Der Herzog, der Räuber und die Tochter des Goldschmieds - Hardy Crueger - E-Book
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Der Herzog, der Räuber und die Tochter des Goldschmieds E-Book

Hardy Crueger

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Beschreibung

Das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel im 18. Jahrhundert. Wegen ihrer körperlichen Besonderheit wird eine junge Frau auf einem fürstlichen Ball als curiosum ausgestellt. Gebannt von der seltenen Erscheinung, lässt sich der Herrscher zu einem »biologischen Experiment« überreden: Einen Nachkömmling mit eben jener Besonderheit soll es geben. Und tatsächlich kommt es zur Geburt des Knaben Karl Otto von Salzdahlum. Sobald er alt genug ist beginnt er den Kampf um das Herzogtum. Erst versucht er es auf dem rechtlichen Weg. Aber nach einem vom Regenten befohlenen Mordanschlag gegen ihn greift er zur Waffe und gründet eine Räuberbande. Er überfällt Kaufleute, raubt einen Goldschmied aus und verbreitet unter dem Namen »Karl Otto, der Blutige von den Okerauen« Angst und Schrecken im Lande. Bis er verhaftet wird. Aber anstatt den nervenden Verwandten zu töten, steckt der Herzog ihn in das furchtbarste Gefängnis, das Karl sich vorstellen kann - eine Bibliothek. Angekettet in einem Nebenraum soll er dort als Eremit sein Leben fristen. Aber Karl gibt die Hoffnung nicht auf und entdeckt, dass er inmitten eines Schatzes lebt. Als ihm endlich der Ausbruch gelingt, verhindert er auf der Flucht die Vergewaltigung einer jungen Frau. Es ist Elisabeth Schwarz, die Tochter des Goldschmieds. Sie verliebt sich in ihren Ehrenretter - aber wird es ihr gelingen, den starrköpfigen Haudrauf zu zähmen? »Eine pralle Räuberpistole!« Braunschweiger Zeitung »Schon nach wenigen Seiten identifiziert man sich blendend mit dem bärigen Protagonisten, der gern ein Glas über den Durst trinkt, das Herz jedoch am rechten Fleck hat. Hardy Crueger hat hier ein großes Stück kulturhistorische Forschung betrieben und unterschiedlichste Textgenres aus jener Zeit gesichtet, um die Dialoge authentisch zu (re)konstruieren. Eindrucksvoll sind auch die Beschreibungen der Landschaft und der Wasserwege zu jener Zeit, die den Leser geradewegs auf ein taumelndes Boot zu entführen vermögen.« SUBWAY "Die abenteuerliche Geschichte eines Seelenbruders vom Schlage legendärer Glücksritter wie Casanova oder des Grafen von Monte Christo. Amüsant, sehr zu empfehlen!" T. Thiemig "Eine wahrhaft phantastische Zeitreise!" G. Haefs Ein wortgewandter Roman, einzuordnen in die Sparte raffinierter historischer Erzählungen wie T.C. Boyles "Wassermusik" und Kehlmanns "Vermessung der Welt". Spannend und heiter erzählt Crueger aus einer Epoche, die uns heute wunderlich und komisch erscheint.

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Das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel im 18. Jahrhundert. Die junge Anna Crusius wird auf einem fürstlichen Ball als curiosum

Hardy Crueger

Der Herzog, der Räuber und die Tochter des Goldschmieds

Historischer Roman

Für meine Mutter, die mich das Gehen lehrte,

und meinen Vater, der mich auf den Weg gebracht hat.

Prolog, verfertigt von Karl Friedrich Ferdinand Krause

Göttingen, 12ter August 1802

Vor drei Jahren verstarb unsere liebe Frau Mutter. Zum einen aus Angst wegen der sich immer mehr unserem Vaterlande nähernden Franzosen mit ihrem Napoleon, zum anderen wegen ihres Zustandes. Denn nachdem der Biograph unseren wunderlichen Vater geholt hatte, fand sie nur noch selten einen Weg aus ihrer Traurigkeit hinaus. Lediglich wenn sie an dem Bericht schrieb, der das schicksalhafte Leben ihres geliebten Ehegemahls erzählt, bekamen ihre Augen einen seidigen Glanz und der welke Mund erblühte in einem Lächeln.

Kurz nach ihrer Beerdigung nahm ich den Bericht an mich. Die folgerichtige Darstellung der Geschehnisse war stark durcheinandergeraten und mit immer neuen und genaueren Erinnerungen ergänzt worden, die am Rande oder auf den Rückseiten der Bögen geschrieben waren. Kaum ein Mensch hätte sich durch den Papierhaufen arbeiten können, ohne an seinem Verstande zu zweifeln.

So redigierte ich in meiner Studierstube an langen Abenden das Manuskript unserer Mutter, während meine Kommilitonen sich in den Schänken berauschten. Nun aber ist die merkwürdige Geschichte unseres Vaters Karl Otto von Salzdahlum, respektive Karl Anton Krause, endlich so geschrieben, dass sie gedruckt und von jedermann gelesen werden kann. Ihren Anfang nahm sie vor fast einhundert Jahren, an einem kalten Tag im Februar des Jahres 1704 …

1. Buch

Das Versailles des Nordens

1.) Ein Cabinett voll allerley wunderlicher und curiöser Sachen

DerRegent Herzog Rudolf August war erst kürzlich verstorben und endlich konnte sein Bruder Anton Ulrich allein über das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel herrschen.

Der alte Mann feierte die Besteigung des Throns mit einem großen Ball in seinem Lustschloss zu Salzdahlum, das wegen seiner pompösen Herrlichkeit und immensen Größe das Versailles des Nordens genannt wurde. Da es ein besonderes Fest war, wollte Anton Ulrich seinem Hofstaat etwas ganz Außergewöhnliches bieten und zu einer bestimmten Stunde sollte es ein gar wunderliches Ding in seinem Curiositäten-Cabinett zu sehen geben.

Lange vor dem angekündigten Zeitpunkt standen die ersten Neugierigen vor der Tür der Wunderkammer, in der Hoffnung, durch einen heraushuschenden Diener einen Blick hineinwerfen zu können. Aber die beiden mit Goldfarbe verzierten Flügel der großen Tür blieben fest verschlossen, und Spekulationen machten die Runde, bei dem wunderlichen Ding handele es sich um das abgeschlagene Haupt eines Indianerhäuptlings in voller Kriegsbemalung. Andere meinten, es seien geschrumpfte tätowierte Menschenköpfe aus der Südsee. Aber keine kam der Wahrheit auch nur nahe.

Endlich bahnte sich der Maître de Plaisir einen Weg durch die Tanzenden, die Fächernden, die Schwatzenden, und bat die neugierigen Drängler ein paar Schritte zurückzutreten. Ein Wink mit der offenen Hand brachte die Musik zum Verstummen. Drei kräftige Stöße mit dem Zeremonienstab auf das Parkett ließen die Aufmerksamkeit der Anwesenden sich allein auf ihn richten.

»Mesdames et Messieurs!«, rief er. »Entdeckt und zur Ausstellung gebracht von seiner allerhöchsten Majestät, Ihro Gnaden und jetzo alleinigem Regenten Herzog Anton Ulrich zu Braunschweig, Wolfenbüttel und Lüneburg höchstselbst! Bestaunen Sie die curiöseste Wunderlichkeit, das merkwürdigste Geschöpf, welches es zuzeiten in ganz Europa nur hier, im Fürstentume Braunschweig-Wolfenbüttel zu betrachten gibt! Präsentiert als Einzige ihrer Art auf der ganzen Welt, und dazu noch in aller Lebendigkeit!«

Der Maître ließ die Tür öffnen und die adligen Gäste strömten leise tuschelnd in die Wunderkammer. Die ausladenden Kleider aus Damast und Seidentaft raschelten, die Absätze der Schnallenschuhe pochten auf den Boden, das Parkett knarrte, Brokat glänzte und Schmuckstücke funkelten. Blinkende Perlenketten umrankten kunstvoll auftoupierte Frisuren und neugierig geweitete Augen lugten über aufgefaltete bunte Fächer in das Cabinett hinein.

Auf das furchtbare Rehkitz mit den zwei Köpfen; das gewundene, sieben Fuß lange Horn eines Einhorns, von dem man neuerdings behauptete, es sei der Zahn eines Walfisches; auf die in Alkohol eingelegten giftige Schlangen und Kröten; auf den Leichnam eines Knaben mit einem offenen Rücken, getrocknet, eingesalzen und grässlich anzusehen; auf den bunt gefiederten, fußlosen Paradiesvogel, von dem man wusste, dass er sein ganzes Leben nur fliegend verbrachte – auf all diese Curiositäten in den Vitrinen achtete heute Abend niemand. Ebenso wenig auf die riesigen, in goldene Rahmen eingefassten Gemälde, die in zwei, drei Reihen übereinander an den Wänden hingen, und auch nicht auf die kleinen, Furcht einflößenden Memento mori. Alle Gäste schauten nur nach vorn, auf das ungleiche Paar, das direkt unter dem mächtigen, von Tausend Kerzen strahlenden Kronleuchter platziert war: Neben einem kleinen, ganz in schwarz gekleideten Diener, sogar die Knöpfe seiner Livree, seine Perücke, seine Handschuhe waren schwarz, stand eine hoch aufgeschossene Gestalt. Eine lange, dünne Frau in einem einfachen, grünen Kleid und mit einem Sack über dem Kopf.

Ungeduldig näherten sich die Zuschauer und gaben ihrer Neugier durch fordernde Ausrufe Ausdruck, bis der Diener in der schwarzen Livree eine Hand hob und ihnen eine große silberne Schere zeigte. Mehrmals ließ er die Schneiden ineinander schnappen, bis die Menge durch den metallischen Klang ruhig, still und schließlich so leise wurde, dass man eine Nadel hätte hören können, die zu Boden fällt.

