Der Hexenfriedhof - Peter Richard Buchholz - E-Book

Der Hexenfriedhof E-Book

Peter Richard Buchholz

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Beschreibung

Bea und Mark lernen zwei alte, gebrechliche Frauen kennen, die sich als Hexen zu erkennen geben. Sie wollen den alten Frauen gegen eine dritte Hexe helfen, die sie nicht zum Hexenfriedhof gehen lässt, wo sie ihre letzte Ruhe finden können. Leseprobe: Bea hörte ein Geräusch hinter sich. Erst ein Schnaufen, dann das Knicken von Ästen und schließlich ein tiefes Grunzen. Ein beinah lautes, eindringliches Grunzen. Ein Monster? Sie weitete die Augen und das Blut stieg ihr in den Kopf. Sie wollte nach Mark rufen, doch es gelang ihr nicht. Langsam wendete sie den Kopf. Da war ja gar nichts. Sie hatte sich die Geräusche nur eingebildet. Ein Trug, die Gedanken hatten ihr einen Streich gespielt und sie war... Und doch! Ein Schatten bewegte sich genau auf sie zu. "Mark!", rief Bea mit zurückgekehrter Stimme. Er drehte sich um und erkannte sofort den Schatten, der übers Gras huschte und der sogar Beas Bein berührte. Jedoch fehlte die Gestalt, die ihn warf.

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Seitenzahl: 191

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Geschrieben habe ich „Der Hexenfriedhof“ bereits im Jahr 1984, überarbeitet 2014.

Der Autor

Die sechs Kapitel:

Die erste Begegnung

Im Bann der Erzählung

In großer Gefahr

Die heimliche Suche

Ein Schloss erwacht

Das Finale

Die Einleitung

Es regnete seit Stunden und auf dem Hof entstanden immer wieder neue Pfützen und vereinten sich zu einem kleinen See. Mark saß in seinem Zimmer, stützte den Kopf auf die Handinnenfläche und sah gelangweilt zu der grauen Wolkendecke. Die Gedanken kreisten und entfernten sich mehr und mehr von den Hausaufgaben.

Hatte er eben noch an einem Aufsatz über Haustierhaltung geschrieben, so endete er mitten im Satz und dachte nach.

Und irgendwann kam ein Wort dazwischen, das ihn von der Arbeit abbrachte. Er dachte an seinen Großvater, der am Sonntag zu Besuch kommen und die ganze Zeit über von früher erzählen würde.

Über diesen alten Mann, den er in letzter Zeit auffallend oft besuchte, kam er zu Henrietta, Henrietta und Marlene.

Ein halbes Jahr war es her und die Begegnung mit den beiden hatte ihm die aufregendste Zeit seines jungen Lebens beschert. Ein Abenteuer, von dem andere nur träumten, war Wirklichkeit geworden, für ihn und Bea, seiner Schwester.

Wie ein Wirbelsturm war es über sie gekommen, und ehe sie recht begriffen, was sie gerade erlebten, war es vorbei.

Vielleicht war es auch ganz gut so, denn hätten sie längere Zeit über die Gefahren nachgedacht, in die sie damals stolperten, sie wären davongelaufen und hätten nie ein Abenteuer wie dieses erlebt. Jedes Mal, wenn er an die vergangene Zeit zurückdachte, überkam ihn ein Sturm von Gefühlen der Begeisterung, der Unternehmungslust, der Zufriedenheit. Und etwas Trauer, dass die Zeit vorbei und, wie alles im Leben, ob schön oder traurig, vergänglich ist.

Eben einmalig.

Die erste Begegnung

Das Thermometer stieg an diesem Vormittag auf über fünfundzwanzig Grad; der erste richtig warme Tag in diesem Frühling. Da kam der Schulschluss nach der dritten Stunde gerade recht.

`Nichts wie hinein in die Osterferien´, dachte Mark und war nach dem erlösenden Gong der Erste an der Tür. Mit der linken Hand zog er die Mappe und die braune Cordjacke hinter sich her, während die rechte zur Türklinke griff.

„Hiergeblieben!“, drang der scharfe Ton Frau Schäfers durch die Klasse und sein linkes Handgelenk wurde unsanft umklammert. Resigniert ließ Mark von der Klinke ab und die Klassenkameraden schritten nun als Erste in den Korridor.

