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Der "Heliand" ist eines der ältesten Zeugnisse deutscher Dichtung. Kurz nach dem Sachsenkrieg Karls des Großen verfaßt, versucht ein zum Christentum bekehrter Sachse den noch heidnischen Volksgenossen durch sein Werk, Jesus, den Christus als Erlöser der Menschheit nahezubringen. Er schuf so ein deutsches Evangelium und damit die erste, in einer germanischen Sprache verfaßte Evangelienharmonie. Als Anhang zu dieser Ausgabe des "Heliand" wurden noch die Bruchstücke einer altsächsischen Genesis-Dichtung beigefügt, welche ebenso, wie dieser, aus dem 9. Jahrhundert stammen, und so zu den ältesten Zeugnissen christlicher Dichtung im deutschsprachigen Raum zählen.
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Seitenzahl: 219
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Einleitung
Der Heliand
I. Eingang.
II. Der Priester Zacharias.
III. Marias Verkündigung.
IV. Weihnacht.
V. Simeon und Hanna.
VI. Die Weisen aus Morgenland.
VII. Flucht und Heimkehr.
VIII. Der Knabe Jesus im Tempel.
IX. Der Täufer Johannes.
X. Die Versuchung.
XI. Die Berufung der Jünger.
XII. Die Bergpredigt.
XIII. Die Sendung der Jünger.
XIV. Die Hochzeit in Kana.
XV. Der Zenturio von Kapernaum.
XVI. Der Jüngling von Nain.
XVII. Die Stillung des Meers.
XVIII. Heilung des Gichtbrüchigen.
XIX. Parabeln.
XX. Der Tod des Täufers.
XXI. Die Speisung des Volks.
XXII. Der Wandel auf dem Meer.
XXIII. Die Kananitin.
XXIV. Die Verklärung.
XXV. Gleichnisse.
XXVI. Die Blinden von Jericho.
XXVII. In Jerusalem.
XXVIII. Erweckung des Lazarus.
XXIX. Die Verheißung des Gerichts.
XXX. Das Ostermahl.
XXXI. Gethsemane.
XXXII. Der hohe Rat.
XXXIII. Pilatus.
XXXIV. Golgatha.
XXXV. Auferstehung und Himmelfahrt.
Anhang: Die Bruchstücke der altsächsischen Genesis
I. Adams Klage.
II. Kain.
Zweites Kapitel.
III. Sodom.
Zweites Kapitel.
Das Volk der Sachsen, wahrscheinlich ein skandinavischer Stamm, überfiel seit dem dritten Jahrhundert den Nordwesten Deutschlands an der unteren Elbe, und machte ihn sich zum Eigentum, während es die Bewohner unter dem Namen der Lazen als halbfreien Stand in sich aufnahm, und ihnen Sitz und Stimme bei den Volkstagen einräumte. Bald breiteten die Sachsen sich gegen Nordosten aus, und trieben die Thüringer über die Unstrut. Im Süden waren sie im sechsten Jahrhundert an die Weser vorgedrungen, und streiften nun, mit den Franken um den Besitz kämpfend, bis an den Rhein, ohne sich hier halten zu können. Ihr also erweitertes Land grenzte im Westen an die Friesen, die an der Nordsee wohnten, im Süden an die Franken bis zur Ruhr und zu den Quellen der Lahn, im Osten an die Unstrut und den südöstlichen Harz, im Norden an die See. Sie selbst teilten sich in Westfalen, Engern und Ostfalen. Sie waren Helden zu Land und Meer, und drangen raubend bis in die gallischen Flüsse. Neben den Franken das zweite Volk Deutschlands, rangen sie mit ihnen bald um die Herrschaft, bald um die Freiheit. Schon im sechsten Jahrhundert, unter dem Merowinger Chlothar I. begann dieser Kampf, der dritthalb Jahrhunderte fortwährte, und mit der Unterwerfung unter die Franken zum Heil Deutschlands schloß. Schon Karl Martell zwang die Sachsen 738 zum Tribut. Sein Sohn Pipin drang in neuen Kämpfen an die Weser, zwang sie zum Frieden, und zur Zulassung christlicher Glaubensboten.
