Der Junge, der Gedanken lesen konnte - Kirsten Boie - E-Book

Der Junge, der Gedanken lesen konnte E-Book

Kirsten Boie

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Beschreibung

Spannung und Philosophie in einem poetischen Kinderkrimi von Kirsten Boie. Als Valentin in der Gluthitze dieses Sommers unter den alten Bäumen des Friedhofs steht, ahnt er nicht, dass gerade das größte Abenteuer seines Lebens beginnt. Denn hier fühlt er sich wohl. Und vielleicht findet er auch eine Antwort auf seine Frage nach dem Leben und dem Tod. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse. Ist der Friedhofsgärtner Bronislaw ein ganz gemeiner Verbrecher? Was hat es mit den merkwürdigen Bildern im Kopf des unsympathischen Büromanns auf sich? Haben sie etwas mit den brutalen Überfällen auf Juweliergeschäfte zu tun? Tatsächlich bringt Valentin seine seltsame Gabe, Gedanken lesen zu können, in allergrößte Gefahr. Dies ist eine wunderbar leichte, poetische Geschichte von Kirsten Boie über Freundschaft und den Umgang mit Verlust und Trauer, gleichzeitig aber auch spannender Kinderkrimi und großes Abenteuer, farbig in Szene gesetzt von Regina Kehn.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Jetzt wäre ich wirklich froh gewesen, wenn Artjom bei mir gewesen wäre. Ich hätte mich einfach nicht so gruselig gefühlt. Aber natürlich war ich längst daran gewöhnt, dass Artjom nicht da war, wenn ich ihn brauchte.

Die Schubkarre stand ordentlich abgestellt auf dem Plattenweg neben dem Hintereingang der Kapelle. Wie immer lagen Bronislaws Spaten darauf und die Hacke mit dem langen Stiel, auch die Hacke mit dem kurzen Stiel und die kleine Schaufel, also alles in Ordnung.

Was mich stutzig gemacht hat, war die Kiste mit den kleinblütigen Begonien. Die ließen ihre Köpfe hängen, und von manchen waren sogar schon die ersten Blütenblätter in die sandige Wanne der Karre gefallen, so vertrocknet waren sie.

Bronislaw hätte das seinen Blumen nie angetan. Entweder er hätte sie gleich eingepflanzt, oder er hätte sie wenigstens reichlich gegossen. Und so mitten in der Sonne stehen gelassen hätte er sie auch nicht.

»Bronislaw?«, hab ich gerufen. »Bist du hier, Bronislaw?«

Obwohl man das an der Schubkarre ja sehen konnte.

Es kam aber keine Antwort.

»Bronislaw?«, hab ich wieder gerufen. Dann bin ich durch den Hintereingang gegangen.

Ich muss jetzt sagen, dass ich vorher schon öfter in der Kapelle gewesen war. Wenn man durch die Hintertür geht, sind da nämlich die Klos, darum kannte ich mich aus. Vielleicht hatte Bronislaw da auch hingewollt.

Jetzt lag er auf dem Bauch auf dem Boden mit merkwürdig angewinkelten Armen und an seinem Hinterkopf war Blut. So sehen die Leichen im Fernsehen aus, nicht dass Mama mich solche Sendungen gucken lässt.

»Bronislaw!«, hab ich gebrüllt. Ich bin nicht weggerannt. Ich hab mich neben ihm auf die Knie fallen lassen.

Und das war von meinem Abenteuer nicht mal der Anfang, das war schon die Mitte. Ich hab es nur nicht gewusst.

1.

Beim nächsten Mal ziehe ich bestimmt nicht wieder in den Sommerferien um. Obwohl Kinder das ja sowieso nicht bestimmen dürfen.