Mehrere Male empfing Frau Schäfer „Frohe Ostern“ und von zwei Witzbolden „Frohe Weihnacht, Frau Schäähäfer“, dann war sie mit Mark allein. Böse und enttäuscht ruhten ihre Augen auf ihm, während er die Jacke und die Mappe auf dem Stuhl neben dem Lehrerpult fallen ließ.

Sie hatte ihn wieder freigegeben und blickte kurz zum Fenster und zu dem Blumenfeld neben dem Pausenhof, um dann ihre ganze Aufmerksamkeit dem Schüler zu widmen, der sich nervös auf die Oberlippe biss.

„Lass das!“, sagte sie und holte tief Luft.

Seine dunklen, blauen Augen blickten beinah trotzig aus dem blassen Gesicht zu ihr hinauf. Ihren roten Rock mochte er nicht, ihre weiße Bluse mochte er nicht, und ihr Gesicht mochte er schon gar nicht, nicht, wenn es wie jetzt aussah.

Dabei konnte Frau Schäfer richtig nett sein.

„Weißt du, ich bin es fast müd´, dir immer wieder dasselbe zu sagen, ohne dass sich auch nur das Geringste ändert. Wenigstens in Mathe hättest du dich doch hinsetzen können. Das muss doch auch in deinen Schädel reingehen, dass eine Versetzung so nicht mehr vertretbar ist. Die letzte Versetzung habe ich mit Ach und Krach durchgesetzt, aber dieses Mal?“

Sie senkte etwas den Blick.

„Vielleicht ist es wirklich das Beste, du wiederholst die Sechste noch einmal. Dann bist du bei deiner Schwester und ihr könnt gemeinsam üben. Denn Beatrice kann dir noch etwas zeigen. Sie macht dir noch allemal etwas vor.“

„Ich bemühe mich ja“, wendete er ein und spürte, wie seine Kehle sich wehrte, einen Ton hervorzubringen.

„Wo denn?“

Jetzt wurde sie richtig wütend. Nein, nur das nicht!

Doch unerwartet holte sie tief Luft und bückte sich, mehr eine Geste, als dass sie es wirklich tat, und versuchte zu lächeln.

„Ich möchte dir so gerne helfen, Mark. Und mir stinkt es, mich nervt es, dass mein ganzes Tun umsonst war. Du musst von dir aus wollen. - Heute noch muss ich zu Herrn Kron und ihm die Berichte und Noten von dir und einigen anderen Problemschülern vorlegen. Er wird mit dem Kopf schütteln, Mark. Hörst du? Er wird sagen, so geht es nicht.“

Nun hatte sie es geschafft. Ein Kloß steckte ihm im Hals und er steckte verdammt fest.

„Ich weiß, du wärst der Größte und Älteste unter ihnen. Du hättest dann erst recht Schwierigkeiten, die Leistungen zu erfüllen, nur, was soll ich tun? Ich bin machtlos, wie es zur Zeit ausschaut.“

„Und wenn ich in den Ferien übe, ich meine...wirklich übe, und nach den Ferien...es sind doch noch drei Monate bis zu den Zeugnissen; das schaff ich bestimmt.“

Frau Schäfer sah über ihn hinweg zur Tafel.

„Wir könnten vereinbaren, dass du nach den Ferien mehrere Arbeiten neu schreibst. Das wäre aber gleich am ersten Schultag. Das hieße, keine Schonzeit mehr, Mark. Vielleicht lässt Herr Kron mit sich reden - es sei denn, auf den Blättern steht mehr als ein paar Männchen am Galgen.“

„Ich werde üben.“ Er griff zur Mappe.

„Also gut, Mark.“

Sie ging einen Schritt zurück.

„Ich werde mit ihm reden und wir werden sehen. Alles Weitere liegt bei dir.“

Er nahm die Jacke und lief zur Tür.

„Enttäusch mich nicht.“

„Nein“, antwortete er fast beleidigt und lief durch die aufgeschobene Tür auf den Korridor.

Beatrice saß bereits auf ihrem gelben Damenfahrrad und drehte ein paar Runden vor dem Schuleingang, als Mark endlich die neun Stufen mit drei Schritten hinter sich ließ und zu seinem Mountainbike eilte. Es stand gleich neben dem Gebüsch vor dem roten Backsteingebäude mit zwei weiteren Rädern.