Die Einführung des Christentums unter ihnen unterschied sich von der im südlichen Deutschland nicht nur dadurch, daß sie durch Karl den Großen mit Waffengewalt geschah; der Unterschied ist wesentlicher. Süddeutschland hatte früh römische Kultur aufgenommen, von Römern die Anfänge des Christentums empfangen, denn seine Städte waren römische Kolonialstädte. Der Norden Deutschlands hatte sich seit Armins Sieg der Römer erwehrt, ihre Kultur, zu welcher er auch das Christentum zählte, von sich ferngehalten. Hier blieb die germanische Bildung rein, der Glauben an die Asengötter fest. Sitte und Verfassung hielten sich auch dadurch länger, als den Adalingen nicht nur
Leibeigene, sondern in den Lazen ein vermittelndes Glied gegenüberstand, wodurch das Volk im Gleichgewicht blieb. Auch waren Nord- und Ostsee noch keine Verkehrsmittel für den Süden, und der Harz die große Volksfestung gegen den Feind von Armins Zeiten her. So mißlangen an der Zähigkeit des reinen Germanentums alle Versuche, das Christentum den Sachsen auf friedlichem Weg zu bringen. Es mochte ihnen von Römern oder Franken geboten werden, so hielten sie es gleich diesen für eine feindliche Macht. Wenn es in diesem Heldenvolk aufkommen sollte, so mußte es in nationaler Form auftreten, sich in das Germanentum einleben, männlich, heldenmütig wie dieses sein, und doch seinen rohen Trotz brechen, mußte sogar den Schmerz, von den verhaßten Franken überwältigt zu sein, versöhnen, ihm über den Karolingerkönigen den Christ, als lieberen König zeigen, der sie auf höhere Weise frei und siegreich machte. Wenn Karl der Große den Sachsen ein König des Schreckens blieb, so mußte ihnen der Christ ein König der Minne werden, dem sie sich als sein Heergefolge für den schweren Kampf mit dem Leben anschlossen, dessen Evangelium ihnen zum reineren Sachsenspiegel wurde.
Daß es so wurde, dafür legt der Heliand Zeugnis ab, ist mithin die Urkunde des reinen, deutschen Christentums. Wie er das werden konnte, läßt sich nur dadurch nachweisen, daß geschichtlich dargetan wird, wie im Sachsenland jenes rein deutsche Christentum aufkam.
Die erste Missionsspur für Sachsen fällt ins Jahr 622, in welchem die Sachsen Gesandte an den Merowinger Chlothar II. schickten, die ihm trotzig Tribut und Gehorsam aufkündigten. Der Despot wollte sie hinrichten lassen, die Fürbitte des Bischofs Faro von Meaux verschafften Aufschub, und Faro bekehrte und taufte die in Haft Gehaltenen. Dadurch wurden sie gerettet und durften wieder in die Heimat. Hier lassen sich aber keine Spuren ihrer Glaubenstreue nachweisen. Chlothar führte noch einen grausamen Sachsenkrieg.
Ein Jahrhundert später suchte der britische Missionar Suitbert auf die Sachsen zu wirken. Er predigte den Brukterern an der Ems. Als aber dieser Landstrich von den Sachsen eingenommen wurde, konnte er unter ihnen so wenig ausrichten, daß er sich an den Rhein zurückzog, wo er 713 als mutmaßlicher Stifter von Kaiserswerth starb.
Nach ihm betraten die britischen Mönche Ewald, der blonde und schwarze, von Friesland aus Sachsen, wurden an ihrem Messelesen als Christen erkannt, und vom Volk erschlagen, ohne jemand bekehrt zu haben.
Bonifatius, der Sachsen Stammverwandter, konnte sich bei seinem Bekehrungseifer durch solche Vorfälle nicht abhalten lassen, Sachsen besuchen zu wollen. Schon auf seiner ersten Missionsreise betrat er die Grenze dieses Landes, aber ohne einzudringen. Auf seiner zweiten brachte er ein Schreiben des Papstes Gregor II. an die Sachsen mit, das aber schwerlich zu ihnen gelangte. Er selbst erreichte seinen Wunsch, den Sachsen zu predigen, nicht. Sagen von seiner dortigen Wirksamkeit sind unverbürgt.
