Okergeschichten - Verbrechen. Wahnsinn. Leidenschaft. - Hardy Crueger - E-Book

Okergeschichten - Verbrechen. Wahnsinn. Leidenschaft. E-Book

Hardy Crueger

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Beschreibung

Die Oker, ein kleiner Fluss mitten in Deutschland. Üppiges Grün, Enten, Angler und Paddler. Ein Idyll für Ausflügler und Romantiker. Aber der Frieden täuscht, denn der Hauch des Todes weht über das Flussbett: In der Wasserwalze eines Wehrs wird eine männliche Leiche herumgewirbelt. Weitab der Dörfer begeht der Pferderipper seinen nächsten Mord, und Flussaufwärts wirft ein Angler zum letzten Mal in seinem Leben die Rute aus. Und auf was warten wohl die beiden Männer, der eine mit der Panzerfaust, der andere mit dem automatischen Gewehr? Und wer ist die junge Frau, die von einem Auto erfasst und in das steinige Bett im Oberlauf des Flusses geschleudert wurde? Diesen Fall übernimmt gut gelaunt Kommissar Carsten Sanders. Aber in was für eine üble Sache er da gerät, das hätte er sich nicht träumen lassen. Denn die Oker ist kein langer, ruhiger Fluss...

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Hardy Crueger

OKERGESCHICHTEN

Verbrechen. Wahnsinn. Leidenschaft.

12 Crime Stories und Psychothriller

1. Auflage Feb. 2012 / 2. Auflage April 2012 / 3. Auflage Juli 2012

eBook November 2012

Copyright © 2012 by Hardy Crueger – alle Rechte Vorbehalten

Okergeschichten Copyright © by Hardy Crueger

Erschienen in Braunschweig

Umschlaggestaltung und Flusskarte der Oker von Karsten Weyershausen

Konvertierung www.ebokks.de

ISBN 978 3 00 036818 9

Weitere Impressumsangaben auf:

www.HardyCrueger.de

Editorial

Im brodelnden Wasser des Okerwehrs bei Müden treibt ein toter Mann. Bei Seershausen in der Südheide begeht der Pferderipper den nächsten Mord, und bei Stöckheim wirft ein Angler zum letzten Mal in seinem Leben die Rute aus...

„Es macht schon Herzklopfen, als Leser hilflos zu erleben, wie die Protagonisten sich unentrinnbar in ihr vorgegebenes Schicksal stürzen müssen. Nie ist das Ende seiner Geschichten vorausschaubar, immer sorgt Crueger für eine überraschende Wende – in welche Richtung auch immer.

Crueger macht die Oker in seinen Geschichten zu einem Schicksalsfluss, der Menschleben dem Wahnsinn von Leidenschaft opfert.

Trauer, Wahnsinn, Mysterium, Tod. Und dann beginnt eben ein cruegertypisches Grauen.“

Wolfenbütteler Zeitung

Die Oker ist kein langer ruhiger Fluss ...

128 Kilometer fließt sie von Altenau im Harz

bis nach Müden in der Südheide

durch das alte ostfälische Land.

An ihrem Ufer und denen ihrer Nebenflüsse

leben über eine halbe Million Menschen.

Das ist nicht viel.

Aber genug für spannende Geschichten.

Geschichten um Verbrechen, Wahnsinn und Leidenschaft.

Okergeschichten.

Für Shorty 1964 – 2009

Tatort: Müden

Wo Aller sich und Oker küssen …

Die Leiche des Mannes war längst aus dem strudelnden Wasser geborgen worden und auf dem Weg nach Hannover, in die forensische Abteilung der Medizinischen Hochschule. Untersuchungsbeamte hatten die alte Wehranlage mit dem im Wasser herumwirbelnden Leichnam gefilmt, fotografiert und die nähere Umgebung des Fundortes sorgfältig abgesucht. Aber natürlich nahm Kommissar Carsten Sanders das Okerwehr noch einmal persönlich in Augenschein. Er mochte es, an unbekannten Orten herumzuschnuppern. Es war sein erster Besuch in Müden an der Aller.

