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Beschreibung

Von den Zeiten Mohammeds bis zur Integrationsdebatte – die Geschichte des Islam

Mit hohem Anspruch und ungeheurer Energie betrat Der Islam vor 1400 Jahren die Bühne der Weltgeschichte, verkündet von einem Mann, der sich als »Siegel der Propheten« verstand, verbreitet von Gläubigen, die rasch ein riesiges Reich eroberten. Wenn heute vom Islam die Rede ist, dann kochen die Emotionen häufig über, dann malen die einen den »Heiligen Krieg« der Muslime gegen Ungläubige an die Wand, während sich andere über blindwütige »Islamophobie« empören. Aber was wissen wir eigentlich über diese Religion, die während ihres »Goldenen Zeitalters« die christliche Welt kulturell und wissenschaftlich weit in den Schatten gestellt hat?

Um den vielen Facetten des Islam gerecht zu werden, greifen die Herausgeber dieses Buches auf die reichen Erfahrungen von SPIEGEL-Redakteuren und das große Wissen renommierter Islamwissenschaftler zurück. Der genaue Blick auf Quellen und Geschichte des Islam zeigt vor allem eins: So reichhaltig, wie die Überlieferung ist, so vielfältig sind auch die inneren Widersprüche – den „einen” Glauben gibt es nicht.

Aktuelle und fundierte Einführung in Glauben, Geschichte, Wissenschaft und Kultur des Islam.

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Inhaltsverzeichnis

VorwortVerse für Krieg und FriedenTEIL I - GEBURT DES ISLAM
Wer war Mohammed?
Copyright

Vorwort

Der Islam ist seit Jahren eines der umstrittensten Themen in Deutschland. Ungefähr vier Millionen der weltweit etwa 1,4 Milliarden Muslime leben hier, in rund 2000 deutschen Moscheen wird gebetet.

Ist die Offenbarung des Propheten Mohammed also ein Teil Deutschlands geworden? Darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Die Kontroverse tobt auch deshalb so heftig, weil die Bedrohung durch Terroristen, die sich auf den Islam berufen, spätestens seit den Massenmorden des 11. September 2001 offenkundig ist.

Die dadurch ausgelöste Angst verbindet sich bei vielen Bürgern angesichts unsicherer Arbeitsplätze, niedriger Geburtenraten und einer schwindenden Bevölkerungszahl mit ganz persönlichen Existenzsorgen. So kommt es, dass sich der Ärger über erhebliche Defizite bei der sprachlichen und kulturellen Integration in explosiver Weise aufstaut. Thilo Sarrazin, der frühere Berliner Finanzsenator und Bundesbank-Vorstand, hat für dieses Gemisch im vergangenen Jahr den Zünder geliefert – sein Buch »Deutschland schafft sich ab« wurde zu einem riesigen Verkaufserfolg. Die Muslime, so beschwört der Autor eine düstere Zukunft, vermehren sich um so unkontrollierter, je ungebildeter sie sind; bald werden sie unser Land bis zur Unkenntlichkeit überfremdet haben.

Programmatisch erklärte Deutschlands neuer Innenminister Hans-Peter Friedrich bei seinem Amtsantritt im März, der Islam sei »kein Teil Deutschlands«: eine klare Werbung um die Sympathien der Sarrazin-Anhänger, die ein immenses Wählerpotential bilden. Der CSU-Mann vollzog damit eine politische Rolle rückwärts, die sogar innerhalb der Union umstritten ist. Denn sein Vor-Vorgänger im Innenamt, Wolfgang Schäuble (CDU), hatte bei der Einberufung der integrationsorientierten »Islam-konferenz« vor fünf Jahren ausdrücklich gesagt: »Der Islam ist ein Teil Deutschlands.« Bundespräsident Christian Wulff, auch er ein Christdemokrat, machte sich Schäubles Satz zu eigen; Wulff hat die Förderung muslimischer Integration als besonderes Ziel hervorgehoben.

Um was für eine Religion geht es bei alledem? Je leidenschaftlicher über das Wesen des Islam gestritten wird, desto häufiger steht polemische Verkürzung einer sachlichen Auseinandersetzung im Weg; die Kenntnisse erweisen sich oft als erschreckend dürftig. Von den geschichtlichen Entwicklungen und Kontroversen, die diese Religion seit ihren Ursprüngen begleiten, haben die meisten nicht einmal nebelhafte Vorstellungen. Wer war überhaupt Mohammed? Wie kam es zu seinem Offenbarungserlebnis, aus dem der Koran entstand? Wie schafften es die frühen Anhänger des Islam, in kürzester Zeit zwei Großreiche zu erobern und sich auf mehrere Kontinente auszudehnen? Spielt für die Muslime ihr Heiliges Buch dieselbe Rolle wie die Bibel für die Christen – oder haben sie ein anderes Verhältnis zur Schrift? Wie steht der Islam zu Judentum und Christentum, wie zu Staat und Gesellschaft? Wie kam es zur Spaltung in Sunniten und Schiiten?

Solche und andere Fragen behandelt das vorliegende Buch. Es beruht vor allem auf den langjährigen Erfahrungen und Kenntnissen von SPIEGEL-Journalisten. Die Redakteure Dieter Bednarz und Erich Follath bereisen seit Jahrzehnten die islamische Welt. Istanbul-Korrespondent Daniel Steinvorth hat schon als Kind viele Jahre in arabischen Ländern verbracht, seine Kollegen Christoph Schult (bis vor kurzem in Jerusalem), Thilo Thielke (Bangkok) und Volkhard Windfuhr (Kairo) kennen Glanz und Elend des heutigen Islam aus erster Hand, ebenso wie Yassin Musharbash von SPIEGEL ONLINE. Anne-Sophie Fröhlich und Claudia Stodte, Islamwissenschaftlerinnen aus der SPIEGEL-Dokumentation, haben kundige Beiträge geschrieben und ein kleines Islam-Lexikon zusammengestellt. Hinzu kommen wissenschaftlich ausgewiesene Gastautoren sowie der Erlanger Juraprofessor Mathias Rohe als Gesprächspartner. Rohe, Autor des Standardwerkes »Das islamische Recht«, gibt überraschende Aufschlüsse über die Widersprüche und vielfältigen Auslegungen, die sich hinter dem Schreckensbegriff »Scharia« verbergen.