So wurde Sachsen rings vom Christentum umgeben, wohl kaum an seinen Grenzen davon berührt, als Karl der Große auftrat. Dieser mußte Sachsen unterwerfen, wenn sein Reich bestehen sollte, die alte Nebenbuhlerschaft beider Nationen mußte endlich enden. Wollte er aber über Sachsen herrschen, so mußte hier das Heidentum fallen. So wurde der Sachsenkrieg zum Religionskrieg. Schon im ersten Feldzug 772 zerstörte Karl das Nationalheiligtum in Eresburg mit der Irminsäule, und übergab die an der Diemel eroberte Gegend dem Kloster Fulda zur Bekehrung, wofür Abt Sturm eifrig arbeitete. Auf dieselbe Weise wirkte die Abtei Amorbach an der Aller. Von Friesland aus schickte er den britischen Missionar Lebuin, der damit anfing, daß er einer Volksversammlung an der Weser das Evangelium predigte, aber vertrieben wurde. Auch die stammverwandten Angelsachsen wurden den Sachsen, sobald sie als Christen kamen, verdächtig, der Religionshaß war mit dem alten Haß gegen die Franken gewachsen. Jeder Christ wurde als Feind betrachtet. Die von Karls Heeren Überwundenen ließen sich, so lange diese in ihrer Mitte waren, zwar taufen, fielen aber, wo sich jene entfernten, wieder ab. Einhard, Karls Biograph, sagt, solche Wechsel seien alljährlich vorgekommen. Erst nachdem der Krieg 13 Jahre gewährt hatte, und der große Sieg 785 an der Hase erfochten war, gewann das Christentum Bestand, indem Widukind, der Westfalen Herzog, sich unterwarf und taufen ließ, auch dem Christentum aus Überzeugung treu blieb, und es durch Errichtung vieler Kirchen beförderte. In Paderborn gab Karl im nämlichen Jahre sein strenges Kapitular, zugunsten des Christentums in Sachsen. Dieses Gesetz legt Todesstrafe auf Kirchendiebstahl, Übertretung des Fastengebots, Verbrennung der Toten nach altem Sachsenbrauch, auf die Weigerung die Taufe anzunehmen. Nur freiwilliges Bekenntnis und Buße vor dem Priester rettete nach solchen Vergehen das Leben. Jede Kirche mußte von den Bewohnern ihres Gaues mit Gütern und Leibeigenen dotiert werden, auch war ihr der Zehnte von allem Erworbenen zu entrichten. Alle Kinder mußten innerhalb eines Jahres getauft werden. Heidnische Priester waren der Geistlichkeit auszuliefern. Die Volksversammlungen waren verboten, das Recht war unter die von Karl ernannten Sendboten und Grafen gestellt. So suchte er seinem Wort Geltung zu verschaffen, das Sachsenvolk entweder zu bekehren, oder zu vertilgen. Darum ließ er auch Todesstrafen an kriegsgefangenen Heerhaufen massenweise vollziehen, und viele hunderte sächsischer Familien nach Franken verpflanzen, so daß Widukind auch ohne christliche Überzeugung an dem Heidentum hätte verzweifeln müssen. Noch zog sich der Krieg bis in sein dreiunddreißigstes Jahr fort, aber die Masse des Volks blieb unterworfen. Alkuins Verwendungen für mildere Maßregeln wurden nicht berücksichtigt, mit Verbannungen, Zehntauflagen, Konfiskationen und Hinrichtungen wurde fortgefahren, und daneben die Organisation der sächsischen Kirche unter neuerrichteten Bistümern durchgesetzt, wo es einige Waffenruhe gab.
Heilige Bischöfe begannen die versöhnende Macht des Christentums mit den Mitteln der milden, liebenden Weisheit. Das wirksamste aller war die Bildung eines Klerus aus dem sächsischen Volk heraus durch Errichtung nationaler, sächsischer Klosterschulen. Den Anfang machte Liutger. Er war aus Utrecht in Friesland, hatte als Knabe noch den greisen Bonifatius gesehen, und begann seine Missionslaufbahn in Friesland, aus dem ihn 782 ein Einfall Widukinds vertrieb. Während seiner dreijährigen Abwesenheit wirkte ein Volkssänger Bernlef, den Liutger bekehrt hatte, für Erhaltung der christlichen Familien in ihrem Glauben, taufte sogar in Liutgers Auftrag ihre Kinder. Karl der Große befreundete sich mit Liutger, ließ sich von ihm auf sächsischen Feldzügen begleiten und übertrug ihm 805 das neuerrichtete Bistum Münster. Unter den Stiftungen, die Liutger im westfälischen Sachsen machte, ist die der Abtei Werden die wichtigste, indem sie eine Pflanzstätte für eingeborene Sachsenpriester wurde, die neu zum Christentum bekehrt, es in seiner germanischen Jugendfrische auffaßten und dem Volk lieb und traulich machten.