Gemächlich ging er den Feldweg zum Wehr hinunter, am Generatorenhäuschen vorbei und lehnte sich auf das Geländer an der Seite des Wasserbeckens. Die Wehrbrücke selber war sehr schmal und mit einer großen eisernen Konstruktion verbaut, mit der man die Tore des Wehrs heben und senken konnte. Das Wasser schoss unter den halb geöffneten Toren hindurch und ergoss sich tosend und schäumend in das Becken zu seinen Füßen. Mehrere Stunden hatte der Tote dort gelegen, festgehalten von Betonklötzen, die am Ende des Auslassbeckens standen wie Zinnen auf einer Burgmauer.

Weil im Dezernat Gifhorn alle verfügbaren Kräfte erkrankt waren, hatte man um Hilfe beim LKA in Hannover gebeten. Deshalb war Sanders hier: wegen eines mutierten Grippevirus. Auf der Fahrt nach Müden hatte ihm Polizeiobermeister Ahlers telefonisch die Fakten mitgeteilt: Ein Mann aus dem Ort, 27 Jahre alt, 1,78 m groß und 71 kg schwer. Gestern Abend war er in das Becken gestürzt und ertrunken. Aber eine Platzwunde und mehrere frische Hämatome am Kopf und Oberkörper des Mannes konnten nicht von dem Sturz ins Wasser verursacht worden sein. Die Verletzungen stammten von wuchtigen Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand. Wahrscheinlich aus Holz. Vielleicht einem Baseballschläger.

Es ging auf Mittag zu und die erste Welle der Gaffer war bereits abgeebbt. Sanders schaute in das tosende Wasser. Oker hieß der Fluss, der da durch das Wehr rauschte. Bisher kannte er ihn nur aus Mineralwasserflaschen. Aber das sollte sich bald ändern.

Eine Tatwaffe hatten seine Kollegen nicht gefunden. Im Sog des aufgewühlten Wassers blieb die blinde Suche für den Taucher ergebnislos und lebensgefährlich. Seine Kollegen hatten ihn an der Sicherungsleine wieder ans Ufer ziehen müssen.

Wegen fehlender Spuren in der näheren Umgebung konnte die Tat ebenso gut direkt hier am Wehr vollzogen worden sein wie sonst wo. Sanders strich sich über das fliehende Kinn und seufzte. Auch die Leiche des Mannes würde nur wenige Informationen preisgeben. Das brodelnde Wasser hinter dem Wehr war wie eine riesige Waschmaschine. An Kleidung und Körper würde man keine fremde DNA, keine Partikel und keine Fingerabdrücke mehr finden. Der Leichnam würde nicht sprechen. Eine dürftige Faktenlage, es würde nicht leicht werden.

Die Frage, ob die Tat geplant oder zufällig vollzogen worden war, ließ sich zu diesem Zeitpunkt genauso wenig beantworten wie die des Tatortes. Wenn sie hier auf der Wehrbrücke geschehen war, hatte der Mann vielleicht genau so dagestanden wie er jetzt: Auf das Geländer gestützt, den Blick verklärt auf das quirlende, schäumende Wasser gerichtet. Und plötzlich hatte jemand hinter ihm gestanden. Er hatte den Täter nicht kommen hören. So wie Sanders die alte Frau mit der Gehhilfe nicht hatte kommen hören, die auf einmal neben ihm stand.

»Ts, ts, ts. Schrecklich, nicht wahr?«, sagte sie laut und schaute kopfschüttelnd in das Wasser.

Der Kommissar nickte. »Kannten sie ihn?«, fragte er.

»Na, das war doch der Schänder. Meine Nachbarin hat den Toten gleich erkannt, als sie heute Morgen hier war. Die haben ihn aus dem Wasser gezogen und sie hat sofort gesagt, das ist doch derSchänder. Martin Krutschik! Die Polizisten haben sich mehrmals bei ihr bedankt, weil sie ihnen viel Arbeit erspart hat.«

So hatte es ihm auch Polizeiobermeister Ahlers geschildert.

»Der Schänder?«, fragte er.