Aber Mama durfte es auch nicht bestimmen, sondern der Topp-Preis-Dromarkt, und da konnte ich nichts machen. Beim Topp-Preis-Dromarkt haben sie entschieden, dass Mama von jetzt an Marktleiterin in einer anderen Filiale sein soll, darauf haben wir mit Cola angestoßen. Weil das heißt, dass wir mehr Geld verdienen, hat Mama mir erklärt. Als Marktleiterin ist sie ja dann sozusagen der Boss, da sitzt sie nicht mehr nur an der Kasse und räumt die Regale ein und sonst noch was. Als Marktleiterin darf sie über alle bestimmen.

Das hab ich gut gefunden und das mit dem Geld auch. Aber dass es auch heißt, dass wir umziehen müssen, hat Mama mir erst nach der Cola erklärt. Das fand ich natürlich nicht so gut, weil ich dann ja wieder wegmusste von meinen Freunden und allem.

»Wir können ja mailen, Alter!«, hat Kevin gesagt.

Briefe schreiben, wie wir es im Deutschunterricht gelernt haben, auf Papier und richtig mit Umschlag, wäre natürlich auch gegangen. Da hab ich aber gewusst, dass das bei Kevin nicht klappen würde, wegen dem Geld für die Briefmarke und weil seine Schrift nicht so sehr gut ist.

»Simsen geht auch und telefonieren«, hat Metin gesagt. Vielleicht war er genauso traurig wie ich. Wir kannten uns ja seit der zweiten Klasse.

»Klar«, hab ich gesagt.

Man macht es aber doch nicht. Man sagt es vorher nur.

Unsere neue Wohnung liegt im zwölften Stock, das ist besser als vorher. Man hat einen Blick über die ganze Stadt, und wenn man auf dem Balkon steht, ist es fast ein kleines bisschen gruselig, weil unten alles so klein aussieht. Ich hab überlegt, dass ich Eintritt nehmen könnte wie beim Fernsehturm in Berlin, auf dem wir mal waren, da bezahlt man auch nur für den Blick und das Fahrstuhlfahren, daran war nichts besser als an unserem Balkon. Einen Fahrstuhl haben wir schließlich auch, in dem hängt ein Schild, dass Kinder unter sechs Jahren ihn nur in Begleitung Erwachsener benutzen dürfen. Aber ich habe nie einen Polizisten gesehen, der das kontrolliert. Und außerdem bin ich zehn.

Im Treppeneingang steht außerdem, dass man im Hausflur nicht spielen und lärmen darf. Das hatte ich aber sowieso nicht vor, als ich mit dem Fahrstuhl nach unten gefahren bin. Mama war an diesem Morgen zum ersten Mal in ihre neue Filiale gegangen, um zu bestimmen, und sie hatte sich die Haare extra schön frisiert und sich geschminkt, damit sie auch wirklich wie eine Marktleiterin aussah.

»Auf den ersten Eindruck kommt es an, Valentin!«, hat sie gesagt. Man konnte sehen, dass sie aufgeregt war.

»Toi, toi, toi!«, hab ich geantwortet. Das sagt man ja, wenn jemand etwas Wichtiges vor sich hat wie eine Prüfung oder so. Ich hab aber nicht über die Schulter gespuckt, wie man es eigentlich soll, damit es wirklich Glück bringt. In einer neuen Wohnung mit frisch verlegtem Teppichboden geht das nicht.

Als Mama weg war, hab ich zuerst das Buch zu Ende gelesen, das mir meine Klassenlehrerin zum Abschied geschenkt hatte, mit Widmung drin und den Unterschriften von allen Kindern, sogar von Kevin, der nicht so gerne schreibt, man kann sie aber lesen. Das Buch handelt von einem gefährlichen Verbrecher und von einer Kinderbande, die ihn überführt. Die Bande muss das machen, weil die Polizei sich zu blöde anstellt. Das Buch war wirklich so spannend, dass es in meinem Kopf geknirscht hat, und ich hab überlegt, ob ich es gleich noch mal lesen soll; aber dann hab ich gedacht, ich hebe es mir auf für einen Regentag. DA weiß ich nämlich sonst nie, was ich machen soll.