Die versöhnliche Macht des Christentums in Sachsen konnte aber erst unter dem milden Regiment Ludwigs des Frommen allgemein werden, weil er die von seinem Vater an den Sachsen verübten Härten gutmachte, und dadurch die Nation gewann. Die Verbannten durften heim, die konfiszierten Güter wurden vielen zurückgegeben, entzogene Rechte hergestellt. Die Sachsen folgten nun treu des Kaisers Heerbann wider die empörten Sorben, und standen zu ihm wider seinen Sohn Ludwig, als dieser 839 gegen den Vater zog. Die zweite Generation der Sachsen, seit ihrer Unterjochung, hatte mithin ihre neue Stellung im Deutschen Reich mit christlichem Bewußtsein erfaßt. Von noch größerem Einfluß darauf, als die Klosterschule Werden war aber die großartigste Abtei Norddeutschlands, die sich unter Ludwig dem Frommen erhob. Dies war Corvey an der Weser, gestiftet von Abt Adelhard aus Corvey in der Picardie, einem Geschwisterkind Karls des Großen. Dieser hatte sächsische Jünglinge nach Corvey verpflanzt, durch welche Adelhard veranlaßt wurde, eine Kolonie seines Klosters in Sachsen zu errichten. Einer jener Jünglinge, Theodad, eines Edelings Sohn, verschaffte den Raum auf den väterlichen Besitzungen. Der Bau wurde erst 822 im achten Regierungsjahr Ludwigs des Frommen begonnen, und der Sachse Warin der erste Abt. Vierzehn Jahre später war die Stimmung der Sachsen dem Christentum völlig zugewendet. Denn als 836 die von Warin erworbenen Reliquien des heiligen Vitus nach Corvey gebracht wurden, geleiteten sie zahlreiche Sachsenscharen durch ihr Land; und als sie in Corvey anlangten, war die Umgegend eine Meile weit voll von Zelten und Lagerstätten des andächtig herbeiströmenden Sachsenvolks. Die Güter um Corveys hölzerne Kirche her nahmen durch Schenkungen außerordentlich zu. Ludwig hatte der Abtei schon 830 Münz- und Marktrecht erteilt, und ihr kleinere sächsische Klöster untergeordnet, so daß sie das Ansehen einer Stadt bekam. Neben dem fränkischen Fulda erlangte sie den Ruhm größter Gelehrsamkeit in Deutschland, und sendete Missionen aus. Der heilige Anskar wurde der erste Lehrer ihrer Klosterschule, und brachte sie in großen Flor durch sechs taugliche Gehilfen, die er sich aus den 180 Mönchen auswählte.
Aus einer sächsischen Klosterschule ist zuverlässig der Westfale hervorgegangen, der seinem neubekehrten Volk das deutsche Evangelium, den Heliand gab. Er machte eine Auswahl aus der Zusammenstellung der vier Evangelien, welche im sechsten Jahrhundert der Bischof Viktor von Capua lateinisch verfaßt hatte, und stellte dadurch seinem Volk das Leben des Christ, als des himmlischen Völkerkönigs dar. Diese Darstellung ist, gemäß dem jugendlichen Volk, dem sie sich widmet, nach Form und Inhalt poetisch, ohne der
Wahrheit Eintrag zu tun, und empfiehlt sich den Zeitgenossen hauptsächlich dadurch, daß sie deutsches Volkstum in sich aufnimmt. Der Heliand sollte an die Stelle der heidnischen, epischen Volkspoesie treten. Wie jene Götter- und Heldensage enthielt, und die Trägerin der alten Religion in unzertrennlicher Verbindung mit dem Patriotismus war, so hat der priesterliche Sänger des Heliand durch sein Evangelienlied ein patriotisches Christentum in seines Volkes Herzen gelegt, und unserem Volk für alle Zeiten die Lehre gegeben, daß Christus und sein Reich uns nur segnen, wenn sich unser Staats- und Volksleben vom himmlischen Reichsgesetz Christi durchdringen lassen. Mußte ja das Volk Juda nur deswegen untergehen, weil es das nicht getan. Der Verfasser des Heliand hält Staat und Kirche als zwei selbständige Institutionen auseinander. Er ermahnt zum Gehorsam gegen den König, wie er zum Gehorsam gegen die Kirche ermahnt. Aber er zeigt namentlich in seiner volkstümlichen Darstellung der Bergpredigt, der Gleichnisse des Herrn, wie Christus, der Könige kräftigster, deutsches Recht und deutsche Sitte heiligt, damit das Volk im vergänglichen Licht der Zeit des hilfreichen Christ froh werde, der nährend, heilend, rettend, leitend in seines Volkes Mitte wandelt zu Land und Meer. Daher nimmt auch der Sänger nur solche Stücke aus den Evangelien auf, die den Christ in seinem königlichen Tun besonders deutlich herausstellen, in welchem er das Volk nach wohlerfülltem Zeitleben im teuren irdischen Vaterland zum langen Licht des himmlischen Reiches führt.