Ein näherer Blick auf die lange Geschichte des Islam zeigt, dass es ein starres Glaubensgebäude nie gegeben hat. Kein Wunder, dass auch die heutige Auslegung und Praxis dieser Religion überaus pluralistisch ist; die beiden Hauptrichtungen, Sunniten und Schiiten, zerfallen in zahlreiche nationale und regionale Untergruppen. Nicht anders als beim Christentum, finden unter dem losen Dach der 1400 Jahre alten Weltreligion unzählige Konfessionen, Richtungen und Sekten Platz, die einander nicht selten spinnefeind sind. Dennoch nehmen fundamentalistische Islamisten für sich in Anspruch, ihre dogmatische Sichtweise sei das einzig wahre Verständnis dieser Religion. Ausgerechnet darin tun es ihnen die fundamentalistischen Islamkritiker gleich, so dass die verfeindeten Lager in der selben ideologischen Falle landen.

Hamburg, im Frühjahr 2011

Dietmar Pieper

Rainer Traub

Verse für Krieg und Frieden

Der Koran ist eines der mächtigsten Bücher der Welt – verehrt, gefürchtet und missbraucht. Wie archaisch ist die heilige Schrift des Islam, dessen Geschichte vor 1400 Jahren begann? Die Muslime legen das einzigartige Werk sehr unterschiedlich aus.

Von Dieter Bednarz und Daniel Steinvorth

Er gilt als das wohl widersprüchlichste, das umstrittenste und zugleich geheimnisvollste Buch der Welt. Er ist ein Füllhorn an Poesie und Prosa und ein Werk voller ungelöster Rätsel. Mal tolerant, dann wieder streng, bald nachsichtig und bald erbarmungslos. Ein ebenso gewaltiges wie gewalthaltiges Buch, für die Gläubigen die einzig gültige Übersetzung des göttlichen Willens, das vollkommene Werk des Schöpfers: der Koran, die Offenbarung Gottes an den Propheten Mohammed.

Während die Bibel mit Geschichten und Gleichnissen voller Wunder und Gnadenbezeugungen, aber auch mit Intrigen und Verbrechen lockt, ist der Koran eher ein Reigen aus Erzählungen und Verordnungen, deren Abfolge nicht chronologisch, sondern durch die Länge der Suren, der 114 Kapitel, bestimmt wird – wobei die langen zuerst stehen, mit einer Ausnahme: der Eröffnungssure.

Es ist ein Buch, das mal durch gewaltige, dunkle Sprachbilder, mal durch die Schlichtheit präziser Alltagsvorschriften hervorsticht, eines, das noch kleinste Details im Leben der Gläubigen regelt: von der Aufteilung des Erbes bis hin zu Stillzeiten für Scheidungskinder. Ein Buch, das Bodenständige wie Schwärmer gleichermaßen bezaubert, in dem aber auch rätselhafte Buchstaben auftauchen, deren Bedeutung niemand kennt, aus denen sich aber die »unsichtbare Wirklichkeit Gottes« ablesen lasse, wie islamische Mystiker, die Sufis, behaupten.

Zugleich ist der Koran wohl das mächtigste Buch der Welt. Mit seinen Regeln, Ermahnungen und Erkenntnissen ist er die Richtschnur für fast ein Fünftel der Menschheit, umfassender und strenger als das heilige Buch der Christen.

»Und lobpreise deinen Herrn vor dem Aufgang und vor dem Untergang der Sonne! Und preise zu gewissen Zeiten der Nacht und an den Enden des Tages«, so schreibt Sure 20, Vers 130, dem Gläubigen regelmäßige Gebete vor. Bemüht um Gottgefälligkeit, verneigen sich 1,4 Milliarden Muslime vom Senegal bis Sumatra, von Somalia bis Xinjiang gen Mekka und sprechen zu Beginn ihres Gebets die Fatiha, die Eröffnungssure des Koran: »Bismillah al-rahman al-rahim, al-hamdu lillah rabb al-alamin…« – »Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Gnädigen, Lob sei Gott, dem Herrn der Welten.«

Zwar hält die Bibel den Rekord als das meistgedruckte Werk der Welt: etwa 430 Millionen biblische Schriften wurden 2009 verbreitet. Aber der Koran holt auf. Dies lässt sich erahnen, wenn die saudi-arabische König-Fahd-Druckerei stolz verkündet, allein sie produziere jährlich weit über acht Millionen Korane, und jeder Mekka-Wallfahrer erhalte ein Gratisexemplar.

Obwohl der Koran nur auf Arabisch, der Sprache der Offenbarung, rezitiert werden darf, gibt es Dutzende Übersetzungen. Schließlich wollen immer mehr Muslime außerhalb der arabischen Welt, aber auch Nichtmuslime im Westen wissen, was Gott zu Mohammed gesagt haben soll. Vor allem aber trägt die Dynamik der jüngsten Weltreligion zum Anstieg der Koranauflagen bei. Zum Gürtel des Islam gehören reiche Länder wie das Sultanat Brunai oder die Vereinigten Arabischen Emirate, aber auch extrem arme wie Bangladesch oder Mauretanien. In Westeuropa bestimmt die Religion, die in der Wüste geboren wurde, den Alltag von etwa 15 Millionen Einwanderern und Konvertiten, keine Glaubensgemeinschaft wächst hier schneller und gebärdet sich ähnlich selbstbewusst.

Als Zeichen von Gottesfürchtigkeit wird der Koran in Washington im Kapitol ebenso geehrt wie auf dem Schafott in Bagdad. Im Abgeordnetenhaus der Vereinigten Staaten legte Keith Ellison, Demokrat aus Minnesota und Amerikas erster muslimischer Abgeordneter, am 4. Januar 2007 seinen Amtseid ab. Er hielt dabei einen Koran aus dem persönlichen Nachlass des US-Gründervaters Thomas Jefferson in den Händen. Ein grüner, in Leder gebundener Koran war die letzte Habe des einst so mächtigen wie reichen Diktators Saddam Hussein. Am 30. Dezember 2006, dem Tag seiner Hinrichtung, diktierte er dem Richter seinen letzten Wunsch: Man möge sein Exemplar einem Freund übergeben, der es in Ehren halten werde.

Die gewaltige Symbolkraft des Werkes ist unbestritten. Die Auslegung des Koran kann über Leben und Tod, Krieg und Frieden entscheiden. Mal dienen die Offenbarungen den Attentätern von Hamas oder al-Qaida als Legitimation ihres Terrors: »Bekämpfe die Ungläubigen und die Heuchler und behandle sie hart«, rezitieren Islamisten auf ihren Bekennervideos aus der neunten Sure; oft berufen sie sich auch auf einen Vers aus der vierten, der ihnen das Paradies verspricht: »Wer auf dem Weg Gottes kämpft und wird getötet – oder siegt –, dem werden wir gewaltigen Lohn geben.«

So haben sie ihren Lohn gesucht, die Selbstmordattentäter von New York und Washington 2001, von Bali 2002, von Madrid 2004, von London 2005. Auf einmal verwandeln sich junge Muslime in Sprengkörper, jagen Hochhäuser und Discotheken, vollbesetzte Züge und U-Bahnen in die Luft und reißen Hunderte Menschen mit in den Tod. Was für eine düstere Religion muss das sein, auf die sich diese Attentäter berufen?

