Der Idiot. Band 4 von 4 - Fjodor Dostojewski - E-Book

Der Idiot. Band 4 von 4 E-Book

Fjodor Dostojewski

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Beschreibung

Fürst Myschkin tritt nach einem fünfjährigen Sanatoriumsaufenthalt in die Petersburger Gesellschaft ein. Durch seine vorherige Isolation hat er sich kindlich wirkende Verhaltensweisen bewahrt, wodurch er in den Augen der anderen ein weltfremder Sonderling ist, den man bestenfalls belächelt. Dem intriganten Treiben sind seine Naivität, Offenheit und Ehrlichkeit wehrlos ausgesetzt, sein Ideal der gelebten Menschenliebe trifft auf Unverständnis. Myschkins Versuche, den Menschen zu helfen, wie auch seine Versuche, sich aus den gesellschaftlichen und persönlichen Verstrickungen, in die er gerät, zu befreien, sind zum Scheitern verurteilt. "Der Idiot" zählt zu den bekanntesten Werken des russischen Schriftstellers Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881). Der Roman wurde zuerst in Fortsetzungen zwischen 1868 und 1869 in der Zeitschrift „Russki Westnik“ veröffentlicht. Die vorliegende Ausgabe folgt der Übertragung ins Deutsche von Hermann Röhl (1851-1923), ist mit erläuternden Anmerkungen versehen und enthält im letzten Band zusätzlich einen Essay über Dostojewski vom österreichischen Schriftsteller und Literaturkritiker Hermann Bahr. Dieses ist der vierte von vier Bänden. Der Umfang entspricht ca. 250 Druckseiten.

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Seitenzahl: 396

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DER IDIOT

VON

 

FJODOR MICHAILOWITSCH DOSTOJEWSKI

Aus dem Russischen übersetzt

von Hermann Röhl

 

 

 

 

 

ROMAN

 

 

 

 

BAND 4

 

DER IDIOT wurde im russischen Original zuerst veröffentlicht in den Jahren 1868 und 1869 im russischen Journal Russkij vestnik.

Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von: apebook

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

1. Auflage 2021

 

V 1.0

Anmerkungen zur Transkription: Der Text der vorliegenden Ausgabe folgt der Übersetzung von Hermann Röhl (1851-1923) der deutschsprachigen Ausgabe aus dem Jahr 1920.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Dieses Buch ist Teil der ApeBook Classics: Klassische Meisterwerke der Literatur als Paperback und eBook. Weitere Informationen am Ende des Buches und unter: www.apebook.de

ISBN 978-3-96130-387-8

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

Alle verwendeten Bilder und Illustrationen sind – sofern nicht anders ausgewiesen – nach bestem Wissen und Gewissen frei von Rechten Dritter, teilweise bearbeitet von SKRIPTART.

Alle Rechte vorbehalten.

© apebook 2021

 

 

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DER IDIOT

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

DER IDIOT. Band 4 von 4

Impressum

Vierter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

Schluss

Dostojewski - Ein Essay von Hermann Bahr

Eine kleine Bitte

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Zu guter Letzt

 

 

 

Vierter Teil

 

I

Es war ungefähr eine Woche seit dem Tag vergangen, an welchem die beiden Personen, von denen unsere Erzählung handelt, das Rendezvous auf der grünen Bank gehabt hatten. An einem heiteren Vormittag gegen halb elf Uhr kehrte Warwara Ardalionowna Ptizyna, die ausgegangen war, um eine ihrer Bekannten zu besuchen, in sehr nachdenklicher, trüber Stimmung nach Hause zurück.

Es gibt Leute, von denen man schwer etwas derartiges sagen kann, daß sie dadurch mit einemmal und vollständig uns in ihrer charakteristischen Erscheinung vor Augen gestellt würden; das sind diejenigen, die man meist als »Leute gewöhnlicher Art«, als »die Masse« bezeichnet, und die tatsächlich in allen Gesellschaftskreisen die weit überwiegende Majorität bilden. Die Schriftsteller bemühen sich in ihren Romanen und Novellen größtenteils, aus der Gesellschaft solche Charaktere herauszugreifen und eigenartig und künstlerisch darzustellen, wie sie in der Wirklichkeit nur ganz selten anzutreffen sind, Charaktere, die aber trotzdem fast wirklicher sind als die Wirklichkeit selbst. Podkolesin 1 in seiner charakteristischen Gestalt ist vielleicht eine Übertreibung, aber durchaus nicht eine bloße Erdichtung. Unzählige kluge Leute, die Podkolesin durch Gogol kennengelernt haben, haben sofort zwischen Podkolesin und Dutzenden, ja Hunderten ihrer guten Freunde und Bekannten eine überraschende Ähnlichkeit gefunden. Sie haben auch vor Gogol gewußt, daß diese ihre Freunde Leute von Podkolesins Art waren, haben aber nur noch nicht gewußt, daß sie gerade so hießen. In der Wirklichkeit sind Bräutigame, die vor der Hochzeit aus dem Fenster springen, äußerst selten, weil das, von andern Gründen abgesehen, gar zu unbequem ist; aber trotzdem: Wieviele Bräutigame, sogar achtbare, verständige Männer, haben nicht vor der Trauung in der Tiefe ihrer Seele die Empfindung gehabt, daß sie Podkolesins seien! Ebenso rufen ja auch nicht alle Männer bei jedem Schritt: »Tu l'as voulu, George Dandin!« Aber, o Gott, wie viele millionen- und billionenmal ist von den Männern der ganzen Welt dieser Aufschrei des Herzens nach den Flitterwochen, ja, wer weiß, vielleicht schon am Tag nach der Hochzeit wiederholt worden!

Wir wollen also, ohne uns auf ernsthaftere Erklärungen einzulassen, nur sagen, daß in der Wirklichkeit das eigentlich Typische der Charaktere gewissermaßen mit Wasser verdünnt ist, und daß alle diese George Dandins und Podkolesins wirklich existieren und alle Tage, wenn auch in etwas verdünntem Zustand, an uns vorüberhuschen und vorüberlaufen. Der Vollständigkeit halber wollen wir schließlich noch bemerken, daß einem auch ein ganzer George Dandin, wie ihn Molière geschaffen hat, in der Wirklichkeit begegnen kann, wenn auch nur selten, und damit unsere Betrachtung abschließen, die einem Artikel in einer Monatsschrift ähnlich zu werden beginnt. Indes bleibt immer noch die Frage zu beantworten: was soll der Romanschriftsteller mit den Alltagsmenschen, den Leuten von ganz gewöhnlicher Art anfangen, und wie soll er sie dem Leser vorführen, um sie ihm einigermaßen interessant zu machen? Sie in der Erzählung ganz zu übergehen, ist untunlich, weil die Alltagsmenschen immer und überall das unumgängliche Bindeglied der Ereignisse des Lebens bilden. Wollte man einen Roman, um Interesse zu erregen, nur mit scharf ausgeprägten Charakteren oder gar nur mit seltsamen, nie dagewesenen Persönlichkeiten anfüllen, so würde man damit gegen die Wahrscheinlichkeit verstoßen und vielleicht sogar uninteressant werden. Unserer Ansicht nach muß sich der Schriftsteller bemühen, auch an den Alltagsmenschen interessante und lehrreiche Seiten herauszufinden. Wenn zum Beispiel das eigentliche Wesen gewisser Alltagsmenschen gerade in ihrer steten, unveränderlichen Alltäglichkeit besteht, oder (was noch besser ist) wenn sie trotz all ihrer außerordentlichen Anstrengungen, um jeden Preis aus dem Geleise des Gewöhnlichen und Herkömmlichen herauszukommen, doch schließlich ihr Leben lang unveränderte Alltagsmenschen bleiben, dann erhalten solche Personen dadurch sogar einen gewissen eigenartig ausgeprägten Charakter: den einer Alltäglichkeit, die um keinen Preis das, was sie ist, bleiben und um jeden Preis Originalität und Selbständigkeit werden möchte, obwohl sie nicht die geringste Befähigung zur Selbständigkeit besitzt.