Der Christ, der König der Welt, erwählt des Volkes Edelste zu seinen Geleitsmannen, die nach Abstammung und Gesinnung sich dazu würdig zeigen; denn der alte Deutsche wußte so gut, wie der fromme Israelit, daß das gute Herz in der Regel aus einem guten Hause stammt. Von Nazareths Burg zieht der Christ mit den Seinen aus, dem Kaiser untertan, aber ein Reich der Heiligkeit und der tröstenden Liebe im Reich dieser Welt verbreitend, bis er durch den dämonischen Rat des Sanhedrin den Tod erduldet, der im höheren Rat des erlösenden Gottes beschlossen ist. Der Verworfene, Verfolgte, Gerichtete und Gemordete wird allen ungerechten Gewalten zum Gericht, dem Volk das ihn nicht aufnahm, dem bösen König Herodes, dem ungerechten Richter Pilatus, dem falschen Klerus der Juden. Er richtet sie mit Satan, ihrem finsteren Fürsten, und ruft seine Völker ins Reich seines Lichtes, an dem auch die Niedrigsten vollen Anteil haben. Denn an seine Krippe dürfen die leibeigenen Roßknechte Bethlehems und die adligen Weisen des Morgenlandes als die Erstlinge.
Wie das öffentliche, so wird das häusliche Leben durch den Himmelskönig geheiligt. Die Geburt des Täufers, Szenen aus der Kindheit des Christ, die Hochzeit zu Kana, die Erweckung des Lazarus werden benutzt, um das Haus des Deutschen in Freud und Leid, bei Geburt, Kinderzucht, Hochzeit und Tod zu heiligen. Die auftretenden Personen sprechen uns nicht nur mit deutschen Zungen, sondern auch mit deutschen Herzen an. Das Anlehnen ans Volksleben, das sich erst aus dem Heidentum erhoben hatte, führte den Sänger zu Anklängen an dieses Heidentum, die aber einen reinen, christlichen Ton anschlagen. Unser personifizierter Tod behält den Namen der Wurd, der Todesnorne, Satan macht sich mit dem Hehlhelm der heidnischen Sage unsichtbar, das Feuer des Gerichts behält den mythologischen Namen Mudspil, Allzerstörer, bei dem Christ setzt sich der heilige Geist in Taubengestalt auf die Achsel, wie dem Odin der Rabe als Symbol der Allwissenheit auf der Schulter gesessen. Noch hatten sich keine Städte im Innern des Sachsenlandes erhoben. Seine Edelinge hausten in Burgen, das Volk in Weilern. So wird auch Palästina dargestellt. Das Schiff, in welchem der Herr fährt, ist das Hochbordschiff der alten nordgermanischen Seehelden. Der Saal, in welchem Herodes sein Festmahl feiert, ist die hölzerne Halle der alten Germanen, mit den Bänken an beiden Langseiten und dem Hochsitz für den Hausherrn in der Mitte. Der Leichnam des Täufers wird, nach der Weise der alten Recken, am Meeresufer bestattet. Die Sprache, die der Herr mit seinen Jüngern führt, ist die zutrauliche, achtungsvolle, die der Geleitsherr mit den Gefolgsmannen sprach, daher auch dem Herrn seine Rede gegen Petrus: hebe dich weg, Satan! hier nicht in den Mund gelegt wird. Der Bruch des Geleitsbunds zeigt sich in Judas als der Frevel größter, und die Verleugnung Petri, des ruhmreichsten der Geleitsmannen, stürzt diesen fast in Verzweiflung, und ist von Gott zugelassen, damit der Inhaber der Schlüsselgewalt Erbarmung gegen seine verirrten Brüder übe, wie sie sein Geleitsherr gegen ihn geübt.