»Na, der hat doch immer die Mädchen belästigt, der Kerl. Der war doch krank. Letztens erst hatte er wieder am Spielplatz gestanden und hat …, na sie wissen schon, die Hose runter … und den Kleinen Angst gemacht.«

Ahlers hatte gesagt, man habe Martin Krutschik nie wegen sexueller Übergriffe belangen können. Vor zehn Jahren sei mal eine Anklage wegen versuchter Vergewaltigung gegen den damals 17 jährigen Jungen erhoben, mangels Beweisen aber wieder fallengelassen worden. Während der Untersuchung hatte ein Psychologe autistische Züge bei ihm diagnostiziert. Wegen seiner introvertierten Art sei er ein ideales Opfer von Gerüchten und Spekulationen gewesen, hatte Ahlers gesagt. Immer an der Spitze aller Verdächtigen, wenn Sexualdelikte in Müden und der Umgebung bekannt wurden.

»Na, aber trotz allem«, sagte die Frau, »man darf doch einen Menschen nicht einfach so umbringen. Ohne Gericht, ohne Verhandlung.« Sie drehte den Kopf und schaute Sanders an. Der siegreiche Kampf mit einem Schlaganfall war in ihr Gesicht gemeißelt wie ein Relief. »Sind Sie von der Zeitung?«, fragte sie den Mann in dem legeren Anzug.

»Nein, nein«, Sanders lachte. »Ich wollte mir nur mal den Tatort ansehen.«

»Ja, ist doch mal was anderes als im Fernsehen. Na, ich werd mal wieder los. Die Fußpflege kommt um halb drei. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen«, sagte der Kommissar und schaute der alten Frau hinterher, wie sie sich mit dem Rollator und ihren mindestens 70 Lebensjahren auf dem Buckel in Richtung Landstraße voranarbeitete. Er blickte noch einmal in das hypnotisch wallende Wasser, dann steckte er die Hände in die Hosentaschen, so dass das Jackett in Höhe seiner Hüfte Stummelflügel bekam, und trottete der Frau hinterher. Sie kannte sich in Müden aus. Sie könnte ein Quell wertvoller Informationen sein.

Als er neben ihr war, bot er seine Hilfe an, die sie dankend ablehnte. »Wissen Sie, ob er Freunde hatte?«, fragte er. »Feinde sicherlich genug. Aber Freunde …?«

Die Alte blieb stehen, legte den Kopf schief, kniff ein Auge zu und schaute zu dem großen Mann mit dem kurzen, dunklen Haar hoch. »Sie sind von der Kripo, oder?«

»Stimmt, Miss Marple.« Der Kommissar lachte und hielt ihr die Hand hin. »Sanders, LKA Niedersachsen.«

»Nein …! Also das ist ja …«, sagte sie und griff zu. »Wenn ich das der Ilse erzähle … ein echter Kriminal … Ober … Haupt … Kommissar …«

»Ja, genau. Ganz, ganz echt. Und vielleicht können Sie mir helfen. Also, hatte der Tote Freunde? Eine Freundin? Einen Freund?«

»Nein, nein, nein. Ach, der doch nicht. Wenn ich den mal gesehen habe, war der immer alleine. Die Mutter tut mir wirklich leid. Freunde hatte der nicht … obwohl … in letzter Zeit, hab ich den oft gesehen. Manchmal saß er dahinten …«, sie deutete auf die spitze Landzunge, die den Zusammenfluss von Oker und Aller markierte, »… und starrte auf das Wasser. Früher sind da oft Kinder drin ertrunken. Oder er stand stundenlang vor dem Laden von der Heidi. Heidi Keller, die hat einen Frisiersalon an der Hauptstraße, Ecke Bahnhofstraße. Ich geh’ da aber schon lange nicht mehr hin.«

Sanders nickte. »Danke«, sagte er. Dann verabschiedete er sich von der alten Frau, stieg in sein Auto und fuhr über die Allerbrücke hinein nach Müden. Bevor er die Mutter des Toten aufsuchte, würde er bei Heidi Keller vorbeischauen, denn den Besuch bei einer Mutter, die gerade ihr Kind verloren hat, wollte er so lange wie möglich hinauszögern.

Der Meister-Salon-Keller war ein kleiner, modern gestalteter Frisiersalon. Sanders drückte die Tür auf und eine Glocke ertönte. Es waren keine Kunden da und eine Frau in Stiefeln und einem kurzen, grauen Tweedrock kam aus einem Raum im hinteren Bereich.

Der Kommissar zog den Dienstausweis aus der Innentasche des Sakkos. »Carsten Sanders, Landeskriminalamt, Hannover«, sagte er und hielt ihr lächelnd die Plastikkarte hin.

