Der heilige Hunger - Stephanie Grant - E-Book

Der heilige Hunger E-Book

Stephanie Grant

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Beschreibung

Alice Forrester, 25, 180 cm, 41,8 kg: magersüchtig. Wird wegen Herzversagens in die Notfallstation einer Rehabilitationsklinik eingeliefert. Kaum wieder aufgepäppelt, sträubt sich Alice gegen jegliche Behandlung. Sie betrachtet die Anorexie als Form der Selbsterkenntnis in einem beinahe religiösen Sinn, heruntergebrannt bis auf die Knochen, geläutert, reduziert auf das Wesentliche. Sie weiß, wo sie anfängt und aufhört. Bis Maeve Sullivan, die chaotische, unersättliche, lebenshungrige Bulimikerin, in den Klinikalltag einbricht. In der stürmisch-liebevollen Konfrontation mit ihrem puren Gegenteil lernt Alice, sich ihrem Hunger zu stellen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 313

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Stephanie Grant

Der heilige Hunger

Die Geschichte einer Magersüchtigen

Aus dem Englischen von Elke vom Scheidt

FISCHER Digital

Inhalt

Für meine Mutter, Edna [...]Das Leben ist kurz, [...]PrologTeil I123456Teil II78910111213Teil III141516171819202122Teil IV23242526272829Teil V3031323334353637Teil VI383940414243444546

Für meine Mutter, Edna Katherine MacNeill Grant, und für meine Schwester, Jaime Marie Grant, die mir, jede für sich, die Welt geschenkt haben.

Das Leben ist kurz, aber das Verlangen, das Verlangen ist lang.

Jane Hirschfield

 

 

In jeder dicken Frau steckt eine noch dickere.

Barbara Goldberg

Prolog

Wir warten auf Erleuchtungen. In Kreisen gruppiert, auf Metallklappstühlen oder im Schneidersitz auf Schaumstoffmatten auf dem Fußboden, warten wir auf Augenblicke der Einsicht und Selbsterkenntnis. Sie kommen regelmäßig. Ganz ähnlich wie die Erlösung in christlichen Kirchen kommen muß. Zuerst angespanntes Schweigen. Dann ein Aufruhr, ein Schwall häßlicher Worte, die durch den Raum fegen wie ein Wind, ein stockendes Geständnis. Dann die Ansteckung.

Wir warten darauf, daß wir herausfinden, was mit jeder von uns nicht stimmt. Was passiert ist. Wann und wie der Schaden angerichtet wurde. Wer das Werkzeug war, wer irgendeinen simplen Mangel oder nicht ganz so simplen Exzeß in Selbsthaß verwandelt hat. Mangel und Exzeß, das sind die Eintrittskarten: Wer hätte gedacht, daß Mäßigung sich als so wesentlich erweisen würde? Genug Liebe, aber nicht zuviel. Genug Disziplin, aber nicht zuviel. Genug Moral, aber nicht zuviel.

Die Therapeuten wirken wie Stimmgabeln für diese Erleuchtungen. In der Einzelsitzung hämmern sie dir ein: Und dann und dann, und wie hast du dich dabei gefühlt? Aber in der Gruppentherapie demonstrieren sie ihr wirkliches Genie, indem sie ganz sachte aus einem einzigen wurmstichigen Wort vielfältige Geständnisse herausholen. Scham. Schuld. Verantwortung. Vater. Mutter. Bruder. Die Wahrheit ist: Jede beschuldigt irgend jemanden. Jede gibt vor, daß sie hier sei, liege irgendwie nicht an ihr.

Ich habe versucht, den Betreuern meinen Standpunkt zu erklären, aber sie wollen nicht zuhören. Sie sehen uns als Personen ohne freien Willen. Unfähig zu Entscheidungen. Sie haben ordentliche quadratische Schachteln für alles in ihrer Welt, und ich muß in die Schachtel passen, auf der steht, daß Selbstaushungerung das gleiche ist wie Selbsthaß.

Sie könnten nicht falscher liegen.

Meine Anorexie ist eine Form der Selbsterkenntnis. Die Leute meinen, wir Anorektikerinnen betrachteten uns selbst als dick und würden durch Diäten unsichtbaren Speck weghungern. Aber die Leute haben Angst vor der Wahrheit: Wir sind uns selbst lieber so: heruntergebrannt bis auf die Knochen, auf das Wesentliche. Wie beim Kochen (in meinem Fall vielleicht ein etwas paradoxer Vergleich), wo ich statt von Reduzieren lieber von Läutern rede. Ich weiß haargenau, wie ich ohne überschüssiges Fleisch aussehe. Ich kenne jeden Zoll Haut, jeden Muskel, jeden Knochen. Ich sehe, wo und wie sie miteinander verbunden sind. Ich kann die Sehnen und die Gelenke benennen. Ich kann den Knorpel fühlen. Wenn ich esse, verfolge ich die Nahrung, die verdaut wird, beobachte, wie der Klumpen Karotten- oder Reiskuchen weniger wird, bis schließlich die Ausscheidung stattfindet.

Das ist es, was uns trennt – vom Rest der Welt und von den anderen Frauen hier: Anorektikerinnen unterscheiden zwischen Verlangen und Bedürfnis. Zwischen Wünschen und Müssen. Einfach zu wissen, wo ich anfange und aufhöre, scheint heute und in meinem Alter eine bemerkenswerte spirituelle Leistung zu sein. Warum das aufgeben? Warum weniger anstreben? Warum sich anpassen?

In Seaview haben sie eine beschränkte christliche Vorstellung von Spiritualität. Meine Anorexie ist religiös in dem östlichen Sinn: daß sich selbst ganz und wahrhaft zu kennen Gott zu kennen bedeutet. In den frühen Tagen des Christentums gab es eine religiöse Richtung, die sich mehr auf Erkenntnis als auf Glauben konzentrierte. Die Anhänger nannten sich Gnostiker. Sie waren Meister in der individuellen Interpretation der Geschichte Christi; sie glaubten an die Auferstehung als an eine Metapher.