Während er die Sicherheitskette aufschloss und sie hinter sich in den Gepäckkorb legte, bewegte sich Beatrice langsam auf ihn zu.

„Na, hat sie mit dir geredet?“

„Was geht´s dich an?“

Jacke und Mappe hinter sich platzierend hob er das rechte Bein über den Sattel und radelte los. Beatrice fuhr neben ihm.

„Frau Schäfer hat gestern mit Vati telefoniert und er war mächtig sauer.“

„Ja, ich weiß.“

„Er hat gesagt, dass du dich in den Ferien auf deinen Hintern setzen und alles nachholen...“

„Halt die Klappe!", warnte er und radelte schneller, doch seine Schwester blieb dicht hinter ihm.

Sie wurden von einem Bus überholt, in dem mehrere Klassenkameraden winkten, bogen dann in einen Waldweg und kreuzten kurz darauf ein Feld, wo starker Wind sie nur langsam vorankommen ließ.

Trotz der elf Jahre, sie war ein Jahr jünger als Mark, wirkte sie durch ihr besonnenes Verhalten mitunter älter als er. Ihre blonden Haare warf sie mehrmals mit dem Handrücken nach hinten, dass sie vom Wind gleichmäßig geschaukelt wurden, und wandte ihr Gesicht wieder dem Bruder zu.

„Du siehst doch, ich brauche zu Haus nicht einmal zu üben und es klappt.“

Ein lautes Grollen war die Antwort. Er legte den Kopf schief und sah sie grinsend an.

„Ich werde heut Nacht wieder in dein Zimmer kommen und dir Horrorgeschichten erzählen...“

„Nein", ging sie dazwischen.

Er grinste noch immer, senkte die Stimme etwas.

„Von Zombies, Aliens, Blut saugenden Vampiren...“

Er war sichtlich erfreut über das erschrockene Gesicht der Schwester.

„Mutti hat es verboten. Ich schreie laut und gehe sofort zu ihr.“

Wieder fuhren sie über einen sandigen Weg, der durch austreibende Büsche kaum noch zu passieren war. Dann gelangten sie zu zwei Bahnübergängen und über einen schmalen Weg zu den ersten Häusern und auf die nur teilweise asphaltierte Hauptstraße. Mark nutzte wie immer die Gelegenheit, voll in die Pedalen zu treten, denn bei der holprigen Strecke traute sich Beatrice nie, die Geschwindigkeit zu halten.

„Warte doch, Mark. Ich habe auch gewartet“, rief sie wie jeden Tag, doch hatte er bereits vierzig Meter Vorsprung.

Er fuhr noch beinahe einen alten Mann um, der wütend beide Hände hob, und bog die nächste Straßenecke rechts ein. Vor der Durchfahrt zu den Hausnummern sieben und acht hielt er, stieg ab und schob das Fahrrad durch das Tor.

Frau Wieland, die grauhaarige Nachbarin, kam gerade mit einem grünen Plastikeimer von den Müllcontainern zurück und sah ihn erstaunt an.

„Richtig, mein Junge. Hast du es dir endlich gemerkt, dass man nicht in den Hof fährt. Hab ich nicht umsonst mit deinem Vater geredet.“

Mark lief weiter, ohne ihr Beachtung zu schenken.

`Diese Ziege war es also. Wie hätte es auch anders sein können. Die Rache kommt, schwor er sich, warte, bis es wieder Stinkbomben gibt.´

Frau Bennent stand am Herd und drehte die Flamme zurück, sah flüchtig zum Fenster und erkannte Beatrice.

„Mark, deine Schwester kommt. Mach bitte die Tür auf. - Zusammen werdet ihr es wohl nie schaffen zu kommen.“

Es klingelte an der Tür. Es klingelte nochmals.

„Mark!“

Nun wurde heftig geklopft. Frau Bennent, die gerade zwei Teller aus dem Küchenschrank geholt hatte, ließ diese scheppernd auf dem Tisch nieder und lief in den Flur. Marks Zimmertür war angelehnt und sie schob sie wütend auf.

„Kannst du nicht hören? Oh, ich könnte dich...“ Schon war sie bei der Tür.

„Hallo, Mutti“, grüßte Beatrice und wollte zu ihrem Zimmer, das gegenüber dem von Mark lag.

„Es gibt gleich Essen, Bea. Du brauchst dich gar nicht einnisten in deinem Zimmer.“

„Ich bin mit Simone verabredet.“

„Nein, Dunkeltuten. Erst wird gegessen.“

„Aber..“ Bea verstummte.