Heidi Keller war vielleicht Mitte dreißig, zehn Jahre jünger als Sanders, einen Kopf kleiner und mit ästhetischen Rundungen. Das kastanienbraune Haar wippte routiniert zusammengesteckt in ihrem Nacken. Der Kommissar sog die Luft ein, die sie umgab: Haarspray, Deo und Kaffee. Sie hob den Kopf. Die blauen Knopfaugen in ihrem runden Gesicht waren ungeschminkt und gerötet. Sie wusste es schon, und es hatte sie mitgenommen.

Sie drehte sich um, ging voraus durch einen Vorhang in eine kleine Küche und bot ihm Kaffee an. Sanders war dankbar. Er setzte sich und schaute sich vorsichtig um. »Sie kannten ihn?«, sagte er und sein Blick glitt nur flüchtig über ihr Gesicht, als sie die Frage bejahte.

»Wie gut denn?«, fragte er leise. »Ich meine, sind Sie zusammen zur Schule gegangen, oder …«

»Nein, er war doch fast zehn Jahre jünger … Alle drei Monate kam er zum Haare schneiden. Immer mittwochs um 16:45.«

Sanders nahm die Tasse und pustete hinein. »Sie hatten ihn ganz gern, was.« Er hoffte nicht zu schnell vorzudringen. Er nahm einen winzigen Schluck.

»Nein, ganz bestimmt nicht. Aber wenn jemand, den man kennt, so grausam ums Leben kommen muss, und …« Das Läuten der Glocke an der Ladentür ließ den Satz unvollendet. »Schatz! Ich bin’s«, hörten sie, bevor sie sich erheben konnte. Ein großer, kräftiger Mann mit kahlem Schädel erschien in der Tür. Als er den attraktiven Mann im Anzug sah, stutze er und hob drohend das Kinn.

»André – das ist Kommissar Sanders. Martin Krutschik ist tot.«

Seine Züge entspannten sich nicht. Sanders stand auf und gab ihm die Hand.

»Ich weiß, Schatz. Das pfeifen doch die Spatzen von den Dächern.« Plötzlich war es sehr eng in der Küche. Der ganze Raum war nur noch angefüllt mit der Gegenwart des kantigen Alpha-Mannes. »Keller, guten Tag, Herr Sanders. Sie vernehmen meine Frau?«

»Nein, wir unterhalten uns.«

»Über den Schänder? Was hat denn meine Frau damit zu tun?«

Sanders schaute ihm direkt in die Augen, als er antwortete. »Sie … kannte ihn?«

Keller hielt seinem Blick stand. »Aber doch nur als Kunde, nicht war, Schatz?«

Frau Keller nickte. Sanders wartete auf das Angebot, sich wieder setzen zu dürfen. Aber es kam nicht. »Herr Krutschik stand immer mal hier vor dem Laden. Stundenlang«, sagte er.

Kellers Augen blitzten. »Der war doch bekloppt!« Die Wut riss ihm den Kopf in den Nacken. »Erst letztens hat er wieder die Kinder auf dem Spielplatz belästigt, das perverse Schwein.«

»Es ist nicht bewiesen, dass er das war. Warum stand er hier vor dem Laden?«

»Was weiß ich. Der gehört doch ins Irrenhaus! Der ist … war doch eine Gefahr für alle! Auf seinem Computer werden Sie sicher eine Menge ekelhafter Filme finden.«

Sanders sah die zusammengezogenen Augenbrauen des Mannes. Die kleine Speichelblase in seinem Mundwinkel. Die zurückgezogene Oberlippe gab spitze Eckzähne frei. Ihm kam ein Verdacht. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Vielleicht war es noch viel, viel zu früh, diese Frage zu stellen. Aber der Alpha-Mann nervte ihn. Also stellte er die Frage: »Wo waren Sie gestern Abend, Herr Keller?«

»Wa … was? … ich? Was habe ich denn damit zu tun? Das ist ja wohl …« Er schnappte nach Luft. Aber dann bekam sein Gesicht einen triumphalen Ausdruck. »Wir waren im Theater«, sagte er. »Wir haben Ralph Beyer und seine Frau abgeholt, das ist der CDU-Vorsitzende hier. Dann sind wir zusammen nach Braunschweig gefahren. Ins Theater. Macbeth. Danach waren wir noch eine Kleinigkeit essen, beim Japaner. Kurz nach Mitternacht waren wir wieder zu Hause. Warum fragen Sie mich das? Glauben Sie etwa …«

»Ich glaube gar nichts«, sagte Sanders. Er schob sich an Keller vorbei in den Laden. »Auf Wiedersehen, Herr Keller. Frau Keller.«

»Ich hoffe, wir konnten Ihnen weiterhelfen, Herr Kommissar«, rief der Mann ihm nach.