Zu dieser Klasse der gewöhnlichen oder Alltagsmenschen gehören auch einige Personen unserer Erzählung, die dem Leser bisher, wie ich recht wohl weiß, noch nicht mit hinreichender Klarheit und Bestimmtheit geschildert worden sind. Solche Personen sind namentlich Warwara Ardalionowna Ptizyna sowie ihr Gatte Herr Ptizyn und ihr Bruder Gawrila Ardalionowitsch.

In der Tat, es kann nichts Ärgerlicheres geben, als zum Beispiel reich und von anständiger Familie zu sein, ein nettes Äußeres und eine hübsche Bildung sein eigen zu nennen, nicht dumm zu sein, sogar ein gutes Herz zu haben, und gleichzeitig kein Talent, keine Besonderheit, nicht einmal eine Wunderlichkeit, keine eigene Idee zu besitzen, sondern einfach ebenso zu sein, »wie alle Menschen«. Reichtum ist ja vorhanden, aber nicht der eines Rothschild; die Familie ist ehrenhaft, hat sich aber nie durch irgend etwas hervorgetan; das Äußere ist ja hübsch, aber sehr wenig ausdrucksvoll; die Bildung entspricht den gewöhnlichen Anforderungen, aber man weiß nicht, wozu man sie verwenden soll; Verstand besitzt man, aber ohne eigene Ideen; ein gutes Herz hat man, aber ohne eigentlichen Edelmut, und so weiter und so weiter in allen Beziehungen. Solcher Leute gibt es auf der Welt eine große Menge und sogar weit mehr, als man zunächst glauben möchte; sie zerfallen, wie alle Menschen, in zwei Hauptklassen: zur einen gehören die beschränkten, zur andern die »weit klügeren«. Die ersteren sind glücklicher. Für einen beschränkten Alltagsmenschen gibt es zum Beispiel nichts Leichteres als sich einzubilden, er sei ein ungewöhnlicher, origineller Mensch, und davon ohne Bedenken das Gefühl eines hohen Genusses zu haben. Einige unserer jungen Damen brauchen sich nur die Haare abzuschneiden, blaue Brillen aufzusetzen und sich Nihilistinnen zu nennen, um sofort davon überzeugt zu sein, daß sie durch das Aufsetzen der blauen Brillen ohne weiteres eigene »Überzeugungen« gewonnen haben. Mancher braucht nur die geringste Spur eines allgemein menschlichen guten Gefühls in seinem Herzen zu entdecken, um sofort überzeugt zu sein, daß niemand so empfindet wie er, und daß er ein Vorkämpfer in der allgemeinen Entwicklung ist. Mancher braucht nur einen Gedanken von einem andern auf Treu und Glauben anzunehmen oder eine Druckseite ohne Anfang und Schluß durchzulesen, um sofort zu glauben, daß das seine eigenen, in seinem eigenen Gehirn entstandenen Gedanken seien. Die naive Dreistigkeit, wenn man sich so ausdrücken kann, geht in solchen Fällen erstaunlich weit; all das ist fast unglaublich und begegnet einem doch auf Schritt und Tritt. Diese naive Dreistigkeit, diesen festen Glauben des Dummen an sich und sein Talent schildert uns Gogol vorzüglich in der wundervollen Figur des Leutnants Pirogow 2 . Pirogow zweifelt gar nicht daran, daß er ein Genie ist, ja höher steht als jedes Genie; er ist von einem Zweifel daran so weit entfernt, daß er sich gar keine diesbezügliche Frage vorlegt, wie denn Zweifelsfragen für ihn überhaupt nicht existieren. Der große Schriftsteller sah sich schließlich genötigt, ihn zur Genugtuung für das verletzte moralische Gefühl des Lesers durchprügeln zu lassen; als er aber sah, daß der große Mann sich nur schüttelte und zur Hebung seiner Kräfte nach der Mißhandlung einen Blätterkuchen verzehrte, da breitete er erstaunt die Arme auseinander und verließ seine Leser in dieser Situation. Ich habe es immer bedauert, daß Gogol den großen Pirogow auf eine so niedrige Rangstufe gestellt hat; denn Pirogow ist so selbstzufrieden, daß für ihn nichts leichter wäre als sich auf Grund der mit den Jahren und den Avancements dicker gewordenen Epauletten einzubilden, daß er ein ausgezeichneter Feldherr sei, und es sich nicht bloß einzubilden, sondern überhaupt nicht daran zu zweifeln; denn er würde sich sagen, man habe ihn zum General ernannt, wie solle er da kein Feldherr sein! Und wie viele solcher Leute erleiden dann auf dem Schlachtfeld ein schreckliches Fiasko! Und wie viele Pirogows hat es unter unseren Literaten, Gelehrten und Aufklärungsaposteln gegeben! Ich sage »hat es gegeben«; aber natürlich gibt es ihrer auch jetzt …

Eine der handelnden Personen unserer Erzählung, Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, gehörte zur andern Klasse; er gehörte zur Klasse der »weit klügeren« Leute, obgleich er ganz und gar, vom Kopf bis zu den Füßen, von dem Verlangen, originell zu sein, erfüllt war. Aber diese Klasse ist, wie wir das bereits oben bemerkt haben, viel unglücklicher als die erstere. Die Sache ist eben die, daß ein klugerAlltagsmensch, selbst wenn er sich zeitweilig (oder meinetwegen auch sein ganzes Leben lang) einbildet, ein genialer, origineller Mensch zu sein, doch in seinem Herzen den Wurm des Zweifels bewahrt, infolge wovon der kluge Mensch schließlich manchmal völlig in Verzweiflung gerät; wenn er sich aber auch in sein Schicksal fügt, so hat ihn doch die ins Innere hineingetriebene Eitelkeit schon vollständig vergiftet. Übrigens haben wir in jedem Fall die Extreme angeführt; aber bei den allermeisten Mitgliedern dieser klugen Menschenklasse verläuft die Sache keineswegs so tragisch; gegen Ende das Lebens hat sich vielleicht ein Leberleiden mehr oder minder stark entwickelt, das ist alles. Aber doch vollführen diese Leute, bevor sie sich beruhigen und fügen, manchmal eine sehr lange Zeit hindurch, von der Jugend bis zu dem Lebensalter der Fügsamkeit, recht tolle Streiche, und immer in der Sucht nach Originalität. Es kommen sogar seltsame Fälle vor: mancher ehrliche Mensch ist aus Originalitätssucht sogar dazu bereit, sich zu einer gemeinen Handlung zu verstehen. Auch folgendes kommt vor: mancher dieser unglücklichen, nicht nur ehrlichen, sondern auch herzensguten Menschen ist der Beschützer und Versorger seiner Familie und unterhält und ernährt durch seine Arbeit nicht nur die Seinigen, sondern sogar Fremde; aber was ist das Resultat? Er kann trotzdem sein ganzes Leben lang nicht zur seelischen Ruhe gelangen! Für ihn ist es keineswegs ein beruhigender, tröstlicher Gedanke, daß er seine menschlichen Pflichten so gut erfüllt hat; dieser Gedanke hat sogar im Gegenteil für ihn etwas Aufreizendes: »Also das ist es«, sagt er sich, »worauf ich mein ganzes Leben verwendet habe; das ist es, was mich an Händen und Füßen gebunden hat; das ist es, was mich gehindert hat, das Pulver zu erfinden! Wäre dieses Hindernis nicht gewesen, dann hätte ich vielleicht sicher entweder das Pulver erfunden oder Amerika entdeckt; ich weiß noch nicht genau, was; aber erfunden oder entdeckt hätte ich sicherlich etwas!« Das Charakteristische bei diesen Herren ist dies, daß sie tatsächlich ihr ganzes Leben lang sich nicht recht darüber klarwerden können, was sie eigentlich so eifrig zu erfinden und zu entdecken wünschen, und was für eine Großtat sie eigentlich das ganze Leben hindurch auf dem Sprung standen auszuführen, ob die Erfindung des Pulvers oder die Entdeckung Amerikas. Aber ihre schmerzliche Sehnsucht nach einer solchen Großtat hätte wirklich für einen Kolumbus oder Galilei ausgereicht.