Auf ein leises Wort von ihm beugte sich die verhüllte Frau zu dem kleinen Mann hinunter. Der packte den Sack an der Stelle, hinter der sich die Augen des Curiosums befinden mussten, und schnitt mit der Schere zwei Löcher in den Stoff. Die dürre Frau richtete sich wieder auf, und starrte bewegungslos mit weit aufgerissenen Augen geradeaus.

Ein staunendes, verschrecktes Raunen pflanzte sich zwischen den edlen Gästen fort. Ahs und Ohs schwebten durch das Cabinett, brachen sich an den Bildern berühmter Maler und verloren sich in den aufgeregt zitternden Locken gepuderter Allongeperücken. Die Damen wedelten nervös mit den Fächern. Die Herren hoben erwartungsvoll die Augenbrauen. Rot getuschte Lippen rundeten sich im Eifer des Staunens, und aufgeklebte Muttermale sprenkelten verblüffte, weiß gepuderte Gesichter.

Aber nicht wenige der Umstehenden erschraken auf das heftigste, als sie die Monstrosität erblickten. Eine schwangere Frau musste von den Umstehenden gestützt werden, bevor sie in die weichen Polster eines Kanapees gesetzt werden konnte. Mehrere ältere Frauen bekreuzigten sich hastig. Ein Geistlicher küsste rasch dreimal hintereinander sein Kruzifix. Zwischen dem staunenden französischen Getuschel zischten die grässlichen deutschen Worte herum, welche die zur Schau gestellte junge Frau seit ihrer Kindheit begleiteten: Hexe! Bestie! Satansbrut!

Der schwarzgekleidete Diener stellte eine vergoldete Fußbank vor das wunderliche Ding, damit auch jene Schaulustigen, die klein gewachsen waren, einen Blick auf ihre Merkwürdigkeit werfen konnten.

Ein dicker Mann in einer braunen Mönchskutte stieg als Erster auf das Bänkchen, um das Wunderding aus nächster Nähe studieren zu können. Es war der Mönch Robert Verbockhorst, Propst zu St. Ludgeri in Helmstedt, welcher die Räder des Schicksals in die Stellung brachte, die Gott vorgesehen hatte. Denn ihm wohnte die ganz besondere Lust der Wissbegierde inne.

Er untersuchte die Andersartigkeit der Frau auf das Sorgfältigste, zog die Haut beiseite, lüpfte erst das eine, dann das andere Augenlid, und ärgerte sich, dass er sein Vergrößerungsglas nicht dabei hatte. Erst als die hinter ihm Stehenden anfingen zu murren, ließ er von seiner Untersuchung ab und trat aufgeregt an den neuen Herzog heran.

»Eure allergnädigste Majestät weiß, wie man mit einzigartigen Schätzen die Gäste beeindruckt«, sagte er. »Schaurig ist es … und schön zugleich! Und … dieses Objekt bietet sich für ein überaus interessantes experimentum biologicum an.«

Allein dem Wort experimentum war es zu verdanken, dass der Herzog seine unschätzbare Aufmerksamkeit einen Augeblick lang dem Propst widmete, denn auch in seiner Brust wohnte eine vom Forscherdrang rastlose Seele.

»Vor Jahren noch«, sagte Verbockhorst, »oder in einem weniger modernen Lande als dem Eurer hochlöblichen Majestät, hätte man diese merkwürdige Entartung auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Aber hier steht sie, lebendig, in Eurem wunderbaren Curiositäten-Cabinett, und darf ungestraft ihre furchteinflößenden Augäpfel herzeigen: Zwei verschiedenfarbichte Augen in einem Gesicht! Wie zwei unterschiedliche Edelsteine, der eine dunkel und mysteriös glitzernd wie ein Katzenaugenstein, der andere von einem solch strahlenden Blau wie ein Lapislazuli! Das ist … über alle Maßen! … überwältigend! Und … absonderlich! Das ist …« Während der Probst nach Worten rang, begann die Ungeduld Falten in die Stirn des Herzogs zu graben. »Hochwohlgeborene Majestät«, sagte er schnell. »Gewährt Euro Gnaden mir die Erlaubnis einer Frage bezüglich des Curiosums?«

Der Herzog schaute den Propst direkt an und nickte so leicht mit dem Kopf, dass sich nur die außen liegenden Löckchen seiner braunen Perücke sachte bewegten.

»Wenn nun«, sagte Verbockhorst, »in Gottes Namen die Nachkommen dieser Kreatur mit eben derselben Merkwürdigkeit ausgestattet wären wie die Mutter? Man könnte meinen, ihre Entartung sei ein Fluch der Schöpfung – aber ist es nicht so, dass aus einem Fluch auch ein Segen werden kann? Gestern noch auf dem Scheiterhaufen verbrannt – heutigen Tags in der Wunderkammer. Wer weiß, was morgen ist? Ein Weiblein, von Gott geschmückt mit Augen so funkelnd und wertvoll wie zwei verschiedene Edelsteine … wer weiß, ob man diese Edelsteine nicht auch züchten und zur Erbringung eines Gewinns verwenden kann?«

Der für alles Außergewöhnliche leicht entflammbare Eifer des Potentaten spann den angefangenen Faden sofort weiter, und schon reihten sich immer mehr Vorteile, die durch eine Vermehrung des Curiosums entstünden, aneinander. Und nur dadurch wurden diese Vorteile noch wertvoller gemacht, als dass er, der Herzog Anton Ulrich selbst, das Samenkorn für das experimentum biologicum in das Curiosum säte.

Einige der hochwohlgeborenen Gäste verließen bereits die Wunderkammer, um an das exzellente Büffet zurückzukehren, als der Herzog mit einem schnellen Wink seinen Diener für geheime Sachen, den kleinen Mann in der schwarzen Livree, zu sich befahl.

Dieser Mann stand seit etlichen Jahren im Dienst des Herzogs. Er hatte schon oft seine Verschwiegenheit unter Beweis gestellt und war äußerst rücksichtslos, wenn es darum ging, die extravaganten Wünsche seines Herrn zu erfüllen. Er beugte sich tief hinunter, denn niemand sollte die Worte hören, die Anton Ulrich seinem obskuren Diener ins Ohr flüsterte.

*

Die in dem Cabinett ausgestellte Frau war unsere Großmutter Anna Crusius, Tochter des verstorbenen Pfarrers Karl Otto Crusius aus Salzdahlum. Sie war lang wie eine Hopfenstange und klapperdürr. In ihren achtzehn Lenzen hatte sie noch keinen Mann getroffen, der sich um sie bemüht hatte – bis auf den betrunkenen, säuischen Sohn des Schmieds von Ahlum, der sie auf dem Atzumer Erntedankfest befingert hatte.

Trotz ihrer hellbraunen Lockenpracht, der sich darunter wölbenden glatten Stirn und der ebenförmigen Nase, hatten ihre Größe und die teuflischen Augen bisher eine Liebschaft verhindert, obwohl sich ihre Mutter seit dem Tod des Vaters redliche Mühe gab, sie unter die Haube zu bringen.

In der Schlossküche wartete sie ungeduldig auf den Lohn von vierundzwanzig Mariengroschen, den sie für ihre Zurschaustellung erhalten sollte. Endlich betrat der geheime Diener die Küche und kam auf sie zu.

»Lasst mich ein wenig bei Euch sitzen und etwas bereden«, sagte der Homme-Special, zog die schwarzen Handschuhe aus, öffnete die mit schwarzem Samt bespannten Knöpfe seiner schwarzen Livree und seufzte schwer.

»Seiner erlauchten Majestät hat Eure überaus anregende Merkwürdigkeit sehr wohl gefallen. Allerdings begehrt er dringend, eben jene Merkwürdigkeit in seinen Gemächern in aller Ruhe betrachten und genießen zu können.«

Bedächtig strich der obskure Diener über die schwarzen Haare seiner Zopfperücke, während Anna mit weit aufgerissenen Augen nicht mehr zu atmen wagte.

»Es soll Euer Schaden nicht sein, Jungfer Anna«, sagte er und vermied tunlichst den Blick in ihre unheimlichen Augen. »Ein reicher Lohn ist Euch für das Nachgeben des außerordentlichen Ersuchens seiner durchlauchtigsten Majestät ebenso sicher wie der Segen Gottes, welcher im Kloster Unserer Lieben Frauen danach für Euch erbetet wird. Fünf ganze Reichstaler wird Sie dafür bekommen, Ihre Hoheit in seinem Schlafgemach besuchen zu dürfen. Natürlich nur, wenn Sie über alles vollkommen schweigt. Kein Sterbenswörtchen darf über Ihre Lippen kommen. Zu niemandem. Morgen nach dem Mittag werde ich Sie aufsuchen und den Ort und die Zeit der Untersuchung angeben.«

*

Als sie nach Hause kam, besprach Anna sich sogleich mit ihrer Mutter. Zuerst empörte die sich zutiefst über das unerhörte Ansinnen Seiner Majestät. Dann erschrak sie über die Gutgläubigkeit ihrer Tochter, die wahrhaftig an eine ausschließliche Betrachtung ihrer Merkwürdigkeit durch den Herzog glaubte. Und endlich ergab sie sich aufgeregt den reichen Möglichkeiten, die ein intimer Besuch ihrer Tochter in den herzoglichen Gemächern bot. Zusammen tüftelten Mutter und Tochter an einem großartigen Plan, der Anna nichts anderes als Sicherheit in einer unsicheren Welt geben sollte.

Außerdem aber sprach Mutter Crusius von Dingen, die Anna niemals in ihren Gedanken vermutet hätte. Sie klärte ihre Tochter nämlich darüber auf, worin genau der Unterschied zwischen Männlein und Weiblein bestand, und wie ein Weiblein ein Männlein durch bestimmte Fingerfertigkeiten sanft wie ein Lamm machen konnte.

*

Am nächsten Tag kam der Homme-Special tatsächlich in das kleine Haus der Pfarrwitwe Crusius, um Anna den Ort und die Zeit der geheimen Zusammenkunft mit dem Herzog zuzuflüstern. Aber wie erstaunt war er, als die Jungfer eine Forderung an den Herrscher zu stellen wagte, und schriftlich eingeladen werden wollte.