Den Christenmenschen war die heilige Schrift der Muslime nie ganz geheuer. Weil im Koran Mose, Abraham und auch Jesus und Maria auftauchen, wurde er in Europa jahrhundertelang als »Türkenbibel« verachtet. Wer dennoch in den Offenbarungen las, sah sich wie Voltaire in seinem Unbehagen gegenüber den Muselmanen eher noch bestätigt. Der Koran, so schrieb der französische Aufklärer, sei »ein unverständliches Buch, das den gesunden Verstand auf jeder Seite erschauern lässt«.

Auch der Islamfreund Johann Wolfgang von Goethe klagte über »grenzenlose Tautologien und Wiederholungen« und zeigte sich, »so oft wir auch daran gehen, immer von neuem angewidert«. Aber der Dichterfürst, der den Koran für seinen »West-östlichen Divan« studierte, gestand auch, dass ihn das Buch zugleich »anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnötigt«.

Alif Lam Mim Dies ist das Buch, an dem kein Zweifel ist; Rechtleitung ist denen, die Gott fürchten, die glauben ans Verborgene, verrichten das Gebet, und die von dem, was wir zur Nahrung ihnen gaben, spenden; die daran glauben, was zu dir herabkam, und daran auch, was vor dir schon herabkam, und die Gewissheit haben übers Jenseits: Die sind von ihrem Herrn rechtgeleitet, und ihnen ergeht es wohl. Sure 2, Vers 1 bis 5

In der islamischen Welt wird dem Werk meist bedingungslose Verehrung entgegengebracht. »Al-Koran al-karim«, der »ehrwürdige«, der »kostbare« Koran ist die übliche Bezeichnung der Gläubigen. Denn den Muslimen gilt nicht nur der Inhalt, sondern auch das Buch, der Gegenstand an sich, als heilig. Wer aus ihm rezitiert, wer seinen Worten lauscht, so heißt es, könne den Allmächtigen hören, sehen und spüren. Religionswissenschaftler vergleichen die Bedeutung des Koran für die Muslime mit dem Stellenwert, der Jesus unter Christen zukommt: Bei den einen verkörpere sich Gott in einem Menschen, bei den anderen in einem Buch.

Wann und wo nahm das alles seinen Anfang? Gab es immer nur diesen einen Koran, so wie wir ihn heute kennen? Es war der Prophet Mohammed, geboren um 570 in Mekka, der Allahs Offenbarung aus der Wüste unter die Menschen gebracht hat. In einer Art Midlife-Crisis hatte er sich in die Berge zurückgezogen, um zu meditieren. Eines Nachts, so berichtet es der erste Mohammed-Biograf Ibn Ishaq, erschien ihm der Erzengel Gabriel im Schlaf. Er trug ein Tuch wie aus Brokat, worauf etwas in arabischen Lettern geschrieben stand. »Lies«, forderte er Mohammed auf. »Ich kann nicht lesen«, erwiderte dieser. Darauf würgte ihn Gabriel mit dem Tuch fast zu Tode und befahl: »Lies im Namen deines Herrn, des Schöpfers, der den Menschen schuf aus geronnenem Blut. Lies, und der Edelmütigste ist dein Herr, er, der das Schreibrohr zu gebrauchen lehrte, der die Menschen lehrte, was sie nicht wussten.« Mohammed wiederholte die Sätze – die später als Anfang der Sure 96 Eingang in den Koran fanden. Als er aufwachte, war es, als seien ihm »die Worte ins Herz geschrieben«.

Die heidnischen Herrscher in Mekka verspotteten und bedrohten Mohammed. Er musste mit seinen Gefährten in eine Oase namens Jathrib, später Medina genannt, fliehen. Dort vergrößerte sich seine Gemeinschaft. Anders als in Mekka drehen sich die Offenbarungen nun immer öfter um das rechte Leben im Alltag. Während der Koran in den »mekkanischen Suren« das metaphysische Wunder Gottes bezeugt, nimmt er in den »medinensischen Suren« auch Bezug auf gottesfürchtige Lebensführung, auf Kriegs-und Friedensrecht sowie den Umgang mit Andersgläubigen. Der Prophet empfängt jetzt jene Worte, die heute zwischen Fundamentalisten und Reformern besonders umstritten sind.

Als wäre der Koran ein Lehrbuch für Widersprüche, sagt er etwa zum Umgang mit Alkohol gleich dreierlei: Wird Wein in Sure 16,67 noch zu den guten Gaben Gottes gezählt (»ein Rauschgetränk und Nahrung schön«), liegt darin in Sure 2,219 schon »schwere Sünde, auch Nutzen«; erst in Sure 5,90 ist er dann ein »Gräuel und des Satans Werk«.

Auch pendelt das Buch zwischen Aufrufen zur Gewalt und Ermahnungen zur Toleranz. Da gibt es die Aufforderungen zur Tötung von Ungläubigen, etwa Sure 4,89: »Wenn sie sich abkehren, dann ergreift sie und tötet sie, wo immer ihr sie findet.« Oder grausame Höllenstrafen für die Ungläubigen im Jenseits: »Und wenn sie um Hilfe rufen, wird ihnen mit Wasser wie mit geschmolzenem Erz geholfen« (Sure 18,29). Aber es gibt auch Botschaften von universeller Barmherzigkeit. Gott selbst ist die Güte: »Rahman«, der Barmherzige, und »Rahim«, der Gnädige, sind die gebräuchlichsten Gottesnamen im Koran. Der Mörder eines Unschuldigen, so lehrt der Koran, müsse behandelt werden, »als habe er die gesamte Menschheit ermordet«.

Zugleich ruft der Koran immer wieder zum »Dschihad« auf. Selbst für vorsichtige Kommentatoren wie den Erlanger Islamwissenschaftler Hartmut Bobzin – der 2010 eine neue Übersetzung des Koran vorgelegt hat – steht fest: Mit diesem »Bemühen auf dem Wege Gottes«, so die wörtliche Übersetzung, ist »vor allem der Kampf im Sinne einer kriegerischen Auseinandersetzung gemeint«. Parallel dazu warnt der Koran vor einer selbstvernichtenden Opferbereitschaft, die heute islamistische Selbstmordattentäter antreibt: »Stürzt euch nicht mit eigenen Händen ins Verderben« (Sure 2,195).