Bevor der Kommissar nach diesem Fehlschlag die Mutter des Opfers aufsuchte, wollte er etwas frische Luft schnappen und sich die Beine vertreten. Miss Marple hatte ihn wohl auf einen Holzweg geschickt. Ein Passant wies ihm den richtigen Weg zum Spielplatz. Er setzte sich auf eine Bank mit Blick auf ein paar abgenutzte Klettergerüste und einen Sandkasten. Fünf Kinder tobten herum. Die Mütter schossen Blicke auf ihn ab, die töten konnten. Aber sie wagten nicht, den fremden Mann anzusprechen, der in einem flotten Anzug dasaß wie in einem Werbespot für Versicherungen – aber ohne Krawatte. Also ging er rüber zu ihnen.

Nachdem er sich lächelnd geoutet hatte, sprühten ihm Zeter und Mordio aus verkniffenen rotfleckigen Gesichtern mit solch einem Druck entgegen, dass es ihm das Lächeln wegriss. Es begann eine mentale Leichenfledderei, eine posthume Euthanasie, wie Sanders sie selten erlebt hatte. Sie hätten es getan haben können. Nicht jede der kleinen, speckigen Furien allein, aber alle zusammen hätten sie im falschen Augenblick die Power für einen Lynchmord gehabt. Zumindest verbal. Sie waren grausam, denn sie hatten Angst um ihre Kinder. Sie sprachen es nicht aus, aber sie waren froh, dass der Schänder endlich weg war. Einhellig waren sie der Meinung, dass es früher oder später genau so hatte kommen müssen. Ihr mitleidloser Hass war genau das, was Sanders gebraucht hatte. Er machte ihn stark für den Besuch bei der Mutter des Getöteten. Er bedanke sich bei den Frauen, schlenderte zum Auto zurück, und schaute auf dem Navigationsgerät nach, wo sie wohnte.

Er hatte gedacht, sie würde weinen, schreien, flehen, den Herrgott anrufen, kreischen und klagen. Aber sie tat nichts von alledem. Wenn Kriminalkommissar Carsten Sanders in den letzten Wochen einen coolen Menschen getroffen hatte, dann war es diese kleine dürre Frau, die auf dem abgewetzten Ledersofa vor ihm saß und an ihm vorbei durch die Terrassentür in den Garten schaute. Augen aus Stahl. Wächsernes Gesicht. Wortkarg. Sie sagte, sie sei sogar ein bisschen erleichtert, dass es endlich vorbei sei mit Martin. Sie habe noch eine Tochter in Australien, da wolle sie nun endlich hin. Ihr Sohn habe ihr das Leben hier zur Hölle gemacht. Sie traue sich kaum noch aus dem Haus, wegen der Leute.

Außerdem habe er sie ständig bedroht und jetzt wollte er auch noch sein Erbteil ausbezahlt haben. Er würde bald fortgehen, habe er zur Begründung gesagt. Alle Therapien hatte er abgebrochen, und nun auch noch das mit der Frisöse. Das war ja wohl das Letzte.

»Was?«, fragte der Kommissar.

»Der ist ihr hinterher gerannt. Wie ein Straßenköter einer läufigen Hündin …«

Morgen würde sie anfangen auszumisten, sagte sie nach ein paar Schweigesekunden, und den Verkauf des Hauses in die Wege leiten.