*

Der Homme-Special wusste, wie es um den Charakter des Herzogs bestellt war. Aber seit seiner Inthronisierung ließ sich die Stimmung des alten Herrn nicht mehr so kundig einschätzen wie vordem. Dennoch überraschten ihn die heftigen Worte, mit denen Anton Ulrich diese, gegen das, was sie selbst zu leisten bereit sein sollte, geringe Bitte der Jungfer Anna aufnahm.

»Natürlich wird das Curiosium voller Demut die Einladung durch Eure gnädigste Majestät annehmen«, sagte er. »Zu jeder Zeit und an jedweden Ort. Aber es gibt viel Böses in der Welt, und Leichtgläubigkeit hat noch niemandem vor Schaden bewart. Die Curiosität möchte nur versichert sein, nicht in die Fänge übler Schergen zu geraten, welche nichts anderes im Sinn haben, als ihr die Jungfräulichkeit zu rauben und sie dann in die Oker zu werfen. Sie wird das Ansinnen Eurer Herrlichkeit zur Erforschung ihrer Merkwürdigkeit mit Freude erfüllen – wenn Eure herzogliche Exzellenz ein paar Augenblicke erübrigt und ein kleines Brieflein verfasst. Eine Einladung von Eurer gnädigen Hand. Mit Unterschrift und Siegel, welche die edle und über jeglichen Zweifel erhabene Herkunft des Briefes bezeugen könnte. Mehr ist es nicht.«

Diese artige Rede besänftigte den Herzog. Er setzte sich an den pompösen, mit Intarsien aus Perlmut und Elfenbein verzierten Sekretär, zog eine der unzähligen Schubladen auf, entnahm ihr einen Bogen Papier und formulierte mit wenigen Worten das geforderte Schriftstück, welches er nur mit seinem schlichten Namen unterschrieb, ohne einen einzigen Titel hinzuzufügen. Er öffnete ein Geheimfach in dem wuchtigen Möbel und nahm ein unscheinbares Petschaft heraus. Roter Siegellack tropfte auf den Bogen, der Herzog drückte das Siegel in die weiche Masse, das nichts weiter zeigte als ein Kreuz auf einem Hügel hinter dem eine Sonne strahlte.

Anton Ulrich lehnte sich erschöpft zurück. Nach dem Trubel der vergangenen Tage, der Beerdigung und der feierlichen Thronbesteigung, stand ihm der Sinn nach Ruhe und angenehmer Zerstreuung. Er hatte sein abgeschiedenes Jagdschloss Langeleben, welches im Elm stand und ihm das Liebste war, für das experimentum biologicum auserkoren. Niemand, den er nicht eingeladen hatte, kam dort hin.

*

Es war am Nachmittag eines trüben, mit feuchtem Schnee gesegneten elften Februar des Jahres 1704, als sich eine Kutsche langsam den matschigen Weg in den Wald hinauf arbeitete. Sie hielt vor dem Jagdschloss, und eine hoch gewachsene, maskierte Gestalt wurde von einem vollkommen in schwarz gekleideten Diener hineingeführt und zu einem Zimmer gebracht, das dem Hausherren in der Vergangenheit mehrfach für ähnliche Gelegenheiten zur Verfügung gestanden hatte.

Der Homme-Special befahl dem Mädchen, nicht ungefragt zu sprechen und die Maske nicht abzulegen, es sei denn, der Potentat verlangte es. Dann nickte er ihr aufmunternd zu und entfernte sich geräuschlos wie ein Schatten.

Mildes Licht und ein heimeliger Dunst umfingen Anna, als sie das Zimmer betrat, in dem der Herzog auf sie wartete. Tabakrauch schwebte in der warmen Luft, vermischt mit dem lieblichen Duft von Kerzen aus Bienenwachs und dem betörenden Aroma wohlriechender Kräuter. Herzog Anton Ulrich wies Anna an, sich zu seinen Füßen zu setzen. Er reichte ihr einen goldenen Kelch mit heißem Portwein, der mit exotischen Gewürzen veredelt war. In dem Mädchen entzündete sich ein sinnliches Feuer, dessen Funken aus den geheimnisvollsten asiatischen Gärten stammten. Auch der alte Herzog trank davon. Ergötzte sich an ihren wundersamen Augen, betastete ihren weißen, schlanken Hals. Dann holte er zur Stimulation aus einer silbernen Schatulle erotische Drucke und obszöne chinesische Schiebebildchen hervor.

*

In den folgenden Monaten erinnerte sich der Souverän nur sehr spärlich an seine Zusammenkunft mit der Pastorentochter Anna Crusius. Zu sehr war er mit dem Regieren seines Herzogtums beschäftigt und dem Bestreben, es voran zu bringen. Nachdem der Homme-Special ihn davon unterrichtete hatte, das sein Samen aufgegangen war, hatte er ihm die strikte Anweisung gegeben, die Sache erst wieder zu erwähnen, nachdem die Frucht geerntet und das Ergebnis des experimentums untersucht worden sei. Der obskure Diener brachte die Nachricht von der gelungenen Geburt Anfang November des gleichen Jahres in das herzogliche Lustschloss zu Salzdahlum.

»Wie viele Farben sind es?«, fragte der Herzog, während er mit einer langen zweizinkigen Gabel in einer mürben Rehkeule herumstocherte.

»Es ist mir äußerst unangenehm, Euer Majestät …«, sagte der Homme-Special mit gesenktem Blick.

Auch nicht erfolgreich, dachte der Herzog, wie so vieles in letzter Zeit. Wie die Kurwürde, die trotz des Einmarsches seiner Braunschweig’schen Truppen ins Hannoversche an eben jenen Welfenspross gegangen war, und nicht an ihn. »Rede Er nicht um den heißen Brei!«, schrie er.

»Es ist ein Knabe. Euer Majestät wie aus dem Gesicht ge…, und beide Augen sind von der gleichen himmelblauen Farbe wie die Eurer Gnaden. Aber das kann sich mit der Zeit noch ändern, sagen die Leute. In ein paar Monaten vielleicht …«

»Pscht!« Der Herzog unterbrach ihn und schaute eine Zeitlang schweigend auf die Köstlichkeiten seiner Malzeit, bis er jäh den Kopf hob. »Gib dem Mädchen bis auf weiteres sieben Taler im Jahr. Für die Aufzucht, und dass sie das Maul hält. Wenn sich die Augenfarbe pluralisiert gibt Er Bescheid. Ansonsten rapportiert Er im nächsten Jahr.«

»Aber …«

»Das Papier zur Auszahlung hole Er sich nach der Mahlzeit.«

»Aber … das Mädchen hat die Geburt nicht überlebt.«

Der Herzog schluckte. »Die Curiosität ist krepiert? Hm … Ein Knabe, sagte er? Hm, hm … Wer sorgt nun für das Balg?«

»Die Großmutter. Die Pfarrwitwe Crusius.«

»Weiß diese Person, wer den Spross gepflanzt hat?«

»Nein«, sagte der Homme-Special.

»Sei’s drum. Gib Er ihr fünf Taler im Jahr, nimm Er sich selber zehn und behaupte Er, der Knabe sei von ihm«, sagte der Herzog, vollzog mit der Hand jene flatterhafte Geste, die bedeutete, dass jedwede Rede beendet war, und wandte sich wieder der Rehkeule zu.

*

Auf dem Weg zum Haus der Pfarrwitwe freute sich der Homme-Special über das leicht verdiente Geld. Als er der trauernden Mutter Crusius die fünf Taler für das erste Jahr überreichte, behauptete er plump und dumm, so wie es ihm aufgetragen war, nicht Seine Gnaden, sondern er sei der Vater des Kindes. Bei seinem ersten Besuch, gleich nach der tödlichen Entbindung, habe er das wegen der tragischen Umstände nicht anmerken können, flüsterte er. Diese Wahrheit müsse aber unter allen Umständen geheim bleiben, da er sonst seine Stellung bei Hofe verlieren würde – hatte er doch mit seiner Unterschrift versichern müssen ehe- und kinderlos zu bleiben, solange er in des Herzogs Diensten stand. Er bitte sie inständig darum, niemandem zu erzählen, um wen es sich bei dem Vater des Kindes handele. Dann würden auch weiterhin die Taler in ihr Geldkästchen wandern.

Mit dem Säugling in ihren Armen weinte unsere Urgroßmutter voll herzzerreißendem Kummer über den Tod ihrer Tochter, nickte ermattet und nahm schluchzend die Alimentation entgegen. Erst als der geheime Diener fort war, drängte sich ein kleines Lächeln in den Strom ihrer Tränen. Sie drückte den herzoglichen Sohn an ihren Busen, an dem sie in einem kleinen ledernen Beutel das besiegelte Einladungsschreiben des Herzogs Anton Ulrich an ihre Tochter Anna verbarg.

*

Der Säugling war ungewöhnlich groß, rundspeckig und mit seinen roten Pausbäckchen herzallerliebst anzusehen. Die ersten Monate seines Lebens verbrachte er ausschließlich mit Essen und Schlafen, und was er am wenigsten zu vermissen schien, war seine Mutter.

Getauft wurde der Bub nach seinem Großvater, Karl Otto Crusius. Aber weil er von adligem Geblüt war, nannte seine Großmutter ihn Karl Otto von Salzdahlum. Und wenn sie in sein dickes schlafendes Gesichtchen blickte, war sie sich sicher, dass Gott die Lebensuhr dieses Knäbleins besonders sorgfältig aufgezogen hatte und er ein langes, langes Leben führen würde.

Am siebenten November des Jahres 1705 beging Großmutter Crusius den ersten Geburtstag ihres Enkelsohns Karl Otto, als es an die Tür des kleinen Hauses klopfte. Es war der Homme-Special, der frierend dort draußen im kalten Herbstregen stand. Er war gekommen, um wiederum die Farbe der Iris des experimentums zu überprüfen, und außerdem die fünf Taler für das nächste Jahr zu überbringen.