Über die Andersgläubigen, Christen und Juden, lässt sich der Koran einmal respektvoll als über »Leute der Schrift« aus, dann wieder als über »diejenigen, die Gott verflucht hat und denen er zürnt und von denen er einige zu Affen und Schweinen und Götzendienern gemacht hat«. Die Widersprüche erklären muslimische Rechtsgelehrte mit den jeweiligen Umständen, in denen sich die junge Gemeinde Mohammeds gerade befand: hier im Kampf, dort im Frieden, immer darauf bedacht, die eigene Machtsphäre zu erweitern und zu vertiefen.

Wie zum Beweis seiner Vollkommenheit offeriert der Koran auch für den Umgang mit seinen Widersprüchen eine Lösung. »Wenn wir einen Vers tilgen oder in Vergessenheit geraten lassen, bringen wir einen besseren oder einen, der ihm gleich ist«, heißt es in Sure 2. »Weißt du denn nicht, dass Gott zu allem die Macht hat?« Auf die daraus entwickelte Lehre von der Abrogation, der Aufhebung früher Verse durch nachfolgende, berufen sich die Fundamentalisten bei der Durchsetzung ihres rigiden Islam – schließlich gehen die späteren Offenbarungen mit Wein, Weib und Ungläubigen härter ins Gericht. Bis der Prophet Mohammed seine allerletzte Offenbarung empfing, vergingen 22 Jahre. Die zentrale Botschaft seiner aufopfernden Mission bleibt ein radikaler Monotheismus.

Gott, außer ihm kein Gott! Er, der Lebendige, Beständige, ihn fasset weder Schlaf noch Schlummer, sein ist, was da im Himmel ist und was auf Erden; wer leget Fürsprach‘ ein bei ihm, als er erlaub‘ es denn? Er weiß, was vor ist und was hinter ihnen, doch sie umfassen nichts von seinem Wissen, als was er will. Es füllt sein Thron die Weite Himmels und der Erde, und ihn beschwert‘s nicht, beide zu behüten. Er ist der Hohe, Große. Sure 2, Vers 255

Dass sich Gott in seinen Offenbarungen aus der Bibel bedient, störte Mohammed und dessen Anhänger nicht. So kennen die Muslime Adam und den Sündenfall ebenso wie Noahs Arche, Mose und auch Jesus – der im Koran allerdings nicht Sohn Gottes ist, sondern nur einer von vielen Propheten. Solche Ähnlichkeiten belegen für Muslime nur die Richtigkeit des Koran. Und so lernen sie die Suren auswendig und sprechen sie nach. Mit der mündlichen Überlieferung scheint Gottes Botschaft gesichert.

Über erste schriftliche Fassungen des Textes ist wenig bekannt. Die wohl ältesten Koranfragmente retteten im Jemen ausgerechnet Nichtmuslime für die Wissenschaft. Als in der Großen Moschee von Sanaa, einem der ältesten islamischen Gebetshäuser der Welt, das zu Lebzeiten Mohammeds gebaut wurde, im Sommer 1973 bei Renovierungsarbeiten in der Zwischendecke ein sogenanntes Papiergrab entdeckt wurde, ahnte noch niemand die Sensation. Solche Hohlräume dienten häufig zur Entsorgung religiöser Schriftstücke, denn die Vernichtung heiliger Texte ist verboten. Die zerfallenen, von Insekten zerfressenen Fragmente mit Koranversen landeten in Kartoffelsäcken, achtlos am Fuß einer Wendeltreppe abgestellt.

Erst deutsche Koranforscher erkannten den Wert der Pergamente. Mit finanzieller Unterstützung der Bundesregierung rekonstruierten die Orientalisten Albrecht Noth und Gerd-Rüdiger Puin in jahrelanger Puzzlearbeit die Koranfetzen. Nach vielfältigen Untersuchungen geht Puin davon aus, »dass einige Fragmente etwa im Jahre 700 entstanden sein müssten«.

Die dunklen Anfänge der Koranaufzeichnungen – Palmenblätter, Steine und sogar Knochen mit Notizen – sind idealer Nährboden für allerlei Legenden und Spekulationen. Gab es vielleicht sogar gewisse Verse, die der Zensur zum Opfer fielen, weil sie sich mit der späteren, reinen Lehre nicht in Einklang bringen ließen? Berühmt, ja berüchtigt ist jene Überlieferung, wonach nicht nur der Erzengel Gabriel, sondern auch Satan dem Propheten ein oder zwei Verse einflüsterte.

So sollen in den Offenbarungen die drei heidnischen Göttinnen al-Lat, al-Ussa und Manat zunächst als »hochfliegende Kraniche« bezeichnet worden sein, deren Fürsprache bei Gott erwünscht sei. Die Einwohner von Mekka – hocherfreut, dass der Prophet ihre Lokalgottheiten derart würdigt – seien daraufhin seinem Aufruf gefolgt, sich vor Gott niederzuwerfen. Später habe Mohammed jedoch vom Erzengel Gabriel erfahren, dass dies keine göttlichen, sondern eben »satanische Verse« waren.

Die Legende von diesen Versen – die Salman Rushdie 1988 als Hintergrund für seinen hochumstrittenen Roman benutzte – liefert noch heute Stoff für Disput: Die meisten muslimischen Gelehrten lehnen die Geschichte seit Jahrhunderten ab. Doch manche westliche Islamwissenschaftler sind geneigt, sie für wahr zu halten: Eine Episode, die Mohammed in derart unvorteilhaftem Licht erscheinen lasse, könne unmöglich erfunden sein. Wahrscheinlicher sei daher, dass die »satanischen Verse« Mohammeds vorübergehenden Versuch widerspiegelten, die Mekkaner durch Schmeicheleien für ihre drei Göttinnen schneller von der Großmut Allahs zu überzeugen. Mohammed, mehr Pragmatiker als Prophet? Für Muslime ein äußerst ketzerischer Gedanke.

Dass aus der Sammlung von Aufzeichnungen und Überlieferungen schließlich der Koran wurde, ein geschlossenes Buch, so wie es Gläubige in aller Welt verehren, ist das Verdienst des Kalifen Uthman. Der dritte Nachfolger Mohammeds soll um die Mitte des 7. Jahrhunderts eine schriftliche Fassung sämtlicher Offenbarungen verfügt haben. Auf sein Geheiß wurden alle schon vorliegenden Dokumente zusammengetragen, er ließ die vertrauenswürdigsten Rezitatoren vorladen und schließlich die Suren edieren. Warum sie der Länge nach geordnet wurden, zählt auch fast 1400 Jahre nach der Redaktion des Koran zu den ungelösten Rätseln.