Stattdessen hab ich mir die Zähne geputzt und nach einem sauberen T-Shirt gesucht. Wir hatten die Umzugskisten ja noch nicht fertig ausgepackt, ich hab aber trotzdem eins gefunden. Dann hab ich beschlossen, dass ich erst mal die Gegend erkunde. Vielleicht gab es in der Nähe eine Leihbücherei, wo ich mir Bücher ausleihen konnte, Kinder dürfen das manchmal kostenlos. Damit ich mich nicht so langweile, bevor die Schule wieder losgeht. Ich kannte ja noch keinen in der neuen Stadt, und an dem Morgen wusste ich natürlich noch nicht, dass jetzt gerade die spannendste Zeit in meinem ganzen Leben anfing. Ich bin in mein Abenteuer doch erst danach reingestolpert, und übrigens hab ich es auch da nicht gleich gemerkt.

Vor dem Haus hab ich überlegt, ob ich nach rechts laufen sollte oder nach links. Nach rechts sah es mehr so aus, als ob es in die Stadt geht, da war das vielleicht auch die Richtung für die Bücherei. Nach links sah es eher ziemlich grün aus.

Mesut habe ich erst bemerkt, als ich schon fast in ihn reingelaufen war, das passiert mir leider öfter. Ich bin manchmal in Gedanken. Natürlich wusste ich da noch nicht, dass er Mesut hieß. Jedenfalls saß er auf dem Fahrradständer vor dem Eingang und hat mit seinem Handy gespielt.

»Mann, pass doch auf mit deinem Scheißcap!«, hat er gebrüllt, als ich fast über seine Beine gestolpert bin. Ich hab mir an den Kopf gefasst, als ob ich die Kappe festhalten müsste. Wer wusste denn, ob er sie mir nicht gleich runterhauen würde, und die Kappe war mein Glücksbringer. Zu Hause hatte sie Artjom gehört und jetzt gehörte sie mir, und Mama hatte längst aufgehört, darüber zu schimpfen, dass ich sie immer trug. Obwohl sie echt nicht mehr so schön aussah, falls sie das jemals getan hatte. Der Schriftzug, der für ein amerikanisches Bier werben sollte, war längst so dreckig und abgeschabt, dass man ihn nicht mehr richtig lesen konnte. Das machte nichts. Bei einer Kappe ist das nicht wichtig.

Der Junge sah aus, als ob er so ungefähr drei Jahre älter war als ich, was bedeutet, dass er wahrscheinlich ungefähr ein Jahr älter war. Ich bin klein für mein Alter, und wegen der Brille sehe ich auch nicht sehr gefährlich aus, man nennt das unscheinbar. Mama sagt, das wird schon.

»Entschuldigung!«, hab ich gesagt. Dann hab ich versucht, an dem Jungen vorbeizugehen, ohne über seine Beine steigen zu müssen, ich wusste schon gleich, dass er sich sonst nur aufregen würde. Das war aber schwierig, weil er sie so ausgestreckt hatte, schräg in den Plattenweg rein.

Mama hätte jetzt gefragt, warum ich denn nicht gleich die Gelegenheit genutzt habe, um mich anzufreunden, solche Sachen fragt Mama immer. Weil sie keine Ahnung hat. Wie kann man sich einfach so mit einem fremden Jungen anfreunden, der mit seinem Handy spielt und mit den Beinen den Weg blockiert? Man kennt ihn ja nicht. Mama hätte sich auch nicht angefreundet, sie denkt nur immer, bei Kindern ist das anders.

Eine Tausendstelsekunde lang hab ich aber ernsthaft überlegt, ob ich ihn nicht fragen sollte, wo die nächste Leihbücherei ist. Aber wirklich nur eine Tausendstelsekunde lang. Mesut sah nicht direkt aus wie einer, der sich mit Leihbüchereien auskennt. Ich hab mich also so ganz schräg an seinen Füßen vorbeigequetscht, und als ich es fast geschafft hatte, hat er sie blitzschnell ein bisschen weiter vorgestreckt, dass ich fast gestolpert bin. Ich bin sicher, das war Absicht. Aber gesagt habe ich natürlich nichts. Ich hab ja schon erklärt, dass Mesut aussah, als ob er drei Jahre älter war als ich.