Der Sänger des Heliand zeigt sich nicht nur als edlen Christen und Patrioten, sondern als großen Dichter. Die Charakteristik ist scharf und erschöpfend gegeben, die Szenerie so anschaulich, daß wir vor einem Gemälde zu stehen meinen. Die Sprache, gleich der Darstellung schlicht und volkstümlich, von Klopstock’scher Messiaden-Deklamation so weit entfernt, als von frömmelnder Süßlichkeit. Die Theologie seiner Schule verleugnet der Sänger nicht, sie spricht sich gerne in mystischen Allegorien aus, die jedoch alle gar praktisch sind. Das notwendig reich eingeflochtene Homiletische gibt angenehme Ruhe nach schwunghaft dargestellten Szenen. Überall waltet der Sänger klar und heiter über seinem Stoff. Selbst wo er sich hingerissen fühlt, hält er Maß. So muß er uns zugleich mit hoher Achtung gegen die Schule erfüllen, aus der er hervorgegangen. Jene deutschen Abteien brachten nicht nur große Glaubenshelden, wie Liutger und Anskar, ans Licht der
Völker, sie trugen auch der Schönheit des Glaubens und Lebens Rechnung. Der Sänger singt in den Stabreimen der Heldensage, während sein frommer Zeitgenosse Otfried von Weißenburg in seinem mehr lyrischen als epischen Christ uns mit dem Reim beschenkt. Seine Stabreime sind locker gehalten, jeder hat zwei Hälften, der ganze Vers gewöhnlich vier Hebungen besonders betonter Wörter, und zwei, drei oder vier Alliterationen, die in den Vers verteilt sind. Gewöhnlich kommen ihrer zwei auf die erste Vershälfte. Die vier Hebungen bewegen den Vers wie eine hüpfende Welle, und die Alliterationen fallen darauf, wie das Sonnenlicht aufs Wellenhaupt.
Der Schatz des Heliand ist in einer korrekten Handschrift in England und in einer weniger treuen in München niedergelegt. Wahrscheinlich ging eine Handschrift bei der Aufhebung des Klosters Reichenau verloren, oder versteckte sie sich irgendwo. Denn ein Katalog dieser Abtei aus dem neunten Jahrhundert spricht von drei Bänden deutscher Dichtungen, die das Kloster besessen, und der frühere Sachsenbischof Haterich, der sich nach Reichenau zurückzog, brachte viele Bücher mit. Mathias Flacius redet in seinem 1562 herausgegebenen catalogus testium veritatis von der poetischen deutschen Bibel eines Sachsen, die dieser auf Befehl Ludwigs des Frommen seinem Volk gegeben, teilt aber nichts davon mit, sagt auch nicht woher er das weiß. Als dem ersten Herausgeber von Otfrieds Christ, dürfte ihm soweit zu glauben sein, daß er Kunde von dem Heliand hatte, ohne ihn selbst näher zu kennen. Schon Klopstock wollte die englische cottonianische Handschrift drucken lassen, kam aber nicht dazu. Die Münchner Handschrift wurde erst 1794 in der bischöflichen Bibliothek zu Bamberg der Vergessenheit entzogen. Nur Fragmente daraus wurden gedruckt, bis sie Schmeller, nach Vergleichung einer Abschrift der englischen 1830 herausgab. Köne in Münster gab 1855 eine neue Ausgabe mit deutscher Übersetzung zur Seite, die dem Original Wort für Wort folgt, um es allgemein und leicht verständlich zu machen, ohne daß sie selbständig neben dem Original eine allgemeiner lesbare Sprache reden will. Grein gab 1854 eine sehr worttreue Übersetzung in Stabreimen, die aber eine für weitere Kreise bestimmte rätlich macht, welche sich in fließender, leicht lesbarer Rede zu empfehlen sucht, ohne der Treue Eintrag zu tun, was sie dadurch ausführt, daß sie die alliterierten Stabreime nach dem Geist unserer Zeit in breiterer Ausdehnung, und mit vielfachen Versfüßen sich bewegen läßt.
Manche waren die ihr Herz anwies, Gottes Wort zu beginnen,
Sein Verborgenes zu verkünden, das der reiche Christ im Menschenvolk
Mit Wort und Werk so wunderbar vollendet hat.
