelt Ray-Ban an den Schultern und fragt wieder: »Was ist wo passiert?«

»Fass mich ja nicht an!«, brüllt dieser zurück. »Mein Kopf tut weh, und ich fühle mich zum Kotzen.« Ray-Ban stößt den Onkel beiseite. Dieser packt sein Gegenüber jedoch beim Kragen, sodass sich ihre Gesichter direkt ansehen.

»Los! Antworte!«

»Lass los! Ach, Scheiße.« Ray-Ban schlägt unkontrolliert herum, um sich aus dem Griff des Onkels zu befreien. Schließlich beginnt er keuchend, die Ereignisse herauszubrüllen. »Es war in der Mitte der Steilwand. Eine riesige Wassersäule über unseren Köpfen hat uns plötzlich heruntergedrückt. Ich habe versucht, mithilfe des Auftriebs den Abstieg zu verhindern und an die Wand zu kommen. Aber dann bin ich plötzlich nach oben geschossen. Reichts dir?«

Es reichte. Am westlichsten Punkt der Steininsel gibt es in neun Metern Tiefe einen Unterwasserbogen, unter dem sich eine labyrinthartige Schlucht befindet. Bewegt man sich entlang der Schlucht Richtung Süden, gelangt man an eine Stelle, an der die Felswände so glatt wie Hochhausfassaden sind. Dort hatte es Ray-Ban erwischt. Es ist in der gesamten Gegend die tiefste Stelle, und dort trifft man auf eine nach unten gerichtete Vertikalströmung. Man kann sie mit bloßen Augen erkennen, da sie auf der Wasseroberfläche ein langes Band bildet. Die nach unten drängende Kraft ist zwar nicht zu bezwingen, aber wirkt lediglich auf etwa achtzig Zentimeter Breite, sodass man ihr entgehen kann, indem man sich ganz eng entlang den Felsenwänden bewegt. Der Onkel hatte genau vor dieser Strömung gewarnt, weil man in der Nacht das Oberflächenband nicht von gewöhnlichen Wellen unterscheiden kann. Wer die Struktur des Meeresbodens nicht kennt, kommt dort nur schwer wieder heraus. Wie in einem Fahrstuhl kann man bis zu vierzig Meter nach unten gezogen werden, wo sich die Strömung wieder auflöst. Dabei kann man heftig gegen das Riff am Meeresgrund geschleudert werden.

Sie müssen versucht haben, mit zusätzlichem Auftrieb in der Tarierweste dem Sog Widerstand zu leisten. Dass sie dann nach oben geschossen sind, bedeutet, dass sie den Auftrieb falsch reguliert haben. Will man seinen Abstieg in einer solchen Situation mit dem Einblasen von Luft in die Tarierweste verhindern, muss man gleichzeitig das Entlüftungsventil in der Hand halten, sodass man, sobald man sich aus der senkrechten Strömung befreien kann, den Auftrieb durch das Ablassen der Luft wieder normalisiert. Klappt dies nicht, schießt man wie eine Rakete an die Wasseroberfläche. Dass ihm das passiert ist, disqualifiziert Ray-Ban als Tauchgruppenführer. Nicht einmal ein Signal hatte er dabei, mit dem er seine Teammitglieder hätte warnen können.

»Bleib hier sitzen, bis der Rettungswagen kommt! Beweg dich nicht«, sagt der Onkel und lässt seinen Kragen los. Wütend stiert Ray-Ban den Onkel an. Unser Vermieter bleibt im Chevrolet sitzen, denn irgendjemand muss die Lage erklären können, wenn Polizei und Feuerwehr eintreffen. Außerdem kann man die zwei Schwerverletzten nicht einfach dem irren Typ überlassen.

Wir steigen ins Boot, welches der Onkel steuert. Mir passt diese Rettungsaktion nicht ganz. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass der Kameramann noch lebt. Reiner Glücksfall, wenn ihn die Strömung nicht auf den Meeresboden geschmettert haben sollte, oder wenn er im Tiefenrausch sein Atemgerät nicht dem erstbesten Mondfisch gegeben hätte. Oder wenn er es wenigstens geschafft hätte, in einer solchen Situation einen kühlen Kopf zu bewahren.

Das Boot erreicht den westlichsten Punkt. Das Meer ist friedlich, als ob sich hier niemals ein Unfall ereignet hätte. Der Wind ist mild, und die Gezeitenströmung hat aufgehört. Wir müssen jetzt den günstigen Zeitpunkt, an dem das Wasser zwischen Flut und Ebbe stillsteht, ausnutzen. Wenn erst die Ebbe wieder einsetzt, verliert das Wasser sein friedliches Gesicht.

Der Onkel legt das Boot an und setzt am Heck eine fluoreszierende Signalboje als Markierung für unsere Rückkehr ab. Ich drücke die Luftblase der Tarierweste flach, nehme mir eine Ersatzflasche und prüfe den Zustand meines Atemgeräts. Dann schlüpfe ich in meine Flossen und klinke die Buddy-Leine ein. Senkrecht gleiten wir ins Wasser.

Das Meer ist beißend kalt, und ich habe ein Gefühl, als würde mir der Brustkorb zusammengepresst. Ich beginne sofort mit dem Druckausgleich und erreiche den Unterwasserbogen, an dem es von Seeigeln nur so wimmelt. Darunter wartet der dunkle Hohlraum. Die Sichtweite beträgt knapp zehn Meter, und der Onkel zeigt mit seinem gesenkten Daumen in Richtung des Hohlraums. Das ist das Signal für den Abstieg. Ich antworte mit dem Okay-Zeichen.

Mithilfe des Auftriebs steuern wir unsere Abstiegsgeschwindigkeit und gleiten an dem Unterwasserkliff hinab. 15 Meter, 20, 25 … Bei 32 Metern gibt mir der Onkel das Stopp-Zeichen, und wir gehen aus der Vertikalen in die Horizontale. An der mit schwarzen Korallen übersäten Felswand schwimmen wir nach Süden und beginnen zu suchen. Nach ungefähr drei Minuten deutet der Onkel nach unten: Aus einem Gewölbe, welches von riesigen Felsen gebildet wird, schimmert ein Licht.