Gawrila Ardalionowitsch begann gerade sich in dieser Weise zu entwickeln; aber, wie gesagt, er stand erst im Beginn. Er hatte noch die lange Periode der tollen Streiche vor sich. Das tiefe, stetige Bewußtsein seiner Talentlosigkeit und gleichzeitig das unüberwindliche Verlangen, sich davon zu überzeugen, daß er ein durchaus selbständiger Mensch sei, hatten sein Herz schwer verwundet, fast schon von seiner Knabenzeit her. Er war ein junger Mensch mit neidischen, stoßweise heftigen Bestrebungen und hatte anscheinend schon bei der Geburt ein reizbares Nervensystem mitbekommen. Die stoßweise Heftigkeit seiner Bestrebungen hielt er für Stärke derselben. Bei seinem leidenschaftlichen Wunsch, sich hervorzutun, war er manchmal zu den sinnlosesten Sprüngen bereit; aber sowie die Ausführung eines solchen sinnlosen Sprunges nahe heranrückte, war unser Held doch immer zu klug, als daß er sich zu ihm hätte entschließen mögen. Das drückte ihn nieder. Vielleicht hätte er sich bei Gelegenheit sogar zu einer recht gemeinen Handlung verstanden, falls er dadurch etwas von seinen erträumten Zielen hätte erreichen können; aber gerade, wenn es an den entscheidenden Punkt kam, war er jedesmal für die recht gemeine Handlung doch zu ehrlich. (Zu einer gemeinen Handlung kleineren Kalibers war er übrigens jederzeit bereit.) Mit Widerwillen und Haß blickte er auf die Armut und den Niedergang seiner Familie. Selbst seine Mutter behandelte er von oben herab und geringschätzig, obgleich er selbst sehr wohl wußte, daß der gute Ruf seiner Mutter vorläufig den Hauptstützpunkt auch für seine eigene Karriere bildete. Als er mit Jepantschin in Verbindung trat, sagte er sich sofort: »Entschließt man sich einmal, ein Schuft zu sein, dann muß man es auch bis zum Ende bleiben, wenn man nur dadurch sein Spiel gewinnt« – aber er führte die Rolle des Schuftes fast nie bis zu Ende durch. Warum hatte er auch überhaupt gemeint, er müsse unbedingt schuftig handeln? Vor Aglaja hatte er damals einfach Angst bekommen, hatte aber trotzdem die Beziehungen zu ihr nicht abgebrochen, sondern die Sache für jeden Fall in die Länge gezogen, obgleich er nie ernsthaft geglaubt hatte, daß sie sich zu ihm herablassen werde. Als dann seine Affäre mit Nastasja Filippowna spielte, hatte er sich auf einmal die Vorstellung zurechtgemacht, mit Geld lasse sich alles erreichen. »Wenn man ein Schuft ist, dann muß man es auch ordentlich sein!« wiederholte er sich damals täglich selbstzufrieden, aber mit einiger Furcht; »läßt man sich auf Schuftigkeiten ein, dann muß man damit auch bis zum höchsten Gipfel gehen«, sagte er sich alle Augenblicke zu seiner Ermutigung; »gewöhnliche Menschen bekommen es in solchen Fällen mit der Angst, aber wir nicht!« Als er Aglaja verloren hatte und durch die Umstände niedergebeugt war, verlor er vollständig den Mut und stellte tatsächlich dem Fürsten das Geld zu, das ihm damals die wahnsinnige Frau hingeworfen hatte, der es von einem ebenfalls wahnsinnigen Mann gebracht worden war. Daß er das Geld in dieser Weise wieder weggegeben hatte, bereute er nachher tausendmal, obwohl er sich fortwährend damit brüstete. Er weinte wirklich während der drei Tage, die der Fürst damals in Petersburg zubrachte; aber in diesen drei Tagen warf er auch schon einen Haß auf den Fürsten, weil dieser ihn gar zu mitleidsvoll behandelte, obwohl doch eine solche Handlung, wie es die Rückgabe einer so großen Geldsumme war, »nicht jeder fertiggebracht haben würde«. Aber die achtungswerte Selbsterkenntnis, daß sein ganzer Kummer nur von ununterbrochener Verletzung seiner Eitelkeit herkam, quälte ihn schrecklich. (Erst lange nachher gelangte er zu einem klareren Urteil und zu der Erkenntnis, was für eine ernste Wendung sein Verhältnis zu einem so unschuldigen, eigenartigen Wesen wie Aglaja hätte nehmen können.) Die Reue nagte an seinem Herzen; er gab seine Stelle auf und vergrub sich in seinen Gram und seine Trübsal. Er lebte mit seinem Vater und seiner Mutter bei Ptizyn auf dessen Kosten, bezeigte diesem aber unverhohlen seine Geringschätzung, wiewohl er gleichzeitig auf seine Ratschläge hörte und verständig genug war, ihn fast immer um solche zu bitten. Gawrila Ardalionowitsch ärgerte sich zum Beispiel auch darüber, daß Ptizyn nicht darauf ausging, ein Rothschild zu werden, und sich dies nicht als Ziel gesetzt hatte. »Wenn man einmal ein Wucherer ist, dann muß man es auch gründlich sein, Charakter zeigen, die Leute schinden, Geld aus ihnen prägen, ärger als der ärgste Jude verfahren!« Ptizyn war ein bescheidener, stiller Mensch; er lächelte nur zu solchen Reden; aber einmal hielt er es doch für nötig, sich Ganja gegenüber ernsthaft auszusprechen, und führte das sogar mit einer gewissen Würde aus. Er wies ihn darauf hin, daß er nichts Unehrliches tue, und daß Ganja ihn ohne Berechtigung einen Juden nenne; er könne nichts dafür, daß es so schwer sei, zu Geld zu kommen; er handle rechtlich und ehrenhaft und sei eigentlich bei »diesen Geschäften« nur Agent; aber infolge seiner geschäftlichen Zuverlässigkeit sei er schon hervorragenden Persönlichkeiten vorteilhaft bekannt geworden, und seine Geschäfte gewönnen immer mehr an Ausdehnung. »Ein Rothschild werde ich nicht werden, und das ist auch nicht nötig«, fügte er lachend hinzu; »aber zu einem Haus in der Liteinaja-Straße werde ich es wohl bringen, vielleicht auch zu zweien, und damit werde ich abschließen.« Im stillen aber dachte er: »Wer weiß, vielleicht auch zu dreien!«, sprach das aber nie laut aus, sondern verbarg diese Zukunftsphantasie. Das Schicksal liebt solche Menschen und verfährt gegen sie freundlich: es wird Herrn Ptizyn nicht mit drei, sondern gewiß mit vier Häusern belohnen, und zwar gerade dafür, daß er von seiner Kindheit an gewußt hat, er werde nie ein Rothschild werden. Aber andererseits wird das Schicksal unter keinen Umständen über vier Häuser hinausgehen, und damit wird die Sache für Ptizyn ihren Abschluß finden.