In Seaview nehmen die Betreuer die Auferstehung ganz wörtlich. Tatsächlich nehmen sie alles wörtlich, und das macht sie so humorlos. Sie haben die Phantasie zugunsten des Glaubens an ihre Macht aufgegeben, uns zur Auferstehung zu verhelfen, unser altes Selbst zurückzubringen, das von vorher. Das nennen sie Heilung.

Ich aber bin dem gnostischen Grundsatz verpflichtet, der besagt, daß meine eigene Erfahrung, meine eigenen Einsichten ebenso bedeutsam sind wie die Überzeugungen der Orthodoxen, die einfach das Glück haben, an der Macht zu sein. Und wie die Gnostiker vor mir glaube ich weiterhin an meine eigene Fähigkeit zum Göttlichen.

Teil I

1

Die Toilettentür war verschlossen. Nach meinem Gespräch mit Dr. Paul bat ich «Schwester», sie zu öffnen. Sie reichte mir meine Reisetasche und nahm ein Schlüsselbund aus der tiefen Bauchtasche ihres Schwesternoveralls, wo es Löcher in den Polyester gebohrt hatte. Sie schob mich über die Schwelle und stoppte den Rollstuhl. Ihr breiter weißer Rücken hielt die Tür angelehnt. Ich zögerte. Ich hatte gehofft, sie würde mich den ganzen Weg bis zur Behindertenkabine rollen, der vierten in einer Reihe nach drei schmaleren Kabinen, groß und geräumig wie ein Haus, die riegellose Tür weit geöffnet. Ich konnte die dicken Haltestangen aus Chrom darin sehen.

«Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit», sagte «Schwester».

Ich stellte die Tasche auf den Boden – Syd hatte ein paar Alltagssachen eingepackt, nicht bloß Nachthemden –, schob die Decken vom Schoß und befreite meine Füße. Das Krankenhaushemd reichte mir nicht mal bis an die Knie. Ich schaute über die Schulter. «Schwester» starrte aus der Badezimmertür und ignorierte absichtsvoll meine nackten Schenkel und die Hüttenschuhe – teils Strümpfe, teils Slipper –, die mir auf die Fußknöchel gerutscht waren. Ich zog sie hoch und stemmte mich aus dem Rollstuhl. Die Kälte der weißen Fliesen drang durch die Wolle.

Ich streifte die Becken gegenüber den Kabinen; meine Fingerspitzen strichen über das kühle Porzellan, meine grauen Augen folgten meinem Bild in den Spiegeln. In der Medizinischen hatten die Schwestern gesagt, die Augen seien das Beste an mir; ich hatte immer gedacht, das seien meine Haare, pechschwarz und wellig selbst unter den schlimmsten Umständen. Die Behindertenkabine am Ende der Reihe hatte ihr eigenes passendes Zwergenbecken mit schrägem Spiegel, der meine Knöchel und Waden sehen ließ. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich sie zum letztenmal rasiert hatte.

«Ich wette, die Dicken gehen hier rein», sagte ich und wies auf die geräumige Kabine. «Schwester» trommelte mit den Fingern auf die schwere Holztür.

Ich saß auf meinen Händen auf der Schüssel in der dritten Kabine, zu schwach, um zu kauern, und bemühte mich, ohne Geplätscher in einem dünnen, geraden Strahl zu pinkeln. «Schwester» tat so, als höre sie nichts.

«Dr. Paul ist ein Fiesling», sagte ich, nachdem ich gespült hatte.

«Schwester» zuckte mit den Schultern. «Schlimmer als einige, besser als andere.»

Als ich in den Rollstuhl zurückkletterte, kratzte mir die metallene Fußstütze etwas Haut von der Wade. Ich beugte mich vor und rieb den Schmerz weg; morgen würde ich einen blauvioletten Fleck haben. «Er hat fette Hände», sagte ich.

«Schwester» stopfte die Wolldecke um meine Beine fest und gab mir die Tasche zurück. Ihre Hände waren langfingrig mit großen roten Knöcheln. Sie war meine Lieblingsschwester in der Medizinischen, unaufdringlich und ehrlich. Während meiner drei Wochen dort hatte sie mich nie darüber belogen, was weh tun oder wer zuständig sein würde. Ich nannte sie einfach «Schwester», weil sie die Verkörperung ihres Jobs zu sein schien. Als ich in die Psychiatrische verlegt wurde, verlangte ich, sie solle mich hinfahren.

«Schwester» steuerte den Rollstuhl geschickt wieder aus der Toilette und über den Flur zum Aufzug. Ich konnte die Tür zu Dr. Pauls Sprechzimmer sehen, wo ich untersucht worden war. AUFNAHME, DR. P. SAMPSON stand in großen Blockbuchstaben darauf. Syd war noch drinnen und bekam … ich weiß nicht was, vielleicht allerletzte Instruktionen als Mutter der Kranken.

Während der Untersuchung hatte er nicht viel zu mir gesagt. Syd hatte im Vorzimmer gewartet, während seine Cherubinhände im Untersuchungszimmer über meinen Körper wanderten und Herz, Lungen und Blutdruck prüften. Er klopfte auf meine Brust und meinen Rücken, als halte er nach versteckten Balken in einem alten Haus Ausschau.

«Alles ist da, wo es sein sollte», sagte er und zog die Augenbrauen hoch.

Ich lachte nicht.

Danach, im Vorzimmer, ließ er mich vor Syd auf die Waage steigen. Es war eine altmodische Doktorwaage, geformt wie ein riesiges T, mit einem Metallarm, um die Größe zu messen, und einer dicken Metallplatte, auf der man stand. Ich hielt das Krankenhaushemd hinten zusammen und trat auf die Waage. Meine Zehen in den Hüttenschuhen krümmten sich.

Die erste Überraschung war, daß ich um einen halben Zentimeter geschrumpft war: hundertneunundsiebzig Komma fünf. Niemand außer mir war beunruhigt. Dr. Paul fummelte mit den Gewichten herum, fing erst mit dem Zentnerblock an, schob diesen dann zurück und bewegte die kleineren Gewichte. «Zweiundvierzig und drei Viertel», sagte er, ohne den Hebel ins Gleichgewicht kommen zu lassen.