Der geheime Diener beugte sich über den Rand der Wiege und musste feststellen, dass die Augen des Bübchens sich immer noch nicht verändert hatten. Beide zeigten sie weiterhin das milchige Himmelblau, welches auch die Augen seines herzoglichen Vaters kennzeichneten. Im Gesicht des Jungen aber wölbten sich feiste runde Bäckchen, die davon zeugten, dass die Großmutter die Taler wirklich für das Kindlein ausgab und nicht für überflüssigen Tand. Der Knabe gluckste und lächelte den Homme-Special so zuckersüß und freundlich an, dass er nicht anders konnte, als ihn aus der Wiege zu nehmen und in seine Arme zu schließen. Die kräftigen Fingerchen zwickten ihn in die Nase, und das Balg quietschte vor Vergnügen, als es ihm die schwarze Perücke vom Kopf zog. Der geheime Diener bekam Kuchen, einen kräftigen Kräutertee, man redete über dieses und jenes, und er blieb viel länger bei Großmutter Crusius, als es vonnöten gewesen wäre.

*

Herzog Anton Ulrich schaute nicht auf, als sein geheimer Diener in das Zimmer trat. Er kauerte tief gebeugt über den Plänen eines exzellenten Gebäudes, welches er just auf der Zitadelle der Festung Wolfenbüttel erbauen ließ. Nach dem Vorbild des herrlichen hadrianschen Pantheons in Rom gestaltet, sollte sich in seiner Residenz bald ein ebenso edles Gebäude erheben. Ein von außen schlichtes, quadratisches Bauwerk, in dessen Innerem eine umso prachtvollere, drei Stockwerke hohe Rotunde den Besucher beeindrucken würde. Errichtet allein für die unzähligen kostbaren Bücher und Schriften, die seine Ahnen über Generationen hinweg in einer imposanten Sammlung zusammengetragen hatten. Eine einzigartige Bibliothek, die stetig anwuchs und nicht zuletzt auch durch die von seiner eigenen Hand verfassten Werke, der Octavia, immer wertvoller wurde. Dieser Schatz sollte nun endlich ein eigenes, würdevolles Gebäude bekommen. Einen Tempel. Ein Pantheon. Nicht für die Götter, sondern für nichts geringeres als das gesamte Wissen der Welt.

An einem Ort, der solch schnell brennbare Dinge wie Bücher beherbergt, durften natürlich niemals Lampen angezündet werden. Allein das natürliche Tageslicht sollte das Studium der Bücher und Handschriften möglich machen. »Licht!«, hatte sein alter Bibliothekar Freiherr von Leibniz immer wieder verlangt. »Wer lesen will, braucht Licht!« Und so hatte er die runde Gestalt des Bücherhauses angeregt: Durch eine mächtige, mit vierundzwanzig riesigen Fenstern versehene Laterne statt eines geschlossenen Daches würde das Tageslicht direkt in das Innere der Bibliotheksrotunde hineinfluten können.

Das Gebäude hatte perfekt ausgewogene Proportionen, es war außerordentlich, modern, wundervoll. Aber Herzog Anton Ulrich war noch nicht zufrieden. Seit Tagen grübelte er darüber nach, was dem Werk fehlte, um wirklich vollendet zu sein. Ein Accessoire oben auf der Kuppel … ein krönender Abschluss … was könnte das sein? Eine Figur? Eine Figurengruppe? Die Musen in Bronze gegossen? Eine Quadriga? Nein, das war nichts besonderes. Vielleicht … oder … die ganze Welt … eine Weltkugel …

Der geheime Diener räusperte sich verhalten.

Verstört schaute der Souverän von seinen Plänen auf.

»Euro Gnaden, der Knabe, das experimentumbiologicum, er ist ein Jahr alt … «, begann der geheime Diener seinen Rapport, aber sogleich unterbrach ihn der Herzog.

»Die Farben!«,… eine Weltkugel, einen Globus vielleicht?

»Beide blau wie der Himmel, Majestät.«

Einen Globus vielleicht … Blau wie der Himmel … Globus … einen Himmelsglobus … ja! Das wäre die würdige Krönung seines Pantheons: Ein Himmelsglobus! Gottes Himmel, das Universum, getragen vom gesamten Wissen der Menschheit, welches hier, in seinem Herzogtum, in seiner einzigartigen Bibliothek, versammelt war!

Rasch verscheuchte der Regent den geheimen Diener und griff aufgeregt nach Papier und Feder. Ein riesiger vergoldeter Himmelsglobus, der schon von weitem sichtbar in der Sonne glänzt. Mit einem Band der Tierkreiszeichen drum herum, die das Rad des Schicksals zeigten, das sich immerfort dreht und dreht …

*

In der folgenden Zeit besuchte der Homme-Special die Pfarrwitwe Crusius immer häufiger und wurde freudig empfangen. Im Laufe der Zeit begann er, vor allen Dingen in Ermangelung einer eigenen Verwandtschaft, mit der Möglichkeit zu liebäugeln, später einmal mit in das Häuschen der Großmutter zu ziehen.

Zu den Geburtstagen des Buben Karl Otto, dessen Augen übrigens nie die Besonderheit seiner Mutter erreichten, brachte er regelmäßig das Kindergeld mit, welches er inzwischen um seinen zehn Taler zählenden Judaslohn erhöht hatte. Der Junge gedieh prächtig, und sobald aus seinem Munde verständliche Worte heraus kamen, nannte er den Mann nicht anders, als die Großmutter es vorsagte: Oheim.

*

Es war Ende März a. D. 1714, als Großmutter Crusius vom Tode des Herzogs hörte. Ganz Salzdahlum redete von nichts anderem, als dass der hochlöbliche Landesvater in seinem einundachtzigsten Lebensjahr zu den Ahnen gegangen war, und dass die Regentschaft nun auf seinen ältesten Sohn Herzog August Wilhelm überging.

Großmutter Crusius kramte eine flache Schatulle hervor, die sie seit Jahren ganz unten in ihrer Kleidertruhe verborgen gehalten hatte. Endlich war der Zeitpunkt gekommen, den Plan, den sie einst zusammen mit ihrem armen Töchterlein ausgetüftelt hatte, in die Tat umzusetzen und für Gerechtigkeit und das Auskommen ihres Enkels zu sorgen.

Am späten Nachmittag des gleichen Tages kam der Homme-Special zornig in das Dorf gelaufen und stand zerknirscht in der Diele. Großmutter Crusius schickte den Buben Karl Otto, den Halbbruder des neuen Regenten, zum Spielen hinaus, denn noch sollte er nichts von seiner adligen Abstammung wissen.

»Meine Dienste werden nicht mehr benötigt!«, sagte der Oheim wütend zur Großmutter. »Herzog August Wilhelm hat bereits einen eigenen geheimen Diener. Ein ehemaliger Page, Detlef von Dehn heißt er.«

Niedergeschlagen setzte er sich auf eine Bank und knautschte seinen schwarzen Hut. »Ich bin nicht mehr in Lohn und Brot. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Ich habe niemanden außer meinem Sohn und Euch.«

»Bleibt«, sagte die Großmutter kurz, führte ihn in die Küche, tischte Wein und Käse auf und weihte ihn in ihren Plan ein. Dem ehemalige Homme-Special trieb die Scham rote Flecken in das Gesicht, als die Pfarrerswitwe ihm auch das Wissen von der edlen Herkunft ihres Enkels auftischte und seine jahrelange Lüge mit nur wenigen Worten abtat. Das immer noch vorhandene Brieflein des verstorbenen Regenten aber entlockte ihm ein staunendes Kopfnicken.

»Er muss anerkannt und in die Erbfolge aufgenommen werden«, sagte Großmutter Crusius.

Der Oheim hatte mehr Erfahrung im Umgang mit dem herzoglichen Hof und er riet ihr, einen Mann der Juristerei mit der Erbschaftsangelegenheit zu betrauen, denn ihr selbst würde man keine Audienz gewähren. Also beauftragte sie einen winkeligen Advokaten aus der alten Brunsvica, der alten Stadt Braunschweig, mit der Sache, und der ehemalige Homme-Special war mit Freuden bereit, die edle Herkunft des Knaben Karl Otto vor Gericht zu bezeugen. Aber juristische Angelegenheiten können unter Umständen ebenso lange dauern wie das Heranwachsen eines Menschenwesens.

*

Um die Zeit, als der edle Ritter Prinz Eugen die Türken das Fürchten lehrte, war Karl Otto von Salzdahlum ein hoch gewachsener, kräftiger Bub von dreizehn Jahren und spielte mit den anderen Dorfjungen auf der Vogelsülze, einem Hügel gegenüber der neuen Salzdahlumer Windmühle, die Eroberung von Belgrad nach, mit Weidenruten als Degen und vergammelten Baumstämmen als Kanonen.

Nachdem Belgrad erobert und die Muselmanen vertrieben waren, konnte das christliche Abendland wieder aufatmen, und die siegreiche Horde zog, aufgepeitscht durch das blutige Kriegshandwerk, die Breite Beeke hoch, einen Graben, der einen Teich bei dem Dorfe Atzum speiste. Auf dem Weg verwandelte sich die kaiserliche Truppe in echte Likedeler und wollte den Atzumer Pfeffersäcken alles abnehmen, was diese bei sich trugen, um es unter den Armen von Salzdahlum zu verteilen.

Karl Otto übernahm die Rolle des Kapitäns Claus Störtebeker nicht nur, weil er der älteste, größte und stärkste der Piratenbande war, sondern auch, weil er über die meiste Kenntnis der Bruderschaft der Vitalienbrüder verfügte. Ihm waren geheime Worte der Freibeuterei geläufig, die andere nicht einmal richtig aussprechen konnten. Da wurde der Jolly Roger gesetzt. Da wurde gehalst, gebrasst, gekielholt und geentert, bis der Feind sich ergab.