Eine ganz andersartige Persönlichkeit war Gawrila Ardalionowitschs Schwester. Auch sie war von einem kräftigen Streben erfüllt, das aber mehr den Charakter der Beharrlichkeit als den stoßweiser Heftigkeit trug. Sie bewies viel Verstand, wenn eine Sache zu dem entscheidenden Punkt gelangt war; aber es mangelte ihr auch schon vorher nicht daran. Allerdings gehörte auch sie zu der Klasse der »gewöhnlichen« Leute, die von Originalität träumen; aber sie erkannte doch sehr bald, daß sie keine Spur von besonderer Originalität besaß, und grämte sich darüber nicht allzu sehr – wer weiß, vielleicht aus einer eigenen Art von Stolz. Ihren ersten Schritt ins praktische Leben führte sie mit großer Entschlossenheit aus, indem sie Herrn Ptizyn heiratete; aber indem sie das tat, sagte sie ganz und gar nicht zu sich selbst: »Will man gemein handeln, dann gründlich, wenn man nur sein Ziel erreicht«, wie Gawrila Ardalionowitsch in solchem Fall nicht unterlassen hätte sich auszudrücken (er war nahe daran, sich vor ihren eigenen Ohren so auszudrücken, als er als älterer Bruder seine Billigung ihres Entschlusses aussprach). Vielmehr heiratete Warwara Ardalionowna ganz im Gegenteil erst, nachdem sie zu der wohlbegründeten Überzeugung gelangt war, daß ihr künftiger Gatte ein bescheidener, angenehmer, beinah gebildeter Mann sei und größere Gemeinheiten nie und um keinen Preis begehen werde. Nach kleineren Gemeinheiten fragte Warwara Ardalionowna nicht; das waren eben Kleinigkeiten, und solche Kleinigkeiten kamen ja in der Welt überall vor. Ein Ideal zu suchen hätte sie für töricht gehalten. Zudem wußte sie, daß sie durch diese Heirat ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren Brüdern zu einer Unterkunft verhalf. Da sie ihren Bruder Ganja im Unglück sah, so wünschte sie, trotz aller früheren Zwistigkeiten in der Familie, ihm zu helfen. Ptizyn drängte seinen Schwager Ganja manchmal, natürlich freundschaftlich, dazu, wieder eine Stelle anzunehmen. »Da verachtest du nun die Generäle und den Generalsrang«, sagte er mitunter scherzend zu ihm; »aber paß einmal auf, alle deine idealistisch veranlagten Bekannten werden schließlich, wenn die Reihe an sie kommt, Generäle werden; wenn du lange genug lebst, wirst du es schon sehen.« »Wie kommen manche Leute nur zu dem Glauben, ich sei ein Verächter der Generäle und des Generalsranges?« dachte Ganja im stillen bitter und spöttisch. Um ihrem Bruder behilflich zu sein, entschloß sich Warwara Ardalionowna dazu, den Kreis ihrer Tätigkeit zu erweitern: sie verschaffte sich Zutritt bei der Familie Jepantschin, wobei ihr Erinnerungen an die Kinderzeit halfen; denn sowohl sie selbst als auch ihr Bruder hatten als Kinder mit den Jepantschinschen Töchtern gespielt. Wir merken hier an, daß Warwara Ardalionowna, wenn sie mit ihren Besuchen bei den Jepantschinschen Damen irgendein phantastisches Ziel vor Augen gehabt hätte, vielleicht eben dadurch sofort aus jener Menschenklasse ausgeschieden wäre, zu der sie sich selbst rechnete; aber sie hatte kein phantastisches Ziel vor Augen, sondern es lag ihrerseits sogar eine sehr wohlbegründete Spekulation vor, bei der sie den Charakter dieser Familie als Grundlage benutzte. Aglajas Charakter studierte sie unermüdlich. Sie hatte sich die Aufgabe gestellt, die beiden jungen Leute, ihren Bruder und Aglaja, wieder zusammenzubringen. Vielleicht hatte sie tatsächlich einiges erreicht; vielleicht hatte sie auch Fehler begangen, indem sie zum Beispiel zu sehr auf ihren Bruder rechnete und von ihm etwas erwartete, was er nie und auf keine Weise hätte leisten können. Jedenfalls operierte sie bei Jepantschins sehr kunstvoll: sie erwähnte wochenlang ihren Bruder mit keinem Wort, war immer sehr wahrheitsliebend und aufrichtig und benahm sich schlicht, aber würdig. Was aber ihr innerstes Gewissen anlangt, so fürchtete sie sich nicht, in dasselbe hineinzublicken, und machte sich nicht den geringsten Vorwurf. Und dadurch wuchs ihre Kraft noch mehr. Nur eins, was ihr mißfiel, bemerkte sie manchmal an sich: daß auch sie sehr viel Ehrgeiz besaß, sich gelegentlich ärgerte und in ihrer Eitelkeit verletzt fühlte; besonders bemerkte sie das zu bestimmten Zeiten, und zwar fast jedesmal, wenn sie von Jepantschins fortging.

So kehrte sie also auch jetzt von ihnen heim und, wie wir schon gesagt haben, in nachdenklicher, trüber Stimmung. In dieser trüben Stimmung lag auch eine gewisse Portion spöttischer Bitterkeit. Ptizyn bewohnte in Pawlowsk ein unansehnliches, aber geräumiges Holzhaus, das an einer staubigen Straße gelegen war und demnächst in seinen vollen Besitz übergehen sollte, so daß er schon seinerseits es wieder einem Dritten zum Kauf angeboten hatte. Als Warwara Ardalionowna die Freitreppe hinanstieg, hörte sie oben im Haus einen ungewöhnlichen Lärm und unterschied die schreienden Stimmen ihres Bruders und ihres Vaters. In den Salon eintretend, sah sie Ganja, der, ganz blaß vor Wut, im Zimmer auf und ab lief und sich beinah die Haare ausriß; sie runzelte bei diesem Anblick die Stirn und ließ sich mit müder Miene auf das Sofa sinken, ohne den Hut abzunehmen. Sie wußte ganz genau, daß, wenn sie noch ungefähr eine Minute lang schwieg und ihren Bruder nicht fragte, warum er so umherlaufe, dieser mit Sicherheit darüber in Zorn geraten werde; daher beeilte sie sich schließlich, in Form einer Frage zu sagen:

»Immer noch die alte Geschichte?«

»Ach was, die alte Geschichte!« rief Ganja. »Die alte Geschichte! Nein, weiß der Teufel, was jetzt hier vorgeht! Etwas Neues! Der Alte ist ganz rasend geworden … die Mutter heult. Wahrhaftig, Warja, rede, was du willst, aber ich werde ihn aus dem Haus jagen oder … oder selbst von euch wegziehen«, fügte er hinzu, wahrscheinlich weil ihm einfiel, daß man aus einem fremden Haus niemand wegjagen kann.

»Man muß doch Nachsicht haben«, murmelte Warja.