Syd sah aus, als hätte sie eine falsche Abzweigung genommen. «Was ist das, Dr. Sampson, metrisches System?»

Wieder zog er die Augenbrauen hoch. Dann bestand er darauf, daß wir ihn Paul nannten, beide natürlich, aber es galt Syd. Er ging zu seinem breiten Eichenschreibtisch hinüber und nahm einen limonengrünen Aktendeckel von einem vielfarbigen Stapel. Er lächelte Syd an.

«Alice wurde mit einundvierzig drei Viertel aufgenommen, verlor zwei durch das Initialtrauma, und nun, nach einer Woche intravenöser TPN und einer weiteren Woche Flüssignahrung, ist sie wieder auf – was hatte ich noch gesagt?» Er sah mich an und dann Syd. «Zweiundvierzig und drei Viertel. Kilo, Mrs. Forrester.»

Da hörte ich zum ersten Mal, daß ich die Vierzig unterschritten hatte.

Syd beugte sich auf ihrem Sessel vor. Ihre Augen glitten über meine Fußknöchel, Knie, meine Schenkel mit der kreppartigen Haut und mein weißes Klinikhemd. Bei meinem knochigen Gesicht hielten sie inne. Ihre Pupillen zogen sich zusammen. Zum ersten Mal in drei Jahren sah sie, wie ich aussah. Was ich wog. Es war nicht so, als hätte sie nicht gewußt, daß ich anorektisch war: Sie hatte es bloß nicht gesehen.

Dr. Paul trat hinter seinem Schreibtisch hervor. Er tätschelte ihre schlanke Hand mit seiner fetten und sagte: «Manchmal sind die Zahlen für die Familienangehörigen am schlimmsten.»

 

Als der Aufzug sich mit einem «Ping» öffnete, schob «Schwester» mich auf die Seite, ließ die Fahrgäste aussteigen und rollte mich dann rückwärts in die beigefarbene Kabine – die einzigen Wände im Krankenhaus, die nicht ultraweiß waren. Ehe die Aufzugtüren sich schlossen, sah ich Syd und Dr. Paul aus dem Sprechzimmer kommen. Er war etwa einen Kopf kleiner als sie; sein langes Haar rund um die kahle Schädeldecke hing ihm strähnig über die Ohren; sein Gesichtsausdruck wirkte professionell und bedauernd, als habe ausgerechnet er etwas zu bereuen. Syd in ihrem nadelgestreiften Hosenanzug sah smart und angeregt aus. Wenn man sie nicht gut kannte, konnte man ihr nicht anmerken, daß sie gerade eine erschütternde Nachricht erhalten hatte; wenn man sie nicht gut kannte, konnte man meiner Mutter eine Menge Dinge nicht anmerken. Im letzten Lichtschimmer, ehe sich die Türen schlossen, sah ich, daß Dr. Pauls rosafarbene Hand nach ihrem Ellbogen griff.

2

Ein glücklicher Zufall wollte es, daß die Anwaltsfirma meines Vaters in den letzten fünf Jahren die Steuererklärungen für Seaview gemacht hatte. Der noch glücklichere Zufall war, daß einer der Partner meines Vaters und nicht mein Vater selbst sie bearbeitet hatte, und so erkannte niemand in der Verwaltung meinen Namen, als ich aufgenommen wurde. Das bedeutete, daß wir, meine Familie und ich, den Vorteil hatten, ihre Geschichte zu kennen, ohne daß sie unsere kannten.

Dad sagte, die drei identischen Ziegelgebäude von Seaview – die Medizinische Klinik, das Forschungsgebäude und die Psychiatrische Klinik – seien 1957 erbaut worden, ein Dutzend Jahre nach Kriegsende. Damals erlebte die Psychiatrie einen unerwarteten Boom; Betty Friedans Hausfrauen und aufsässige Veteranen suchten in großer Zahl Hilfe. Der Seaview-Komplex war ein Experiment: Die räumliche Nähe der drei Gebäude ermöglichte den Forschern regelmäßigen Zugang zu ihren Patienten, so daß sie die Zusammenhänge zwischen psychischer und physischer Krankheit besser studieren konnten. Doch gegen Ende der sechziger Jahre wurde klar, daß das Experiment fehlgeschlagen war. Die Forscher mochten die Patienten nicht, oder es gab nicht genug von ihnen mit der gleichen Krankheit für eine richtige Studie; und die Patienten verabscheuten die Forscher, die, wie sie klagten, dauernd versuchten, sie zum Ausfüllen von Fragebogen zu bewegen.

Dad setzte mich an dem Tag, an dem über meine Verlegung in die Psychiatrische entschieden wurde, über alle Einzelheiten ins Bild. Ich wurde nicht gerade zwangsweise eingewiesen, aber die Ärzte machten klar, daß es dazu kommen würde, wenn ich nicht freiwillig ginge. Dad hatte seine Akten über Seaview in mein Zimmer auf der Herzstation mitgebracht und las mir Auszüge vor. Mein Vater und ich waren gern gut informiert; das gab uns ein besseres Gefühl. Er und Syd und ich taten so, als hätten wir selbst entschieden. Es war das erste Mal seit der Scheidung, daß ich sie nicht streitend erlebte.

1973 wurde aus der Psychiatrischen Klinik von Seaview ein Alkohol- und Drogenrehabilitationszentrum; man ließ die mittellosen Spinner für die lukrativeren Süchtigen fallen. Im Forschungsgebäude fing man an, sich auf die Entwicklung von Entgiftungsmedikamenten zu konzentrieren; die Medizinische Klinik blieb mehr oder weniger unverändert und kümmerte sich um die allgemeinen Gesundheitsbedürfnisse der Mittelklasse von Marshfield. Die Abteilung für Eßstörungen wurde erst 1980 gegründet. Sie war die erste Behandlungseinrichtung dieser Art an der Südküste Bostons, nicht ganz auf halbem Weg zwischen der Stadt und Cape Cod. Als ich 1984 dorthin kam, lief das Geschäft gut.