„Zum Kuckuck noch mal! Wann werdet ihr endlich begreifen, dass gegessen wird, wenn ich sage, es wird gegessen.“

Mark stand in der Tür, den getigerten Kater Paulchen auf dem Arm, und blickte grinsend zu Bea.

„Klar komm ich essen, wenn du es sagst.“

Frau Bennent drehte sich um, die Hände in der rosaweißen Schürze versteckt.

„Tu nicht so scheinheilig. Du machst ja nicht einmal...“

Weiter kam sie nicht, denn er deutete auf den rechten Arm, der mehrere rote Stellen aufwies.

„Paulchen hatte sich in meinen Arm gekrallt. Hätte ich ihn hinter mit herschleifen sollen?“

„Oh!“, stöhnte die Mutter und ging zurück in die Küche.

Zur Mittagszeit war der Supermarkt fast leer; gerade einmal drei Kundinnen hielten sich auf. Eine Frau um die Dreißig, die sehr genau die Preise verglich, und zwei alte Frauen.

Die eine Alte trug eine Brille, ein rotbraunes Plastikgestell, und musste dennoch nah an die Artikel herangehen, um die Preise entziffern zu können. Ihr Name war Marlene und sie trug einen schwarzen, knielangen Rock und eine dunkelrote Bluse. Sie hatte kurzgeschnittenes, grauschwarzes Haar und wirkte von den Bewegungen her noch recht vital. Die andere Alte hieß Henrietta, war etwas größer und trug ebenfalls einen knielangen, dunklen Rock, darüber jedoch eine weiße Bluse und eine offene, weiße Strickjacke. Sie schien noch recht gut sehen zu können, streifte sich des öfteren die zu langen braunen Haare aus der Stirn und zog immer wieder die Schwester am Arm zurück.

„Lass, ich mach das schon, Marlene.“

„Du weißt doch gar nicht, was wir brauchen, holst immer wieder unnütze Sachen, die dann monatelang in der Kammer herumstehen“, antwortete Marlene gereizt.

Die Schwester schüttelte mit dem Kopf. „Geh lieber schon zur Verkäuferin.“

„Jetzt schon?“, fragte Marlene und man spürte, dass sie nervös wurde.

„Ja“, wiederholte Henrietta und ihre blauen, sonst etwas matt wirkenden Augen schienen plötzlich die Vitalität einer viel Jüngeren zu besitzen.

„Also gut“, gab Marlene nach, schob den Einkaufswagen an den Waschmitteln und Broten vorbei und hielt Ausschau nach der Verkäuferin, welche gelangweilt vor einer Kasse saß und ihre grellroten Fingernägel musterte.

„Hallo? Kann mir jemand helfen?“, rief Marlene mit bemüht unsicherer Stimme und die Verkäuferin fuhr herum.

„Ja, was ist denn?“

„Ich finde den Kaffee nicht.“

„Der steht rechts hinten, gleich gegenüber der Gefriertruhen“, gab die Kassiererin zur Antwort und deutete mit dem rechten Zeigefinger zum letzten Regal.

„Wo ist rechts hinten?“, fragte Marlene als nächstes.

Ein missgelauntes Schnaufen war zu hören und die Verkäuferin stand auf, begab sich zu Marlene, die mit weit aufgerissenen Augen dastand, und führte sie um zwei Ecken zu dem Kaffee. Nach einem kurzen Gemurmel Marlenes begann die junge Frau schließlich, ihr sämtliche Kaffeesorten vorzulesen.

Henrietta stand währenddessen drei Schritte von der ersten Kasse entfernt. Ein Regal von einem Meter Höhe trennte sie von den insgesamt drei Kassen, von denen nun keine besetzt war. Kurz sah sie sich um und konzentrierte sich dann auf die Tastatur der vorderen schwarzen, hohen Kasse.

Zehn Sekunden verstrichen, ohne dass Henrietta den Blick abwandte, dann ertönte ein leises Klingeln. Mit dem Klingeln sprang die Geldlade auf und 10- 20- 50-100-Markscheine waren zu sehen, jeweils von einer Klammer gehalten.