All diese Kenntnis beruhte auf dem Buch Störtebeker, das der Oheim Karl zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Darin waren Kupferstiche zu sehen, die kämpfende Schiffe mit geblähten Segeln zwischen tosenden, sturmgepeitschten Wellen zeigten. Ihnen allein war es zu verdanken, dass Karl schnell das Lesen erlernte.

Mit einem löchrigen, halb in Verwesung befindlichen Nachen namens Haifisch umrundete die infantile Piratenbande leise eine spitze Landzunge, als sie auch schon die Atzumer Pfeffersäcke entdeckten, die sich beim Angeln vergnügten. Sie landeten an, stürzten sich mit solchem Gebrüll auf die völlig überraschten Jungen, dass die ihre Angelruten samt Fang liegen ließen und Fersengeld gaben. Die Beute der Likedeeler bestand aus einigen dicken Rotfedern und Plötzen, die noch in der gleichen Stunde über einem offenen Feuer geröstet wurden.

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Während Karl auf solche Art seine Kindheit verbrachte und noch im gleichen Sommer, bereits einen halben Kopf größer als der Oheim, eine Zimmermannslehre mit Kost und Logis in Wolfenbüttel begann, lebte sein Halbbruder Herzog August Wilhelm in vollster Herrlichkeit. Er feierte pompöse Bälle, die weit über die Verhältnisse hinausgingen, welche seine Untertanen imstande waren zu bezahlen. Er ließ sein Stadtschloss in der alten Brunsvica prunkvoll herrichten, Festungsanlagen und Kirchen bauen, und erhöhte die Steuern. Trotzdem füllte nur die Luft den weit größten Teil seiner Schatzkammer aus.

Gleichzeitig ging es in dem Rechtsstreit, in welchem Großmutter Crusius um den Erbteil ihres Enkels am Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel focht, von dem allerdings Karl selber nicht die leiseste Ahnung hatte, trotz des beauftragten Advokaten gar nicht voran. Als die Monate, ja Jahre sogar ins Land gingen und nichts anderes außer Briefpapier mit juristischem Gekritzel, das weder Großmutter Crusius noch der Oheim lesen konnten, hin und her wanderte, verfassten sie selbst ein dringendes Gesuch an Seine Majestät persönlich, das der ehemalige Homme-Special eigenhändig in das Schloss brachte.

Erst am nächsten Morgen kehrte er zurück. Furchtbar geschlagen und am ganzen Körper übersät mit Blutergüssen und Prellungen. Er sei nur äußerst knapp der Kerkerhaft entgangen, berichtete er, und dass man ihm, ohne auch nur die kleinste Entgegnung zu dulden, gesagt habe: »Das Subjekt Karl solle allerschleunigst das Land verlassen! Und Er selbst in das tiefstes Schweigen verfallen, wenn Er Schlimmeres verhüten wolle.«

Ein paar Tage später drangen am Abend zwei vermummte Gestalten in das Haus der Großmutter Crusius ein, verwüsteten Küche und Schlafkammer und zerbrachen auf der Suche nach dem Brieflein das Schloss der Kleidertruhe. Aber kurz bevor sie fanden, was sie so begehrlich suchten, wurden die Einbrecher von aufgeschreckten Nachbarn vertrieben. Nur der Einladung einer Freundin war es zu verdanken, dass die Großmutter und der Oheim nicht im Hause weilten und ernsthaften Verletzungen entgangen waren.

Derart in Angst und Schrecken versetzt, schrieb die Großmutter einen Brief an den Advokaten, dass sie die Klage zurückziehe, alles sei ein Versehen gewesen, es gebe gar keinen schriftlichen Beweis, der rechte Vater des Jungen habe sich endlich gemeldet und alles habe nun wieder seine Richtigkeit.

Aber es war zu spät. Die Hatz auf den illegitimen Sohn des Herzogs Anton Ulrich war eröffnet. Am Abend des folgenden Samstags wurde Karl Otto Crusius auf dem Weg von Wolfenbüttel nach Salzdahlum von gedungenen Mördern überfallen. Mit blank gezogener Klinge hieben sie auf ihn ein. Er schrie aus Leibeskräften und versuchte flink wie ein Hase davonzukommen.

2.) In den Händen der Wolgapiraten

Mit stolz geschwellten Segeln treibt eine steife Brise das Schiff nach Süden. Der Rumpf pflügt schäumend durch das dünende Meer. Auf dem Deck singen die Vitalienbrüder das grausame Lied ihres Capitäns: Des lieben Gottes Freund – und aller Welt Feind!, während die Gischt das Deck überspült und der Haifisch die tief im Wasser liegende Hanse-Kogge über die See hetzt. Wenn die Prise aufgebracht ist, können sie endlich den Spiekeroogern, die bei der letzten Sturmflut alles Vieh verloren haben, unter die Arme greifen. Mit wehendem Haar steht Capitän Störtebeker am Bug seines Schiffes und schaut stolz hinaus auf die schäumende See …

Plötzlich unterbrach ein Schuss den Traum des dösenden Musketiers, eines jungen, beleibten Mannes von über zwanzig Jahren und nicht geringer Körpergröße. Die Bleikugel knallte gegen das Holz des Dollbords und riss nadelspitze Holzsplitter aus der Planke. Noch zwei, drei Schüsse donnerten vom nahen Flussufer herüber, ehe der Mann seine alte Muskete überhaupt in Stellung bringen konnte. Aber die kleinen drehbaren Kanonen, mit denen das Wolga-Frachtschiff hier und da bestückt war, feuerten bereits. Dichte Rauchschwaden verdunkelten die Sicht, und erst, als sich der Pulverdampf verzogen hatte, entdeckte der Eskorteur ein Ruderboot, das schnell auf den großen Prahm zu kam. Zehn finstere Gestalten saßen darin und schon wieder flogen dem Musketier die Kugeln um die Ohren.

Die Flusspiraten mussten ihre Büchsen nachladen und endlich schlug die Stunde des Eskorteurs. Er kniete hinter der Brüstung und brachte die Mündung seiner gewaltigen Muskete in die Richtung des Ruderbootes, dann drückte er den Zündhebel. Das scharfzackige Eisenrad setzte sich in Bewegung, nagte am Feuerstein und erzeugte sprühende Funken. Die Muskete feuerte los, der Rückstoß schleuderte den Oberkörper des Eskorteurs nach hinten, und ein gellender Schrei tat kund, dass sein Schuss nicht ins Leere gegangen war.

Aber der Kahn mit den Wolgapiraten kam immer näher und der Musketier schätzte, dass er nur noch Zeit für einen Schuss hatte, ehe die Piraten nahe genug waren, um das große Frachtschiff zu entern und sich ein blutiges Handgemenge mit den Wachmännern und der Besatzung zu liefern.

Hastig stopfte er Schießpulver, Werg und ein Papiersäckchen mit Schrot in den Lauf der Muskete, zog die Feder des Radschlosses wieder auf und legte den langen Lauf der schweren Waffe auf die Brüstung. Aber noch ehe er Kimme und Korn in eine Linie gebracht hatte, traf ihn ein schwerer Schlag auf den Hinterkopf. Er ließ die Muskete los und fiel mit einem dumpfen Seufzer auf die Planken. Ein paar der Piraten waren auf der anderen Seite herangeschwommen, an Bord geklettert und machten nun der Mannschaft den Garaus. Der Eskorteur, der das Heck des Schiffes hatte verteidigen sollen, wurde als einer der Wenigen verschont, weil beim Fleddern des Ohnmächtigen ein Lederbeutel aufgefallen war, der an seiner breiten Brust hing.

Der Beutel war mit Pech versiegelt und enthielt in einer mit Wachs verschlossenen Ziegenblase einen Bogen Papier, auf dem Worte standen, die keiner der Flusspiraten lesen konnte, auch jene nicht, die aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation selbst stammten. Was sie aber erkennen konnten, war das Siegel des Briefes, welches ein Kreuz auf einen Berg mit einer strahlenden Sonne im Hintergrund zeigte. Das brachte die Freibeuter auf die Idee, der Mann stamme aus einer vermögenden Familie, und sie machten sich Hoffnung auf eine hübsche Summe Lösegeld.

Mit einem Eimer frischen Wolgawassers wurde die Ohnmacht des jungen Teutschen fortgespült, dann begannen die Piraten eine schmerzvolle Befragung durchzuführen. Erst als der Gepeinigte, womit er auch gequält wurde, immer nur das Wort Babuschka auf den Fluss hinausschrie, fingen sie an, seiner zuvor in gebrochenem Reußisch gehaltenen Erklärung Glauben zu schenken, der Ehemann der Babuschka sei Pastor gewesen. Kreuz, Berg und Sonne seien nur die Zeichen der lutheranischen Kirche, nichts anderes. Er sagte ihnen seinen Namen, Karl, und dass er Zimmermann sei. Die Angabe seines Berufs, die Versicherung, er wäre gerne Pirat, sowie der imposante Bau seines Körpers, sorgten dafür, dass er nicht an Händen und Füßen gebunden einfach in den mächtigen Fluss geworfen wurde. Zimmerleute waren überall gern gesehene Burschen und junge, kräftige Mannsleute konnte eine Piratenbande immer gebrauchen.

Karl wurden die Fesseln abgenommen und sorgfältig faltete er den Briefbogen wieder zusammen, steckte ihn in die Ziegenblase zurück und versiegelte den Brustbeutel, indem er das weiche Pech zusammendrückte, auf dass nicht der kleinste Tropfen Wasser an den Brief gelangte, der ihm, Karl Otto Crusius, einst das Leben geschenkt, dann aus seiner Heimat vertrieben und nun vor dem Tode bewahrt hatte.

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Großmutter Crusius und der kleine Oheim hatten ihm, nachdem er den Mordbuben auf dem Weg von der Feste Wolfenbüttel nach Salzdahlum nur knapp entkommen war, endlich seine adlige Herkunft verraten, die er würdevoll zur Kenntnis genommen hatte. Sie gaben ihm das Brieflein, ihren Segen und ein paar Taler für die Flucht zu einer entfernten Cousine der Großmutter in die russische Stadt Sankt Petersburg.