An der Uthman-Fassung wurde nicht mehr gerüttelt. Allein dass die Kairoer Azhar-Universität in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Versen der Ordnung halber Nummern voranstellte, löste massive Proteste von Eiferern aus. Nur weil die Neuerung von der höchsten theologischen Autorität kam, wurde sie schließlich von der muslimischen Gemeinde weltweit akzeptiert. Seither steht fest, was im Koran steht. Über jede Silbe wachen die Experten der Azhar-Universität in Kairo, ganz im Sinne Allahs: »Dhalika al-kitab la raiba fihi hudan lilmuttakin«, lautet Vers 2 der 2. Sure: »Dies ist das Buch, an dem nicht zu zweifeln ist, geoffenbart als Rechtleitung für die Gottesfürchtigen. «

Gott ist das Licht des Himmels und der Erde, das Gleichnis seines Lichtes ist wie eine Nisch‘ in welcher eine Leuchte; die Leuchte ist in einem Glas, das Glas ist wie ein funkelnder Stern, die angezündet ist vom Segensbaume, dem Ölbaum nicht aus Osten noch aus Westen; das Öl fast selber leuchtet, wenn‘s auch nicht berührt die Flamme; Licht über Licht – Gott leitet zu seinem Lichte wen er will: Gott aber prägt die Gleichnisse den Menschen, und Gott ist jedes Dings bewusst. Sure 24, Vers 35

Wer gegen die tausend Jahre alte Macht der Azhar, der »Strahlenden«, aufbegehrt, muss, wie der jüngst verstorbene Literaturprofessor Nasr Hamid Abu Said, mit dem Schlimmsten rechnen. Auf Drängen islamistischer Eiferer wurde er zum Apostaten erklärt. Ein Gericht in Kairo verfügte 1995 die Zwangsscheidung des »Ketzers« von seiner Frau Ibtihal Junis. Die Azhar half der Anklage mit einem religiösen Rechtsgutachten.

Sein Verbrechen? Abu Said war davon überzeugt, dass »Gott zu Mohammed in Bildern gesprochen hat, in Metaphern, die wir auf unsere heutige Zeit übertragen müssen«. Nur so könne sich der Islam »für die Aufklärung öffnen und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen«. Für seine konservativen Gegner waren solche Gedanken pure Ketzerei. Im Westen wurde Abu Said seither als »Speerspitze eines liberalen Islam« (»Neue Zürcher Zeitung«) gefeiert und mit Ehrungen überhäuft. Kenner wie der Bonner Islamwissenschaftler Stefan Wild sehen in ihm so etwas wie eine »historische Figur«, eine, »von der wir noch in 100 Jahren sprechen werden«.

Auch bei den Schiiten gibt es Theologen, die sich auflehnen gegen orthodoxe Schriftgelehrte, gegen scheinbar übermächtige Autoritäten. Einer von ihnen ist Abdolkarim Sorusch. So wie Abu Said gegen die Scheichs der Azhar streitet, streitet Sorusch gegen die Mullahs in Teheran.

Die Turbanträger gründen ihre Macht auf die von Revolutionsführer Ruhollah Ajatollah Chomeini 1979 eingeführte »Welan‘s jat-e Fakih«, die Herrschaft des obersten Rechtsgelehrten. Nach ihr dürfen sich Irans religiöse Führer als irdische Stellvertreter jenes zwölften Imam fühlen, der im 9. Jahrhundert spurlos verschwand und seither in der Verborgenheit ausharrt. Mit seiner ersehnten Wiederkehr verbinden die Schiiten das Jüngste Gericht und die Einkehr der Gerechtigkeit auf Erden.

Die von den Mullahs damit beanspruchte Unfehlbarkeit kommt für Sorusch religiöser Despotie gleich. Auch für ihn besitzt Gottes Offenbarung ewige Gültigkeit, nicht jedoch die Schlussfolgerungen, die sich daraus ableiten lassen. In seinen Aufsätzen und Büchern propagiert er die »Wandelbarkeit der religiösen Erkenntnis«. Theologen, so Sorusch, seien nicht wie Gott oder der Prophet. Was sie verkünden, sei »menschliche, unheilige Erkenntnis – behaftet mit aller Fehlbarkeit des menschlichen Geistes«.

Solche Anmaßungen dulden die Chomeini-Erben nicht. Der einstige Vordenker der Islamischen Republik verlor in den neunziger Jahren seinen Lehrstuhl an der Universität Teheran, er erhielt Morddrohungen und wagte seitdem kaum noch öffentliche Auftritte. Unter dem gegenwärtigen Staatspräsidenten Mahmud Ahmadinedschad ist Sorusch erst recht Persona non grata.

Unter aufgeklärten Muslimen gilt Sorusch hingegen als Lichtgestalt. »Er befreit den Islam vom Ballast der Vergangenheit und versöhnt ihn mit der Moderne«, jubelte die inzwischen verbotene Oppositionszeitschrift »Kijan«. Manche, wie die amerikanische Autorin Robin Wright, sehen in Sorusch gar einen »iranischen Luther«. Einen, der wie der deutsche Reformator im 16. Jahrhundert das Deutungsmonopol des herrschenden Klerus brechen könnte. Den Mönch aus Eisleben und den Professor aus Teheran verbindet die Betonung der spirituellen und mystischen Seite des Glaubens. In der islamischen Variante der Mystik, dem Sufismus, sieht Sorusch ein Potential für die Herausforderungen der Moderne; hier sei der Glaube stets auf der Suche, stets fragend, nie selbstsicher – ein Gegenpol zum autoritären Rechtsislam, wie ihn die Mullahs predigen.

Zurück zu den Wurzeln, zurück in die Frühgeschichte des Islam, zurück ins 8. und 9. Jahrhundert, lautet die Devise der Reformer. Hier, in der Blütezeit ihrer Religion, sehen beide Vordenker – der Sunnit Abu Said und der Schiit Sorusch – einen Schatz, den es auszugraben gilt. Damals, keine 150 Jahre nach dem Tod des Propheten, hatte in Bagdad die Dynastie der Abbasiden die Macht übernommen, ein der Wissenschaft zugeneigtes Herrschergeschlecht. In der von Legenden umwobenen, prächtigen Kalifenresidenz am Tigris stritten die Gelehrten leidenschaftlich um die rechte Art, den Koran zu lesen.