Der Menschenkinder kamen viel, um Gottes Lehre kund zu tun,
Ihres Buches Hort mit dem Gottgebot wollte frommen allem Menschenbund.
Vor allen wurden vier von Gott vom Volk auf Erden auserwählt,
Vom heiligen Geiste reichbegabt mit Gottesmacht und Himmelshilf,
Zu sammeln das Evangelium, des ewigen Gottes Ehr und Huld.
Nie haben Helden so wie sie den Menschenkindern Heil gebracht,
Denn Gottes Auge, das alles sieht, hatte sie dazu nur auserwählt.
Matthäus und Markus, Johannes mit Lukas,
So waren die Mannen geheißen. Gott waren sie lieb, ihres Auftrags wert,
Hatten dem Herrn, ihrem teuren Helden, dem heiligen Geist, sich fest befohlen,
Mit klaren Gedanken, klugem Wort, mit mannhaft treuem Glaubensmut,
Um anzustimmen mit heiliger Stimm die Gottesbotschaft den Sterblichen,
Daß fürder nie seinesgleichen findet dies Freudenwort in weiter Welt,
Wie der treue Herr, der teure Herrscher, mit seiner Gnade tue hier,
Wie des Gerichtes Rachetag die Frevler von der Erde raffe,
Mit seiner Strenge niederstoße des Feindes Kampfbegier und Streit.
Ihr Meister hat des Geistes Macht, und tut ihn mild und gütig kund,
Der in Adel und Allmacht das weite All erschaffen hat.
Das durften die vier uns sagen und singen, und sollten es mit Fingern schreiben.
Sie sagen fort es für und für was sie von Clristi Kraft erfahren,
Was er erwiesen und bewirkt, und wunderbarlich selber sprach
Zu seinen Mannen als Herr der Macht, so herrlich und so mannigfach,
Der alles Sein allmächtiglich im Angebinn zum Leben schuf,
Mit dem allwaltenden Wort umwob der Himmel und der Erde Welt,
Und was sie umfassen an Fühlendgezeugtem und Keimentführtem.
Der seine Welt mit starkem Wort unwandelbar umfangen hält,
Er hat ihr geschickt der Völker Scharen, die ihre Lande schirmen sollen.
Ihre Zeiten sanken zum Ziele hin, nur eine blieb als Zuflucht noch.
Fünf gingen aus, nach ihrem Fall fing eine sechste selig an:
Durch Gottes Huld ward Christ geboren, der Helfer bester im heiligen Geist,
Daß dem Erdkreis und des Elends Kindern ein Heiland ein Erretter sei
Vor dem dunklen Fürsten der Finsternis, vor des Feindes trotzigem Überfall.
Der reiche Gott hatte dem Römervolk der Reiche meiste dargelehnt,
Ihrem Heergeleite das Herz gestärkt, das der Helden viele niederzwang.
Die raschen Helme der Römerburg setzten Herzoge ein im erkämpften Reich,
Und gaben ihnen Gewalt umher über alles Volk und sein Gebiet.
Herodes war zum Herrn gesetzt von Judas Haus in Jerusalem.
Erkoren hatte zum König ihn der Kaiser von der Römerburg.
Ihn umringten als sein tagender Rat die reichen Männer seines Volks,
Doch war er nicht ihrem Zweig entsproßt, wie die Ersten und Edelsten Israels,
Durch des Römerkaisers Huld und Ruf besaß er hier die Reichsgewalt.
Ihm folgte hörig im Heldenbund der hohe Fürst und Edelknecht.
Und lange hielt mit des Rates Helfern Herodes sich auf seinem Thron.
Seit langen Jahren lebte dort ein weiser Mann mit lautrem Geist,
Aus Jakobs Stamm, von Levis Lenden, und ließ sich Zacharias nennen,
Ein heiliger Mann, von Herzensgrund dem Dienste seines Herrn getreu.
Und tat sein Weib, wie er getan, nun war sie alt und hochbetagt.
Sie hatten zuvor in Jugendzeit des Hauses Erben nicht erzielt.
Und wandelten vom Herrn geliebt, des Lasters bar, im Lob getreu,
Dem Himmelskönig im Herzen hold, wollten Hohes nie nach der Sünder Lust.
Nur lag es ihnen leidvoll an, daß ein liebes Kind sie nie beerbe.