Erst war er per pedes über schlammige Feldwege eiligst nach Magdeburg gelaufen; auf einem mit Hanfseilen beladenen Pferdekarren nach Berlin gefahren; unter einer starken Sonne, welche ihm den Nacken verbrannte, wieder zu Fuß bis an den Oderfluss; mit einer roten, wie eine Hagebutte leuchtenden Nase ging es in Booten, Frachtkähnen und Nachen den Fluss hinunter nach Stettin; mit einem richtigen Segelschiff, auf dem er sich mit großer Freude als Zimmermann anheuern ließ, so dass er nur sein Essen bezahlen musste, über eine unruhige Ostsee hinweg – welche ihn oftmals speien ließ, was seinen Traum von einem abenteuerlichen Leben als Pirat mit großem Zweifel trübte – über die Ostsee in das seit ein paar Jahren schwedenfreie Königsberg, wo er eine Woche lang vergeblich nach einer Schiffspassage nach Sankt Petersburg suchte, schließlich nicht länger warten wollte, und einem hoch mit Wein beladenen Wagen aufsaß, der ihn mit Achs-, Rad- und Deichselbruch in die Richtung von Minsk brachte, wo er weit im Osten auf die Hauptstraße nach Petersburg stieß, auf der er immer mal wieder einen Wagen oder einen Karren fand, die ihn ein Stück des Weges mitnahmen.

Viele Spargroschen der Großeltern hatte er als Wegegeld berappen müssen, als Brückenzoll und Durchgangsgeld durch irgendwelche Fürstentümer, von denen kein Schwein je gehört hatte. So war seine anfangs stattliche Barschaft auf ein paar abgegriffene Kupferpfennige zusammengeschmolzen, als er endlich braungebrannt wie ein Bauer vor der Tür des entfernten Verwandten stand, der in der neuen Stadt Petersburg dem Kontor eines Pelzhandels vorstand.

Und allezeit, ob auf der holpernden Pritsche eines Lastwagens oder auf einem träge dahingleitenden Holzfloß, allezeit war die Angst mit ihm gereist, sein Halbbruder, der neue Herzog August Wilhelm von Braunschweig-Wolfenbüttel, würde die Kosten nicht scheuen und ihm ein paar Meuchler hinterherschicken, die ihn im Nacken packen und hinterrücks erstechen könnten.

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Die Piraten fuhren mit dem erbeuteten Frachtschiff die mächtige Wolga hinunter, kehrten in einen kleinen Seitenarm ein und mussten es dann gegen eine sanfte Strömung flussauf rudern. Karl legte sich mit seinem ganzen Gewicht in die Riemen, keuchte, schwitzte und brummte, so dass die Flussräuber anfingen ihn den Mitwic, den Bären, zu nennen. Nach einem halben Tag erreichten sie eine Ansammlung armseliger Laubhütten. Abends gab es Spanferkel und Branntwein, die Bande sang, soff und grölte und die Kosaken unter ihnen tanzten die halbe Nacht hindurch.

Ein paar Tage später fuhren zwölf Mann den Prahm die gewaltige Wolga hinauf bis Kostroma und boten dort das Schiff zum Kauf an, fanden schnell einen neuen Besitzer und bekamen mehr dafür, als sie gedacht hatten. In der Nacht stahlen sie ein großes Ruderboot, mit dem sie schleunigst in ihre Räuberhöhle zurückkehrten und jeder Flusspirat hatte nun mehr Silberrubel in der Tasche, als wenn er jahrelang tagein, tagaus auf dem Feld geschuftet hätte.

Müßig gingen einige der Männer auf die Jagd, auf das Wild ebenso wie auf das Vieh und das Weibsvolk der umliegenden Dörfer, und immer wieder hörte man von bösen Taten gegen Frauen, von gestohlenen Hühnern und verschwundenen Lämmern.

Karl Otto von Salzdahlum, dem nach ein paar Monaten bei den Freibeutern ein wilder schwarzer Bart das halbe Gesicht bedeckte, gefiel das Piratenleben ausnehmend gut. Er bekam einen krummen Säbel, eine Pistole und ein langes Messer, die ihm locker im Gürtel steckten, und bis in die Mitte des Sommers hinein kaperte man drei Frachtschiffe.

Am Lagerfeuer liegend lauschte man dem brummenden Mitwic, der auf einem Bärenfell lag, Gänsekeulen und Brot in sich hinein stopfte und ihnen in reußischem Kauderwelsch seine Geschichte erzählte: Wie er in die Stadt Petersburg gekommen war, verfolgt von gedungenen Mördern, weil er der Liebschaft mit einer Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel nicht hatte ausweichen können. Und wie ihm weder die Schreibarbeit in einem Kontor noch die nasse Zimmermannsarbeit an den sumpfigen Petersburger Kanalbaustellen gefallen hatte. So sei er Wolgaschiffer geworden, im sechsten Jahr nun schon, und eines Tages würde er zur See fahren und alle sieben Weltmeere durchkreuzen. Und von einem stolzen Piraten-Capitän erzählte er ihnen, der in früheren Zeiten seine Beute in der Nordsee und im Baltischen Meer gemacht hatte. Der mit seinen Vitalienbrüdern die dicken Hansekoggen geplündert und einen Teil der Beute unter den Armen und Alten, den Witwen und Waisen verteilt hatte und dafür als Held gefeiert worden war. Und weil er einen riesigen Becher Bier in einem Zug hinunterstürzen konnte, hatten die Leute ihn Störtebeker genannt, und Haifisch hatte sein Schiff geheißen.

In den nächsten Tagen sah man einige der Flusspiraten durch die umliegenden Dörfer streunen und Brot, Fleisch und Kupfermünzen an die Armen verteilen. Zurück kehrten sie mit lächelnden Gesichtern, weil die Armen und Alten sie mit vor Glück tränenden Augen gesegnet hatten.

Das jähe Ende der Freibeuter-Bagage kam Ende August, als eine Abteilung von zweihundert zaristischen Soldaten das Lager überfiel. Die Piraten, verkatert und vollgefressen, wehrten sich verzweifelt, aber gegen diese Übermacht hatte man keinen Stich. Als sich der Pulverdampf verzog und die grässlichen Schreie der Sterbenden immer leiser wurden, lag die eine Hälfte der Räuberbande tot auf dem Schlachtfeld, die andere saß gebunden und blutend am Boden und erwartete mit leeren Augen den Galgenstrick. Verraten von den Armen und Alten, die nicht hatten dichthalten können, und jedem, der es hören wollte, von ihrem Glück erzählten: Es waren edle Männer gekommen, die Geld und Fleisch verteilt hatten. Auch den Spionen der Adligen hatten sie es erzählt.

Allein Karl Otto von Salzdahlum war in Freiheit geblieben. Früh an diesem Morgen hatte er nur im Hemd auf einem Baumstamm gesessen, der über den Fluss ragte, und ein Exkrement in das träge dahin fließende Wasser plumpsen lassen. Als plötzlich das Schießen und Brüllen begann, sprang er ängstlich ins Wasser. Zitternd überlegte er, ob er kämpfen sollte, aber der Schlachtenlärm wurde immer grausamer. Noch einmal schaute er zum Lagerplatz hinüber, auf dem ein Säbel schwingender Likedeeler schauerlich kreischend von drei Bajonetten gleichzeitig aufgespießt wurde, dann watete er in das Wasser und ließ sich frierend und schlotternd unter dem dicht bewachsenen Ufer den Strom hinabtreiben.

An der Mündung in die Wolga entstieg er den Fluten und legte sich stöhnend in die wärmende Sonne. Die Flucht war ihm geglückt, aber er trug weiter nichts am Leib als ein nasses Hemd. Als es getrocknet war, machte er sich mit einem dicken Knüppel bewaffnet auf den Weg in das nächste Dorf.

Dort schlüpfte er für einige Zeit bei einem Bauern unter, bis er sich mit verquarsten Lederstücken an den Füßen, einer Weste aus schwarzem Schafsfell und einer zerrissenen, verdreckten Pluderhose, die nur von einem Strick gehalten wurde, auf den Weg nach Sankt Petersburg machte. Ein paar Wochen später stand der Mitwic völlig abgemagert und ausgezehrt vor dem Kontor des entfernten Verwandten. Die Cousine stellte ihm eilends Brot und eine kräftige Brühe hin, und er berichtete von seiner Gefangenschaft in den Händen der Wolgapiraten in solcher Grausamkeit, dass sie die Hände vor das Gesicht schlug und ihm verbot, jemals wieder mit einem Schiff zu fahren.

Nachdem Karl sich von den Strapazen erholt hatte, betätigte er sich den Winter über hin und wieder im Kontor oder widerwillig, und nur wenn es das Wetter wirklich zuließ, an den nassen Kanalbaustellen der Stadt Sankt Petersburg. Bis Ende April des Jahres 1731 endlich ein Brief seiner Großmutter aus Salzdahlum eintraf.

Darin stand, dass sein älterer Halbbruder, der Herzog August Wilhelm, nun endlich, wenige Tage nach dem Eintritt in sein siebentes Lebensjahrzehnt, verstorben sei, und man höre, dass die Chance auf eine gerechte Anerkennung seiner Person durch den Nachfolger, seinen Halbbruder Herzog Ludwig Rudolf, besser stünde. Die Großmutter und der Oheim luden ihn ein, nach mehr als neun Jahren außer Landes, wieder nach Hause zurückzukehren und seinen Erbteil einzufordern.

3.) Der geheime Wasserbaumeister zu Braunschweig-Wolfenbüttel

Auf einem Handelsschiff voller Honig, Käse und Fässern mit eingelegten schwarzen Fischeiern fuhr er von Petersburg nach Kiel. Der Capitän nannte die Fischeier Caviaro, welchem eine die Natur reizende Kraft zugeschrieben wurde, und der Händler, der diese glibberige Lecker-Speise aus Russland bestellt habe, rechne damit, dass sie in Bälde die Tafeln der Herrschaften erobern und er sich eine goldene Nase damit verdienen würde.