»Was ist, du Spast, hast du keine Augen im Kopf?«, hat er mich angebrüllt. »Verpiss dich!«

Dabei hatte ich ihm ja gar nichts getan, eher er mir. Und übrigens hat er auch nicht »Verpiss dich!« gesagt, sondern »Vöpiss disch!«, so ganz weit hinten im Hals, wie man es tun muss, damit es cool klingt. Ich kann es auch ganz gut, weil ich doch früher nach der Schule nachmittags oft mit zu Metin gegangen bin, bevor Mama um 19.30 nach Hause gekommen ist, und Adem hat auch so geredet, das war Metins großer Bruder. Der hat Gas- und Wasserinstallateur gelernt, das fand ich cool. Überhaupt finde ich ältere Brüder cool. Ich hab darum auch gelernt, wie Adem zu reden, aber Mama hat gesagt, es ist wichtiger, dass ich akzentfreies Deutsch sprechen kann, für die Schule und für meine ganze Zukunft und für das Leben. Dabei spricht sie natürlich überhaupt kein akzentfreies Deutsch, und jetzt ist sie trotzdem Marktleiterin, und was vielleicht noch ihre Zukunft ist, kann man gar nicht wissen.

Mesut hat das vom Verpissen also ohne akzentfreies Deutsch gesagt, und als ich grade noch überlegt hab, ob ich tun soll, was er will, oder vielleicht erst noch drei Sekunden ganz gelangweilt stehen bleiben, damit er merkt, mit mir kann er das nicht machen, hat er schon wieder losgebrüllt.

»Was ist?«, hat er gebrüllt. »Hast du Kartoffeln auf den Ohren? Mein Bruder ist bei der Polizei, pass auf, Idiot!«

Da wusste ich nun überhaupt nicht, was das miteinander zu tun haben sollte, dass sein Bruder bei der Polizei war und dass ich fast über seine Beine gestolpert bin. Wahrscheinlich hatte er einfach schlechte Laune. Und übrigens habe ich ihm natürlich keine Sekunde lang geglaubt. Solche Brüder sind nicht bei der Polizei, das weiß jeder.

Ich hab gedacht, dass Artjom aber bei der Polizei sein könnte, wenn er mitgekommen wäre, ganz bestimmt. Artjom konnte alles.

Aber Artjom ist ja nicht hier. Artjom ist zu Hause geblieben. Und er fehlt mir so sehr, obwohl es schon so lange her ist. Ich habe natürlich seine Kappe.

Weil Mesut so wütend ausgesehen hat, hab ich ihm vorsichtshalber nicht widersprochen. Ich hab gehofft, dass er nicht womöglich in meiner Klasse ist (das sind solche, die aussehen wie drei Jahre älter als ich, nämlich oft, und das ist nicht immer gut), und dann bin ich statt nach rechts in die Stadt eben einfach nach links gegangen.

Also habe ich das größte Abenteuer meines Lebens eigentlich Mesut zu verdanken. Wenn man es richtig überlegt.

Aus irgendeinem Fenster hat eine Frauenstimme irgendwas auf Türkisch gerufen und immer: »Mesut! Mesut!« Ich hab mich noch mal umgedreht, da ist er ins Haus gegangen. So habe ich gleich am ersten Tag erfahren, dass Mesut Mesut heißt.

2.

Jetzt muss ich vielleicht noch erzählen, dass der Tag gerade dabei war, so ein glutheißer Sommertag zu werden wie früher zu Hause in Kasachstan alle Sommertage: weil der Himmel da nämlich so hoch war und die Sonne wie durch ein Brennglas auf die Sonnenblumenfelder schien; bis das Gras verdorrt war und man sich die Sohlen verbrannte, wenn man barfuß lief, sogar auf den Sandwegen. Aber wenn es dann Regen gab und eins dieser Gewitter, die mit wildem Getöse die Wolken sprengen, und Blitz und Donner und blauschwarze Dunkelheit: Dann blühten auf einmal überall Blumen, deren Namen kein Mensch alle kennen konnte, nicht mal Babuschka, die doch sonst alles über Pflanzen wusste.