Oft rief ihn, wenn die Reih ihn traf seines Gottes Rat nach Jerusalem,
Wenn des Monats Wechsel ihn beschied, im Haus der Weihen des Amts zu warten,
Das Heilige dem Höhenkönig als treuer Diener herzurüsten.
Und eilig gab und eifrig sich der Gottesknecht dem Dienst zu eigen.
Die Zeit war da, wie die Weisen zeigten, Zacharias sollte den Tempel sehn,
Als aus Juda in Jerusalem der Leute viele sich jüngst vereint.
Die Männer hoben im Tempelhof die flehenden Arme zum Gott der Huld,
Daß er von ihrer Frevel Fluch an Frieden reich ihr Herz befreie.
Sie hielten an dem Gnadenhaus, der Gottesdiener schritt hinein.
Hier brachten sie sich betend dar, als der heilige Mann seinen Dienst versah.
Den Weihrauch trug er im Weihenhaus, umwob mit dem Rauchfaß den Altar,
Vor dem reichen Gott der reine Knecht, mit rüstigem Sinn des Eifers voll,
Wie man Herren zu gehorchen hat. Da hielt ihn ein Grauen, und schlug ihn der Schrecken,
Denn im Heiligtum, dicht hinter ihm, hat Gottes Engel sich dargestellt,
War ihm mit seinen Worten nah, hieß furchtlos stehn den geweihten Mann:
„Dem Waltenden sind deine Werke nah, deine Worte selbst nahm er liebend auf,
Zum Dank wird ihm dein reiner Dienst, der du demutsvoll seiner Macht vertraust.
Sein Gesandter bin ich, bin Gabriel, der in Gegenwart des Ewigen steht,
Er sendet mich wohin er will, und schickt mich diesen Weg herab.
Ich tue dir kund, daß dir ein Kind von der alten Frau ins Leben kommt,
Des Weines Wonne labt es nie, ein Werkzeug wird es seinem Gott.
Ernährt es treu, nehmt es ihm in acht. Seinen Namen sollt ihr Johannes heißen.
Wenn dies Kind dann kommt wird es Christs Geleit, des Gotteskindes, in der Welt.
Und meiner Botschaft folgen beide in kurzer Zeit, das bezeug ich dir.“
Zacharias erwidert, des Wunderns voll über seine Worte, dem Gottesengel:
„Wie mag es kommen im Alter mir? Ich mein’, es ist dazu viel zu spät.
Es ist lange her, wir hatten gelebt an zwanzig Winter, als mein Weib ich erlangt,
Dann waren wir zu Bank und Bett an siebzig Winter vereint beisammen.
Und in Jugendjahren mochten wir des Hauses Erben nicht erjagen,
Ihn selig erziehen in unserem Saal. Nun sank im Alter des Lebens Kraft:
Das Aug ist matt, die Seite müd, das Fleisch vermürbt, und die Haut unschön,
Das Antlitz schlaff, und der Leib erschöpft; all unser Erscheinen ist anders worden.
Der tüchtige Mut und die tätige Kraft, seit vielen Tagen sind sie hin.
So wundert mich, wie ich gewinnen soll, was deine Worte verkündigten.“
Des besten Königs Bote ward betrübt daß ihn das wunder nahm,
Und er nicht erwog, daß Gott bewirkt, was er in seiner Allmacht will,
Ihn verjüngen kann wie in Jugendzeit. Und büßen muß er die Sünde jetzt.
„Keines Wortes mächtig sei dein Mund nunmehr, eh die Magen1 deinen Sohn empfahn,
Von der alten Frau den Gottesfreund für die frohe Zukunft der weiten Welt.
Dann stimme an deiner Stimme Gewalt. Nicht länger wird dich die Stummheit schlagen.“
Wie der Engel verhieß in der Weihen Haus, so erhob sich alles wider ihn.
Weil der Zweifel ihm das Herz umzog, blieb der alte Mann in des Schweigens Zwang.
Das Volk harrte den Tag hindurch im Tempelhof, und wunderte sich,
Wie der langbewährte, lobsame Mann des Dienstes lässig wartete.
Sie hoben alle die Hände auf zum Waltenden im geweihten Haus.
Da trat er hervor aus dem Heiligtum, und die Leute drängten sich um ihn her,
Begierig sehr auf das Selige, das seine Stimme sagen würde.