Karl Otto vertrug die See ganz und gar nicht, war ganz grün im Gesicht und fütterte andauernd die Fische. Der Capitän versicherte ihm, dass die Nordsee viel rauer sei als die Ostsee hier unter ihren Füßen, und mitsamt seinem Mageninhalt warf Karl endlich die ganze infantile Idee über Bord, irgendwann als Anführer einer Bande Vitalienbrüder Ruhm zu erlangen.

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Die Rückreise von Petersburg nach Salzdahlum dauerte nur zwei Wochen und an einem schönen Maientage stand Karl Otto erschöpft und staubig, aber voller Hoffnung, endlich wieder vor dem kleinen Häuschen seiner Großmutter. Ein stattlicher Mann von über sechs Fuß Länge, rundum gut gepolstert mit Speck und Muskeln, die langen dunklen Locken zu einem Zopf gebunden, mit himmelblauen, verwaschenen Augen und einem schwarzen Bart im Gesicht. In einen grünen Mantel mit aufgesetzten Taschen gehüllt, in ausgebeulten, fleckigen grauen Kniehosen und mit schlammbespritzten Gamaschen über seinen prallen Waden klopfte er an die Tür. Als Großmutter Crusius sie öffnete, erkannte sie ihren Enkel nicht auf den ersten Blick. Erst der zweite offenbarte ihr die Familienbande, die sie miteinander verknüpften, und die alte Frau verschwand schluchzend in den kräftigen Armen des Heimkehrers.

Es wurde alles aufgetischt, was die Speisekammer hergab, und Karl erzählte der Großmutter und dem kleinen Oheim, was er erlebt hatte. Mit großen staunenden Augen hörten sie zu, als er, den man in Russland den Mitwic nannte, die schrecklichen Überfälle der Piraten schilderte, welche er gleichsam allein abgewehrt, die Räuber in die Flucht geschlagen und so manchem Reeder das Schiff und manchem Kaufmann die Ware gerettet hatte.

Ein anderes Mal sei er gefangen genommen worden, berichtete er, und nur sein Brieflein, welches er immerfort über seinem Herzen trage, habe ihn vor dem sicheren Tod bewahrt. Weil die Räuber wegen des geprägten Siegels seine adlige Abstammung witterten, hatten sie ihn in Geiselhaft genommen, aber die Zarin Anna Iwanowna habe ein Regiment Soldaten geschickt, um ihn zu befreien. Dann allerdings habe er sich unter den erbärmlichsten Umständen zurück zur Cousine nach Sankt Petersburg durchgeschlagen müssen.

Oheim und Großmutter hatten ihrerseits nicht viel zu berichten. Weder in Salzdahlum noch im Lande selber sei irgend etwas von Bedeutung geschehen, außer dass der alte Herzog anstelle des Wohlstandes weiterhin die Schulden vermehrt habe, aber das sei ja ein uralter Hut und würde sich wohl auch in der entferntesten Zukunft nicht ändern. Wie man höre und lese, vertreibe der Erzbischof im österreichschen Salzburg seine protestantischen Schäfchen nach Preußen, hinein in die Arme des Soldatenkönigs, wo sie alle gern gesehen waren und nicht bloß die Langen Kerls. Obwohl doch der König sonst so grausam war: es war noch nicht lange her, da hatte er Hans von Katte hinrichten lassen, den lieben Freund des Kronprinzen Friedrich. Geköpft, vor dessen Augen, und nur weil …

Karl winkte ab. Diese traurige Geschichte war bis in das entfernte Sankt Petersburg gedrungen. Aber derzeit fühlte er sich nicht imstande, so schmerzhafte Gefühle seinem jetzt frohen Herzen zuzumuten. Er war wieder daheim und bereit, sein Erbe anzutreten.

Man kam zu dem Schluss, vorerst keinem winkeligen Advokaten mehr den Fall zu überlassen, sondern gleich selbst eine Vorsprache bei dem neuen Herzog Ludwig Rudolf zu erbitten und Seiner Majestät höchstpersönlich das Anliegen vorzutragen. Denn Anton Detlef Dehn, der Günstling des verstorbenen Herzogs, der seinerzeit wohl die Mordbuben engagiert hatte und der später als Vorsitzender des staatlichen Schatzkonvents merkwürdig reich geworden war, diesen Ränkeschmied nun brauche man nicht mehr zu fürchten. Der sei bereits im vergangenen Jahr aus Amt und Land gejagt worden. Aber erst wenn der neue Herzog seine Herrschaft angetreten hatte, wollte man das Gesuch aufsetzen.

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Derweil stolzierte Karl Otto durch Salzdahlum und traf hier und da alte Bekannte, denen er seine abenteuerlichen Erlebnisse erzählte. Er spazierte nach Wolfenbüttel und kaufte sich dort als sichtbares Zeichen seiner fürstlichen Abstammung zuerst einen Degen. Dann begutachtete er schmunzelnd die neuen Befestigungsanlagen, welche inzwischen aus dem sumpfigen Boden der Oker gewachsen waren, und inspizierte neckisch die eher dürftige Baustelle der neuen Garnisonskirche. Ein Mann, der aus Sankt Petersburg kam, konnte sie nur bescheiden nennen.

Er schlenderte durch das Dammtor in den Zitadelle genanten Teil der Festung hinein, in dem das herzogliche Schloss, der Kornspeicher und das Zeughaus standen – und das Pantheon des Wissens. Jenes Bauwerk, das sein herzoglicher Vater für das gesamte Wissen der Welt hatte errichten lassen. Die Bibliotheksrotunde mit dem vergoldeten Himmelsglobus auf der Spitze, der in der Sonne glänzte. Ein Himmelsglobus, um dessen Äquator sich ein mit allen Sternzeichen versehenes Band herum wand wie das Rad des Schicksals.

Die Fäuste in die Seiten gestemmt, das Kinn hoch erhoben, den Kopf weit in den Nacken gelegt stand Karl vor dem Pantheon und schaute zu der glänzenden Kugel hoch. Er zog die Augenbrauen zusammen und schirmte mit der Hand das Licht ab, als beobachte er weit oben im Himmel einen Vogel. Aber es war kein Globus, was er da sah. Es war – ein riesiges Auge! Ein gleißender Augapfel, der ihn aus einer schwarzen Pupille heraus anstarrte. Schwarz und bodenlos. Tiefer als der tiefste Abgrund in den Albträume einen Schlafenden hinabreißen können.

Schaudernd kniff er die Augen zusammen und wandte sich ab von dem schrecklichen Bild. Mit dem Gefühl, als sitze ihm der Teufel selbst im Nacken, ging er hastig davon. Erst als er das westliche Tor erreicht hatte, wagte er sich umzuschauen. Aber der Globus erhob sich friedlich in den Himmel nur als das, was er war: eine goldglänzende Kugel.

Karl schüttelte den Kopf und tat das Erlebnis als ein Trugbild ab, hervorgerufen durch eine Schwäche seiner Augen, die sich in das prunkvolle Petersburg zurücksehnten. Er kehrte der Zitadelle den Rücken und verließ mit festen Schritten die Festung Wolfenbüttel durch das Mühlentor.

Als er durch die Okerauen wanderte, wurde sein Herz wehmütig. Denn im Vergleich zu dem mächtigen Wolga-Fluss in Russland war die Oker ein harmloses Bächlein, aber durchaus breit und tief genug für die Schifffahrt. Er wunderte sich, dass nur ab und zu ein Kahn oder ein mit Steinen beladenes Floß auf dem Wasser fuhr.

Zuhause in Salzdahlum fragte er den Oheim: »Warum wird denn der von Gott gegebene Wasserweg nicht stärker genutzt, um Waren und Material in die Ortschaften zu bringen?«

Der kleine Mann lächelte: »Es gibt ein einziges Schiff, aus Leder ist es gemacht und mit einem Mast für das Segel. Das dümpelt meist nur am Eisenbütteler Wehr bei der alten Brunsvica herum. Aber in früherer Zeit, da hat es Pläne gegeben, vom alten Herzog Julius, die Oker und ihre Nebenflüsse schiffbar zu machen, Kanäle zu bauen. Die Juliusschifffahrt nannte man das. Aber seine Pläne sind an den verschiedensten Widrigkeiten gescheitert. Wenn du dich für derlei Dinge interessierst, so stöbere in den altertümlichen Papieren in der großen Bibliothek in Wolfenbüttel herum«, sagte der Oheim. »Allerdings, wenn ich mich recht erinnere, hat es schon immer Zwist zwischen den unterschiedlichen Besitzern eines Flusses gegeben. Das Wasser gehört natürlich allen, aber das Bett, worin er fließt, wechselt allzu oft den Staat. In der Vergangenheit ist es deshalb zu manch blutigem Streit gekommen.«

Karl nickte und folgte dem Rat des Oheims, ließ sich von ihm ein Empfehlungsschreiben an den Bibliotheksdiener aushändigen und anderntags ging er wieder auf die Zitadelle. Als er den Schlossplatz betrat, beobachtete er aus den Augenwinkeln heraus misstrauisch den Himmelsglobus auf der Bibliotheksrotunde, aber heute wollte er nicht zu einem Auge werden.

Die Linke auf den Griff seines Degens gelegt, den Ellenbogen abgewinkelt, ging er durch das schmiedeeiserne Tor der Rotunde und stieg bedächtig durch das luftige Treppenhaus nach oben. Der Bibliotheksdiener saß an einem Tisch und schrieb. Karl überreichte ihm den Zettel des Oheims. Der Mann erhob sich, und zusammen betraten sie das Herz der Bibliothek – den großen, drei Stockwerke hohen, Licht durchfluteten Saal, die Rotunde, erleuchtet durch eine Kuppel mit zwei Dutzend Fenstern. Geschmückt mit prunkvollen Gemälden und alabasternen Büsten vergangener Männer. Aber plötzlich …

Karl Otto von Salzdahlum war mit seinen sechsundzwanzig Jahren ein gesunder, junger Mann in der vollen Blüte seiner Kraft. Er hatte schon einiges hinter sich gebracht und verschiedene, äußerst bedrohliche Situationen erlebt. Aber plötzlich begann er grauslich zu röcheln und herumzuwanken, als versuche er, sich auf einem Schiff in schwerster See gerade zu halten. Er riss sich das Halstuch herunter und zerrte den Kragen auf, weil er das Gefühl hatte, dass die Atemluft seine Lunge nicht mehr erreichte, dass er erstickte.