So waren zu Hause die Sommer alle, glutheiß und gleißend; und genau so war auch dieser Tag in der neuen Heimat, an dem das größte Abenteuer meines Lebens begonnen hat, aber noch wusste ich nichts davon.

Ich bin also nach links gegangen, wegen Mesut; und weil die Sonne schon jetzt am Vormittag so hoch stand, dass die Schatten scharf und schwarz und kurz waren, war ich froh, dass nur wenige Schritte hinter den Häusern plötzlich ein schmaler Sandweg begann: Der verlief zwischen Sträuchern und Bäumen und da war es kühler.

Natürlich wäre es schön gewesen, wenn ich rechts eine Leihbücherei gefunden hätte; aber es war auch schön, nun links diesen schattigen Weg zu entdecken, der so unerwartet kam nach all den Hochhäusern und Straßen und der großen Stadt; weil ich nämlich so eine Sehnsucht gehabt hatte, von der ich gar nichts wusste.

Die Sträucher waren Holunder und Weißdorn und Jasmin; und der Holunder blühte so kräftig, dass ich schon wusste, hier konnten wir im September Beeren pflücken für Gelee und für Saft; und daneben duftete der Jasmin, dass ich mich gewundert habe, warum ich ihn nicht bis hoch zu unserem Balkon gerochen hatte.

Ich weiß, das klingt noch überhaupt nicht nach einem Abenteuer. Ich hab es ja selbst auch nicht erwartet.

An der linken Seite des Weges konnte ich jetzt ein undeutliches Rauschen hören, und als ich mich hingekniet habe, floss da ein winzig schmaler Bach, der war so überwuchert von Sumpfdotterblumen und Farn und Felberich und Pestwurz (die kannte ich natürlich von Babuschka), dass man ihn überhaupt nicht mehr sehen konnte; und auf der rechten Seite wuchs eine kleine Böschung aus dem Weg mit Sträuchern wie in einem Dschungel. Aber dahinter hab ich einen schäbigen Maschendrahtzaun gesehen, und das fand ich in so einer Wildnis nun doch überraschend.

Ich bin also weitergegangen, weil ich neugierig war und auch, weil ich noch nicht zurückwollte. Ich hatte keine große Lust, vor dem Haus wieder Mesut zu treffen. Man konnte ja nicht wissen, wie lange er drinnen bleiben würde.

Und so bin ich zum ersten Mal Dicke Frau begegnet.

Ich weiß, Dicke Frau ist kein guter Name. So soll man Menschen nicht nennen. Aber zu Dicke Frau sagen alle Dicke Frau, es ist wie ihr Vor- und ihr Nachname; und ich glaube, sie weiß selbst schon nicht mehr, ob sie früher mal einen anderen Namen hatte und wie der war, ihr Gehirn ist ja so muddelig. Das weiß keiner besser als ich.

An diesem Morgen stand Dicke Frau genau an der Stelle, an der oben auf der Böschung ein kleines Tor in den Maschendrahtzaun eingelassen war, das hing offen in seinen Angeln; und zwei Stufen aus Beton führten in der Böschung zu ihm hinauf. Auf der einen Seite gab es sogar ein Geländer, das war irgendwann mal grün gestrichen gewesen. Daran sah man ja, dass das Tor und die Stufen extra dafür gedacht waren, dass man vom Weg auf das Gelände hinter dem Zaun kam. Und neben der untersten Stufe stand also Dicke Frau mit einem Einkaufswagen und hat gejammert.