Seaviews dreifach gefalteter Werbeprospekt zeigte auf der Vorderseite ein türkisfarbenes Seepferdchen und innen zwei Bilder von lokalen Stränden. Von keinem der drei Gebäude jedoch konnte man das Meer sehen. In der Broschüre stand, die Psychiatrische Klinik Seaview sei «elegant» und die Einrichtungen «auf neuestem Stand». Vielleicht 1957. Nicht, daß sie jetzt schäbig gewesen wäre. Doch die Funktion hatte eindeutig die Oberhand über die Form gewonnen.

Ich hätte Glück gehabt, sagten alle nach dem Herzanfall, wie immer, wenn etwas ganz Furchtbares, Katastrophales passiert ist; ich hätte Glück gehabt, nach Seaview gebracht zu werden statt ins Goddard- oder Carney-Hospital, die beide näher an der South Shore Plaza lagen, wo ich zusammengebrochen war. Syd und ich waren an diesem Montag für mehrere Kundinnen unterwegs gewesen, und als die Sanitäter Syd die freie Wahl ließen, entschied sie sich für Goddard, weil mein Bruder und ich dort geboren worden waren. Hier nun kam, den Freunden meiner Familie zufolge, mein extremes Glück ins Spiel. An diesem Tag hatte es einen Unfall gegeben, eine Massenkarambolage, ein Dutzend Wagen auf Route 24, wenige Minuten von Goddard entfernt. Wir erhielten den Anruf erst, als wir schon auf halbem Wege dorthin waren; die Stimme des Telefonisten quiekte hoch und aufgeregt durch das Funkgerät. Ich erinnere mich daran, weil ich versuchte, mich auf irgendein Geräusch zu konzentrieren, das nicht Syds Weinen war. Goddards Notaufnahme war voll; sie konnten uns nicht helfen. Es hätte zu lange gedauert, nach Carney zurückzufahren. Wir landeten in Seaview, fünfzehn Minuten östlich auf Route 123. Dort, so stellte sich heraus, waren die Kardiologen der Medizinischen – wegen der Nähe zur Psychiatrischen – erfahren im Umgang mit mageren jungen Frauen, deren Herzen versagt hatten.

3

Wir durften allein in die Cafeteria gehen, über die Treppe in der Mitte des Flurs neben dem Schwesternzimmer. An meinem ersten Tag in der Psychiatrischen begleitete mich Janine, meine Zimmergenossin. Die Cafeteria war groß wie die einer Schule oder eines Konzerns, mit Linoleumböden und flachen fluoreszierenden Lichtquadraten an der Decke. Doch statt der Standardtische aus Resopal und der Klappstühle gab es richtige Möbel.

Wir wählten an einem großen Bedienungsfenster unter drei Frühstücksvarianten. Das erinnerte mich an die High-School. Damen in rosa Kitteln und mit Haarnetzen standen hinter dem offenen Fenster und schoben uns Tabletts zu. Wir gingen hintereinander und suchten uns entweder pochierte Eier auf Weizentoast oder Haferbrei mit Äpfeln und Zimt oder Corn-flakes mit Banane aus. Janine erklärte, mittags und abends bekämen wir spezielle Tabletts mit unseren Namen darauf, aber beim Frühstück versuchten sie, uns die Verantwortung zu überlassen für das, was wir aßen. Ich verlangte eine frische Schüssel Cornflakes, auf die noch keine Milch geschüttet worden war. Eine der Bedienungen ging nach hinten und brachte mir eine trockene Schüssel und ein kleines Glas Milch.

«Bitte sehr, Püppchen», sagte sie.

«Entfettet?»

Sie lächelte und verschränkte die Arme. «Wir haben hier nur entfettete Milch, Schätzchen.»

Janine winkte mir von einem der Tische aus zu. «Ich hab dir einen Platz freigehalten.» Sie wies auf einen gedrungenen roten Sessel mit Kissen. «Nimm den.» Sie hatte den Mund bereits voller Haferbrei.

Ich stellte mein Tablett auf den Tisch und zog mit beiden Händen den Stuhl heraus. Nicht zwei waren gleich; sie stammten aus verschiedenen Räumen eines Hauses: Küche, Wohnzimmer, Stube. Janine saß auf einem Kapitänsstuhl aus Ahornholz.

«Die Sessel sind am beliebtesten», sagte sie.

Ich wußte, sie erwartete, daß ich dankbar war. Vermutlich gewann Janine auf diese Weise Freundinnen; sie sorgte dafür, daß man ihr etwas schuldig war. Sicher, man hatte sie angewiesen, sich um mich zu kümmern, aber ich konnte sehen, daß es ihr gefiel. Ich schaute mich im Raum um. Etwa ein Dutzend unförmiger Mädchen suchte sich Plätze an heimeligen Küchentischen. Ich hoffte, niemand würde sich zu uns setzen. Das Geplapper meiner Zimmergenossin reichte mir.

Ich zerdrückte die Corn-flakes auf dem Boden meiner Schüssel, während Janine alles wiedergab, was sie in ihren fünf Wochen in Seaview gelernt hatte; sie hoffte, in weniger als zehn Tagen entlassen zu werden, wenn alles gutging. Sie sagte mir, es sei völlig in Ordnung, Angst zu haben. «Alle haben zuerst Angst», sagte sie.

«Aber ich hab keine Angst», erwiderte ich. «Nicht so wie die anderen.» In meinen ersten vierundzwanzig Stunden hatte ich kein einziges Mal geweint, weil ich mir nicht leid tat. Und sie mir auch nicht. Wir hatten schließlich gewählt, was wir gewählt hatten. Ich sagte: «Ich hab bloß Angst, fett zu werden.»

Janine schaute auf ihren Haferbrei herunter, und ihr selbstgefälliges, herablassendes Lächeln schwand.

Ihre Kleider saßen eng. Sie hatte vermutlich zugenommen, seit sie hergekommen war.