Nach dem Massaker auf dem Spielplatz gab die Mutter Sanders Gemüt fast den Todesstoß. In der Kälte ihrer Aura erstarrte seine ansonsten recht agile Empathie. Er traute ihr alles zu. Er floh regelrecht aus dem Haus. Aber er würde wiederkommen müssen, das wusste er.

vEr fuhr zur Hauptstraße zurück, hielt vor einem türkischen Imbiss und aß die Lahmacun im Auto, unweit des Meister-Salon-Keller. Gerade als er abgebissen hatte, schnarrte sein Handy. Es war ein Mitarbeiter der Gerichtsmedizin aus Hannover. »Der Leichnam hat geredet, haha!«, sagte er albern. »Spaß beiseite, in der Speiseröhre des Toten steckte ein Zettel. Er ist zerkaut und vom Speichel angegriffen, es war mühsam, aber wir konnten die Buchstaben rekonstruieren. Um 23 Uhr am Wehr, Heidi. Das ist auch in etwa der Todeszeitpunkt. Er muss ihn ganz kurz vor oder während des Kampfes mit seinem Mörder in den Mund gesteckt haben.«

»Vielen Dank«, sagte Sanders. »Können Sie mir ein Foto davon rüberschicken?« Der Mitarbeiter bejahte, dann beendeten sie das Gespräch. Es war also kein spontaner Überfall gewesen, sondern eine Falle: Mit der Unterschrift Heidi war Krutschik gezielt zum Wehr gelockt worden.

Ein paar Minuten später sah er die Buchstaben auf dem Bildschirm des Handys. Er schaute zum Salon hinüber. Ein oder zwei Kundinnen mochten im Laden sein. Er würde Heidi Keller gern noch einmal sprechen. Ganz kurz. Nur ein paar gezielte Fragen. Und ihre Handschrift wollte er sehen. Als er die Autotür zuwarf, rollte Miss Marple schlurfend auf ihn zu.

»Na, Herr Kommissar, schon was ’rausgefunden?«, sagte sie, drehte den Rollator herum und setzte sich auf die Ablage.

»Ja, aber ich darf nicht darüber reden«, sagte Sanders und lächelte.

»Natürlich nicht. Aber es waren die Jungs, stimmt’s?«

Sanders Lächeln wurde schief. »Äh … kann sein. Aber … aber was für ein Motiv sollten sie denn haben, die Jungs?« Und wer, um Gottes Willen, waren die?

»Na, weil er doch immer am Spielplatz stand, der Schänder, wegen ihrer Kinder.«

Natürlich, Jungs. Sie kannte die meisten Väter als kleine Jungs. Sanders nickte.

»Vielleicht wollten sie ihn nur mal vermoppen«, spann sie ihren Faden weiter. »Und dann ist er ins Wasser gefallen. Aus dem Wehr kriegt man einen Menschen nur schwer wieder raus.« Sie schaute zum Meister-Salon-Keller und stupste ihr Kinn in die Richtung. »Ihr Mann hat in Gifhorn ein Bauunternehmen. Der lässt da nur billige Russen arbeiten. Bei uns, in dem neuen Anbau, hatten wir sooolch einen Riss in der Wand.« Sie breitete die zitternden Hände bis zu den schmalen Schultern aus. »Das ging bis vor’s Gericht. Die haben uns sogar bedroht. Nein, nein, ich geh da nicht mehr hin. Die Kellers haben keine Kinder...« Sie drehte den Kopf wieder in Sanders Richtung. »Wissen Sie, warum es hier in Müden auf der anderen Seite der Aller keine Häuser gibt? Nein? Na, das ist die fruchtbare Seite. Von den Überschwemmungen. Das Land ist zu schade fürs Bauen.«

»Interessant. Sehr interessant«, sagte Sanders und verabschiedete sich.

Es war gegen 18 Uhr, als er zum zweiten Mal den Frisiersalon betrat. Frau Keller stand hinter einer Kundin und föhnte deren Haar, eine weitere saß noch unter der Trockenhaube. Er setzte sich in die Nähe des geschwungenen Kassentresens auf einen Stuhl und wartete. An der Kasse hing ein Blatt Papier, auf dem die speziellen Angebote angepriesen wurden. Sanders nahm an, dass es die Handschrift von Frau Keller war. Er zog das Handy hervor und verglich die Buchstaben. Sie sahen sich ähnlich. Aber auch die Handschriften der Mutter des Toten und die des Alpha-Mannes würde er noch überprüfen müssen.