Wie von Geisterhand bewegte sich nun einer der größeren Geldscheine nach vorn, befreite sich von der Klammer und schwebte langsam auf Henrietta zu. Wie ein fliegender Teppich bewegte sich der Geldschein unter dem Blick der Alten, die den Erfolg erfreut zur Kenntnis nahm.

Schritte!

Schnell wandte sie den Blick zur Seite und erkannte die Dreißigjährige, die mit einem Einkaufswagen erst an den Süßstoffen und dann an den Schreibwaren vorbei auf sie zukam.

Der Geldschein war indessen auf den Boden geflattert, als wäre jegliche Zauberkraft von ihm gewichen.

Schnell richtete Henrietta ihren Blick auf eine Reihe von Büchsen, die aufgetürmt waren wie eine Pyramide, und augenblicklich gerieten diese ins Wanken. Ein kleines Erdbeben schien zu wüten und nur unter den aufgestellten Büchsen. Es folgte ein blechernes Klappern und die schweren Büchsen verteilten sich auf dem Boden, gerade als die Kundin an ihnen vorbeilief.

Ein „Huch!“, entfuhr ihrem erstaunten Gesicht und sie bückte sich umständlich und begann errötend, die vielen Büchsen wenig kunstvoll wieder übereinander zu stapeln.

Im Hintergrund war Marlene noch immer mit der jungen Frau beschäftigt, die genervt eine der Kaffeesorten nahm und in ein Mahlgerät schüttete.

Das bedeutete noch einmal eine Minute Zeit für Henrietta, die den Geldschein suchte, der alsbald unter ihrem konzentrierten Blick an Schwerkraft verlor und in die Lüfte abhob, als habe er sich lediglich einen Moment ausgeruht.

„Noch ein Stück“, flüsterte Henrietta. Einen Schritt vor ihr blieb er still schwebend in der Luft.

„Los“, sagte sie energischer, doch der Schein verharrte, als wäre er unschlüssig.

Sie kniff kurz die Augen zusammen und der Geldschein rutschte in ihre Hand. Ein Handgriff und er war in ihrer schwarzen Handtasche verstaut. Noch einmal bemühte Henrietta ihr mysteriösen Kräfte; sie wollte die Lade wieder schließen, doch jedes Mal verließen sie die Kräfte und die Lade sprang kurz vor dem Einrasten von einem Klingeln begleitet wieder auf.

Sie ließ ab und drehte sich um, denn die Büchsen waren aufgehoben und der Kaffee gemahlen.

Gemeinsam mit Marlene suchte sie nach weiteren Lebensmitteln und begab sich anschließend mit ihr zur Kasse, wo sie fünfundzwanzig Mark und achtzig Pfennige zu bezahlen hatten. Verwundert bemerkte die junge Verkäuferin die aufgesprungene Geldlade und bongte die Preise ein.

„Siehst du, jetzt bist du wieder bei deinen Freunden“, sagte Henrietta leise, als sie den Geldschein der Frau überreichte, und spürte einen leichten Stoß in die Seite. Mit einem ernsten Blick sah Marlene sie an.

„Hör auf mit dem Unsinn!“

Dann sah sie lächelnd und entschuldigend zur Kassiererin, während sie mit ihrer Schwester die Artikel in einem geflochtenen, braunen Korb verstaute.

„Auf Wiedersehen“, sagten sie zum Abschied und verließen den Supermarkt.

„Endlich bin ich die Verrückten los für heute“, atmete die Verkäuferin auf und bongte die Beträge für Quark, Brot, Pudding und weiterer Artikel in die Kasse, die die Dreißigjährige auf dem schwarzen Band ablegte.

„Die kommen wohl öfters hierher?“ Die Kassiererin nickte.

„Die sind nicht mehr ganz dicht im Kopf, sollte man ins Altersheim schicken.“

Die Kundin sah bedeutungsvoll zum Ausgang.

„Unheimlich sind sie mir. Sie wohnen nicht weit von mir entfernt. Haben ein eigenes Haus, das baufällig ist. Die leben schon dort, seit ich denken kann.“

„Unheimlich finde ich sie nun nicht gerade“, warf die Kassiererin ein und sah sich eine Cornflakespackung genauer an, um dann unbewusst einen zu hohen Preis einzugeben. Die andere Frau begann derweil, die ersten Sachen in ihre weite, weiße Hängetasche zu verstauen.