Ich fragte mich, wem es überhaupt eingefallen war, uns alle zusammenzustecken. Die Fettleibigen zu den Dünnen. Die erste Aktivität am Morgen war eine öffentliche Meditation gewesen. In einem rechteckigen Raum am Ende des Flurs rollten wir uns auf Matten herum. Mary Beth, die Physiotherapeutin, brachte uns einfache Yogaübungen bei. Sie ließ uns die Gesichter nach Osten wenden, um die Sonne zu begrüßen. Die Sonne mußten wir uns allerdings vorstellen. Die Fenster waren mit taubengrauen Vorhängen verhängt. Zu meiner Linken und zwei Matten hinter mir schnaufte das fetteste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Ich hätte sie gern genauer betrachtet, aber ich konnte ja schlecht den Hals nach ihr verrenken; Osten war Osten, und die Riesin saß westlich von mir. Trotzdem wurde ich den Gedanken nicht los: Was hatten wir einander zu bieten außer Grausamkeit?

Die einzig interessante Neuigkeit, die Janine zu berichten wußte, war, daß sowohl die Duschen als auch die Toiletten verschlossen waren.

«Warum die Duschen?»

Ihr Lächeln kehrte zurück. Janine hatte ein lebenslustiges Aussehen: der strammste Pferdeschwanz, den man sich vorstellen kann, hohe Wangenknochen und ein teures Make-up. Sie hätte als Majorette an der Spitze marschieren können. «Das Wasser übertönt jedes Geräusch», sagte sie.

«Also deshalb steht die Schwester Wache?»

«Genau.»

Ich stellte mir die nackte, pferdeschwänzige Janine vor, wie sie sich über das Ablaufbecken der Dusche kauerte. «Also hast du …»

«Bulimie und Anorexie», sagte sie.

«Beides?»

«Beides.»

«Ich dachte, das wäre ein Widerspruch in sich.»

«Es ist neu, aber sehr häufig», sagte sie. «Was bist du denn, nur anorektisch?»

«Hm.»

«Da bist du heutzutage eine Seltenheit. Die meisten von uns sind beides.»

«Im Ernst?» Ich hatte gedacht, daß man entweder zuviel aß oder nicht aß; ich hatte gedacht, das wäre der grundlegende Unterschied.

«Ich hatte es mit diesen New-Age-Gesundheitsdiäten», sagte sie. «Das waren schlicht verkleidete Entzugsdiäten. Kein Zucker, kein weißes Mehl, keine Milchprodukte, kein rotes Fleisch, kein Koffein. Keinerlei Toxine.»

Ich wollte mich nach dem Erbrechen erkundigen, aber Janine wartete nicht auf Fragen.

«Ich aß sehr gesund: Gemüsesäfte und Weizenkeime, gedünstete Gemüse und braunen Reis. Algen. Hin und wieder ein freilaufendes Huhn – eins ohne Hormone. Und eine Menge Miso-Suppe.»

Mir wurde klar, daß alle so sein würden, jede begierig zu erzählen, was sie mit dem Essen machte. So, wie Mädchen im College über Masturbation reden. Ich fühlte mich altmodisch, als ich erklärte, ich zählte einfach Kalorien. Nicht, daß ich nicht eine Weile so gegessen hätte wie Janine; eine Zeitlang hatte ich jede Methode ausprobiert. Doch im Lauf der Jahre kehrte ich zum schlichten Kalorienzählen zurück: fünfhundert am Tag zum Halten des Gewichts, vierhundert zum Abnehmen. Ich liebte die Kontrolle, die absolute Fähigkeit, meine Nahrungsaufnahme zu bemessen. Keine Überraschungen. Keine Notwendigkeit, Abführmittel zu nehmen. Ich versuchte, es schlicht zu halten, was zufällig einer der faden Slogans von Seaview war. Wenn ich handhaben konnte, was hineinkam, dann konnte ich auch handhaben, was hinausging. Kein Drama, kein Durcheinander.

Janine zeigte auf meine Schale Corn-flakes. «Du brauchst das nicht zu tun.»

«Was tun?»

«Dein Essen zu verstecken.»

Die Corn-flakes waren mit Milch bedeckt.

«Sie zwingen uns nicht zu essen. Sie überwachen unsere Nahrungsaufnahme nicht einmal besonders. Sieh dir die Betreuerin dort an» – sie wies auf eine untersetzte Frau in einem geblümten Kleid – «das ist Gert. Sie hat Dienst.»

Gert ging von Tisch zu Tisch, plaudernd, das Kinn vorgereckt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Sie sah sich die Gesichter an, nicht die Teller.

«Sie merkt sich, was du ißt, aber eine Zeitlang unternehmen sie nichts dagegen. Sie haben diese Theorie, daß du nach zwei Wochen von allein vernünftig bist.»

«Und was passiert, wenn ich das nicht bin?»

Janine zuckte mit den Schultern, und ihr Gesicht errötete am äußeren Rand etwas.

Ich fragte: «Wird man zwangsernährt?»

«Nicht eigentlich.»

«Was dann?»

Sie suchte den Raum ab. Ihre Augen fanden jemanden. «Siehst du das Mädchen, das an dem Tisch gleich neben dem Bedienungsfenster sitzt?»

Ich drehte mich um. Da war ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, das auf einem Küchenstuhl saß. Ihre Füße hingen über dem schwarzweißen Linoleumboden; wenn sie die Zehen reckte, würde sie ihn erreichen. Jemandes kleine Schwester, hatte ich gedacht.

«Amy ist seit drei Monaten hier. Sie entlassen sie erst, wenn sie ein bestimmtes Gewicht erreicht.»

«Wie alt ist sie?»

«Dreizehn.»

«Unmöglich. Sie sieht aus wie zehn, höchstens elf.»

«Ich weiß. Man sagt, daß sie ihr Wachstum vielleicht permanent zum Stillstand gebracht hat.»

«Sie hat eine Figur wie ein Lineal.»

«Das brauchst du mir nicht zu sagen.»

Janine hatte keine Figur wie ein Lineal, sondern eher wie eine Birne. Vielleicht war sie als Lineal hergekommen. Sie sagte: «Amy hat sogar ein Einzelzimmer.»

«Ein Einzelzimmer? Ich dachte, es gäbe nur Doppelzimmer.»

Janine schüttelte den Kopf. «Anfangs hatte sie eine Zimmergenossin, aber dann haben sie sie verlegt.»

«Warum denn das?»

«Wer weiß.» Janine wandte den Blick ab.