»Nachsicht womit? Mit wem?« fuhr Ganja auf. »Mit seinen Gemeinheiten? Nein, da kannst du reden, was du willst, aber das geht so nicht länger! Unmöglich, unmöglich, unmöglich! Und was ist das für eine Manier: er hat sich vergangen und trumpft dabei noch auf. Wie ein störrisches Tier: ›Ich will nicht ins Tor, reiß den Zaun nieder!‹ Warum sitzt du so da? Was machst du denn für ein Gesicht?«

»Mein Gesicht ist wie immer«, erwiderte Warja mißvergnügt. Ganja sah sie genauer an. »Bist du dort gewesen?« fragte er plötzlich.

»Ja.«

»Warte, da schreit er wieder! Es ist eine Schande, und noch dazu in einer solchen Zeit!«

»Was meinst du damit: ›in einer solchen Zeit?‹ Es ist doch keine besondere Zeit.«

Ganja betrachtete seine Schwester noch aufmerksamer.

»Hast du etwas erfahren?« fragte er.

»Nein, wenigstens nichts Unerwartetes. Ich habe erfahren, daß das alles seine Richtigkeit hat. Mein Mann hat gegen uns beide recht behalten; es ist so gekommen, wie er es gleich von Anfang an vorhergesagt hat. Wo ist er denn?«

»Er ist nicht zu Hause. Was ist denn also geschehen?«

»Der Fürst ist regulärer Bräutigam; die Sache ist entschieden. Die beiden älteren Schwestern haben mir gesagt, Aglaja habe eingewilligt; sie verheimlichen es nicht einmal mehr, während dort bisher eine arge Geheimniskrämerei stattfand. Adelaidas Hochzeit wird von neuem verschoben, damit beide Hochzeiten gleichzeitig gefeiert werden können, an demselben Tag – sehr romantisch! Es mutet einen ganz poetisch an. Du solltest lieber ein Hochzeitsgedicht verfassen, statt so unnütz im Zimmer umherzulaufen. Heute abend wird die alte Bjelokonskaja bei ihnen sein; sie ist gerade zur rechten Zeit angekommen; es werden auch noch mehr Gäste da sein. Sie werden ihn der alten Bjelokonskaja vorstellen, wiewohl er schon mit ihr bekannt ist; es scheint, daß die Verlobung bekanntgegeben werden soll. Sie fürchten nur, daß er irgend etwas hinfallen läßt oder zerschlägt, wenn er zu den Gästen ins Zimmer kommt, oder auch daß er selbst hinplumpst; denn dessen kann man sich bei ihm versehen.«

Ganja hörte sehr aufmerksam zu; aber zur Verwunderung seiner Schwester übte diese ihrer Meinung nach für ihn überraschende Nachricht anscheinend auf ihn gar nicht eine besonders überraschende Wirkung aus.

»Nun gut; das war ja schon lange klar«, sagte er nach kurzem Nachdenken. »Also nun ist das zu Ende!« fügte er mit einem eigentümlichen Lächeln hinzu, indem er seiner Schwester verschmitzt ins Gesicht sah und immer noch fortfuhr, im Zimmer auf und ab zu gehen, wiewohl jetzt weit langsamer.

»Es ist nur gut, daß du es mit philosophischer Ruhe aufnimmst; ich freue mich darüber wirklich«, sagte Warja.

»Nun sind wir eine Last von den Schultern los; wenigstens du.«

»Ich glaube, dir aufrichtig gedient zu haben, ohne mein eigenes Urteil hineinzumischen und ohne dich mit Fragen zu belästigen; ich habe dich nicht gefragt, welches Glück du an Aglajas Seite zu finden hofftest.«

»Aber habe ich denn überhaupt … ein Glück an Aglajas Seite zu finden gehofft?«

»Na, bitte, laß dich nicht auf philosophische Betrachtungen ein! Jedenfalls ist es jetzt so. Wir sind abgetan. Wir sind die Leidtragenden. Ich muß dir gestehen, ich habe diese Sache nie als etwas Ernstes betrachten können; ich habe sie nur so ›für alle Fälle‹ betrieben und dabei meine Spekulation auf den komischen Charakter des Mädchens gegründet; vor allen Dingen aber wollte ich dir eine Freude machen; es war eine Wahrscheinlichkeit von neunzig Prozent, daß es mißlingen werde. Ich für meine Person weiß sogar jetzt nicht einmal, was du eigentlich erstrebt hast.«

»Jetzt werdet ihr, du und dein Mann, mich dazu drängen, wieder in den Dienst zu treten, und werdet mir Predigten über Beharrlichkeit und Willenskraft halten, und daß man das Kleine nicht geringschätzen dürfe, und so weiter. Ich weiß es schon auswendig!« sagte Ganja lachend.

»Er hat irgend etwas Neues im Sinne!« dachte Warja.

»Nun, wie steht es jetzt dort? Die Eltern freuen sich wohl?« fragte Ganja plötzlich.

»Es scheint nicht. Übrigens kannst du dir das ja selbst zurechtlegen. Iwan Fjodorowitsch ist zufrieden; die Mutter ist ängstlich; sie hat bekanntlich von jeher einen Widerwillen gegen die Vorstellung gehabt, daß er der Bräutigam ihrer Tochter werden könnte.«

»Danach frage ich nicht; er ist ein unmöglicher, undenkbarer Bräutigam, das ist klar. Ich frage nach der jetzigen Situation, wie es jetzt dort steht. Hat sie ihr formelles Jawort gegeben?«

»Sie hat bis jetzt nicht ›nein‹ gesagt; das ist alles; aber etwas anderes war ja von ihr auch nicht zu erwarten. Du weißt, daß sie von jeher bis zur Verdrehtheit blöde und schüchtern war: als Kind stieg sie in einen Schrank und saß da zwei, drei Stunden lang, um nur nicht zu den Gästen hereingehen zu müssen; nun ist sie eine große Göre geworden, aber es ist mit ihr immer noch dieselbe Geschichte. Weißt du, ich denke, daß es sich da wirklich auch von ihrer Seite um ein ernsthaftes Gefühl handelt. Allerdings macht sie sich, wie mir gesagt wird, über den Fürsten vom Morgen bis zum Abend aus Leibeskräften lustig, um sich nichts merken zu lassen; aber gewiß weiß sie ihm täglich im stillen etwas Angenehmes zu sagen; denn er geht umher wie im Himmel und strahlt ordentlich … Er soll furchtbar komisch aussehen. Das habe ich von den beiden älteren Schwestern gehört. Es schien mir auch, als ob sich diese mir ins Gesicht über mich lustig machten.«

Ganja machte endlich ein finsteres Gesicht; vielleicht vertiefte sich Warja absichtlich in dieses Thema, um in seine wahren Gedanken einzudringen. Aber jetzt erscholl oben wieder Geschrei.

»Ich werde ihn aus dem Haus jagen!« brüllte Ganja, wie wenn er sich freute, seinem Ärger Luft machen zu können.

»Dann wird er wieder hingehen und uns überall blamieren, wie gestern.«

»Was meinst du mit ›wie gestern‹? Was soll das heißen: ›wie gestern‹? Ist er etwa …«, fragte Ganja, der plötzlich einen gewaltigen Schreck bekam.

»Ach, mein Gott, weißt du es denn nicht?« fragte Warja erschrocken.

»Wie? Also ist es wirklich wahr, daß er dort gewesen ist?« rief Ganja, der vor Scham und Wut ganz rot wurde. »O Gott, du kommst ja von dort! Hast du etwas erfahren? Ist der Alte dagewesen? War er da oder nicht?«

Ganja stürzte nach der Tür; Warja lief zu ihm hin und ergriff ihn mit beiden Händen.