Besonders vernunftbetont waren die sogenannten Mutasiliten (arabisch für: »jene, die sich absondern«). Sie orientierten sich an der griechischen Philosophie. Es heißt, ihr großer Förderer, der Kalif al-Mamun, habe eines Nachts von Aristoteles geträumt und kurz darauf befohlen, an jeder Ecke Bagdads eine Akademie, eine Sternwarte oder eine Bibliothek zu bauen.

Die Mutasiliten kritisierten das Wiederkäuen orthodoxer Lehren, sie verlangten, die islamischen Quellen eigenständig zu interpretieren; eine Praxis, die in der islamischen Tradition »Idschtihad« heißt, »Anstrengung«. Der heikelste Punkt ihrer Theologie aber war, den Koran nicht als »ewiges«, sondern als »geschaffenes Werk« zu betrachten. Ewig, lehrten sie, sei nur Gott selbst. Und wäre es nicht vermessen, Gott eine zweite ewige Instanz zur Seite zu stellen?

Nur ein knappes Jahrhundert währte die Blütephase der Freigeister, dann schlug die Orthodoxie zurück. Es folgte geistige Verkrustung. Allein das goldene Zeitalter der Mauren von Andalusien, die im 11. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel Kunst und Wissenschaften aufblühen ließen, konnte noch einmal an die Ära der Mutasiliten anknüpfen.

Während in Deutschland Seuchen und Hungersnöte die Menschen dahinrafften, richteten die Kalifen von »al-Andalus« Apotheken und Krankenhäuser ein, wurde in Córdoba und Toledo gedichtet, geforscht und philosophiert. Es ist jene Epoche, die bei vielen Muslimen von heute noch immer starke Sehnsüchte weckt – setzte doch mit ihrem Ende der Niedergang der islamischen Welt ein.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erreichte das Ansehen der Weltreligion einen neuen Tiefstand. Die Anschläge von New York, Madrid und London verengten – in den Augen verängstigter Europäer und Amerikaner – das Bild des Islam auf den Terrorismus seiner Extremisten.

Das Instrument für den Terror heißt »Takfir« (arabisch für: »jemanden für ungläubig erklären«). Es bietet seinen Anhängern die Rechtfertigung, sich zu Herren über Leben und Tod aufzuschwingen. Nach einem vielzitierten Satz des Propheten darf das Blut von Muslimen nur als Strafe für Mord, für Ehebruch sowie für den Abfall vom Islam vergossen werden. Für Takfiristen gilt demnach: Todeswürdig ist jeder, der auch nur einen Hauch von ihrer strengen Koranauffassung abweicht, denn er gilt als vom Islam abgefallen. Es ist dabei egal, ob er wählen geht – schließlich kann nur Gott, nicht aber ein gewählter Politiker Gesetze erlassen – oder einfach nur als Sportler kurze Hosen trägt, was gegen Sitte, Anstand und Gottes Willen verstößt. Er muss sterben.

Dennoch glauben die beiden deutschen Islamwissenschaftler Katajun Amirpur und Ludwig Ammann, dass der Islam seit den Anschlägen vom 11. September 2001 »an einem Wendepunkt« angelangt sei. Als hätte der islamistische Overkill die liberalen Geister in den eigenen Reihen wachgerüttelt, sei in der islamischen Welt eine »unendliche Vervielfältigung der Standpunkte« zu beobachten. Ein Blick ins Internet und in populäre Diskussionsforen wie futureislam.com reiche aus, um zu erkennen, dass unzählige Muslime den Stillstand überwinden wollen – und dass der Begriff »Reform« nicht tabu sei.

Ihr die da glaubet! Glaubet an Gott und den Gesandten! Und an das Buch, das er auf ihn herabgesandt, und an das Buch, das er zuvor herabgesandt. Doch wer an Gott nicht glaubt, und nicht an seine Engel, und nicht an seine Bücher, und nicht an seine Gesandten, und nicht an den Jüngsten Tag, der ist im Irrtum tief verfangen. Sure 4, Vers 136

Protagonisten dieses Wandels gibt es überall. Wie weit Islam und Moderne miteinander vereinbar sind, zeigt der bislang größte Feldversuch direkt vor den Toren Europas: in der Türkei. In kaum einem Land treffen Orient und Okzident, der Islam und die Werte des Westens, so stark aufeinander wie bei dem EU-Anwärter und Nato-Partner. In keinem anderen Land wurde dem Islam allerdings auch so viel Weltlichkeit abverlangt wie in der 1923 von Mustafa Kemal, genannt Atatürk (Vater der Türken), begründeten Republik. Um die Moscheen von rückwärtsgewandtem Gedankengut freizuhalten, richtete Atatürk eigens das Präsidium für religiöse Angelegenheiten ein, das Diyanet. Die Behörde mit heute fast 90 000 Mitarbeitern beaufsichtigt die Ausbildung der Imame, und sie bestimmt auch, was gepredigt wird.

Das Rüstzeug für die Debatte mit den Fundamentalisten kommt von Vordenkern wie Ömer Özsoy, 47, dem seit 2006 in Frankfurt am Main lehrenden türkischen Koranexperte. Für ihn steht nur ein Bruchteil dessen, was die Offenbarung den Menschen vermitteln will, wörtlich im Koran; der Großteil der wahren Aussagen erschließt sich erst durch das Studium der historischen Umstände vor rund 1400 Jahren und deren Interpretation für die Gegenwart. Weil die Anpassung des Koranverständnisses an die Aktualität so lange schon verpönt sei, fehlten »den Muslimen die Antworten auf die Fragen der Moderne«. Lakonisch resümiert Özsoy: »Wir Muslime sind zurückgeblieben.«

Vor allem für die Frauen erweist sich der Islam als Instrument ihrer Unterdrückung. Zum Verhältnis von Mann und Frau ist der Koran wie so oft uneindeutig: Da lassen sich Verse finden, die als Befreiung von Unmündigkeit verstanden werden müssen, aber auch andere, die Frauen dem Mann untertan erklären. In der Wirklichkeit haben sich zumeist die Stammestraditionen der Araber durchgesetzt, wonach die Frau als Besitz der Familie betrachtet wird. Frauen erben in den meisten islamischen Ländern nur die Hälfte dessen, was ein männlicher Verwandter vom Nachlass erhält. Auch zählt ihre Aussage vor Gericht nur halb so viel wie die Aussage eines Mannes.