Bücher. Fuderweise Bücher. In Reih und Glied standen sie an den Wänden und bildeten eine unruhige, grauweiße Fläche, die immer mehr erzitterte. Bücher. Jedes Exemplar ein Menschenleben voll Erfahrungen, ein Menschenleben lang erforschte Gedanken, entwickelte Träume, jede Seite der Zeit abgerungen, der Geschichte entrissen, analysiert und niedergeschrieben auf Pergament und Papier. Großartige Gedanken, ehrenvolle, schöne, erfolgreiche Gedanken. Und böse Behauptungen, schikanöse Betrachtungen, engstirnige Thesen, gefährliche Geheimnisse, dumme Weisheiten und längst überholte Begründungen und Erklärungen zum Funktionieren der Welt. Pragmatische Propaganda in schmuckvollen Einbänden, kunstvolle Drucke aus schnörklichten Lettern, welche die furchtbarsten Aussagen kaschierten. Kleine Liedchen, niedliche Sonette, liebliche Verse. Aufstellungen, Listen, Traktate, Briefe, Handschriften zu jedem und allem, was die Menschheit je gedacht hatte. Ersonnen von Tausenden von Gehirnen, in denen Myriaden und Myriaden von Nervenzellen den lieben Gott, den Teufel, die schlimmste Tortur und die lieblichste Labsal erschaffen hatten.

Der Mitwic Karl Otto von Salzdahlum, sechs Fuß hoch und hundertfünfzig Pfund schwer, wankte schwindelnd und röchelnd in diesem Ansturm hin und her, umtost von den Ausdünstungen der in Tinte manifestierten Gedanken, die zwischen den schweinsledernen Buchdeckeln hervorkrochen. Verschlagen und mit ihren abgegriffenen, papierenen Zungen wispernd kamen sie auf ihn zu und suchten wie Schlangen züngelnd einen Weg in seinen Kopf hinein. Gegen einen menschlichen Angreifer hätte er sich mit Fäusten gewehrt und um sich geschlagen wie ein Derwisch – drei, vier kräftige Männer brauchte es schon, ihn niederzuringen. Aber gegen diese ätherischen Wesen war er wehrlos. Schnappte nur nach Luft wie ein Ertrinkender, und die hämisch zischenden, kichernden Geister drangen in ihn ein. Bohrten sich fressend und malmend in seinen Kopf hinein, Holzwürmern gleich, welche die dicksten Balken starker Dächer befallen. Lichtstrahlen stachen durch die Dunkelheit in seinen Kopf wie durch die zerbrochenen Schindeln auf einem Dachboden. Zwischen den Lichtstreben des gleißenden Gitterwerks aber entstand ein riesenhaftes, rundes Gesicht mit einem dunklen Schnauzbart, das ihn über eine merkwürdige, schwarz gerandete Byrille hinweg aus kleinen Augen aufmerksam betrachtete.

Karl taumelte rückwärts und rang nach Atmen. Er musste die prunkvolle Halle sofort verlassen, welche hinauf bis zur filigran bemalten Kuppel mit den schmerzenden Absonderungen des menschlichen Geistes gefüllt war. Er fürchtete ansonsten seinen Verstand zu verlieren, ja vielleicht sogar das Leben. Der Bibliotheksdiener führte ihn hinaus, setzte den keuchenden, schwitzenden Mann auf einen Stuhl und reichte ihm einen Becher mit Tee.

»Die Luft …«, sagte Karl heiser. »Der Atem wurde mir geraubt … die Bücher … das gesamte Wissen … der Welt … da … da kann ich nicht noch einmal hineingehen. Bitte, Herr Bibliothekar, wenn Sie so freundlich wären, mir einiges über den Herzog Julius und seine Juliusschifffahrt aus diesem Meer von Papier zu fischen?«

»Das ist nicht meine Angelegenheit«, sagte der Bibliotheksdiener. »Aber der Homme-Special hat etwas gut bei mir. Die Schifffahrtspläne des Herzog Julius? Warten Sie …«

Der Mann schlurfte davon. Karl saß wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl im Treppenhaus und schwor, nie, nie wieder, und wenn er hunderttausend Taler dafür bekommen sollte oder man ihn an zehn Pferden festband, nie wieder in seinem Leben dieses Höllenloch zu betreten. Lieber würde er sofort tot zur Erde sinken, als dieses grässliche Gefühl des Erstickens, diesen brennenden Schmerz in seinem Kopf noch einmal erleiden zu müssen.

Der Pförtner kam bald mit zwei großen Aktendeckeln zurück, die einige Bogen Papier enthielten. Karl hatte sich von seinem Schrecken soweit erholt, dass er mit fester Hand, die Akten aufschlug und die Pläne seines Urururgroßvaters zu studieren, ja zu verschlingen begann.

Als er die Bibliotheksrotunde am Abend verließ, wusste er mehr über die Juliusschifffahrt als sonst jemand im gesamten Herzogtum. Der arge Schrecken, welche die Büchersammlung in ihm hervorgerufen hatte, war gewichen, und sein Kopf statt mit schlotterndem Grausen mit großartigen Plänen angefüllt, deren Verrichtungen zwar viel Zeit in Anspruch nehmen, aber sich immens lohnen würden: Nicht aus bröcklichtem Stein gehauen wie die Pyramiden in Ägypten, nicht in vergänglicher Bronze gegossen wie der Löwe vor der Burg in der alten Brunsvica – direkt in die Erde gegraben und für immer mit Wasser gefüllt würden die gewaltigen Schifffahrtskanäle die Landschaft zerschneiden! Und er, Karl Otto von Salzdahlum, ehemaliger zaristischer Wasserbaumeister in Sankt Petersburg, würde dieses köstliche Bauwerk erschaffen! Solche Gedanken waren es, die in seinem Oberstübchen herumwalkten, sich dort häuslich und für eine lange Zeit niederließen.

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Durch einen heftigen Mairegen kam anderntags der Oheim pitschnass und aufgeregt in das Haus der Großmutter geeilt und verkündete die frohe Botschaft, dass der neue Herzog nun wieder den alten Kammerpräsident Hieronymus von Münchhausen einsetzen werde, der dem Lande weit ehrlicher dienen würde als der vorherige. Nur noch ein paar Tage sollten vergehen, bis man sich ernsthaft um eine Audienz bei Hofe bemühen würde.

Angetrieben von dem malmenden Wurm, den die Pläne seines Vorfahren in seinen Kopf gesetzt hatten, nutzte Karl die Zeit, um die vorhandenen Wasserwege östlich der Oker zu inspizieren. Er wanderte nach Süden über Ahlum bis zum Flüsschen Altenau, dessen versandetem Verlauf er ein paar Meilen aufwärts bis zum Hachumer Bach folgte, um dann bei Dettum über die Äcker wieder nach Salzdahlum zurückzukehren.

Erschöpft berichtete er beim Abendessen von dem argen Zustand, in dem sich die Altenau befand, von den verfallenen Schleusen, welche Herzog Julius einst hatte errichten lassen, um wenigstens Steine aus dem Elm nach Wolfenbüttel flößen zu lassen.

Am nächsten Morgen lieh er sich das Pferd des Amtmannes und ritt, immer dem Bache Wabe folgend, weit nach Norden, bis er bei dem Dorf Querum auf die Schunter stieß. Einen strömenden Fluss, der auch aus dem Elm kam und genug Wasser führte, dass Kähne auf ihm fahren konnten.

Karl ritt die alte Berliner Heerstraße flussaufwärts bis zum Flecken Hattdorf, der bereits im hannoverschen Territorium lag, und aß in einem heruntergekommenen Weghaus zwischen Straße und Fluss, welches sich altertümlich und mit einer verwegenen Schreibweise Honortis Causar nannte. Vom klumpfüßigen Wirt Dietrich Kramer erfuhr er, dass nur hin und wieder Baumstämme die Schunter hinab geflößt wurden, aber kaum mal ein Boot auf ihr verkehrte.

Bald machte er sich auf den Heimweg, damit der Amtmann nicht in Sorge um sein Pferd verfiel, denn er würde es noch einmal von ihm leihen müssen: Für die längste und wichtigste Inspektionsreise, die er unternehmen wollte. Weit nach Süden sollte sie ihn führen, bis an den Rand des Harzes, hinein in das Große Bruch.

In Salzdahlum empfingen ihn strahlende Gesichter.

»Wir haben eine Audienz erhalten«, sagte der Oheim. »Nicht beim Herzog selbst, und auch nicht beim Kammerpräsidenten, zuvörderst bei einem Sekretär, der die Wichtigkeit der Angelegenheit zu prüfen hat.«

»In zwei Tagen schon sollen wir auf das Amt kommen«, sagte die Großmutter, füllte drei Gläser mit blutrotem Wein, und durch die Fenster des kleinen Hauses drang hoffnungsvolles Gelächter in die Nacht hinaus.

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Impressum

Texte © Copyright by Copyright © 2014 by Hardy Crueger, alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung - Karsten Weyershausen Lektorat, Korrektorat - Dr. Gabriele Haefs, Dr. Anke Bartels Konvertierung - www.ebokks.de Erschienen in der Edition Narrenflug Karin und Viktor Braun 24114 Kiel, Von-der-Tann-Straße 13 www.edition-narrenflug.com Als gedrucktes Buch unter der ISBN: 978-3-945242-03-2 überall im Handel erhältlich, 298 S., 14,90 €

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ISBN: 978-3-7393-0725-1