»Was hast du? Wo willst du hin?« sagte sie. »Wenn du ihn jetzt hinausläßt, wird er bei allen Menschen herumgehen und noch schlimmere Dinge anrichten!«

»Was hat er denn dort angerichtet? Was hat er gesagt?«

»Sie haben es selbst nicht recht begriffen und konnten es mir nicht ordentlich wiedererzählen; nur hat er alle in Angst versetzt. Er wollte zu Iwan Fjodorowitsch; aber der war nicht zu Hause; dann verlangte er, Lisaweta Prokofjewna zu sprechen. Zuerst bat er sie um eine Stelle; er wolle wieder in den Dienst treten; und dann fing er an, sich über uns zu beklagen, über mich, über meinen Mann, namentlich aber über dich … er hat alles mögliche zusammengeredet.«

»Du hast es nicht erfahren können?« fragte Ganja, krampfhaft zitternd.

»Wie wäre das möglich! Er hat selbst kaum verstanden, was er redete; und vielleicht haben sie mir auch nicht alles wiedergesagt.«

Ganja griff sich an den Kopf und lief zum Fenster; Warja setzte sich an das andere Fenster.

»Wie komisch Aglaja ist«, bemerkte sie plötzlich. »Als ich weggehen wollte, hielt sie mich noch zurück und sagte zu mir: ›Bestellen Sie Ihren Eltern den Ausdruck meiner besonderen persönlichen Hochachtung; ich werde in diesen Tagen gewiß Gelegenheit finden, mit Ihrem Papa zu sprechen.‹ Und das sagte sie ganz ernst. Es war sehr merkwürdig …«

»Nicht spöttisch? Nicht spöttisch?«

»Das ist es eben, daß sie es nicht spöttisch sagte; darum war es so merkwürdig.«

»Weiß sie, was der Alte gemacht hat, oder nicht? Was meinst du?«

»Daß es bei ihnen nicht die ganze Familie weiß, ist mir nicht zweifelhaft; aber du bringst mich da auf einen Gedanken: vielleicht weiß es Aglaja. Und sie wird die einzige sein, die es weiß; denn auch die Schwestern waren verwundert, als sie mir mit solchem Ernst eine Empfehlung an den Vater auftrug. Und warum gerade an ihn? Wenn sie es weiß, dann muß es ihr der Fürst gesagt haben!«

»Es wird kein Kunststück sein, herauszubringen, wer es ihr gesagt hat! Ein Dieb! Das fehlte nur noch! Ein Dieb in unserer Familie, das ›Oberhaupt der Familie‹!«

»Ach, dummes Zeug!« rief Warja ganz ärgerlich. »Gerede Betrunkener, weiter nichts! Und wer hat es aufgebracht? Lebedjew und der Fürst … selbst eine nette Sorte; Menschen ohne Vernunft. Ich mache mir auch nicht so viel daraus.«

»Der Alte ein Dieb und Trunkenbold«, fuhr Ganja bitter fort, »ich ein Bettler, der Mann meiner Schwester ein Wucherer – das konnte Aglaja locken! Das muß man sagen: eine angenehme Sippschaft!«

»Und doch ist es dieser Mann deiner Schwester, der Wucherer, der dich …«

»Füttert, nicht wahr? Bitte, geniere dich nicht!«

»Warum bist du denn so ärgerlich?« erwiderte Warja.

»Du verstehst auch gar nichts; du bist wie ein Schuljunge. Du meinst, all das hätte dir in Aglajas Augen schaden können? Da kennst du ihren Charakter schlecht; die wäre imstande, sich von dem besten Bewerber abzuwenden und zu irgendeinem Studenten mit Vergnügen auf die Dachkammer zu laufen, um da Hungers zu sterben; das ist ihr Ideal, von dem sie phantasiert! Du hast nie begreifen können, wie interessant du in ihren Augen geworden wärst, wenn du es verstanden hättest, unsere kümmerliche Lage mit Festigkeit und Stolz zu ertragen. Bei dem Fürsten hat sie angebissen, erstens weil er es nicht darauf angelegt hatte, sie zu fangen, und zweitens, weil er in den Augen aller ein Idiot ist. Schon allein, daß sie um seinetwillen ihre Familie in Aufregung versetzt, schon das ist ihr jetzt eine Freude. Ach, ihr versteht aber auch gar nichts!«

»Nun, das wollen wir noch sehen, ob wir etwas verstehen oder nicht«, murmelte Ganja rätselhaft. »Aber ich möchte doch nicht, daß sie das von dem Alten erfährt. Ich hatte gemeint, der Fürst werde sich beherrschen und es nicht weitererzählen. Er hat Lebedjew veranlaßt, davon zu schweigen, und wollte auch mir nicht alles sagen, als ich in ihn drang …«

»Also siehst du selbst, daß auch auf anderm Weg alles schon bekannt geworden ist. Was willst du jetzt noch weiter? Worauf hoffst du noch? Wenn ihr überhaupt noch eine Hoffnung bliebe, so würde gerade dieser Vorfall dir nützen, indem er dir in ihren Augen das Ansehen eines Märtyrers verleihen würde.«

»Na, vor einem Skandal würde doch auch sie zurückschrecken, trotz all ihrer Romantik. Es hat alles seine Grenze, und alle Menschen gehen nur bis zu einer bestimmten Grenze; so seid ihr alle.«

»Aglaja würde zurückschrecken?« versetzte Warja heftig und blickte ihren Bruder geringschätzig an. »Da hast du doch eine niedrige Denkungsart! Ihr seid allesamt nichts wert. Mag sie auch eine komische, wunderliche Person sein; aber dafür hat sie eine tausendmal anständigere Gesinnung als ihr alle!«

»Na, schon gut, schon gut, ärgere dich nur nicht!« murmelte Ganja wieder selbstzufrieden.

»Mir tut nur die Mutter leid«, fuhr Warja fort. »Ich fürchte, daß diese Geschichte mit dem Vater ihr zu Ohren kommt. Ach ja, das fürchte ich!«

»Das ist gewiß schon geschehen«, bemerkte Ganja.

Warja stand auf, um zu Nina Alexandrowna nach oben zu gehen, blieb aber dann noch stehen und blickte ihren Bruder aufmerksam an.

»Wer kann es aber gewesen sein, der es ihr gesagt hat?«

»Wahrscheinlich Ippolit. Ich denke mir, er hat sich sofort, nachdem er zu uns übergesiedelt ist, eine Freude daraus gemacht, es der Mutter zu berichten.«

»Aber woher weiß er es denn? Das sag mir, bitte! Der Fürst und Lebedjew haben sich vorgenommen, es niemandem zu sagen; auch Kolja weiß nichts davon.«

»Ippolit? Der hat es von selbst erfahren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für eine listige Kreatur ist, was für ein Klatschweib, und was er für eine feine Nase hat, um alles Schlechte und Skandalöse zu wittern. Na, magst du es glauben oder nicht, ich bin überzeugt, daß er Aglaja schon ganz in seinen Händen hat! Und wenn es ihm noch nicht gelungen ist, so wird es ihm bald gelingen! Auch Rogoschin ist zu ihm in Beziehung getreten. Wie ist es nur möglich, daß der Fürst das nicht merkt! Und jetzt hat er die größte Lust, mich hineinzulegen! Er hält mich für seinen persönlichen Feind; das habe ich längst durchschaut. Woher nur? Und was hat er hier noch vor? Er wird ja bald sterben; ich kann es nicht begreifen! Aber ich werde ihn hinters Licht führen; du wirst sehen, daß nicht er mich hineinlegt, sondern ich ihn.«