Er blätterte in einer Illustrierten. Bunte Bilder einer traumhaften Welt. Die Menschen lieben Illusionen, denn die Wahrheit wollen sie nicht hören. Warum hatte Martin Krutschik sein Erbe eingefordert? Und warum wollte er weg aus Müden? Wollte er fliehen? Der Kommissar schaute auf und sah Heidi Keller an der Trockenhaube hantieren. Über den Rand der Illustrierten hinweg beobachtete er die Friseurmeisterin. Frau Keller bewegte sich hölzern. Wenn die Kundin redete, lachte sie schrill und laut auf. Ihr fiel ein Lockenwickler herunter, sie schüttelte die Dose mit dem Haarspray viel zu lange. Immer wieder schaute sie zu ihm hinüber. Sie schien der einzige Mensch zu sein, den der Tod von Martin Krutschik bewegte.

Als die letzte Kundin fort war, saß er wieder in der kleinen Küche hinter dem Salon. Heidi Keller ihm vis-à-vis. Er stellte ihr die gleiche Frage, deren vollständige Antwort ihm durch das Auftauchen ihres Mannes verweigert worden war. »Sie hatten ihn ganz gern, was?« Den Zettel aus dem Leichnam verschwieg er vorerst. Vielleicht würde es auch ohne Bezichtigung gehen.

»Nein«, sagte sie wieder und zuckte aufschluchzend zusammen. Plötzlich hatte sie ein Taschentuch in der Hand und drückte es in ihr Gesicht. Sie weinte. Leise, als dürfe es niemand sehen. Es war herzzerreißend. In Sanders Hals wuchs ein Kloß, groß und hart wie eine Walnuss. Es gibt Dinge, an die kann man sich nicht gewöhnen. Bei ihm waren es Frauen mit tränennassen Gesichtern. Sie weichten seine Nerven auf. Er musste aufpassen. Sie konnten sehr mächtige Gegner sein. Er atmete ein und schluckte den Kloß hinunter.

Die Attacke ebbte ab. Heidi Keller schnaubte leise in das Taschentuch, dann holte sie tief Luft und straffte ihren Körper. Sie hatte einen Entschluss gefasst. »Am Anfang habe ich ihn gemocht, ja. Er tat mir leid. Er kam ja immer zum Haare schneiden. Er war sehr schüchtern, sensibel, er wurde sogar rot, wenn ich ihn ansprach. Auf dem letzten Weinfest … ich hatte zu viel getrunken … und André … und ich … wir hatten uns gestritten … wegen der künstlichen Befruchtung. Es hatte wieder nicht geklappt. André gab mir die Schuld. Ich bin da einfach weg. Einfach weggelaufen. Irgendwohin. Bis ich an der Mündung saß. Ich … ich… wusste nicht mehr, was ich tun sollte … dann saß plötzlich Martin neben mir. Er saß einfach nur da. Und dann hat er meine Hand genommen. Ganz sanft … zärtlich … es war so … die laue Nacht, die Sterne, das Blinken des Wassers …«

Die Worte und der Klang ihrer Stimme lösten bei Sanders eine Gänsehaut aus. Ein Prickeln zwischen Wonne und Schauer. Wie immer, wenn ihm jemand voller Vertrauen die Wahrheit sagte. Er hörte einfach nur zu.

»Es war … wie in einem Traum. Er erzählte eine Geschichte. Ganz leise. Nur für mich ganz allein. Von Feen und Wassernixen. Von den Flüssen, in denen sie glücklich leben. In denen sich auch all die glücklichen Seelen tummeln, denen das Leben die Liebe gezeigt hat, hatte er gesagt …« Ihre Stimme erstarb in der Erinnerung an die Nacht. Sie war nur ein Hauch, als sie weiterredete. »Wir hielten uns bei den Händen. Er … er sagte, das hier, das ist die fruchtbare Seite, nicht da drüben … Seit dieser Nacht ist er mir hintergelaufen. Ich habe ihm gesagt, er soll das lassen. Ich will das nicht, aber er hat immer wieder angerufen, Briefe geschrieben und vor dem Laden gestanden. Ich habe ihn angeschrien … André hatte ihm gedroht, er soll damit aufhören, sonst … Ich hatte Angst davor, dass mein Mann etwas Unüberlegtes, Schreckliches tun könnte.

- Ende der Buchvorschau -

Impressum

Texte © Copyright by Hardy Crueger [email protected] www.HardyCrueger.de

Bildmaterialien © Copyright by Hardy Crueger

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-7393-5101-8