Ich fragte mich, ob sie es sehen konnte. Mein Verlangen, das Form annahm. Ich haßte es, wenn Leute wußten, was ich wollte. Unser Zimmer war torpedoförmig, und zwischen den Betten konnte man sich kaum durchzwängen. Letzte Nacht hatte ich zugehört, wie sie nicht schnarchte; immer, wenn sie kurz davor war, wenn ihr Atem ungleichmäßig wurde, hatte sie sich auf die andere Seite gedreht.

«Sie muß ziemlich verrückt sein, diese Amy», sagte ich, «daß sie ein eigenes Zimmer bekommt.»

Janine sah mich an und seufzte. «Ich glaube, Amy will einfach nicht, daß es ihr bessergeht.»

Ich nickte nüchtern.

«Und das ist das einzige, was sie verlangen.» Vor Rührung wurde ihre Stimme dünn. «Daß wir wollen, daß es uns bessergeht.»

«Hört sich vernünftig an», sagte ich, dachte an ein Einzelzimmer, träumte davon, was ich erbitten würde und wie. Aber ich wußte damals schon: Das war nichts, was man verlangen konnte.

4

Nach dem Frühstück gab es einen Vortrag über Ernährung und allgemeine Gesundheitsfürsorge. Stellen Sie sich vor, Leute, die sich den Finger in den Hals stecken – oder essen, bis sie umfallen, oder nicht essen, bis sie umfallen –, über Ernährung zu belehren. Vitamine und das Immunsystem. Als sei Wissen alles, was uns fehlte.

Dabei waren zwei der Frauen tatsächlich selbst Ernährungsfachleute – Janine und diese alte Dame. Ich beobachtete, wie sie sich komplizierte Fragen über Nahrungszusammensetzung und Aminosäuren ausdachten, die Hände in die Luft reckten, wenn sie meinten, sie könnten sich in Szene setzen. Die ältere Frau hatte es hauptsächlich mit Laxativa und den Därmen. Reinigung nannte sie das. Sie war noch immer aufgeschwemmt und leicht orange gefärbt von den Abführmitteln. Sie nahm etwa zwanzig am Tag. Sie hieß Victoria, aber man nannte sie Queen Victoria, weil sie so alt war, mindestens sechzig. Sie trug Bilder von ihren Enkelkindern mit sich herum, und zwar in einem brieftaschengroßen Fotoalbum, auf dessen Vorderseite «Die verrückte alte Oma mit den Bildern in der Tasche» stand. Es war aus rotem Kunstleder mit Goldbuchstaben und einem Schnappverschluß.

Von der Ernährung gingen wir zur Kunsttherapie. Obwohl wir eigentlich nirgends hingingen. Ein Summton signalisierte das Ende der Stunde. Keine Glocke. Er klang neutral wie eines dieser neuen Telefone. Auf diesen Ton hin verließen wir den Gruppenraum und standen ein paar Minuten auf dem Gang herum, während sie die Möbel umstellten und die Vortragenden wechselten. Es war keine Zeit, um etwas anderes zu tun, als sich Queen Victorias Bilder anzusehen. Fast alle der Kinder waren in dem Alter, in dem sie Zahnlücken haben.

Nachdem wir wieder drinnen waren, teilte uns die Therapeutin je nach Störung in Zweiergruppen ein. Wir bildeten eine krumme Reihe, Vielfraße mit Vielfraßen, Hungerkünstlerinnen mit Hungerkünstlerinnen, Frauen, die erbrachen, mit anderen Frauen, die erbrachen. Ein Mädchen blieb übrig: die dicke Schnauferin, der ich in der Meditationsstunde zugehört hatte. Die Kunsttherapeutin – sie hieß Cass – erbot sich, ihre Partnerin zu sein. Wir bekamen riesige Rollen körniges Papier, zwei Stück pro Paar. Cass sagte, wir würden lebensgroße Zeichnungen von unseren Körpern anfertigen. Sie könnten phantastisch oder realistisch sein, ganz wie wir wollten. Das einzige, was sie wahrheitsgetreu haben wollte, war der Umriß. Wir nahmen unsere Plätze auf dem Boden ein und ließen dazwischen genug Platz für Cass zum Durchgehen. Einige mußten bis auf den Flur ausweichen. Die Hälfte von uns legte sich auf die am Boden ausgebreiteten Papierrollen, während die andere Hälfte unsere Umrisse nachzeichnete. Die Ecken des Papiers rollten sich zu unseren Köpfen und Füßen ein, bis wir sie mit unseren Schuhen beschwerten.

Ich hatte gehofft, Amy würde meine Partnerin sein – ich wollte fragen, wie sie es angestellt hatte, ein Einzelzimmer zu bekommen –, aber sie war nicht zur Kunsttherapie erschienen. Cass sagte, Amy habe in den drei Monaten ihres Aufenthalts schon drei Körperzeichnungen vollendet. Ich fragte mich, wo sie statt dessen hingegangen sein mochte. Cass machte mich mit einer teigigen Anorektikerin namens Gwen bekannt.

«Guinevere?» fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf, nein, aber sie sah aus wie König Artus’ Gemahlin. Der Typ, der kein Leitungswasser trinkt, nicht einmal abgekocht als Tee. Und Perlen mit Badeöl in jedem Bad. Wie die, die ich meinem kleinen Bruder Alex zu essen gegeben hatte, als er drei war. Syd bewahrte sie dekorativ wie Obst in hölzernen Schalen auf dem Rand ihrer Badewanne auf.

«Gwendolyn?»

Sie nickte, und ihr weißblondes Haar begann sich aus dem Nackenzopf zu lösen. Sie bewegte sich behutsam, als hänge ihr Körper nur an Fäden zusammen.

Gwen kauerte sich neben meinem Ohr nieder und kroch auf dem Boden um mich herum; sie atmete vernehmlich, als sie meinen Umriß nachzeichnete. Ich bildete mit meinem Körper einen Hampelmann: Hände über dem Kopf aneinandergelegt, Füße gespreizt. Ich schloß die Augen. Unter meinen Handrücken fühlte sich das Papier rauh an. Meine Schulterblätter und mein Steißbein drückten durch das Papier auf den flachen grauen Teppich darunter. Gwen kroch um meine Füße herum. Sie war nicht gerade gesprächig. Ich öffnete ein Auge. Die Linie, die sie zog, war kaum erkennbar, das Papier verzeichnete nur den Druck ihres Stifts. Ich verfolgte ihr Vorrücken zu meinem anderen Schienbein, um mein Knie herum. Sie achtete sorgfältig darauf, mich nicht zu berühren, wahrscheinlich haßte sie das Gefühl von Fleisch genauso wie ich. Vielleicht war das der Grund, warum sie uns je nach Störung zusammengespannt hatten.