»Warum hast du ihn denn zu uns herübergelockt, wenn du ihn so haßt? Und ist er das überhaupt wert, daß du ihn hineinlegst?«

»Du bist es ja gewesen, die mir geraten hat, ihn zu uns herüberzulocken.«

»Ich glaubte, er würde uns nützlich sein; aber weißt du, daß er sich jetzt selbst in Aglaja verliebt hat und an sie geschrieben hat? Sie haben mich danach befragt … vielleicht hat er auch an Lisaweta Prokofjewna geschrieben.«

»In dieser Hinsicht ist er nicht gefährlich!« sagte Ganja, boshaft lachend. »Übrigens ist da sicherlich etwas nicht in Ordnung. Daß er verliebt ist, ist gut möglich; denn er ist ein unreifer Bube! Aber … anonyme Briefe wird er der Alten nicht schreiben. Eine boshafte, wertlose, selbstzufriedene Mittelmäßigkeit, das ist seine Charakteristik … Ich bin überzeugt, ja, ich weiß sicher, daß er mich ihr als einen Intriganten geschildert hat; das ist das erste gewesen, was er getan hat. Ich muß bekennen, ich bin zuerst dumm genug gewesen, mich etwas vor ihm aufzuknöpfen; ich meinte, er werde, schon um sich an dem Fürsten zu rächen, für meine Interessen eintreten; er ist eine so listige Kreatur! Oh, ich habe ihn jetzt völlig durchschaut. Von diesem Diebstahl aber hat er durch seine eigene Mutter, die Hauptmannsfrau, gehört. Wenn der Alte sich zu einer solchen Tat hat entschließen können, so hat er es um der Hauptmannsfrau willen getan. Der Junge hat mir auf einmal ohne äußeren Anlaß mitgeteilt, der General habe seiner Mutter vierhundert Rubel versprochen; das hat er mir ohne äußeren Anlaß gesagt und ohne alle Umschweife. Da ist mir alles klargeworden. Und dabei hat er mir mit einem ganz besonderen Genuß in die Augen gesehen; und unserer Mama hat er es sicherlich ebenfalls gesagt, nur weil es ihm Vergnügen macht, ihr das Herz zu zerreißen. Und sage mir um alles in der Welt, warum stirbt er nicht? Er hat sich doch verpflichtet, in drei Wochen zu sterben, und nun hat er hier noch angefangen, dick zu werden! Er hört auf zu husten; gestern abend hat er selbst gesagt, er habe seit zwei Tagen kein Blut mehr gehustet.«

»Jage ihn weg!«

»Ich hasse ihn nicht, ich verachte ihn«, erwiderte Ganja stolz. »Nun ja, ja, ich gebe zu, daß ich ihn auch hasse!« rief er dann plötzlich in maßloser Wut. »Und das werde ich ihm ins Gesicht sagen, wenn er auf seinem Sterbebett im Verscheiden liegen wird! Wenn du seine Beichte gelesen hättest – o Gott, was für eine naive Frechheit! Das ist ja der Leutnant Pirogow in der Färbung der Trägödie, und vor allen Dingen ein unreifer Bube! Oh, mit welchem Genuß hätte ich ihn damals durchgeprügelt, namentlich um ihn in Erstaunen zu versetzen! Jetzt rächt er sich an allen dafür, daß ihm sein Selbstmord damals nicht gelungen ist … Aber was ist das? Das ist ja schon wieder Spektakel! Ja, was hat denn das zu bedeuten? Ich kann das schließlich doch nicht länger dulden. Ptizyn!« rief er dem ins Zimmer tretenden Ptizyn zu. »Was ist denn das? Wie weit wird denn dieser Unfug bei uns noch gehen? Das … das …«

Aber der Lärm kam schnell näher; die Tür wurde aufgerissen, und der alte Iwolgin, vor Zorn dunkelrot und zitternd, stürzte ganz außer sich ebenfalls auf Ptizyn los. Dem Alten folgten Nina Alexandrowna, Kolja und hinter allen Ippolit.

 
***
 

1Eine Person in Gogols Lustspiel »Die Heirat«. (A.d.Ü.)

2In der »Arabeske«: »Der Newski-Prospekt«. (A.d.Ü.)

II

Ippolit war schon vor fünf Tagen in Ptizyns Haus übergesiedelt. Das hatte sich in ganz natürlicher Weise so gemacht, ohne viele Worte und ohne irgendwelches Zerwürfnis zwischen ihm und dem Fürsten; sie hatten sich nicht gezankt, sondern waren sogar äußerlich als gute Freunde voneinander geschieden. Gawrila Ardalionowitsch, der an dem damaligen Abend eine so feindliche Haltung gegen Ippolit angenommen hatte, war schon am dritten Tag nach jenem Ereignis gekommen, um den Kranken zu besuchen, wobei er sich wahrscheinlich durch irgendeinen Einfall, der ihm plötzlich gekommen war, leiten ließ. Aus irgendeinem Grund hatte auch Rogoschin angefangen, dem Kranken Besuche zu machen. Der Fürst war in der ersten Zeit der Meinung gewesen, daß es für den »armen Knaben« sogar das beste sein würde, wenn er aus seinem Haus wegzöge. Aber schon während seines Umzugs hatte sich Ippolit dahin geäußert, er siedele zu Ptizyn über, »der so freundlich sei, ihm Unterkunft zu gewähren«, und hatte wie mit Absicht niemals gesagt, er ziehe zu Ganja, obgleich gerade Ganja darauf gedrungen hatte, daß er ins Haus aufgenommen wurde. Ganja hatte das gleich damals beachtet, es übelgenommen und sich ins Gedächtnis eingeprägt.

Er hatte recht, als er zu seiner Schwester sagte, daß der Kranke sich erholt habe. Tatsächlich ging es Ippolit etwas besser als vorher, was man ihm auf den ersten Blick ansehen konnte. Er trat langsam in das Zimmer ein, hinter den andern, mit einem spöttischen, häßlichen Lächeln auf dem Gesicht. Nina Alexandrowna sah sehr erschrocken aus. (Sie hatte sich im letzten halben Jahr sehr verändert, indem sie stark abgemagert war; seit sie ihre Tochter verheiratet hatte und zu ihr gezogen war, hatte sie fast ganz aufgehört, sich äußerlich in die Angelegenheiten ihrer Kinder hineinzumischen.) Koljas Miene war sorgenvoll und zeigte eine verständnislose Verwunderung; er begriff vieles von den »irren Reden« des Generals nicht, wie er sich ausdrückte, und das war auch natürlich, da er die Hauptursachen dieser neuen Aufregung in der Familie nicht kannte. Aber es war ihm klar, daß der Vater jetzt stündlich und überall dermaßen krakeelte und sich auf einmal so stark verändert hatte, daß man meinen konnte, er sei ein ganz anderer Mensch geworden wie früher. Es beunruhigte ihn auch, daß der Alte in den letzten drei Tagen ganz aufgehört hatte zu trinken. Er wußte, daß er sich mit Lebedjew und dem Fürsten veruneinigt und sogar gezankt hatte. Kolja war soeben mit einem halben Stof Branntwein nach Hause zurückgekehrt, das er für sein eigenes Geld gekauft hatte.

»Wirklich, Mama«, hatte er noch oben zu Nina Alexandrowna gesagt, »wirklich, mag er lieber trinken! Er hat jetzt schon seit drei Tagen keinen Branntwein angerührt; er muß einen stillen Kummer haben. Wirklich, wir wollen ihn lieber trinken lassen; ich habe ihm ja auch ins Schuldgefängnis Branntwein gebracht …«

Der General öffnete die Tür sperrangelweit und stellte sich, zitternd vor Entrüstung, auf die Schwelle.