»Da kommt doch kein Mensch hoch, Heilige Jungfrau!«, hat sie gejammert. »Mach was, Maria, mach was, du Arschloch!«

Ich hab sofort gesehen, dass das nicht klappen konnte, Heilige Jungfrau hin oder her. Ihr Einkaufswagen war so vollgestopft mit Plastiktüten, die waren übereinandergestapelt, und an dem Haken vorne, an den man sonst seine Einkaufstasche hängt, waren auch noch ein paar. Es war ehrlich ein Wunder, dass sie die zehntausend Tüten da alle reingequetscht gekriegt hatte.

Dicke Frau selbst war für das Wetter auch nicht ganz richtig angezogen, aber ich glaube, Wetter war ihr egal. Sie hatte immer dasselbe an, drei Schichten übereinander. Vielleicht musste das so sein, weil die Sachen nicht mehr in ihren Einkaufswagen gepasst hätten; und von irgendwas trennen, das ihr gehörte, wollte Dicke Frau sich ganz bestimmt nicht.

»Heilige Jungfrau, was soll der Scheiß!«, hat sie mit der tiefsten Stimme gesagt, die ich je bei einer Frau gehört habe; und dann hat sie sich eine Flasche gegriffen, die war zwischen zwei Tüten gequetscht, und hat einen kräftigen Schluck genommen. Und obwohl das, was in der Flasche schwappte, durchsichtig aussah, habe ich nicht geglaubt, dass es Wasser war.

»Nun mach schon, Maria, nun mach schon!«, hat sie gebrummt, und dann hat sie wieder versucht, ihren Wagen mit den hinteren Rädern zuerst die Stufen hochzuziehen. Das hat natürlich nicht geklappt und eine Tüte ist auf den Sandweg gefallen.

Und obwohl sie mich ja ganz bestimmt nicht gemeint hatte mit »Heilige Jungfrau«, hab ich trotzdem gedacht, dass ich ihr helfen muss. Sie sah so verlassen und so traurig aus, und sie war wirklich die dickste Frau, die ich jemals gesehen habe. Ich weiß nicht, wie es ist, wenn sie auf einem Stuhl sitzt. Wahrscheinlich hängt ihr Po an beiden Seiten ordentlich über. Und in einen Sessel passt sie schon gar nicht, da würde sie immer gleich ein Sofa brauchen. Aber wo sollte Dicke Frau das wohl herkriegen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, habe ich also ganz höflich gefragt. Mama hat gesagt, Hilfsbereitschaft adelt den Menschen, auch wenn das viele offenbar nicht wissen. Mesut zum Beispiel nicht, da war ich mir ziemlich sicher.

Dicke Frau ist zusammengezuckt, dann hat sie sich blitzschnell zu mir umgedreht.

»Na bitte, warum nicht gleich so, Heilige Jungfrau!«, hat sie gesagt und zum Himmel hochgeprostet. »Aber trotzdem vielen Dank!«

Dabei hätte sie sich doch vielleicht eher mal bei mir bedanken sollen.

Wir haben den Einkaufswagen dann zusammen die zwei Stufen hochgetragen, Dicke Frau hat vorne angefasst und ich hinten. Er war so schwer, dass ich wirklich gerne gewusst hätte, was in all den Tüten war, wahrscheinlich lauter Flaschen, und zwar volle. Wir haben es aber geschafft, und als wir den Wagen oben abgesetzt haben, hat Dicke Frau zuerst wieder zum Himmel hochgewinkt, als ob sie sich noch mal bedanken wollte, und dann hat sie wieder zu ihrer Flasche gegriffen. »Na also, Jungfrau, geht doch!«, hat sie gesagt.

Dabei hat sie geschnauft, wie es die alten Dampflokomotiven tun, die es nur noch bei der Museumsbahn gibt, die wir in der zweiten Klasse auf unserem Wandertag besichtigt haben, im echten Leben nicht mehr. Alles, was schnaufen muss, ist unpraktisch und unelegant.