„Doch. Mir läuft es jedes Mal eiskalt den Rücken hinunter, wenn ich sie sehe. Ich kann mich erinnern, als ich noch ein kleines Mädchen war, wohnten dort bereits zwei sehr alte Frauen...und manchmal glaube ich, es sind dieselben.“

Die Kassiererin lachte.

„Da wären sie ja schon über einhundert Jahre alt. Und siebzig sind sie, höchstens.“

Die Kundin überreichte einen Fünfzigmarkschein, empfing ein paar Mark zurück und steckte die restlichen Waren in eine Tüte.

„Sie lachen, aber die zwei sehen genau so aus, wie ich sie als junges Mädchen in Erinnerung habe. Und von meinem Vater weiß ich, dass zu seiner Jugend dort auch zwei alte Frauen wohnten.“

Die Kassiererin stutzte nun doch, sagte dann wenig überzeugend: „Ein sehr großer Zufall, aber mehr, glaube ich, ist es nicht.“

„Sie haben sicherlich recht“, antwortete die Kundin und begann zu lachen. „Für zwei Hexen sehen die dann doch zu harmlos aus, und die zwei auf einem Besen, nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“

Langsam, als hätten sie viel Zeit, liefen Marlene und Henrietta durch die zur Mittagszeit leeren Straßen und sahen zu den Gärten auf beiden Seiten, deren Besitzer die Sonne nutzten, um den Rasen zu mähen oder eine Hecke zu schneiden.

„Mich überkommt jedes Mal ein Kribbeln am ganzen Körper. Es ist einfach herrlich, auf eine Art unbeschreiblich aufregend“, schwärmte Henrietta.

Marlene schüttelte verständnislos mit dem Kopf

„Nein, meine Liebe, ich weiß nicht, was am Stehlen so schön ist.“

„Stehlen?“

Henrietta lachte.

„Wir haben ihr das Geld doch zurückgegeben, und wenn sie uns dann etwas gibt, einen Finderlohn sozusagen, ist es doch ihre Schuld. - Und verhungern wollen wir schließlich auch nicht.“

„Wenigstens solltest du Reue zeigen“, tadelte Marlene und drückte ihre Brille in die richtige Position, da sie immer mal wieder herabrutschte. Ein paar Meter weiter sagte sie: „Da fällt mir ein, dass ich am Nachmittag noch beim Optiker vorbeischauen muss. Meine neue Brille ist fertig.“

Besorgt musterte Henrietta ihre Schwester. „Es dauert von Mal zu Mal länger, bis du etwas sehen kannst. Und auch mein Rheuma verlängert sich in jedem neuen Jahr um viele Stunden. Wie soll es nur weitergehen?“

„Erst einmal haben wir etwas zu essen...und Kaffee. Freue dich darüber und unke nicht.“

Henrietta stimmte zu und ihre Miene hellte auf.

„Ach, da fällt mir ein, dass Frau Werners Katze Junge geworfen hat, alle rabenschwarz. Ob wir eine aufnehmen? Was meinst du?“

Sie bogen um eine Straßenecke und konnten bereits die Spitzen ihrer Nadelbäume sowie das Dach ihres einstöckigen Hauses erkennen.

„Glaubst du denn, die Werner, die Inge, gibt uns eine ab? Sie war doch sonst immer so geizig.“

„Als junge Frau war sie geizig, aber das hat sich geändert. Mit ihren dreiundachtzig Jahren kann sie sich doch gar nicht mehr richtig um die vielen Katzen kümmern. - Du müsstest einfach mal mitkommen, sie hat sich wirklich geändert...zum Guten.“

„Pah! Das kenne ich. Dasselbe hattest du schon von ihrer Mutter behauptet, und die war als junge Frau geizig und vor ihrem Tod vor zwanzig Jahren auch noch. Und an deren Mutter möchte ich nun gar nicht mehr zurückdenken, diese Zicke.“

Sie überquerten die Straße und standen schließlich vor ihrem Grundstück: ein seit längerer Zeit nicht mehr gemähter Rasen, drei hohe Nadelbäume, die sie damals bei ihrem Einzug gepflanzt hatten, und eine Reihe wuchernder Büsche.

Sie schoben die Gartentür auf und liefen über kleine, zum Teil verwitterte Steinplatten und mehrere Stufen zur schmalen Veranda und zur Haustür. Das schräge Dach und der breite Schornstein überragten sämtliche Nachbargrundstücke, die die Straße hinunter in einigem Abstand folgten. Nur zur rechten Seite befand sich ein breites, verwildertes und unbebautes Grundstück, das der Stadt gehörte und das nach hinten in einen Wald überging.