»Mein Herr!« schrie er mit donnernder Stimme seinem Schwiegersohn Ptizyn zu. »Wenn Sie tatsächlich beschlossen haben, einen achtungswerten alten Mann, Ihren Vater, das heißt wenigstens den Vater Ihrer Frau, der seinem Kaiser treu gedient hat, so einem Milchbart und Atheisten aufzuopfern, so wird mein Fuß von dieser Stunde an die Schwelle Ihres Hauses nie wieder betreten. Wählen Sie, mein Herr, wählen Sie unverzüglich: entweder ich oder dieser … dieser Bohrer! Ja, dieser Bohrer! Der Ausdruck ist mir zufällig in den Mund gekommen; aber dieser Mensch ist ein Bohrer! Denn er bohrt in meiner Seele herum wie ein Bohrer, ohne allen Respekt … ja, wie ein Bohrer!«

»Bin ich nicht eher ein Pfropfenzieher?« fragte Ippolit.

»Nein, kein Pfropfenzieher; denn du hast einen General vor dir und keine Flasche. Ich besitze Orden und Ehrenzeichen; aber du, du hast nichts, gar nichts. Entweder er oder ich! Entscheiden Sie sich, mein Herr, sofort, sofort!« schrie er Ptizyn wieder wütend an.

In diesem Augenblick stellte ihm Kolja einen Stuhl hin, und er sank fast ganz erschöpft auf ihn nieder.

»Es wäre wirklich das beste, wenn Sie sich schlafen legten«, murmelte Ptizyn, der ganz betäubt war.

»Er droht noch!« sagte Ganja halblaut zu seiner Schwester.

»Schlafen legen!« schrie der General. »Ich bin nicht betrunken, mein Herr; Sie beleidigen mich. Ich sehe«, fuhr er, wieder aufstehend, fort, »ich sehe, daß hier alle gegen mich sind, alle. Genug! Ich werde fortgehen … Aber wissen Sie, mein Herr, wissen Sie …«

Man ließ ihn nicht zu Ende reden und veranlaßte ihn, sich wieder hinzusetzen; man bat ihn, sich zu beruhigen. Ganja ging wütend in eine Ecke. Nina Alexandrowna zitterte und weinte.

»Aber was habe ich ihm denn getan? Worüber beklagt er sich denn?« rief Ippolit grinsend.

»Sie hätten ihm nichts getan?« sagte Nina Alexandrowna. »Es ist von Ihnen eine besondere Schändlichkeit und Unmenschlichkeit, einen alten Mann zu quälen … und noch dazu in Ihrer Lage.«

»Erstens, von welcher Art ist denn meine Lage? Ich schätze Sie, gerade Sie persönlich, sehr hoch; aber …«

»Er ist ein Bohrer!« schrie der General; »er bohrt in meiner Seele und in meinem Herzen herum! Er will, daß ich an den Atheismus glauben soll! Wisse, du Milchbart, daß ich schon mit Ehren überschüttet war, als du noch gar nicht geboren warst! Du bist weiter nichts als ein neidischer Wurm, der in zwei Stücke zerrissen ist und hustet … und vor Bosheit und Unglauben stirbt … Warum hat dich Ganja bloß hierher gebracht? Alle sind sie gegen mich, von den Fremden angefangen bis zu meinem eigenen Sohn!«

»So hören Sie doch auf mit dem falschen Pathos!« rief Ganja. »Sie sollten nicht in der ganzen Stadt Schande über uns bringen; das wäre besser!«

»Wie? Ich bringe Schande über dich, du Milchbart? Über dich? Ich kann dir nur Ehre bringen, aber keine Unehre!« Er schrie und ließ sich nicht mehr halten; aber auch Gawrila Ardalionowitsch hatte offenbar alle Selbstbeherrschung verloren.

»Sie reden noch von Ehre!« rief er boshaft.

»Was hast du gesagt?« donnerte der General, der blaß wurde und einen Schritt auf ihn zu trat.

»Ich brauche ja nur den Mund aufzutun, um …«, schrie Ganja, ohne den Satz zu Ende zu sprechen.

Beide standen einander gegenüber; sie zitterten vor Wut, besonders Ganja.

»Ganja, was sprichst du da!« rief Nina Alexandrowna und stürzte auf ihren Sohn zu, um ihn aufzuhalten.

»So ein törichtes Gerede von allen Seiten!« sagte Warja entrüstet in scharfem Ton. »Hören Sie auf, Mama!« fügte sie hinzu und faßte ihre Mutter an.

»Ich schone Sie nur um der Mutter willen!« rief Ganja pathetisch.

»Rede!« brüllte der General in höchster Wut. »Rede! Ich befehle es unter Androhung meines väterlichen Fluches … Rede!«

»Na, ich werde mich auch gerade vor Ihrem Fluch fürchten! Wer ist denn daran schuld, daß Sie seit acht Tagen wie verrückt sind? Seit acht Tagen; Sie sehen, ich weiß alles genau nach dem Datum … Nehmen Sie sich in acht, und treiben Sie mich nicht zum Äußersten; sonst sage ich alles … Warum haben Sie sich denn gestern zu Jepantschins begeben? Und da nennt er sich noch einen alten Mann, spricht von seinen grauen Haaren und spielt sich als Familienvater auf! Ein netter Patron!«

»Schweig still, Ganja!« rief Kolja. »Schweig still, du Dummkopf!«

»Aber womit habe ich, ich ihn denn beleidigt?« fragte Ippolit hartnäckig, immer noch in demselben spöttischen Ton. »Warum nennt er mich einen Bohrer, wie Sie selbst gehört haben? Er hat sich selbst an mich herangemacht; er kam soeben zu mir und fing an, von einem Hauptmann Jeropegow zu sprechen. Ich wünsche überhaupt nicht, mit Ihnen zu verkehren, General; ich bin Ihnen schon früher aus dem Weg gegangen, wie Sie selbst wissen. Sagen Sie selbst: was geht mich der Hauptmann Jeropegow an? Um des Hauptmanns Jeropegow willen bin ich nicht hierher gezogen. Ich habe ihm nur laut meine Meinung ausgesprochen, daß dieser Hauptmann Jeropegow vielleicht überhaupt niemals existiert hat. Und da hat er einen Höllenlärm gemacht.«

»Zweifellos hat er nicht existiert!« sagte Ganja in scharfem Ton.

Der General stand wie betäubt und blickte nur gedankenlos rings um sich. Die Worte seines Sohnes verblüfften ihn durch ihre ungewöhnliche Offenheit. Im ersten Augenblick konnte er gar keine Worte finden. Erst als Ippolit über Ganjas Antwort laut auflachte und rief: »Na, nun haben Sie es gehört, Ihr eigener Sohn sagt auch, daß es keinen Hauptmann Jeropegow gegeben hat«, erst da murmelte der Alte endlich, ganz verwirrt:

»Kapiton Jeropegow, nicht Hauptmann 1 … Kapiton … Oberstleutnant a.D., Jeropegow … Kapiton.«

»Auch diesen Kapiton hat es nicht gegeben!« rief Ganja, der ganz grimmig geworden war.

»Aber … warum soll es ihn nicht gegeben haben?« murmelte der General, dem die Röte ins Gesicht stieg.

»So lassen Sie es doch gut sein!« sagten Ptizyn und Warja beschwichtigend zu ihm.

»Schweig still, Ganja!« rief Kolja wieder.

Aber der Umstand, daß sich jemand seiner annahm, hatte die Wirkung, den General wieder zu beleben.