Der Zwang zum Kopftuch wird beispielsweise mit Auszügen aus Sure 24 begründet: »Und sag den gläubigen Frauen, dass sie ihre Blicke senken und dass sie ihre Scham bewahren sollen, und dass sie ihren Schal sich um den Ausschnitt schlagen.« Ein Beweis für die Pflicht, Kopftuch zu tragen? Nein, sagen aufgeklärte Musliminnen; vielmehr ein Hinweis dafür, wie sich Frauen damals vor sexueller Belästigung schützen konnten. Preist nicht gerade auch der Koran die universelle Schönheit des Menschen? So heißt es in Sure 95: »Bei der Feige und der Olive und dem Berge Sinai und dieser sicheren Stadt: Wahrlich, Wir erschufen den Menschen in schönster Gestalt.«

Auf Dauer kann sich der Islam wohl kaum von den Zumutungen der Moderne abschotten, zumal in der globalisierten Welt. Internet und Satellitensender haben Vielstimmigkeit im islamischen Raum erzeugt und zugleich die Suche nach Orientierung und Autorität verstärkt. Die neue Vielfalt wird auch die Bedeutung und Interpretation des Koran mitbestimmen.

An der so schillernden Bedeutung des Werkes, weit über die islamische Welt hinaus, ändert das nichts. Auf lange, lange Zeit noch wird der Koran das bleiben, was der Vordenker Abu Said in ihm gesehen hat: »Das schönste und zugleich gefährlichste Buch der Welt.«

ADAM UND EVA

»Die Verführung Adam und Evas« (niederländisches Gemälde um 1600)

In der biblischen Schöpfungsgeschichte vertreibt Gott Adam und Eva nach dem Sündenfall aus dem Paradies. Auch der Koran erzählt die Geschichte vom Sündenfall. Das Fehlverhalten Adams wird dort nicht als Abkehr von Gott beschrieben, sondern als Schwäche Adams gegenüber der Verführung des Teufels. Gott vertreibt Adam und Eva zwar aus dem Paradies, gibt ihnen aber tröstliche Worte mit auf den Weg: »Diejenigen, die meiner Rechtleitung folgen, haben nichts zu befürchten, und sie werden nicht traurig sein.«

ABRAHAM

Abraham opfert seinen Sohn (persische Illustration um 1600)

In der jüdisch-biblischen Überlieferung gilt Abraham (arabisch Ibrahim) als Stammvater des Volkes Israel, im Islam als Stammvater aller Semiten. In der biblischen Überlieferung sollte Abraham auf Gottes Geheiß seinen zweiten Sohn Isaak opfern, im Koran wird die Geschichte ohne Nennung eines Namens erzählt – und traditionell auf den Erstgeborenen Ismael (arabisch Ismail) bezogen. Mit Ismael soll Abraham nach islamischer Vorstellung die Kaaba in Mekka gebaut haben. Abrahams Sohn Ismael gilt als Stammvater der Araber.

MOSE

Die biblische Geschichte von Mose (arabisch Mussa), der das Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft ins Gelobte Land führt, wird im Koran wiederholt erwähnt. Mose ist dort der am häufigsten genannte Prophet.

Weil Gott in direkte Zwiesprache mit Mose tritt, trägt er in der islamischen Tradition den Beinamen Kalim Allah (der, zu dem Gott spricht). Der Koran berichtet auch von der Übergabe der Gebotstafeln auf dem Berg Sinai. Die Zehn Gebote werden im Koran in abgewandelter Form und Zusammenstellung erwähnt, haben dort aber keine zentrale Bedeutung.

Mose mit Gesetzestafel (Gemälde um 1630)

MARIA

Marjam und Issa; altpersische Miniatur

Die Lebensgeschichte Marias (arabisch Marjam) ist im Koran und in den islamischen Überlieferungen detailliert wiedergegeben. In der nach ihr benannten 19. Sure wird auch die in der christlichen Überlieferung herausgebildete Vorstellung von der Jungfrauengeburt übernommen. An anderer Stelle im Koran wird Maria mit der alttestamentlichen Mirjam gleichgesetzt. Im Koran ist Maria die einzige weibliche Figur, die namentlich benannt wird.

JESUS

»Issa bin Marjam« – Jesus, der Sohn Marias – ist im Islam ein bedeutender Prophet und unmittelbarer Vorgänger Mohammeds, wird aber nicht als Gottes Sohn angesehen. Der Koran berichtet von Wundern Jesu, was dessen besondere Stellung unterstreicht. In Sure 4 wird der Kreuzestod Jesu bestritten, Gott habe Jesus vielmehr direkt zu sich geholt.

Türkisch-islamische Darstellung der Himmelfahrt Jesu

TEIL I

GEBURT DES ISLAM

Wer war Mohammed?

Das Leben des Propheten ist von unzähligen Legenden umrankt. Dennoch gibt es manche historische Fakten über den Mann aus Mekka, seine Herkunft, sein Leben und seine Mission. Der Rest ist Glaube.

Von Erich Follath

Den Wettbewerb um den größten spirituellen Führer aller Zeiten hat er gewonnen – zu diesem Schluss kam jedenfalls der amerikanische Psychoanalytiker Jules Masserman von der Universität Chicago. Der Wissenschaftler nannte im US-Nachrichtenmagazin »Time« drei Kriterien für seine Wahl: Der Kandidat musste für das Wohlsein seiner Anhänger gesorgt, eine soziale Organisation gegründet und ein komplettes Glaubensgebäude entworfen haben: »Mohammed erfüllte diese Bedingungen. «

Kaum jemand hat in so wenigen Jahren so viel bewegt wie der Kaufmann aus Mekka, alles Bestehende herausgefordert, alles umgewälzt. Und keiner hatte in Europa jahrhundertelang so konstant eine so schlechte Presse. Seine Feinde nannten ihn einen »Betrüger«, sogar den »Antichrist«. Dante (1265 bis 1321) beschreibt ihn in seiner »Göttlichen Komödie« beim Gang durch die Hölle genüsslich mit aufgeschlitztem Bauch. Voltaire degradiert ihn im Jahr 1741 in seinem Theaterstück »Der Fanatismus oder Mohammed, der Prophet« zum »Mörder und Wollüstling«. Für den Schriftstellerkollegen Diderot ist er 1775 »der größte Feind der gesunden Vernunft«, dem Theologen Karl Barth ist sein Gott noch 1938 nichts anderes als »ein Götze wie andere Götzen«.