Einen Briefkasten hatten die beiden nicht, denn wer sollte ihnen schon schreiben? Sie hatten kaum Freunde und wollten auch keine haben. Sie hatten ja sich. Auf die Straße gingen sie nur noch selten, wie heute, um etwas zu besorgen. Denn zu oft war es in den Jahren, und es waren sehr viele Jahre, vorgekommen, dass man sie verhöhnte, auslachte, beschimpfte. Die Kinder, aber auch Erwachsene, beschimpften sie auf offener Straße. Sie sollten verschwinden, sie würden nicht in diesen Ort passen. Es war aufgefallen, dass sie nur sehr langsam alterten.

Aber wenn man es recht bedachte, hatten sie bislang Glück gehabt. Wenn die eine Generation wegstarb, glaubte die nächste, es handele sich um zwei neue Alte, und der Gedanke, dort könnten Hexen wohnen, die nicht altern, war einfach absurd für die Menschen. Sie konnten und wollten es nicht glauben und nahmen dafür sprechende Begebenheiten einfach nicht zur Kenntnis. Von jeher verdrängt der Mensch Dinge, die ihm unerklärlich sind, und verschließt einfach die Augen. Nie hatte man eine Hexe gesehen und deswegen konnte es auch keine geben.

Der gesunde Menschenverstand veranlasste die Bewohner dennoch zu großer Vorsicht, denn die beiden Alten wirkten irgendwie unheimlich. Man machte einen großen Bogen um sie und hoffte, man würde nicht angesprochen von ihnen. Und das wäre das Letzte, was Henrietta und Marlene getan hätten. Sie wollten nur ihre Ruhe und warten. Sie warteten darauf, dass sich ihr Schicksal wendete.

Ab und zu hatten sie auch für mehr als fünfzehn Jahre eine Katze, meistens eine schwarze, und dies war dann jeweils ein Geschenk des Himmels. Die Katze wurde verwöhnt und wie ein Kind behandelt, aber eben nur ein Katzenleben lang. Dann waren die beiden wieder allein, inmitten einer feindlichen Nachbarschaft.

Das Essen bestand aus gut durchgebratenen Kartoffeln mit Ketchup oder etwas Mayonnaise. Während Mark das Mittagessen herunterschlang, um anschließend mit ein paar Freunden Fußball spielen zu können, ließ sich Beatrice Zeit und trank wiederholt von dem Mineralwasser, das sie sich häufig zum Essen einschenkte. So war der Hunger schneller gestillt und sie gab den Rest dem Bruder, der erfreut auch ihre Kartoffeln in Angriff nahm.

Frau Bennent kam aus dem Flur zurück, wo sie an einem kleinen Ecktisch gesessen und telefoniert hatte.

„Mark, du bringst Opa das Essen.“ Erschrocken sah er auf.

„Ich? - Ich muss Fußball spielen. Bea hat Zeit.“

„Ich kann nicht. Ich muss zu Simone. Es ist wichtig.“

„Was kann bei euch schon so wichtig sein?“

„Wir üben Mathe und so...“

„Hm und nebenbei hört ihr Madonna und seht Horrorfilme.“

„Idiot, ich und Horrorfilme.“

Frau Bennent hatte sich einen Kaffee eingeschenkt, setzte sich gegenüber der Kinder auf einen extra mit zwei flachen Kissen gepolsterten Stuhl und sah zu ihrer Tochter.

„Beatrice geht zum Optiker. - Hast du es vergessen? Die Brille abholen.“

Sofort wurde Mark von einem heiseren, verächtlichen Lachen befallen.

„Mein Gott, die erste Brillenschlange in der Familie.“

„Du dummes Schwein!“

„Bea!“, fuhr die Mutter erschrocken hoch und sah zu ihrem Sohn.

„Vati trägt bei der Arbeit und wenn er liest auch eine Brille, wie ich, wenn ich nähe.“

„Ja, aber Bea immer. Am besten, wir verstecken sie im Haus, bis sie sie nicht mehr...“

„Hörst du jetzt auf? Oder willst du Stubenarrest?“, fuhr die Mutter ihn an, trank von ihrem Kaffee und lächelte Bea nach einer kurzen Pause an.