Ich hab gewartet, dass sie sich nun auch mal bei mir bedanken würde, sie hat mich aber gar nicht mehr beachtet. Sie hat ehrlich so getan, als ob ich gar nicht da wäre. Ich glaube, nachdem wir die Stufen erst mal geschafft hatten, hat sie mich gleich vergessen: Plopp!, rausgefallen aus ihrem muddeligen Gedächtnis. Sie wusste ganz ernsthaft schon nicht mehr, dass ich ihr geholfen hatte. Oder dass ich noch da war. Nur darum hab ich sie so angeguckt, ich wusste ja damals noch von nichts. Und da ist es mir zum ersten Mal passiert.

Dabei hab ich beim ersten Mal noch nicht mal richtig verstanden, was passiert ist. Ich hab zuerst gedacht, es ist vielleicht eine Ohnmacht.

Ich hab Dicke Frau nämlich die ganze Zeit so angestarrt, weil ich überlegt habe, wer sie wohl ist und warum sie sich so komisch benimmt und dass sie ziemlich unhöflich ist. Das kann einem ja die Hilfsbereitschaft ganz schnell mal verleiden.

Und wie ich sie also angestarrt habe, ist es mir ganz wirr im Kopf geworden, und es war, als ob ich irgendwo eintauche und meine Gedanken plötzlich alle durcheinanderpurzeln, besser erklären kann ich es nicht; mit einer fremden Stimme dazwischen, die hat immer »Heilige Jungfrau!« und »Arschloch!« gerufen. Es waren ganz viele wirbelige Bilder dabei von dem Einkaufswagen und von Grabsteinen und von Hochhäusern und eins von einer goldenen Münze, das kam immer wieder. Und alles war in eine große Traurigkeit getaucht.

Darum hab ich gedacht, dass ich gerade ohnmächtig werde. Das ist mir zu Hause nämlich mal im Bus passiert, als es so heiß war und nach verschiedenen Arten von Schweiß und Deo und Rasierwasser gerochen hat, da war vorher auch alles so wirbelig, und jetzt hat es sich wieder haargenau so angefühlt. Und weil ich nicht umkippen wollte, hab ich mich ganz schnell auf den Boden gesetzt und den Kopf zwischen meine Knie genommen, da war das komische Gefühl sofort weg.

Dann hab ich sehr tief durchgeatmet und gedacht: Donnerwetter, das ist ja noch mal gut gegangen, ein Glück, dass ich mich so schnell hingesetzt habe. Ich hab mich schon gleich wieder normal gefühlt. Vorsichtshalber hab ich aber noch an meine Kappe gefasst, die bringt mir ja Glück.

Dass ich in die Köpfe anderer Menschen gucken kann, hab ich da noch nicht gewusst.

3.

Herr Wilhelm Schmidt hat gesagt, es ist eine wunderbare Gabe und ich soll doch dankbar sein. Herr Schmidt war so ungefähr der Einzige, dem ich das mit den fremden Köpfen erzählt habe, aber das war viel später. An diesem Morgen kannte ich ihn ja noch nicht mal.

Da hatte ich ja gerade erst Dicke Frau kennengelernt, die zog jetzt ihren Einkaufswagen mit lautem Schnaufen und viel Gemurmel hinter sich her über den schmalen Weg, der vom Tor weg unter hohen, alten Bäumen entlangführte; und als ich ihr vom Boden aus nachgesehen habe (aufzustehen hab ich noch nicht gleich gewagt, wegen der Ohnmacht), hab ich plötzlich die Grabsteine gesehen, rechts und links vom Weg, wie lauter kleine Denkmäler. Und davor waren Plastikvasen mit Blumen in die Erde gedrückt und blühten Begonien auf geharkten, kleinen Beeten im Rasen, und manchmal wucherte davor auch Unkraut. Die Grabsteine waren schwarz oder weiß, auch steinfarbig rosa und grau; und manche waren poliert und manche matt oder rau. Da hätte man schon ziemlich blöde sein müssen, um nicht zu begreifen, dass Dicke Frau ihren Einkaufswagen gerade durch einen Friedhof schleifte, selbst wenn man vorher noch nie auf einem Friedhof gewesen war.

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