Sie beendete den Umriß bei meinen Händen und ließ sich mit den Fingern Zeit. Als sie aufstand, murmelte sie etwas.

«Wie bitte?» Ich stand auf, um es mir anzusehen.

«Hübsche Handgelenke.» Sie sprach kaum hörbar.

Wir starrten auf die Zeichnung. Meine schmalen Handgelenke sahen fast aus, als seien sie über meinem Kopf gefesselt.

«Aristokratisch», sagte sie leise und befeuchtete sich mit spitzer Zunge die Lippen.

Ich war mit ziemlicher Sicherheit die dünnste Frau im Raum.

Um Gwens Umriß zu zeichnen, brauchte ich nur halb so lange wie sie, vielleicht, weil ich größer war und sie schneller umrunden konnte, aber auch, weil sie die Hände an den Seiten und die Beine fest geschlossen hielt. Ich brauchte weniger Striche zu ziehen.

Als wir fertig waren, hielt Cass einen Vortrag. Sie schob sich das lange, unfrisierte graue Haar hinter die Ohren, und ihre Hängebrüste wurden sichtbar. Sie trug erdige Farben und Espadrilles.

«Von heute an, meine Lieben, werdet ihr daran arbeiten, die Körperzeichnungen auszufüllen, bis ihr Seaview verlaßt», sagte sie. «Benutzt, was immer euch gefällt: Wasserfarben, Feder und Tinte, Kohlestifte, Collagen, Pailletten, Federn. Alles ist möglich.» Sie ging zu den Holzschränken hinüber, die an einer Wand standen, und kramte Schlüssel aus ihrem Malerkittel. «Begutachtet die Schachteln und wählt die Materialien. Heute wird nicht ausgefüllt, nur nachgedacht.»

Wir stellten die Schachteln mit den Materialien zwischen unsere Umrisse auf den Boden. Gwen gab Schritt eins ihres Plans bekannt: Lackschuhe. Sie suchte in dem Karton mit verschiedenstem Bastelzeug nach glänzendem Material, das den Lack imitieren würde. Jemand schlug Isolierband vor. Die Schnauferin, Louise, anscheinend eine Freundin von Gwen, erschien wieder. Cass hatte ihren Umriß im Flur gezeichnet. Ich hatte nie begriffen, wie fette Menschen zu ihrer seltsamen Figur kommen, warum das Gewicht sich nicht gleichmäßig verteilt, sondern sich gewöhnlich an einem oder mehreren unförmigen Körperteilen sammelt. Louise war ein Rhombus mit einem dicken Fettring wie einem Reifrock oder Autoreifen um die Hüften; die Fleischwülste verjüngten sich zu Kopf und Füßen hin. Sie drängte sich seitlich an mir vorbei neben Gwen. Die Gruppe bewegte sich in einer Schlangenlinie und stapfte auf Strümpfen um die flachen Umrisse herum.

Nicht, daß es mir etwas ausgemacht hätte, daß Gwen und Louise Freundinnen waren. Ich hatte so wenig vor, mich mit Gwen anzufreunden, wie ich Louises Kumpel hätte sein wollen. In einem Raum mit hundert Leuten wären sie die beiden letzten gewesen, die ich mir ausgesucht hätte. Warum sollte ich tun, als sei es anders, bloß wegen der Umstände? Was mich am meisten überraschte, war, daß Gwen nichts gegen Louise zu haben schien. Oder zu scheu war, um Einwände zu erheben.

Nachdem wir eine halbe Stunde lang «Materialien gewählt» hatten, versammelte Cass uns in einem Kreis, um über unsere Pläne zu reden. Sie sagte, wir könnten uns auf die Matten setzen, die wir bei der Morgenmeditation benutzt hatten. Anscheinend würden die meisten unserer Aktivitäten hier stattfinden, im Gruppenraum. Er war groß, mit Klappstühlen und Matten und allen als notwendig erachteten Ausstattungsgegenständen in hölzernen Schränken. Die Wand den Schränken gegenüber bestand ganz aus Fenstern. Nicht so kleinen, lukenähnlichen wie in unseren Zimmern, sondern richtigen Fenstern, die in Kniehöhe begannen und bis zur Decke reichten. All unsere Aktivitäten sollten also eigentlich bei hellstem Licht stattfinden, aber bisher war das nicht geschehen. Sie hielten die Vorhänge immer geschlossen. Ich hatte die Meditationsmeisterin nach dem Grund gefragt, und sie hatte gesagt, um Wärme und Intimität zu schaffen. Was absurd schien. Als hätte irgend jemand den Wunsch gehabt, zu uns hineinzuspähen.

Cass jedoch zog für unsere Diskussion die Vorhänge auf. «Das Licht verändert alles», sagte sie, «nicht nur, wie wir die Dinge sehen, sondern auch, wie die Dinge sind.»

Wäßriges Märzlicht strömte herein, stach uns in die Augen und zwang uns, die Lider zusammenzukneifen oder mit den Händen zu beschirmen. Wir sahen bleich aus, tuberkulös. Selbst die Fettesten.