Selbst in der Trivialliteratur werden der Prophet und seine Verkündigung niedergemacht. Karl May schuf Hadschi Halef Omar als tumben Muslim, dem seine Rückständigkeit um die Ohren gehauen wird: »Und kämt ihr zu Hunderttausenden, so hast du gar keine Ahnung, wie schnell wir mit euch aufräumen würden.«

Ein Gegenbeispiel unter den Geistesgrößen ist Johann Wolfgang von Goethe. Der Dichterfürst, nicht kirchenfromm und dogmengläubig, las im Koran und plante sogar eine »Mahomet-Tragödie«. Wohl vor allem, um zu provozieren, schrieb er in die Vorankündigung seines 1819 erschienenen »West-östlichen Divan«, er lehne »den Verdacht nicht ab, er sei selbst ein Muselmann«. Besonders gründlich hat sich Goethe aber nicht mit dem Korantext beschäftigt, er reduziert ihn auf wenige Aussagen und beklagt »endlose Wiederholungen«.

Die katholische Kirche hat die Muslime im Konzil von Florenz 1442 dem »ewigen Feuer« preisgegeben – sie brauchte mehr als ein halbes Jahrtausend, um den glaubensverwandten Monotheisten 1964 auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil »ewiges Heil« in Aussicht zu stellen. Und erst 2001 betrat ein Papst – in Damaskus – zum ersten Mal eine Moschee.

Genützt hat es beim Christenvolk wenig. Der Prophet hat ein Imageproblem: Laut einer Emnid-Umfrage von 1997 ist er den Deutschen fast so unsympathisch wie der Jesus-Richter Pilatus. Einen Muslim als Ehepartner ihres Kindes würden 52 Prozent ablehnen oder nur unter starken Vorbehalten akzeptieren, einen Buddhisten 46, einen Juden 30 Prozent. Gegenüber keiner anderen Weltreligion haben die Deutschen so große Vorbehalte. Sie wissen denn auch verschwindend wenig über Mohammed; nicht einmal ein Prozent hat je im Koran geblättert. Aber fast alle sagen, sie wüssten gern mehr.

Forscher aus aller Welt kommen zu erstaunlichen, zu provozierenden Erkenntnissen. Semantiker sezieren die Sprache des Koran, gebeugt über das älteste bekannte Handschriftenfragment aus Sanaa im Jemen. Soziologen beschäftigen sich mit der frühen Gesellschaftsstruktur auf der Arabischen Halbinsel. Historiker setzen mit Genealogen den Stammbaum des Propheten fest.

Besonders viel verdanken wir dem Chronisten Ibn Ishaq, der im 8. Jahrhundert erst in Medina, dann in Bagdad alles Verfügbare über das Leben Mohammeds zusammentrug. Er schreibt auch, was man nicht weiß, was Legenden sein könnten, wo Versionen konkurrieren: ein Werk, verfasst noch vor der bald danach einsetzenden Heiligenstarre des Islam. Denn bald schon waren Zweifel oder Widersprüche am Propheten-Leben nicht mehr erwünscht. Je mächtiger der Glaube wurde, desto glorreicher geriet die Vita, desto weniger Raum blieb für Unklarheiten. Und meist ist in den zahllosen muslimischen Abhandlungen über Mohammed nicht mehr ausschlaggebend, wie es gewesen ist, sondern nur noch: wie es gewesen sein sollte. Musste.

»Vorläufigkeit und Revidierbarkeit dürfen gerade nicht die Merkmale einer muslimischen Schilderung seines Lebens sein. Die Worte und Taten des Propheten müssen daher aus dem Gefüge der Worte und Taten der Menschen vor ihm und nach ihm herausgetrennt sein«, schreibt der führende deutsche Mohammed-Forscher Tilman Nagel. »Im Grundsätzlichen unterscheidet sich die Sicht der Muslime auf Mohammed von derjenigen historisch Interessierter anderer Orientierung.«

Anders gesagt: Das Leben dieses Mannes lässt sich nicht im Indikativ erzählen, sondern nur als Geschichte einer Spurensuche jenseits der innerislamischen Glaubenszeugnisse. Die Hauptquellen: Ibn Ishaq, dessen Originalmanuskript leider verlorengegangen ist, aber auch noch in den überlieferten Fragmenten wichtig bleibt. Und natürlich der Koran. Wer also war dieser Mohammed? Was ist das Geheimnis des Islam?

Unfruchtbar ist das Tal, zerklüftet die Bergwelt, knapp das Wasser. Aber keiner kann sagen, dass die Mekkaner im 6. Jahrhundert nicht das Beste aus diesem Platz machen. Sie haben eine wohlhabende Stadt erbaut, mit einem Reichenviertel in der Ebene und dem Handwerker- und Plebejerviertel an den Berghängen, wo auch viele Beduinen vorübergehend ihre Zelte aufgeschlagen haben. Es geht streng hierarchisch zu in der Stadt: Ein Rat der reichen Familien bestimmt die politischen Geschicke, die meisten der Aristokraten gehören dem Stamm der Kuraisch an. Sie kontrollieren das Kreditwesen, sie versorgen die zahlreichen durchreisenden Geschäftsleute und garantieren gegen Entgelt deren Sicherheit.

Mekka liegt am Knotenpunkt der Karawanenstraßen, die den südlichen Jemen mit Syrien und dem Zweistromland im Norden verbinden. Im Winter tragen oft 2000 Kamele Datteln und Weihrauch, sogar Edelsteine und Seide aus Indien und China gen Norden, zurück bringen sie Baumwollstoffe, Weizen und Öl. Und dann ist da noch das Heiligtum, das die Kuraisch kontrollieren: ein würfelförmiges Bauwerk, damals schon Kaaba genannt, in dessen eine Ecke ein geheimnisvoller schwarzer Stein eingelassen ist. Unweit davon finden Pilger den Samsam-Brunnen, aus dem sie sich Wasser holen müssen.

Angebetet wird ein ganzes Bündel von Gottheiten: Hausgötzen in Form von geformten Datteln, aufgerichtete Steine, die der Pilger mit Blut und Öl bespritzt, Standbilder, bei denen der Orakelsuchende Pfeile wirft. Kamelmarkt, Kult und Kirmes gehen geschäftsfördernd ineinander über – unter dem Schutz eines drei Monate anhaltenden jährlichen Gottesfriedens, der Blutrache und Plünderung verbietet, aber Sangeswettbewerbe wie Essensgelage fördert.

Besonders Dichter und Wahrsager sind gefragt. Die Mekkaner glauben, diese seien von Dschinnen besessen, halb menschliche, halb überirdische Wesen. (In Mohammeds Offenbarung tauchen sie später häufig auf, manche hat er bekehrt, andere wurden zu »Holzscheiten« im Höllenfeuer. Spätere Verwandte der Dschinnen

Die Texte dieses Buches sind erstmals im gleichnamigen Heft der Reihe SPIEGEL GESCHICHTE (Nr. 5/2010) erschienen und wurden für diese Ausgabe aktualisiert.

1. Auflage

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eISBN 978-3-641-06309-2

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