5

Ich brauchte weniger als vier Tage, um die unterschiedlichen Denkschulen in Seaview zu durchschauen. Nicht, daß sie so schwer auszumachen gewesen wären; die Betreuer machten kein Hehl aus ihren Ideologien. Die vorherrschende Richtung bestand aus den Zwölf Schritten, die, zusammengefaßt, besagten, daß Essen und das, was man damit machte, suchterzeugend sein können. Eine Rose war eine Rose war eine Rose, daher war die Behandlung dieselbe wie bei Alkoholikern und Drogenabhängigen, allerdings leicht kompliziert durch die Tatsache, daß man (leider, leider) niemals gänzlich auf den Stoff verzichten konnte. Wir nahmen an mindestens einem Zwölf-Schritte-Treffen pro Tag sowie Workshops dazu teil. Die berühmten Schritte hingen auf riesigen Tafeln an den Wänden jedes Behandlungszimmers. Die am häufigsten wiederholten Slogans waren wie bei Ziertüchern auf Deckchen und Kissen in unseren Schlafzimmern gestickt. Als ich nach Seaview kam, war mir sofort aufgefallen, daß die Leute komisch redeten; die ständige Wiederholung gewisser Sätze hatte etwas Ansteckendes.

Die zweite Theorie lehnte sich eher an Freud als an Bill W. und Dr. Bob an, die Begründer der Anonymen Alkoholiker. Sie besagte, daß Eßstörungen nur ein Symptom einer umfassenderen psychischen Störung sind. Man heile das wahre Problem, und die Eßstörung verschwindet. Diese Theorie war nicht so unvereinbar mit der Lehre von den Zwölf Schritten, wie es zunächst den Anschein hatte. Gert, die oberste Verfechterin der Zwölf Schritte, sagte, Sucht sei eine physische, spirituelle und emotionale Erkrankung, die an allen Fronten gleichzeitig bekämpft werden müsse. Daher wurden Psychositzungen nicht nur gefördert, sondern waren obligatorisch. All das erklärte die endlose Folge von Einzel-, Gruppen- und Familientherapien, die wir besuchten. So weit waren sie sich alle einig: Die Heilung würde durch Reden erfolgen.

Schließlich gab es noch den feministischen Standpunkt, der in Seaview höchstens am Rande vertreten war. Dana, bei der ich Einzeltherapie hatte, war die Hauptverfechterin. Die Grundthese war, daß Frauen, als sie zu Beginn der siebziger Jahre, während und nach der Frauenbewegung, mehr öffentlichen Raum einzunehmen begannen – also in der Arbeitswelt, in der Politik und in den Spätnachrichten –, immer weniger privaten Raum beanspruchen durften. Mit anderen Worten, Frauen hatten physisch kleiner zu sein, zu Hause, in der Küche und im Bett. Es war eine schöne, saubere Theorie: Damals war Twiggy in Mode gekommen. Die dicken Mädchen liebten sie, denn die Behandlungsstrategie bestand darin, keine Diäten mehr zu halten und aufzuhören, die eigene Figur verändern zu wollen. Wir alle waren so, wie wir sein sollten, auf die verschiedensten Weisen geformt, nicht nach einem einzigen und einzigartigen Ideal. Aber die meisten von uns wollten sich darauf nicht einlassen. Ich konnte beinahe sehen, wie sich der kollektive Gedanke bildete: Da fangen die Feministinnen schon wieder an, Häßlichkeit zu rationalisieren.

Nicht, daß ich mich nicht als Feministin betrachtet hätte. Das durchaus. Aber wie die meisten Frauen meines Alters konnte ich den Feminismus ein- und ausschalten. Und außerdem war ich Katholikin. Ich war als junges Mädchen konvertiert, praktizierte aber nicht mehr, als ich nach Seaview kam. Was bedeutete, daß ich als Feministin und Katholikin gleichzeitig zwei entgegengesetzte Meinungen im Kopf haben konnte.

Es ist wohl nicht überraschend, daß unsere Tage in Seaview durchstrukturiert waren. Nach dem Mittagessen hatten wir Eßgruppe, wo wir – so etwas kann man nicht erfinden – über das sprachen, was wir gerade gegessen hatten. Wenn wir unsere Tabletts zurückgegeben hatten, wurden die Tische der Cafeteria beiseite geschoben, und wir rückten unsere Stühle zu einem lockeren Kreis zusammen. Die Cafeteria-Damen schlossen das Bedienungsfenster, ließen eine Trennwand herunter wie eine Jalousie und machten sauber, unbeobachtet von uns, obwohl wir ihre Geräusche aus der Küche hören konnten, nasale South-Shore-Akzente, die das Surren des Geschirrspülers, das Klirren von Geschirr gegen Glas und das Kratzen großer Besen übertönten. Es waren tröstliche Geräusche. Der einzige Trost während der Eßgruppe.

Wir rochen die Suppe des folgenden Tages, wenn wir darüber sprachen, wie es sich anfühlte, Essen zu schmecken, zu schlucken und zu verdauen. Gewöhnlich Gemüsesuppe. Ohne Kartoffeln, sondern mit Kohl, Zwiebeln, Karotten und so weichem Sellerie, daß man ihn am Rand des Suppentellers zerdrücken konnte. Ein Hauch schwarzer Pfeffer. Heute hatten wir Hühnersuppe mit Nudeln bekommen, und ich konnte noch immer das Hühnerfett auf meinen Lippen schmecken. Ständig wischte ich mir mit der Serviette, die ich behalten hatte, den Mund ab. Die Bulimikerinnen waren um diese Zeit besonders verstört. Sie konnten es nicht ertragen, irgend etwas in ihrem Körper zu haben. Die Nahrung in Hals und Speiseröhre zu spüren, ohne das Versprechen der Erleichterung, war Folter. Sie zeigten dahin, wo das Essen steckenblieb – über dem Brustbein, in der dreieckigen Vertiefung, wo die Schlüsselbeine zusammentreffen. Sie rieben sich das Dreieck mit dem Finger, wie man einer Katze die Kehle reibt, damit sie eine Pille schluckt. Sie konnten nicht stillsitzen.

Gert fing an: «Okay, wer ist die erste?»

«Mir ging es gut, absolut gut. Ich fühlte mich hungrig und dann satt. Es war nichts als Essen.»

«Gut, Janine.»

Alle haßten sie, nicht bloß ich. Es war, als wolle sie Klassensprecherin werden. Sie sagte nie etwas Falsches.

«Sonst noch jemand?» fragte Gert. Louise fing an zu weinen.

Gert ließ sie eine Weile in Ruhe. Sie liebten es, wenn man weinte. Dann fragte sie: «Können Sie uns sagen, warum Sie weinen? Warum Sie traurig sind?»